Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
— Ich bitte um gütige Nachsicht, Herr Präsident, da ich für die technischen Verschulden des Hauses natürlich nicht aufkommen kann!
Ehe ich auf die Ausführungen der Herren Kollegen Dr. Gülich und Dr. Schöne kurz eingehe, gestatten Sie mir eine allgemeine Bemerkung zu den Verträgen, die im Bereich der wirtschaftlichen Diskussion besonders geeignet erscheint. Es wird doch niemand abstreiten, daß wir von der Kapitulation Deutschlands bis zum heutigen Tage einen ganz klar sichtbaren Entwicklungsgang Deutschlands im Verhältnis zu den Besatzungsmächten durchlebt haben. Jeder, der sich diese Zeit noch einmal vergegenwärtigt, ist sich darüber klar, daß die Entwicklung zweifellos in günstiger Weise auf uns Deutsche zugelaufen ist. Nun ist es zwangsläufig die Tragik eines solchen Vertragswerks in seiner Beurteilung von außen her, daß es gewissermaßen eine Momentaufnahme dieser Entwicklung ist und der Glaube entsteht, diese Momentaufnahme sei nun das Fundament, auf dem sich die nächsten fünzig Jahre entwickeln.
Das ist eine total falsche Betrachtungsweise. Diese Vertragswerke — ich spreche hier sowohl von dem Bonner wie von dem Pariser Vertrag — bilden zwar ein Fundament für die nächsten fünfzig Jahre. Aber, lieber Herr Kollege Dr. Schöne, nehmen Sie mir eines nicht übel: wenn ich Ihre Ausführungen gehört habe, so hat mich doch ein leichtes Grauen gepackt über das, was uns bevorsteht! So liegen doch die Dinge in der Tat nicht!
Wir schaffen hier ein Fundament. Aber wir schaffen in dieser Verfassung, die die Verträge ja für die europäische Entwicklung darstellen, auch eine Menge Institutionen und Behörden. Sie haben von dem Kommissariat gesprochen. Ja, dann hätten Sie auch sagen müssen, daß dieses Kommissariat sich nach dem klaren Wortlaut der Verträge ein eigenes Leben mit gestaltender Kraft gibt. Es kann sich gerade auf wirtschaftspolitischem Gebiet mit den entsprechenden Mehrheiten und mit Unterstützung der Organe der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die Richtlinien für gewisse wirtschaftspolitische Maßnahmen geben. Bei Betrachtung der Verträge darf also nicht der Eindruck entstehen, daß hier eine Zäsur entstanden sei, die nun fünzig Jahre erhalten bleibe. Nein, meine
Damen und Herren! Hier ist einer Entwicklung Rechnung getragen, und eine Stabilisierung für die Zukunft aus den Willkürerscheinungen der Vergangenheit heraus in ein gewisses europäisches rechtsstaatliches Denken hat stattgefunden. Das muß man doch bei der Betrachtung der Verträge zunächst einmal unterstellen.
Und nun zu den Einzelheiten. Herr Kollege Gülich, Sie haben hier von einer Politik der Stärke gesprochen, die sich die Bundesrepublik Deutschland zutraue, und Sie haben mit einem netten Bonmot von A bis Z hier die Parallele zum Dritten Reich gebracht. Herr Gülich, Sie wissen genau so gut wie ich, daß der Sinn dieses Vertragswerkes, wenigstens soweit er von uns in Deutschland beeinflußt worden ist, doch nicht die Politik einer Stärke ist, sondern, ich möchte sagen, die Politik der Selbstbehauptung, eine Politik des Erhaltungswillens. Das ist doch etwas anderes als eine. Politik der Stärke.
Sie erinnern sich deutlich der Ausführungen; ich brauche sie also hier nicht genau zu zitieren. Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Elementarste im Menschen- und auch im Völkerleben, und davon hat man bei diesen Behauptungen auszugehen. Kein Mensch, der diese Verträge studiert hat, kann doch sagen, daß das, was wir an Wehrbeitrag für eine europäische Verteidigung zu leisten haben, etwa der Ausdruck einer politischen Stärke oder der Wille zu einer Machtpolitik sei. Das hieße doch, in den Augen der Öffentlichkeit die Verträge in ein vollkommen falsches Licht hineinzurücken.
Dann haben Sie eins gesagt: wir hätten nicht unter gleichberechtigten Voraussetzungen verhandelt. Ja, verehrter Herr Gülich, das ist ja der Sinn' der Verträge: Bisher haben wir ja nicht die Gleichberechtigung. Ich glaube, der Herr Bundeskanzler hat das in seinen Ausführungen auch deutlich gesagt. Hier hat ein besiegtes Volk mit den Siegermächten verhandelt; hier hat ein machtloses Volk mit mächtigen Völkern verhandelt.
