Rede von
Fritz
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Diese Auseinandersetzungen zu dieser späten Stunde
haben ihre Ursache in dem roten Faden,
der sich durch die Reden des Herrn Bundeskanzlers zog und durch die Reden jedes Ihrer Sprecher bis zu den Zwischenrufen,
in denen Sie den Versuch unternommen haben, die vollkommen berechtigten Abwehrkräfte des deutschen Volkes und die Ablehnung der kommunistischen Zwangsherrschaft in den Gefühlen unseres Volkes
umzumünzen in einen Maßkomplex gegen die freiheitliche Sozialdemokratie.
Das fängt damit an, daß die Sozialdemokraten aus einem sehr hochgestellten Munde auf eine Linie mit den Totengräbern unseres Volkes gestellt werden,
und findet seine Fortsetzung in dem berühmten Wahlplakat der CDU, das in allen Gemeinden dieses Landes und des Landes Rheinland-Pfalz angeschlagen war,
auf dem auf der rechten Seite der rote Rathausschlüssel zerbrochen wurde und auf der linken Seite — in Gemeinden, in denen es überhaupt keine Kommunisten gab — die rote Kralle, die nach Frauen und Kindern greift, dargestellt wurde.
Das ist die Methode, gegen die wir uns mit Nachdruck einmal zur Wehr setzen müssen, weil wir uns das nicht gefallen lassen.
Doch nun noch einige Worte zur Frage der deutschen Einheit. Es hat uns niemand von der Regierungskoalition gesagt, wie eigentlich über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft der Weg zur deutschen Wiedervereinigung führen soll.
Herr Dr. Ehlers
hat an anderer Stelle einmal ausgeführt, niemand ist so dumm, zu glauben, daß man Sowjetrußland durch Bedrohung gefügig machen könnte.
Er will also nicht mit Stärke drohen. Das ist ein vernünftiges Prinzip.
Ganz anders äußert sich etwa der „Rheinische MerMerkur",
den Sie, Kollege Kiesinger, so sehr lieben:
„Die Aufgabe heißt nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung des Verlorenen. Die unerlösten Provinzen können nur mit Hilfe der Westmächte zurückgewonnen werden. Befreiung der unerlösten Reichsteile, das sei die Parole." Und weiter heißt es, daß man es infolgedessen mit der Aufrüstung eilig habe, weil eine der beiden obersten Voraussetzungen die Befreiung der verlorenen Provinzen sei!
Solange Sie sich nicht sehr eindeutig von dieser Sprache distanzieren,
müssen Sie wissen, daß diese Theorie hart am Rande des Spielens mit künftigen kriegerischen Konflikten steht.
Da ich unterstelle, daß Sie genau so wenig wie wir an einem solchen Konflikt interessiert sind, weil Sie genau so wie wir wissen, daß das die Freiheit in Trümmern wäre, bleibt doch nur jener andere Weg, den auch Sie letzten Endes ins Auge fassen: der der Verhandlungen. Da tun Sie nun so, als müßte die arme Bundesrepublik ganz allein mit der Sowjetunion verhandeln, als ob es nicht wirklich heute, eingeschlossen in den weltpolitischen Gegensatz von Ost und West, den Sie uns oft genug vorführen, um das gesamte westliche Potential geht, das auch in dieser Frage heute schon gleichberechtigt mit der Sowjetunion am Verhandlungstisch sein könnte, wenn wir ernsthafte Anstrengungen unternähmen,
um dies auch dem Westen nachdrücklich genug zu Gemüte zu führen.
Das Verhältnis zwischen West und Ost wird durch das Hinzutreten der Bundesrepublik nicht so entscheidend verändert, wenn Sie berücksichtigen, welche Rückwirkungen das auf die andere Seite, auch auf die vor der deutschen Angst gesteigerte Moral der Satellitenstaaten hat, die Sie ja geradezu an die Seite der Sowjetunion treiben.
Die schlimmste Neutralisierung — da nehme ich ein Wort Ihres ehemaligen Parteifreundes Heinemann auf — ist, daß die deutschen Waffen hüben und drüben einander neutralisieren.
(Abg. Strauß: Das ist Ihre Phantasie! —
Weitere Zurufe.)
Wir treten als Bundesrepublik für fünfzig Jahre in den EVG-Vertrag ein, und noch nie hat uns jemand etwas darüber gesagt, daß es im EVG-Vertrag für den Fall der Wiederherstellung der deutschen Einheit keine Klausel der Anpassung gibt, wohl aber für den Fall, daß sich bei der Atlantikpakt-Organisation irgend etwas ändert.
