Rede von
Dr.
Hugo
Decker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es auch klar ist, daß an dem Vertragswerk so, wie es vorliegt, nichts mehr geändert werden kann, so erübrigt es sich doch nicht, daß in der ersten Lesung die einzelnen Punkte hervorgehoben werden, in denen die Fraktion der Föderalistischen Union besonders schwerwiegende Unklarheiten, Schwierigkeiten oder besonders drückende Bestimmungen erblickt, damit diese Punkte in den Ausschüssen besonders behandelt und geprüft werden. Wir erhoffen uns hiervon auch eine Auswirkung auf die künftige Auslegung, Handhabung und Entwicklung des Vertragswerks.
Das erste und ernste Anliegen ist für uns, daß das Vertragswerk bindend und unmittelbar eine
wirksame Verteidigung des Bundesgebiets an seinen äußersten Grenzen gewährleistet,
Grenzen, die zum größten Teil keine echten Grenzen, sondern offene Wunden sind
und über denen die Drohung lastet, sie könnten einmal zu kontinentalen Grenzen, zur Trennungslinie Europa—Asien mitten im Herzen Deutschlands werden.
Die Grenze gegen die Tschechei darf dabei nicht
Gegenstand minderer Sorge als die Elbelinie sein.
Der Deutschlandvertrag führt in seiner Präambel die Wiederherstellung eines vereinigten Deutschlands als eines seiner Hauptziele an. Seine Gegner stellen die politische Arbeitshypothese auf, der Vertrag hindere die Wiedervereinigung Deutschlands. Gewiß, er könnte als ein Mittel dazu mißbraucht werden. Es besteht auch kein Zweifel, daß er von russischer Seite als eine Erschwerung der Wiedervereinigung betrachtet werden wird. Aber sicherlich hindert das Vertragswerk eine Wiedervereinigung zu einem Ostsatellitenstaat Deutschland,
und augenscheinlich bringt er uns, wenn einmal Vierer-Verhandlungen mit dem Ziele der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zustande kommen sollten, gewichtige Bundesgenossen.
Vielleicht fänden sich um die Preisgabe eines anderen Zieles, nämlich der Föderation Europas, leichter Wege zu einem Zusammenschluß der beiden Trümmer Deutschlands. Aber wir dürfen und können nicht das eine mit dem anderen erkaufen.
Ebensowenig wie der Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands der Verzicht auf die Teilnahme an der Föderation Europas sein darf, darf diese um die Preisgabe eines in Freiheit vereinten Deutschlands erkauft werden. Beides ist dem deutschen Volke gleich wert und gleich lebensnotwendig.
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß der Verteidigungsbeitrag das wichtigste Glied des gesamten Vertragswerks ist. Zugegeben. Aber wir möchten darin nicht einen Ausdruck dafür erblicken, daß die Aufrüstung der Weisheit letzter Schluß ist.
Wir geben uns keiner Illusion über die Bedeutung von Verträgen, auch über die Bedeutung dieses Vertrages, hin, wenn es nicht gelingt, der europäischen Bevölkerung klarzumachen, daß hinter diesem Vertrag mehr als nur Interessen einzelner Regierungen, nicht einmal Völker, stehen, wenn es nicht gelingt, die Ideen dieser Verträge, die in den Präambeln zum Ausdruck kommen, in der europäischen Bevölkerung verwurzeln und verwachsen zu lassen.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. Gerade da, wo es am wichtigsten ist, nämlich bei der Jugend, sind Vertrauen, Wehrbereitschaft und Wehrwille schmählich zerstört worden. Es war kein Nazitum,
sondern echte Bereitschaft und echter Wille, unsere Heimat und unser Volk zu verteidigen und zu schützen,
als die Truppen noch während des Zusammenbruchs bereit waren, mit den westeuropäischen Armeen einen Damm nach dem Osten zu errichten.
Nicht daß dies ausgeschlagen worden ist — was verständlich war —, sondern wie und unter welchen Umständen, hat der Jugend, j a dem ganzen deutschen Volk einen schweren Schock versetzt. Es ist nicht vergessen, und ich muß es heute leider wiederholen, daß Eisenhower ganze deutsche Armeen, die sich ihm ergeben haben, in sibirische Lager geschickt hat, daß Berlin, Wien und Prag den Russen ausgeliefert worden sind, — gewiß keine Leistung weitschauender, westliche Interessen wahrender Politik!
Die damalige Behandlung der deutschen Jugend, nur weil sie deutsche Soldaten waren, muß erst nach und nach wieder zum Vergessen gebracht werden.
Ein Schritt dazu wäre nicht zuletzt eine wirklich großzügige Freigabe der noch unter dem Vorwand von Kriegsverbrechen zurückgehaltenen Kriegsgefangenen.
