Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zur Sache selbst spreche, möchte ich namens der sozialdemokratischen Fraktion das Bedauern dieser Fraktion darüber zum Ausdruck bringen, daß hinsichtlich . der von Herrn Abgeordneten Dr. Tillmanns hier vorgetragenen Erklärung nicht der Versuch einer Fühlungnahme mit der sozialdemokratischen Fraktion gemacht worden ist.
Es ist bekannt, daß es in der Frage der Beurteilung des Verbrechens von Berlin keine Meinungsverschiedenheiten gibt.
Um so mehr mußte das klar sein, als bekannt war, daß auch die sozialdemokratische Fraktion gestern einen Antrag zu diesem Verbrechen im Hause eingereicht hat.
Die sozialdemokratische Fraktion war und ist stets bereit, in gesamtdeutschen Fragen Gemeinsamkeit herbeizuführen. Die von Herrn Dr. Tillmanns im Namen der Regierungsparteien abgegebene Erklärung muß aber den Eindruck erwecken, daß es den Regierungsparteien trotz ihrer Beteuerung mit einer Gemeinsamkeit in solchen Fragen nicht ernst ist.
Die sozialdemokratische Fraktion drückt deshalb
ihr Bedauern aus und weist diese Methode zurück.
Zur Sache! In dieser Debatte ist wiederholt der Versuch gemacht worden, die in den Verträgen niedergelegten Ergebnisse der Politik des Herrn Bundeskanzlers und der drei Besatzungsmächte als den für Deutschland einzig möglichen Weg hinzustellen. Wer auf Grund anderer Einsicht in die Vertragstexte und in die politischen Zusammenhänge außerstande ist, dieser Politik seine Zustimmung zu erteilen, läuft Gefahr, als ein grundsätzlicher Verneiner bezeichnet oder gar beschuldigt zu werden, dem sowjetischen Expansionsstreben Vorschub zu leisten. Bei dieser Art von Argumentation ist es außerordentlich schwer, der Aufgabe einer parlamentarischen Debatte gerecht zu werden.
Die Opposition versucht doch. durch ihre Kritik ihrer Aufgabe gerecht zu werden, die Position des eigenen Landes in der Auseinandersetzung mit den ausländischen Verhandlungspartnern zu verbessern.
Hier aber wird uns zugemutet, die bisherigen Ergebnisse der Politik des Herrn Bundeskanzlers und der drei westlichen Besatzungsmächte als unabänderlich anzuerkennen.
Es dürfte, meine Damen und Herren, in diesem Hause keine Meinungsverschiedenheiten darüber geben, daß die Grundlagen der deutschen Politik nicht einfach aus den Spannungsfeldern der großen weltpolitischen Gegensätze — Interessengegensätze! — ausgeklammert wenden können.
Die Sprecher der Regierungsparteien machen es sich allzu leicht, wenn sie der Opposition vorwerfen, die Opposition postuliere einfach absolute Grundsätze, wie es heute das Leitmotiv des Herrn Kollegen Strauß war.
Bei dieser Debatte geht es darum, in welcher Haltung und von welchen Grundlagen aus die Forderungen der deutschen Politik vertreten werden sollen. Es ist also nicht so, daß die eine Seite des Hauses mit anderen Nationen zusammenarbeiten wolle, während sich die andere Seite des Hauses angeblich abseits stelle. Es geht in Wirklichkeit darum, w i e die deutschen Anliegen vertreten werden sollen.
Lassen Sie mich bei der Gelegenheit gleich noch auf einen hier wiederholt unternommenen Versuch mit ein paar Sätzen eingehen. Der Herr Kollege Strauß — und vor ihm haben das auch schon andere in dieser Debatte versucht — möchte uns, die Sozialdemokratische Partei, an die Seite Hugenbergs unseligen Angedenkens manövrieren.
Sie sollten dieses Gespenst nicht heraufbeschwören.
Sie sagen heute, Sie seien sozusagen die Fortsetzer einer Politik, wie sie Stresemann geübt habe. Nun, dann lassen Sie mich doch statt dessen, was darüber immer gesagt wird, ein paar Sätze Stresemanns aus den kritischen Zeiten zitieren:
Kein Staat
— so sagt Stresemann —
kann Deutschland gegen seine eigene Zustimmung zwingen, an einem Kriege, z. B. gegen Rußland, teilzunehmen. Kein Staat kann das Recht in Anspruch nehmen, ohne Genehmigung durch sein Gebiet durchzumarschieren.
