Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich begründe zunächst den Antrag Nr. 615 der Fraktion der Deutschen Partei
zum § 4 und begründe dann den weiteren Antrag, Sammelantrag Schäfer, Horn, Kalinke, Umdruck Nr. 625.
Zum Antrag Umdruck Nr. 615, Änderungsantrag der Fraktion der Deutschen Partei: Die Deutsche Partei hat so, wie es ursprünglich in der Koalition nicht nur vereinbart und besprochen, sondern auch in der Regierungsvorlage vorgesehen war, die Versicherungspflichtgrenze mit diesem Antrag wieder auf den Stand herabzusetzen gewünscht, der in der Drucksache Nr. 3350 enthalten ist. Wir sind der Auffassung, daß die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, wie sie die Regierungsvorlage vorsieht. ein wohlabgewogenes Maß hat, nämlich etwa dem entspricht, was an Lohnerhöhungen in Wirklichkeit erfolgt ist. Um in der vorgeschrittenen Nachtstunde nicht über dieses Thema noch eine ausführliche Diskussion zu entfachen, möchte ich mich darauf beschränken, zu erklären, daß wir beim § 4 und allen folgenden Paragraphen wieder die Regierungsvorlage hinsichtlich der Höhe der Versicherungspflichtgrenze herstellen wollen.
Uns liegt daran, festzustellen, daß bei der Berichterstattung über die Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuß, bei der zum Teil sehr ausführlich auf die Problematik hingewiesen worden ist, ein Punkt nicht dargelegt wurde: daß nämlich über das echte Schutzbedürfnis und über die Frage des Versicherungsbedürinisses keine Klarheit weder im Ausschuß, noch innerhalb der Koalition, noch zwischen Koalition und Opposition bestanden hat. Es ist in dieser so wesentlichen Frage der Versicherungspflichtgrenze notwendig und erscheint meinen politischen Freunden unerläßlich, darauf hinzuweisen, daß in der Diskussion unserer Zeit der Mensch ein besonderes Schutzbedürfnis empfindet, dem er mit Hilfe des Versicherungsbedürfnisses und der Verantwortung, sich aus eigener Kraft gegen die Wechselfälle des Lebens zu schützen, entspricht. Daß aber das Schutzbedürfnis, das die Grundlage für die Festsetzung einer Zwangsversicherung durch den Staat ist, eine andere Grenze hat als etwa das Versicherungsbedürfnis, das derjenige empfindet, der in freier Selbstverantwortung sich zu schützen bestrebt ist, versteht sich wohl von selbst. Und deshalb, weil diese Frage so wenig erkannt und weil die Diskussion so wenig frei von großen sozialpolitischen Grundsätzen hier geführt worden ist, bedauern wir sehr, daß bei der Diskussion um die Versicherungspflichtgrenze nicht erkannt wurde, daß ein Mensch, der 1000 DM monatlich verdient — und um diese Zahlen, um diese Einkommensverhältnisse hat es sich gehandelt —, ein Schutzbedürfnis nicht mehr hat und eine Schutzbestimmung des Staates durch einen Versicherungszwang in keiner Weise mehr gestatten und auch nicht mehr dulden sollte.
Wir sind der Auffassung, daß das, was die Grundlage der Erhöhung der Versicherungspflicht in der Angestellten- und Knappschaftsversicherung war, in gar keinem Verhältnis zu der echten sozialen Situation unseres Volkes steht.
Als die Arbeiter in die Zwangsversicherung und damit in die Sozialversicherung einbezogen wurden, standen sie weitestgehend unter sozialem Druck und waren weitestgehend schutzbedürftig. Das war um die Jahrhundertwende.
— Heute sind ganz andere Personenkreise schutzbedürftig! Herr Kollege Winkelheide, wenn Sie das Beispiel, das Sie uns immer wieder vorgetragen haben, meinen — die Obersteiger und die höheren Bergbauangestellten —, so sind diese Personenkreise durchaus in der Lage — und haben das bisher vorbildlich getan —, ihren Versicherungsschutz da zu finden, wo sie aus freier Verantwortung diesen Schutz — entweder freiwillig versichert in ihrer Knappschaft oder freiwillig versichert in einer privaten Versicherung — finden können. Die Frage der Erstattung der Versicherungsbeiträge und Anteile durch die Arbeitgeber ist über die gesetzliche Regelung hinaus durchaus der freien Vereinbarung in Tarifverträgen, der Fürsorgepflicht des Betriebes und der eigenen Verantwortung überlassen.