Alles kommt darauf an, daß Deutschland ebenso Vertrauen zu den Vertragspartnern gewinnt, wie es selbst seine Kräfte einsetzen muß, das Vertrauen seiner Partner zu erwerben. Der Mißbrauch des Vertrauens durch die Siegermächte würde das Vertragswerk zum Totengräber der europäischen Idee machen.
Die aus den schlimmen Erfahrungen berechtigter- und verständlicherweise entstandene geistige Haltung des deutschen Volkes zur Wehrfrage läßt uns die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht als einen schweren, kaum tragbaren Fehler erscheinen. Vom Standpunkt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft aus gesehen dürfte es doch genügen, wenn Deutschland seine Kontingente in voller Höhe bereitstellt. Wie es die Rekrutierung durchführt, ist seine innere und ureigenste Angelegenheit.
Eine Einmischung in diese weist sehr viel weniger auf föderative europäische Ideen als auf zentralistisches Machtstaatdenken hin. Der besatzungsrechtliche Status der deutschen Soldaten ist unseres Erachtens auch noch nicht völlig geklärt.
An der Organisation der europäischen Verteidigung stimmt bedenklich, daß im Kommissariat eine Machtanballung vorgesehen ist, die dieses Gremium mit geradezu diktatorischen Vollmachten ausstattet. Ihm gegenüber hat die Versammlung nicht das entsprechende in Demokratien dem Parlament zustehende Gegengewicht.
Eine möglichste Beschleunigung des Ersatzes der Schumanplanversammlung durch ein echtes europäisches Parlament ist deshalb zeitlich und sachlich dringend notwendig, ebenso wie die Ergänzung der Vertragsbestimmungen durch ein klares Bekenntnis eines jeden Vertragsteilnehmers, wirklich und unverzüglich ein wirkungsfähiges Parlament einer europäischen Föderation schaffen zu wollen. Bisher, auch in Straßburg, ist immer nur
ein „Möchten", nie ein „Wollen", immer nur ein
Wunsch, nie ein Wille zum Ausdruck gekommen.
So sehr wir in vielen Punkten mit der Konzeption des Kollegen Strauß einverstanden sind, so wenig können wir uns seinen Ausführungen über die vierte Dimension anschließen. Für Mathematiker und Naturwissenschaftler ist bekanntlich die vierte Dimension eine recht reale Größe, nämlich die Zeit; und die Zeit dürfte für den Politiker ebenso eine zu berücksichtigende und reale Größe sein. Auch der Arbeit der Zeit muß man etwas überlassen. Die Zeit ist nicht reversibel. Was versäumt ist - das gilt auch hinsichtlich dieser Verträge —, ist wahrscheinlich nicht mehr einzuholen. Die finanziellen, vor allem die steuerlichen Auswirkungen des Vertragswerks müssen einer besonders tiefschürfenden Prüfung unterzogen werden. Wir hoffen, daß der Finanzminister den Bundestag und das Volk ohne jeden Beleuchtungseffekt hinter seine Kulissen sehen läßt.
Vor allem ist zu untersuchen, inwieweit die finanziellen Verpflichtungen eine Senkung des Lebensstandards und eine Kürzung der sozialen Leistungen nach sich ziehen werden.
Weiterhin halten wir es für richtig, gelegentlich der Debatte um diesen Vertrag wiederum deutlich darauf hinzuweisen, welche Vermögensverluste dem deutschen Volk durch den sinnlosen Patentraub und die sinnlose Verschleuderung der Patente zugefügt worden sind. Der Einwand, daß viele Patente längst veraltet seien, entkräftet diese Einstellung nicht. Für viele wichtige Patente hat die Laufzeit erst nach 1945 begonnen, und es bestehen j a bekanntlich viele Möglichkeiten zur Verlängerung und Erneuerung. Wenn der Erlös und der Erfolg dieses Patentraubes für unsere Gegner auch gering, teilweise sogar negativ gewesen ist, so heißt das nicht, daß das deutsche Volk diesen völkerrechtswidrig zugefügten Schaden einfach wortlos abbuchen kann.
Wir erwarten, daß der Vertrag dazu führen wird, daß die wachsende militärische Kraft Westeuropas anstatt zu einer Bedrohung auf beiden Seiten zum Ansporn wird, in friedlicher Auseinandersetzung die Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten abzubauen.
Mit Sowjetrußland und dem Totalitarismus ist ein ganz neuer Stil auf der politischen Bühne erschienen. Neue, bisher unbekannte und ungebrauchte politische Kampfmethoden werden entwickelt und eingesetzt. Es ist Sache des Westens, mit neuen politischen Konzeptionen - und eine solche sehen wir trotz aller Mängel in dem Vertragswerk —
zu antworten. Wir werden daher der Überweisung der Verträge an die Ausschüsse zustimmen.