Oder hören Sie eine Stelle aus der Radio-Ansprache Stresemanns vom 1. Mai 1926. Es sei, sagte er, niemals deutsche Absicht gewesen, „sich im Westen zu einer Kampfgemeinschaft gegen den Osten zu verbinden". Weiter:
Unsere Politik war vielmehr, das System friedlicher Abmachungen auf ganz Europa zu erstrecken. Welch eine andere europäische Großmacht kann ein gleiches Bekenntnis zur Schiedsidee aufweisen! Diese Schiedsidee
— so sagte er —
ist die Basis unserer Friedenspolitik.
Ich wollte solche Äußerungen nur in Erinnerung gebracht haben, weil es allmählich zum guten Ton zu gehören scheint, gegen die Sozialdemokratie auf die Weise zu polemisieren, daß man sie an die Seite Hugenbergs stellt und sich selbst sozusagen als Fortsetzer der Stresemannschen und der Verständigungspolitik bezeichnet.
Meine Damen und Herren, es dient der Demokratie in keiner Weise, wenn man eine Schlagwortpsychose erzeugt.
— Das ist gut, deswegen habe ich es auch gesagt. Aber hier unterscheiden wir uns wahrscheinlich von Ihnen, Herr Kiesinger: ich sage nämlich auch solche Dinge, von denen ich von vornherein hoffe, daß wir vielleicht einmal in einer Frage einig sind,
und nicht nur, um den Widerspruch zu provozieren.
Wenn wir nun in die Lesung dieses umfangreichen Vertragswerkes eintreten, so ist doch jede ernsthafte parlamentarische Arbeit von vornherein gehandikapt, wenn man sagt: Es kann dazu nur „Ja" gesagt werden; denn wenn man „Nein" sagt, geht sozusagen die Welt unter! Ich meine, wir sollten die Behandlung dieses Vertragswerkes auch nicht von solchen Schlagworten beeinflussen lassen. Die Bundesregierung trägt meines Erachtens die Hauptschuld an der Unruhe im Volk hinsichtlich dieser Verträge. Sie hätte nämlich durch eine angemessene Publizität dazu beitragen können, daß die Diskussion im Volk sachlich fundiert und in aller Breite, wie es der Bedeutung dieser Verträge entspricht, in Gang kam.
Man kann doch nicht ungestraft auf der einen Seite von einem solchen Vertragswerk als von einem „Stück Weltgeschichte" sprechen — so steht es doch im ersten Satz der amtlichen Begründung, die die Bundesregierung dem Vertragswerk beigegeben hat — und vor der Unterzeichnung sagen: ihr müßt jetzt zugestehen, daß ihr vorher nichts wissen dürft, ihr habt ja nachher Zeit!, und auf der anderen Seite nach der Unterzeichnung sagen: Aber jetzt beeilt euch mit der Ratifikation, denn sonst passiert ein Unglück!
Das paßt irgendwie nicht zusammen. Das Unterordnen der Behandlung der Vertragswerke unter fremde Termine — über das hier schon einiges gesagt worden ist — nützt — ungewollt, möchte ich sagen — den Verwirrungsmanövern der sowjetzonalen Machthaber.
Die Grundsätze jeder deutschen Politik sind doch wohl etwa folgende: daß man stets die Bereitschaft und den Willen zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und mit friedlichen Mitteln unter Beweis stellt,
daß man jede aus den Umständen sich ergebende oder notwendig werdende Zwischenlösung als ein eben durch die Umstände aufgezwungenes Provisorium versteht und interpretiert und daß keine Zwischenlösung die Wiedervereinigung erschweren darf.
Der Streit um die Verträge ist ein Streit darüber, ob der Herr Bundeskanzler bei den Verhandlungen das Maximum des zur Zeit Erreichbaren erzielt hat oder nicht.
Dabei spielt eine besondere Rolle die Frage, ob der Herr Bundeskanzler in richtigem Maße der vordringlichen Forderung „Wiedervereinigung in Freiheit mit friedlichen Mitteln" Rechnung getragen hat.