Darüber hinaus muß ich trotz der Kürze der Zeit darauf aufmerksam machen, daß eine Fülle von damit zusammenhängenden sozialpolitischen Problemen leider weder diskutiert worden noch daß überhaupt der Versuch gemacht worden ist, sie einer echten Lösung entgegenzuführen. Ich habe im Ausschuß immer wieder darauf hingewiesen, daß die deutschen Arbeiter, die keine Versicherungspflichtgrenze kennen und bei denen Einkommen weit über 700 DM monatlich heute nicht selten sind, auch heute weiterhin in der Versicherung bleiben und — Herr Dr. Hammer wird es nachher sicher sehr temperamentvoll vortragen — auch weiterhin mit dem Krankenschein der Krankenkasse zum Arzt gehen können. Meine politischen Freunde sind der Auffassung, daß die Frage der Versicherungspflichtgrenze, wie sie hier diskutiert wird, nicht nur eine Gruppe betreffen sollte, sondern daß sie alle deutschen Arbeitnehmer gleichermaßen da angeht, wo die Fürsorgepflicht des Staates und das Schutzbedürfnis wie die Verantwortung des einzelnen ihre Grenzen haben. Deshalb bedauern wir, daß im Sozialpolitischen Ausschuß die so wichtige sozialpolitische Frage überhaupt nicht diskutiert worden ist, ob heute noch mit Berechtigung gefordert werden kann, daß alle Arbeiter ohne Rücksicht auf ihre Einkommensverhältnisse der Versicherungspflicht unterliegen.
Wir bedauern auch — und damit komme ich zu dem hier schon besprochenen § 4 —, daß bei der Diskussion um die Wiederinkraftsetzung des § 178 der Reichsversicherungsordnung — dem wir im Grundsatz aus voller Überzeugung zustimmen —, die Aussprache leider nicht von dem echten sozialpolitischen Bedürfnis nach einer sozialen Reform, die der gegenwärtigen Situation entspricht, geführt worden ist. Was ist denn tatsächlich eingetreten? Wenn § 178 wieder in Kraft gesetzt wird, dann werden sämtliche Arbeiter und alle hochverdienenden Facharbeiter weiter mit einem Krankenschein zum Arzt gehen, für den dann der Arzt den nicht ausreichenden Lohn — wie es Herr Dr. Hammer Ihnen sicher erklären wird — empfängt. Es werden weiter alle Selbständigen mit dem Krankenschein zum Arzt gehen, soweit sie als Versicherungsberechtigte und Weiterversicherte nachweisen werden, daß sie monatlich unter 700 DM verdienen. Weiter werden alle Knappschaftsangehörigen in ihrer Versicherung bleiben. Dagegen werden Sie keine Möglichkeit haben zu verhindern, daß eine einzige Gruppe, nämlich die Angestellten, an einem Tage — den Sie hier mit dem 1. Januar 1953 ansetzen — aus der Versicherungspflicht ausscheiden müssen, wenn sie 700 DM im Monat verdienen.
Hier, meine Herren und Damen, sind zwei Probleme, die uns alle im Ausschuß ernsthaft beschäftigt haben. Es handelt sich um das Problem des Angestellten, der über 45 Jahre alt ist und sich ernste Sorge darüber macht, aus seiner Kasse, der er zwanzig Jahre und länger angehört hat, ausscheiden und Mitglied einer privaten Krankenversicherung werden zu müssen. Es trifft nicht zu, was Frau Kollegin Korspeter gesagt hat, daß die Erklärung der privaten Krankenversicherung keinen Schutz gewährleistet.
Ich muß zur Steuer der Wahrheit sagen, daß die private Krankenversicherung und ihr zuständiger Verband dem Sozialpolitischen Ausschuß weitgehende Zusicherungen gemacht und das Aufsichtsamt der privaten Krankenversicherung die Erklärung abgegeben hat, daß sie bereit sei, alle die Einschränkungen nicht gelten zu lassen, die sonst im privaten Krankenversicherungsvertrag üblich sind. Trotzdem haben wir sehr große Bedenken dagegen, mit einem Fedèrstrich eine Zwangslösung vorzunehmen. Wir hätten es glücklicher gefunden, wenn diesem Personenkreis eine echte Freiheit der Wahl zwischen der Sozialversicherung und der Privatversicherung gegeben würde.