Um aber Deutschland die Stellung in Europa zu geben, die seinen kommenden Verpflichtungen, seinem Wehrbeitrag und seiner historischen Bedeutung entspricht, soll ja die Grundlage für eine künftige Gleichberechtigung nun geschaffen werden, und zwar de facto, nicht nur durch die Verträge, sondern durch das durch die Verträge bedingte Zusammenleben der Völker untereinander. Natürlich haben wir nicht gleichberechtigt verhandelt, ich meine: im Sinne einer echten Gleichberechtigung. Aber in Zukunft ist die Möglichkeit des gleichberechtigten Zusammenlebens doch zweifellos gegeben.
Man darf die Dinge in dieser Richtung nicht durcheinanderwerfen.
Nun, verehrter Herr Kollege Schöne, darf ich nur wenige Worte zu Ihren Ausführungen sagen. Sie glaubten in Ihrer Generalübersicht eine Verödung des Ostens und einen Zug der östlichen Wirtschaft nach dem Westen feststellen zu können. Unter „Osten" muß man ja heute praktisch Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern verstehen. Die Feststellungen stimmen. Ich weiß das als niedersächsischer Abgeordneter genau. Aber Sie begingen einen Fehler, den Sie dem Kollegen Naegel vorwarfen, indem Sie sagten: Naegel bezog sich auf die Vergangenheit; er gab eine historische Darstellung. In demselben Atemzug gaben Sie eine
historische Darstellung, indem Sie sagten, soundso viel Betriebe sind seit 1948 bis 1952 nach dem Westen gewandert. Herr Kollege Schöne, wir sind uns doch darüber einig, daß diese Wanderung von Osten nach Westen vor sich gegangen ist, ehe man überhaupt von den Verträgen gesprochen hat.
Sie liegt also im Zuge einer Entwicklung.
Sie erinnern sich der langen Beratung im Wirtschaftsausschuß über diese Frage, und ich glaube, ich war derjenige Abgeordnete im Wirtschaftsausschuß, der wegen der Bedeutung dieser Frage den Herrn Minister Erhard gebeten hatte, persönlich zu erscheinen. Wir waren uns aber im Ausschuß darüber klar, daß die Verhinderung eines weiteren' Ost-West-Gefälles zuungunsten des Ostens doch eine kardinale nationale Aufgabe des deutschen Bundeswirtschaftsministers ist.
Das hat mit den Verträgen nichts zu tun, genau so wenig, wie es bisher mit den Verträgen etwas zu tun hatte. Wir werden uns alle, unabhängig von den Vertragswerken, immer wieder darüber klarwerden müssen, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, damit wir dieses Ost-West-Gefälle aufhalten. Auch wenn wir hier nicht über die Vertragswerke zu reden hätten, die Problematik wäre kaum geändert.
Ich darf hier vielleicht noch einmal auf die Struktur des Vertrages hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation hinweisen. Wir waren uns doch über eine Erkenntnis klar: Der EVG-Vertrag schafft so etwas wie eine europäische Wirtschaftsebene.
Es bleiben aber für lange Zeit die nationalen Volkswirtschaften noch bestehen, und es wird die Kunst derer sein, die die kommende Entwicklung bestimmen, die nationalen Volkswirtschaften auf diese europäische Wirtschaft auszurichten und dafür zu sorgen, daß sie intakt bleiben. Im Rahmen dieser Vorsorge werden sich die deutschen wirtschaftspolitischen Erwägungen zur Verhinderung des von Ihnen zitierten Zustandes bewegen' müssen. Ich glaube, darüber waren wir uns im Wirtschaftspolitischen Ausschuß doch alle einig.
