Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler und die Sprecher der Koalition haben gestern und heute die These vertreten, daß diese Westverträge und die damit verbundene Politik der einzig mögliche Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit seien. Die dazu vorgetragenen Gesichtspunkte haben uns weder gestern noch heute zu überzeugen vermocht. Dieser Weg, so wie er sich uns nach all dem darstellt, was wir bisher an Argumenten gehört und an Dokumenten studiert haben — und wir werden sie in der Einzelberatung, die in den Ausschüssen bevorsteht, noch aufmerksamer studieren müssen —, befreit die Bundesrepublik unserer Meinung nach, nicht aus einem Zustand der Zwielichtigkeit und der Inaktivität in den Fragen, die das zentrale Anliegen aller deutschen Politik sein müssen. Es ist unerträglich, wenn in diesen Fragen — ich meine die Fragen der deutschen Wiedervereinigung — nicht völlige Klarheit geschaffen wird.
Der Bundeskanzler hat sich vorhin darüber beschwert, die Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion hätten nicht gebührend Rücksicht genommen auf die lange Liste von Noten und Erklärungen, die die Regierung zu diesem uns alle bewegenden Problem der deutschen Einheit abgeben hat. Es handelt sich ja zum großen Teil um Beschlüsse, die aus der Initiative der Fraktionen dieses Hauses und des Gesamtdeutschen Ausschusses erwachsen sind. Aber lassen wir das beiseite ! Es kommt jetzt nicht darauf an, Herr Bundeskanzler, welche Schreiben Sie den Alliierten 1950 und 1951 geschickt haben, sondern das deutsche Volk hätte jetzt ein Recht zu wissen: Was hat denn eigentlich die deutsche Bundesregierung von sich aus initiativ und mit dem Versuch der Gestaltung getan, seitdem die Phase des neuen
Notenwechsels zwischen den Westmächten und der Sowjetunion begonnen hat?
Wir können hier doch nicht zusammenkommen. um Geschichtsforschung zu betreiben, sondern wir sind hier, um uns mit Fragen dar aktuellen Politik auseinanderzusetzen.
- Nun, Herr Kollege Lücke, der Bundeskanzler hat gesagt, wenn wir heute abend oder morgen früh den Text der Note lesen würden, würden wir sehen, daß die Forderungen, die mein Freund Wehner auch heute noch einmal nachdrücklich vertreten hat, in dieser Note enthalten sind. Ich kann dazu lediglich erklären: wir werden uns unter diesem Gesichtspunkt die Note sehr genau ansehen.
Wir bestreiten dem Herrn Bundeskanzler und den Sprechern der Koalition die sachliche Berechtigung, zu sagen, daß dieser von ihnen für richtig gehaltene Weg nicht nur der gegebene Weg, sondern, wie sie gesagt haben, sozusagen auch die Garantie zur Erreichung des Ziels der deutschen Einheit sei. Angesichts der Entrüstung, die vorhin wieder durch den Herrn Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht worden ist, und angesichts dessen, was der Kollege Strauß heute morgen über die vertraglichen Verpflichtungen anderer für die deutsche Einheit gesagt hat, frage ich mich manchmal, ob die Bundesregierung und die geschätzten Kollegen aus der Mitte und von der Rechten dieses Hauses keine ausländischen Zeitungen lesen, ob sie nicht zum mindesten den Informationsdienst, der vom Presseamt der Bundesregierung herausgegeben wird, lesen.
Herr Kollege Strauß ist jetzt leider nicht da, aber ich muß es ihm trotzdem sagen, da es sich ja weniger um den französischen Herrn de Gaulle, sondern darum handelt, daß eine Serie ernst zu nehmender einflußreicher Presseorgane in den Vereinigten Staaten, in England und in anderen Ländern übereinstimmend der Auffassung Ausdruck gegeben haben, die uns außerordentlich besorgt macht: der Weg dieser Verträge sei wohl oder übel mit der großen Gefahr verbunden, daß die Spaltung Deutschlands versteinert und die Teilung auf lange Sicht festgelegt werde.
ich habe hier nicht die Zeit, aber ich kann jedem Kollegen aus dem Hause, der sich dafür interessiert, ein ganzes Bündel solcher Zeitungen, nicht irgendwelcher Provinzblättchen, sondern maßgeblichster Zeitungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, zur Verfügung stellen.