Ich habe mich im Ausschuß mit einer Fülle von Vorschlägen darum bemüht — wir waren sogar in einem gewissen Zeitpunkt weitgehend einig —, dafür zu sorgen, daß dieser Personenkreis die Wahlfreiheit erhält und darüber hinaus garantiert wird, daß die Versicherungsberechtigten nach § 176 RVO und die Weiterversicherten nach § 313 RVO ihr Recht auf kassenärztliche und kassenzahnärztliche Versorgung verlieren, d. h., daß dieser Personenkreis nicht mit einem Krankenschein zum Arzt geht, sondern die Möglichkeit hat, seinen besonderen Verhältnissen entsprechend weiter versichert zu sein, wenn er die eine oder die andere Form wählt. Wir haben das nicht zuletzt aus einem echten sozialpolitischen Anliegen getan. Das könnte für die künftige Reform von großer Bedeutung sein.
Ich habe im Ausschuß berichtet, daß in der deutschen Knappschaft bereits seit 1927 eine solche auf Freiwilligkeit aufgebaute Regelung für die höheren Knappschaftsbeamten und -angestellten—über die allgemeine Regelung der Krankenversicherung hinaus — besteht. Auch habe ich festgestellt und dem Ausschuß davon Kenntnis gegeben, daß die Regelung, die im § 16 des Reichsknappschaftsgesetzes und in der Satzung verankert ist, so vorzüglich ist, daß die Angehörigen dieser Versicherung privat zum Arzt gehen können, einen Krankenschein nicht in Anspruch nehmen und die Leistungen satzungsgemäß so erhalten, wie sie den Bedürfnissen dieses Kreises entsprechen. Es wäre eine wahre sozialpolitische Tat gewesen, wenn man bei der Neuregelung des § 178 RVO einen Weg gefunden hätte, auf dem mit diesem Versichertenkreis hätte ausprobiert werden können, welche für die Zukunft vorbildlichen Lösungen sich auf dem Gebiet der Selbstverantwortung und Selbstbeteiligung finden lassen.
Wir sind in der heutigen Auseinandersetzung über dieses Problem weit von dem abgegangen, was die Bundesregierung in ihrer Begründung Drucksache Nr. 3350 gesagt hat. Darin heißt es nämlich, „daß die deutsche Sozialversicherung bewußt nur Personen erfassen will, die wegen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage eines Schutzes gegen die Wechselfälle des Lebens bedürfen".
Es steht weiter darin, daß die Grenze für die Versicherungspflicht dort liegen soll, wo dieses Schutzbedürfnis nicht mehr vorhanden ist, und daß weitere Personenkreise nicht in die Versicherung einbezogen werden sollen.
Der Antrag Umdruck Nr. 615 der Deutschen Partei dient dem Zweck, die Regierungsvorlage, die im Arbeitsministerium mit allen Organisationen abgesprochen und wohl ausgewogen ist, wiederherzustellen. Außerdem bezweckt er, Klarheit zu schaffen, daß man in der Rentenversicherung Übergangslösungen geschaffen hat, die wir außerordentlich begrüßen, besonders im Hinblick auf den Kreis der Lebensversicherten, die jetzt etwa pflichtmäßig in die Sozialversicherung kommen und die Möglichkeit zur freien Entscheidung haben müssen. Wir begrüßen auch die Übergangslösung für die Knappschaft und bedauern nur, daß eine Übergangslösung für die Krankenversicherung nicht gefunden ist. Da wir Wert darauf legen, daß die dritte Lesung nach Möglichkeit noch am Sonnabend stattfindet, werden wir den Antrag, den wir gemeinsam gestellt haben, in Übereinstimmung mit den Kollegen Horn, Schäfer und Genossen heute zurückziehen unter dem Vorbehalt, in der dritten Lesung einen anderen Antrag zu stellen. Außerdem wird die Fraktion der Deutschen Partei in der zweiten Lesung dem § 4 der Regierungsvorlage zustimmen unter der Voraussetzung, daß wir uns für die dritte Lesung, die wir noch in dieser Woche erhoffen und, mit der wir das Gesetz verabschieden möchten, alle Entscheidungen vorbehalten.