Nun ein Weiteres! Es wurde hier gesagt, in Zukunft werde allein der militärische Bedarf die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Das ist keineswegs richtig. Ich erinnere mich sehr wohl der Ausführungen der Herren Regierungsvertreter im EVG-Ausschuß und im Wirtschaftspolitischen Ausschuß, die immer wieder erklärten: Wir werden mit allen Mitteln bestrebt sein, dafür zu sorgen, daß nicht eine Rüstungspolitik betrieben wird, wie sie im Dritten Reich betrieben wurde, über Rüstungsinspektionen usw. Die militärischen Anforderungen müssen vorgelegt werden, die Entscheidung aber im volkswirtschaftlichen Sinne hat der zuständige Ressortminister zu treffen, weil ja die Aufrechterhaltung der nationalen Volkswirtschaft die vornehmste Aufgabe im Hinblick auf die Erfüllung der Verträge ist.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen doch nicht nur die Steigerung des Sozialprodukts zur Erfüllung der geldlichen Verpflichtungen ins Auge fassen, sondern Sie müssen auch den primären Sinn dieses Vertragswerkes ins Auge fassen, und dieser primäre Sinn ist . die europäische Verteidigung. Wir sind uns doch alle in diesem Hause, ich glaube, links wie rechts, darüber klar: wenn man sich im Grundsatz zu einer europäischen Verteidigung bekennt, muß man auch erkennen, daß die militärische Verteidigung doch nicht auf die Gestellung von Divisionen beschränkt ist, sondern daß sie bestimmt wird von der Wehrkraft des Volkes. Die Grundlage für die Wehrkraft ist aber eine günstige wirtschaftspolitische und- sozialpolitische Situation des gesamten deutschen Volkes.
Davon müssen wir doch in erster Linie ausgehen.
Wenn es freilich so wäre, wie manche glauben, nämlich die Vertragswerke seien in dem Sinne abgeschlossen, daß Deutschland von seinen Vertragspartnern geknebelt werde, bis es zusammenbreche, dann allerdings wäre das der schwerste Schlag, der einer europäischen Verteidigung versetzt werden könnte. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sich die Vertreter von sechs europäischen Mächten angesichts der östlichen Gefahr monatelang zusammensetzen und Kraft und Geld in dieses Werk stecken, um es dann eines Tages dadurch zu zerstören, daß man ihm die primitivsten Grundlagen entzieht, indem man die soziale und wirtschaftliche Grundlage in Deutschland vernichtet.
Wenn — und wir alle haben einmal den Aufbau einer Rüstungsindustrie miterlebt -- Schwierigkeiten kommen sollten, dann ist es die Pflicht aller Vertragspartner, uns zu helfen, diese Situation so zu meistern, daß unsere Wehrkraft und damit unser Wehrbeitrag nicht gestört werden. Ich halte diese Feststellung für wichtiger als die Sicherung des finanziellen Wehrbeitrags. Denn der finanzielle Wehrbeitrag hängt von der Leistungsfähigkeit des Landes ab; das ist ja vertraglich festgelegt. Es wird also unsere Aufgabe und die unserer Vertragspartner sein, diese Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Nun noch ein Weiteres zur allgemeinen wirtschaftlichen Situation. Ich habe mich bei der Durcharbeitung des wirtschaftspolitischen Teils sehr gefreut, feststellen zu können, daß nicht — und das 'muß als ein Erfolg der Delegationsberatungen bezeichnet werden — expressis verbis wirtschaftspolitische 'Festlegungen für die nächsten 50 Jahre getroffen worden sind, sondern daß man der Interessenlage der beteiligten sechs Länder genügend Spielraum gegeben hat, um die europäische Wirtschaftssituation von Fall zu Fall nach der Verteidigungslinie hin überprüfen und in Rechnung stellen zu können. Wir wollen nicht immer nur das Negative in den Vordergrund rücken, sondern wir wollen doch einmal klar sehen, welche Möglichkeiten für Europa, nicht nur für Deutschland, in diesen Verträgen liegen. Ich lehne es auch ab — das sage ich Ihnen ganz offen —, immer nur zu erklären, daß von einer gemeinschaftlichen europäischen Verteidigung Deutschland allein die Vorteile haben müsse. Entweder verteidigen wir alle Europa, dann haben wir auch alle dazu beizutragen, oder aber wir verhindern die europäische Entwicklung.
— Ja, meine Damen und Herren, dann sagen Sie mir den Weg, den Sie gehen wollen, um die abendländische Kultur und die historischen Errungenschaften unseres Volkes noch zu retten.
— Meine Freunde von ganz links, über abendländische Kultur wollen wir uns jetzt nicht unterhalten, vor allen Dingen nicht angesichts — —
— Herr Renner, meine bestimmt nicht!
Es ist aber auch sinnlos, auf diese Zwischenrufe im Augenblick einzugehen;
es hat gar keinen Zweck.