Wir glauben auch nicht, meine Damen und Herren von der Mitte und der Rechten des Hauses, daß es sachlich berechtigt ist, eine Richtung der westlichen Politik gleichstellen zu wollen und sozusagen suggestiv dem Volk gegenüber gleich- setzen zu wollen mit der Zugehörigkeit zum Westen oder gar mit dem Bekenntnis zur Freiheit.
Das ist eine völlige Verschiebung der Positionen.
Aber ich habe nicht zuletzt darum um das Wort gebeten, weil ich auch der Meinung bin, daß es falsch ist, falsch vorn Herrn Bundeskanzler, falsch gestern auch vom Kollegen Gerstenmaier, für eine Politik, die so umstritten ist wie die, über die wir heute streiten, die wehrlose Bevölkerung der Sowjetzone, die hier nicht selbst ihre Meinung sagen kann, sozusagen mit Beschlag belegen zu wollen.
Es ist ganz gewiß so, daß die Bevölkerung der Sowjetzone auf uns schaut. Herr Bundeskanzler, Sie haben heute morgen einen Brief bekommen, sagen Sie. Wir bekommen auch Briefe, und einige von uns reden mit den Menschen aus der Zone jede Woche und sehr häufig. Aber wir glauben nicht, daß es richtig ist — dazu ist die Lage dieser unserer 18 Millionen in der Sowjetzone viel zu ernst aus ihren Äußerungen propagandistisches Kapital zu schlagen.
Die Ehrlichkeit gebietet auch zuzugeben, daß die Bevölkerung in der Sowjetzone den tatsächlichen Inhalt dieser Verträge noch weniger kennt und kennen kann als die Bevölkerung im Westen Deutschlands.
Es gilt auch, zu erkennen, Herr Kollege, daß die Stimmen der Verzweiflung aus der Zone, die ich mindestens so gut kenne wie irgend jemand in diesem Saal, die Stimmen des „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende", gewiß das erschütternde Schicksal unserer Menschen hinter dem Eisernen Vorhang widerspiegeln, aber daß sie doch nicht den Weg deutscher Politik bestimmen können.
Denn dieser Weg der deutschen Politik kann
weder für uns noch für unsere Menschen in der
Zone und in Berlin — das ist vorhin übereinstimmend erklärt worden - der Weg einer militärischen Lösung des deutschen Einheitsproblems sein.
Lassen Sie mich ein Wort hinzufügen. In dieser Debatte ist von Panmunjon gesprochen worden. Ich finde, es ist falsch, eine so harte Kritik an den Amerikanern zu üben, wie sie heute in bezug auf Panmunjon geübt worden ist.
So unerträglich und so nervenaufreibend Verhandlungen dieser Art mit den dort in Frage stehenden Größen der Weltpolitik sein mögen — ich stehe zu dem Wort, daß trotzdem ein Monat und ein Jahr nutzloser Verhandlungen dieser Art, zunächst nutzloser Verhandlungen, besser für die Welt und für die Menschheit ist als eine Minute eines ohne Not heraufbeschworenen dritten Weltkrieges.
Der Kollege Lemmer hat heute morgen von der Bundesrepublik als dem Vaterland aller Deut-
sehen gesprochen. Für die Menschen in der Sowjetzone ist die Bundesrepublik zumindest -die Hoffnung, und unsere Aufgabe ist es, die Hoffnung dieser Menschen nicht zu enttäuschen.