Der Bundeskanzler hat hier ausgeführt, wenn sich die internationalen Spannungen verschärften und die Bundesrepublik schutzlos bliebe, dann würde sie Kriegsschauplatz. Herr Bundeskanzler, wenn je einmal der dritte Weltkrieg ausbrechen sollte, dann findet die Auseinandersetzung auf
jeden Fall hier statt. Unser Ziel muß deshalb sein, überhaupt eine der Voraussetzungen für einen solchen Konflikt, nämlich die Verschärfung der internationalen Spannungen, zu vermeiden und statt dessen einen Beitrag zur Entspannung der Lage zu leisten.
Die Verträge verschärfen sie, weil sie die Tendenz des Wettrüstens verschärfen. Es ist bisher kein ernsthafter Versuch unternommen worden, in der Deutschlandfrage eine Lösung außerhalb der Eingliederung Westdeutschlands in das NATO-System zu erreichen.
Hier einige Worte zu Mailand. Der Herr Bundeskanzler hat uns vorgerechnet, welch ein heftiges Angriffsziel wir in Mailand gewesen wären. Zunächst eines vorweg. In einem Punkt waren sich alle Sozialisten einig: sie haben sich die Forderung des deutschen Bundestags und die Forderung der Sozialdemokratie, die Sie ja selbst mit beschlossen haben, nach der Vierer-Konferenz zu eigen gemacht. Das ist der eine Punkt.
Und der zweite Punkt,
in dem wir heftigen Angriffen ausgesetzt waren, ist der Punkt, auf den wir eigentlich ein bißchen stolz sind. Dabei ging es nämlich um die Saar. Und in dieser Frage weichen wir von unserem Standpunkt auch trotz des Zuredens mancher internationaler Sozialisten nicht ab, genau so wie Sie bisher erfreulicherweise keine Bereitschaft dazu haben erkennen lassen.
Die Sowjetunion hat
— das haben Sie selbst genau so erklärt wie wir — das politische Ziel — das sei offen ausgesprochen; unsere Kommunisten machen gar kein Hehl daraus —, ganz Deutschland zu beherrschen.
Aber auch der Westen hat das politische Ziel, ganz Deutschland als militärischen Bundesgenossen zu haben. So steht es im Vertrag. Die Präambel und der Art. 7 machen das im Zusammenhang zu einem erklärten Vertragsziel. Nun, das ist dann gar kein Weg, der zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führt. Da ist es müßig, daß Sie nach dem anderen Weg fragen, wenn Ihr Weg überhaupt kein Weg ist. Meinen Sie denn etwa, die Sowjetunion würde gratis und franko ihre Zone an die Atlantik-Organisation zur Verfügung stellen?
Da keiner sein ganzes Ziel erreichen kann, richtet sich heute jeder in seinem Teil militärisch ein. Der Satz des Bundeskanzlers, wenn die Westmächte Besatzungsrechte aufgeben, bevor sie wissen, daß wir mit ihnen zusammengehen, dann wären sie komplette Narren, dieser selbe Satz gilt, ob uns das paßt oder nicht, auch für den Osten. Deshalb muß der Versuch unternommen werden: Wenn
eben jeder nicht das Ganze haben kann, weil der andere das nicht gestattet, dann ist es für alle auch erträglich, wenn keiner von beiden sich Deutschland militärisch einverleibt.
Dennoch wird dieses Deutschland wirtschaftlich, sozial und politisch ein Teil der freien Welt, vor allem des freien Europa sein. Europa heißt doch nicht einfach deutsches Potential zur Verfügung anderer stellen, und Europa ist nicht identisch mit diesen Verträgen. Sie wissen genau, daß — das haben wir eingehend nicht nur hier, sondern auch in Straßburg dargelegt — es sehr wohl auch andere Formen, lockerere allerdings,
für jenen großen Zusammenhang gibt, der aus ganz Europa ein einheitliches Wirtschaftsgebiet zu schaffen imstande ist, bei dem mehr für den Staatsbürger herausschaut als lediglich etwa Briefmarken oder Pässe.
Daß dieser Weg nicht zustande gekommen ist, der Weg über den Ausbau der OEEC, der Zahlungsunion zur europäischen Währungs- und Zollunion mit einer gemeinsamen Politik der Vollbeschäftigung und der Schaffung echter Freizügigkeit, daß dieser Weg nicht mehr zustande gekommen ist, das liegt unter anderem an dem mangelnden Eifer derjenigen sechs Regierungen, die sich auf den Weg dieser Verträge kapriziert haben.
Das wären bessere europäische Ereignisse.