Herr Kollege Schöne hat nun weiterhin Befürchtungen wegen der ungleichmäßigen finanziellen Belastung in Deutschland. Ja, verehrter Herr Kollege 'Schöne, da liegt es doch nahe, an den verschieden hohen wirtschaftlichen Trend in den deutschen Ländern zu denken. Sie haben ja selbst Arbeitslosenziffern aus verschiedenen deutschen Ländern unter besonderer Berücksichtigung der Zonengrenzgebiete gebracht. Auch das ist doch keine primäre Frage der Verträge, sondern eine primäre Frage der richtigen deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik,
und wenn wir die nicht hätten, würden wir mit und ohne Verträge einem traurigen Schicksal entgegengehen. Ich möchte also diese Dinge nicht unbedingt an die Verträge gekoppelt wissen.
Nun habe ich persönlich bedauert, daß Sie gelegentlich eine Bemerkung einfließen ließen, als ob bei der Abfassung der Verträge oder bei dem Wunsch nach den Verträgen ausgerechnet diejenigen Pate gestanden hätten, die glaubten, durch Rustungs- oder Kriegswirtschaft besondere Gewinne herausarbeiten zu müssen. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn Sie diese Bemerkung etwas substantiiert hätten und sickt vielleicht etwas deutlicher ausgedrückt hätten; denn daß wir ein Rüstungsoder Kriegsgewinnlerwesen erzeugen wollen, das werden Sie wohl weder sich noch uns unterstellen. Es wird ja unsere gemeinsame Aufgabe sein, das in der Zukunft zu verhindern. Es ist aber immer schlecht, Herr Kollege Dr. Schöne, solche Bemerkungen zu machen. Sehen Sie, wenn ich gehässig wäre, könnte ich ja auch sagen: es gibt sicherlich Institutionen, die Sie aus sozialen oder wirtschaftspolitischen Gründen °fordern, und Sie würden es als sehr häßlich empfinden, wenn wir sagen, daß dadurch Stellen geschaffen würden, an denen sich Leute die Hände wärmen.
Ich tue das aber nicht; denn man soll, wenn man sich schon ernsthaft mit einer Sache auseinandersetzt, nicht eine Institution benutzen, um diffamierend zu wirken. Wenn Sie also im Grundsatz Befürchtungen haben, dann besteht ja in der sehr breiten Debatte die Möglichkeit, daß wir uns darüber hier aussprechen, aber nicht in der Form einer gelegentlichen Bemerkung; das halte ich nicht für sehr glücklich.
Nun noch ein Wort zum Überleitungsvertrag. Auch hier, Herr Schöne, haben wir doch im Wirtschaftsausschuß die Dinge sehr klar durchgearbeitet, und wir haben festgestellt, daß es in diesem Überleitungsvertrag eine Unzahl Dinge gibt — Sie haben sie andeutungsweise erwähnt —, die uns nicht passen und die Ihnen nicht passen. Aber jetzt darf ich einmal die Frage an Sie richten. Sie sind ja genau so gut wie wir für den wirtschafts- und sozialpolitischen Fortschritt in Deutschland. Angenommen, wir würden den Generalvertrag mit dem Überleitungsvertrag nicht annehmen, was würde sich dann gegenüber dem derzeit geforderten Vertragszustand eigentlich geändert haben? Es würde sich gar nichts ändern. Während jetzt nur ein Prozentsatz der alliierten Gesetzgebung zementiert oder versteinert wird — mit der Revisionsmöglichkeit versteinert wird —, würde doch durch ein Nein zu den Verträgen das gesamte Besatzungsstatut versteinert werden.
Das Sicherheitsamt würde versteinert werden, und die ganzen Industriebeschränkungen würden weiterbestehen.
— Natürlich würden sie das!
— Einen Augenblick! — Es würde 'Gegenstand neuer Verhandlungen sein
— warten Sie mal ab! —, diese Institution zu beseitigen. Glauben Sie denn, daß der Vertragspartner, nachdem man ihm die bisherigen Möglichkeiten abgelehnt hat, bereit ist, in der Zukunft mehr zu konzedieren, als hier in den Verträgen schon konzediert ist und durch die Ratifizierung in absehbarer Zeit an Möglichkeiten der Weiterentwicklung im deutschen Sinne eingeräumt wird? Man muß doch diese Dinge einmal ganz real sehen.
Meine Damen und Herren, gerade weil wir glauben, diese Verträge sind nur eine Momentaufnahme aus der derzeitigen Entwicklung, weil wir glauben, daß sie eine Basis bilden zu einer europäischen Entwicklung hin, bejahen wir die Verträge. Und glauben Sie mir, ich gehöre sicher zu den Abgeordneten — das wird dem Hause bekannt sein —, die sich sehr um dieses Ja gequält haben, die sehr geprüft haben, ob dieses Ja in eine lichtere deutsche und eine lichtere europäische Zukunft hineinführe.