Lassen wir jetzt einmal dahingestellt, ob alles bisher Mögliche geschehen ist. Wir zweifeln daran. Halten wir uns an das, was jetzt auf der Tagesordnung der deutschen Politik steht!
Uns erfüllt die Sorge — Herr Kollege Wehner hat dieser Sorge Ausdruck verliehen, und ich bedaure, daß der Herr Bundeskanzler sich nicht mit dem auseinandergesetzt hat, was Kollege Wehner wirklich gesagt hat, sondern mit dem, von dem der Herr Bundeskanzler glaubt, daß er es gesagt habe —, ich sage: uns erfüllt die große Sorge, daß der deutschen Politik in dieser unserer entscheidenden Schicksalsfrage doch bis zu einem starken Grade die Hände gebunden werden. Der Herr Bundeskanzler hat es in der Sache zugegeben. Er hat hier erklärt, nach diesen Verträgen stehe uns jeden Tag und jede Stunde das Recht zu, bei den Westmächten zu erscheinen und Verlangen anzumelden, Forderungen zu stellen, die sich auf dieses Problem erstreckten. Erstens ist das nichts Neues, denn bei den Westmächten kann man wohl auch heute schon erscheinen.
Zweitens aber bestätigt diese Formulierung „wir können jederzeit bei den Westmächten erscheinen" jenen unserer Meinung nach besonders unbefriedigenden Teil des Generalvertrages,
in dem es der Sache nach in der Frage der deutschen Einheit eben doch ein Vetorecht der Anderen gibt.
Wir werden ja auf die Einzelheiten zurückkommen, wir werden Ihnen in der zweiten Lesung nichts schenken.
Gestern und heute konnte es sich der Sache nach nur um eine Auseinandersetzung in großen Zügen handeln.
- Aber eines, Herr Kollege Krone, nimmt Ihnen weder in Berlin noch in der Zone irgend jemand ab. Das ist die Redensart desjenigen, der sich der Kritik im demokratischen Staat stellen soll: Ja, wenn Sie an meiner Stelle verhandelt hätten., hätten Sie todsicher auch nichts anderes erreichen können! Das erinnert mich an das Argument eines bekannten amerikanischen Korrespondenten vor gut einer Woche, der schrieb, man könne doch den armen Leuten, die auf deutscher wie auf alliierter Seite monatelang verhandelt und sich dabei vielleicht graue Haare eingehandelt hätten, nicht zumuten, mit diesem grausamen Spiel des Verhandelns noch einmal zu beginnen. Dieses Argument der grauen Haare ist — bei allem Re- spekt vor den 18stündigen Verhandlungen, auf die auch der Herr Bundeskanzler hier Bezug genommen hat — doch wohl nicht jener Maßstab, von
dem aus dieses Haus und die Ausschüsse an die Einzelberatung dieser Verträge herangehen sollten.
— Herr Kollege, was die Billigkeit angeht, so wäre dieser Zwischenruf zu einem früheren Zeitpunkt, glaube ich, mindestens ebenso angebracht gewesen.
Wenn wir zu den Einzelheiten Stellung nehmen sollen, dann sollten wir auch nicht mitten in einer solchen Debatte wie heute - ich habe das in bezug auf den Kollegen Wehner und die Antwort des Herrn Bundeskanzlers schon gesagt — die Argumente so verkehren, daß sich für die Leute, die uns zuhören, kein vernünftiger Zusammenhang mehr ergibt. Was hat der Kollege Erler hier gesagt? Er hat auf die sehr ernsten Probleme hingewiesen, die doch auch jeder von Ihnen sehen muß, wie Sie die Dinge auch beurteilen mögen, die sehr ernsten Probleme finanzieller und ökonomischer Art, die sich aus dem Verteidigungsbeitrag ergeben. Dabei handelt es sich, wie Kollege Schoettle schon gestern erwähnte, neben dem laufenden finanziellen Verteidigungsbeitrag um den Block der 40 Milliarden, die so oder so für die materielle Ausrüstung des deutschen Kontingents aufgebracht werden müssen.