Erst ein gesundes wirtschaftliches Fundament und dann ein Dach darüber! Auch Deutschland hat angefangen mit dem Zollverein und nicht mit supranationalen Behörden und der Armee.
Meine Damen und Herren, das ist eine Konzeption. Sie mögen sie für falsch halten, aber Sie sollten nicht immer so tun, als könnten Sie ihr Bestehen leugnen. Und im übrigen steht hier auf der Tagesordnung die Behandlung der Verträge und nicht das Aktionsprogramm der deutschen Sozialdemokratie!
— Da lachen Sie auch noch drüber! Nehmen Sie die Drucksache in die Hand!
— Nein, aber eine gesunde Grundlage dafür, daß aus einer gesunden Wirtschaft stärkere Immunisierung und auch künftig Verteidigungskraft erwächst!
Mit dem Nein zu diesen Verträgen tritt keine Katastrophe ein, wie Sie uns glauben machen wollen.
Der Westen will Freundschaft und Bündnis mit dem deutschen Volk und nicht mit einer Regierung, von der es zweifelhaft ist, wieweit sie heute noch die Mehrheit des Volkes hinter sich hat.
Wenn ein bestimmter Weg nicht die Zustimmung
unseres Volkes findet, wird der Westen im eigenen
Interesse an der Verwirklichung der anderen Konzeption mitarbeiten. Er will ja gar nicht, daß
Deutschland von den Sowjets beherrscht wird. Darin
liegt der Zwang zu neuen Verhandlungen am Tage
nach der Abstimmung, die ein Nein bringen würde.
Wir respektieren Ihren Gewissenskonflikt. Sie mögen aber auch den unseren respektieren.
Woher nehmen Sie den Mut, den Gegnern der Verträge Schützenhilfe für Stalin und Gegnerschaft gegen Europa vorzuwerfen? Woher nehmen Sie den Mut, daß Sie sie in die Nachbarschaft zu Totengräbern des deutschen Volkes bringen?
— Herr Strauß, daher nehmen Sie den Mut! Meine Ausführungen sind eine Antwort auf das, was Sie uns hier in dieser Debatte vorgesetzt haben. Lassen Sie sich doch nicht von den Kommunisten das Gesetz des Handelns vorschreiben,
indem Sie automatisch glauben, alle Politik bestehe nur darin, jeweils das Gegenteil dessen zu sagen, was die armen Leute da drüben von sich geben. Wir gehen doch alle unseren eigenen Weg und werden nicht zu einem negativen Abziehbild der Stalinschen Politik. Dann lohnt sich der Kampf um die Freiheit nicht!
Unsere Gegnerschaft ist geboren aus der Sorge 1 um die Erhaltung der Freiheit gegen die kommunistische Gefahr und um den Aufbau eines gesunden Europa. Auch Herr Ehlers erklärt, das Sowjetrußland im Wege des kalten Krieges seine politische Macht vorschieben wolle. Verträge mit derart unabsehbaren wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen führen zu einer politischen Radikalisierung in diesem Land, deren Ergebnis — auch wenn es eine Radikalisierung nach rechts ist — im Zweifel antidemokratisch und im Zweifel prosowjetisch ist.
Sie lassen 18 Millionen Deutsche dort praktisch ohne Hoffnung, daß sie in absehbarer Zeit 'aus der Sowjetherrschaft befreit werden.
Wer für die Verträge stimmt, sei auf die Konsequenzen hingewiesen,
auf die zunächst von Ihnen doch nicht zu beseitigende Fortdauer der Sklaverei in Mitteldeutschland, auf die Verwandlung einseitig auferlegten Besatzungsrechts in Vertragsrecht mit deutscher Unterschrift, auf die Auslieferung deutscher Soldaten unter fremden Oberbefehl. Er mag Gründe für sein Verhalten haben, ehrliche und ordentliche Gründe, aber er soll dann nicht das nationale Pathos dabei bemühen.
Diese Verträge überfordern die deutsche Leistungskraft, ohne Sicherheit zu geben. Sie lösen eine
schwere Finanz- und Sozialkrise aus und schaffen nur ein unzureichendes Sicherheitsinstrument. Sie riskieren, daß die Deutschen Schlachtopfer werden in Deutschland für die Sicherheit anderer.
Sie haben die schwersten Gefahren für die Demokratie und sind keine Wege zu Europa.
Deshalb sagen wir nein zu diesem Vertrag, um die Bahn für eine Politik freizumachen, die nicht Öl ins Feuer gießt, sondern einen Beitrag zur Entspannung der internationalen Lage, zur Wiedervereinigung Deutschlands und damit für die echte Sicherheit Deutschlands und Europas leistet.