— Für die Erstausrüstung, ganz richtig. Mit diesem Argument — ganz egal, zu welchem Schlußergebnis wir im übrigen kommen mögen, Herr Bundeskanzler — kann man sich doch vor der deutschen Öffentlichkeit nicht mit Ihrem Gegenargument auseinandersetzen, daß über nicht
mehr zu leisten sei, als was jetzt an Besatzungskosten zu leisten ist. Denn das ist einfach nicht
richtig.
Ich habe schon gesagt: Es ist einfach nicht wahr, wenn man so tut, als gäbe es nur eine Art des Verhaltens in der westlichen Welt. Man macht es sich zu leicht, wenn heute wieder - vor allen Dingen in den Vormittagsstunden — der Trennungsstrich konstruiert werden sollte zwischen einer verantwortungsbewußten Mehrheit des Hauses und einer Opposition ohne Verantwortung. Es ist von unserer Seite zu einem früheren Zeitpunkt gesagt worden, aber ich glaube, es muß in dieser Debatte noch einmal wiederholt werden: Auch wir tragen unsere Verantwortung vor dem Grundgesetz und vor dem Volk und sind uns dieser Verantwortung bewußt,
und durch diese Verantwortung ist unsere Argumentation, ist unsere kritische und, wie wir glauben, auch positive Auseinandersetzung mit der uns vorliegenden Politik getragen.
Ich darf nach einmal wiederholen: Die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen Bundestages besteht nicht aus Neutralisten, sie besteht nicht aus Illusionären einer absoluten Waffenlosigkeit in dieser ach so unvollkommenen und so wenig friedfertigen Welt.
— Aber wenn Sie es wissen wollen, Herr Kollege
Strauß — eigentlich hat es Ihnen der Kollege
Carlo Schmid gestern schon gesagt —: falls sich, sei es heute oder sei es morgen, die Möglichkeit zur Einheit in Freiheit unserem Volke bieten sollte — und wir sollten unser Teil dazu beitragen, daß sich solche Möglichkeiten böten —,
dann müßte die deutsche POlitik dazu ja sagen, auch um den Preis des Verzichts auf gewisse Ihnen liebgewordene militärpolitische Konstruktionen.
Und Sie handeln nicht recht, wenn Sie etwas als illusionär oder gar verwerflich bezeichnen, was ernsthaft gar nicht erprobt ist.
Herr Kollege Gerstenmaier hat gestern von der Gefahr gesprochen, daß in Düsseldorf oder in München etwas passieren könnte. Unser Leben als Einzelne und als Volk ist in dieser Periode, in der wir leben, in der Tat voller Gefahren. Ohne politisches Risiko und ohne Zutrauen zu diesem Volk und gerade zu den 18 Millionen in der Sowjetzone werden wir in der Tat nichts erreichen können. Wir werden bereit sein müssen, ein gewisses politisches Risiko einzugehen, genau so wie wir gemeint haben und weiterhin meinen, daß die deutsche und europäische Politik das Risiko einer Korrektur ihrer ursprünglichen Zeitpläne verträgt, und genau so gut wie wir meinen, daß die deutsche und europäische Politik das Risiko — wie ich meine: die Notwendigkeit! — einer neuen, gründlichen Überprüfung des ganzen Vertragswerkes erfordert.
Lassen Sie mich abschließen. Die hier wie früher vielfach entstellte Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist getragen von einem dreifachen Ja: Ja zur Solidarität der Demokratien und zur gleichberechtigten Mitwirkung Deutschlands in der europäischen und internationalen Zusammenarbeit,
Ja zum Frieden und damit zum unausgesetzten
und ernsthaften Bemühen um die Lösung der gesamtdeutschen Frage und der europäischen Krise,
Ja, meine Damen und Herren, aber vor allem auch und immer wieder zur Erstrangigkeit des Ringens um die Einheit dieses Volkes auf dem Boden der Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.