Der Bundeskanzler mutet uns zu, zu glauben, nur bei Annahme der Verträge, so wie sie sind, könne die Wiedervereinigung Deutschlands erreicht werden. Er bezichtigt seine Kritiker, sie hätten Illusionen über den Charakter der Politik der Sowjetregierung, wenn er sie nicht direkt als Wegbereiter einer Sowjetisierung Deutschlands beschuldigen läßt, wie es in jüngster Zeit im „Rheinischen Mer-
kur" und im „Echo der Zeit" am laufenden Band
nicht nur gegenüber Sozialdemokraten geschieht.
Andererseits läßt der Herr Bundeskanzler in dem vom Presse- und Informationsamt herausgegebenen „Bulletin" argumentieren, es sei eigentlich unverständlich, daß die Kritiker der vorliegenden Verträge jetzt, sozusagen fünf Minuten vor dem Ziel, die auch von ihnen — das heißt von Regierung und Opposition gemeinsam — befürwortete Politik der Integration Deutschlands in den Westen verlassen wollen. Nun, wie steht es damit?
Die Differenzen und Gegensätze, die hier und jetzt von Interesse sind, sind doch nicht Differenzen und Gegensätze darüber, ob der Sowjetpolitik zu trauen ist oder nicht, sondern Differenzen und Gegensätze darüber, ob der deutschen Politik Handhaben für die Erreichung der Wiedervereinigung in Freiheit und mit friedlichen Mitteln gegeben werden oder ob die deutsche Politik zu einer Funktion der Mächte gemacht werden und das Initiativrecht bei den Besatzungsmächten liegen soll.
Die vom Herrn Bundeskanzler geführte Politik der sogenannten Integration ist nicht identisch mit der von der Sozialdemokratischen Partei geforderten Politik der Zusammenarbeit der Nationen auf der Grundlage der Gleichberechtigung.
Wenn es richtig ist, daß alle Parteien die Wiedervereinigung als Ziel der deutschen Politik wollen,
so muß es auch möglich sein, über die Wege zur
Erreichung dieses Zieles ernsthaft zu diskutieren.
Die Behandlung des Notenwechsels zwischen Sowjetrußland und den drei westlichen Besatzungsmächten zeigt, daß sowohl über den Zeitpunkt als auch über Inhalt und Methode von Viermächtegesprächen erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen. Die Bundesrepublik kann Viermächtegespräche nicht erzwingen; sie hat auch nicht die Möglichkeit, Inhalt und Verlauf von Viermächteverhandlungen eindeutig zu bestimmen. Das liegt in der Natur der Sache. Um so wichtiger, meine Damen und Herren, ist es, der vordringlichsten Forderung Deutschlands auf Wiedervereinigung bei jeder sich bietenden Gelegenheit Gehör zu verschaffen,
und das ist nur möglich, wenn auf diese Forderung das ganze Gewicht der Nation konzentriert wird.
Ein Auseinanderfallen und ein Gegeneinanderarbeiten der demokratischen Kräfte in der entscheidenden Frage deutscher Politik führt zu verhängnisvollen Konsequenzen.
Denn diejenigen Kräfte des Auslandes, die es vorziehen, ein geteiltes Deutschland zu haben, haben leichteres Spiel, wenn die deutschen Parteien in der fundamentalen Frage der deutschen Politik fundamentale Gegensätze auszutragen haben.
Der Herr Bundeskanzler hat manches unterlassen, was zu gemeinsamem Handeln von Koalition und Opposition in dieser Fundamentalfrage notwendig und möglich gewesen wäre!
Der Herr Bundeskanzler hat nicht einmal die
Möglichkeit der Konsultation der Opposition vor
der Festlegung seiner Schritte und Vorschläge zum
Notenwechsel der Besatzungsmächte verwirklicht.
Bei der Stellungnahme zu Viermächteverhandlungen handelt es sich nicht um die Befürwortung oder Ablehnung eines einmaligen Aktes, einer einmaligen Viermächtekonferenz, sondern es handelt sich darum, ob die Politik der Bundesrepublik darauf abzuzielen hat, der Bundesrepublik die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten zu geben, jederzeit und von sich aus bei den vier Besatzungsmächten auf die Schaffung der Voraussetzungen zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und mit friedlichen Mitteln hinzuwirken. Die Ablehnung eines entsprechenden Antrages der sozialdemokratischen Fraktion am 3. April ist von der Regierung als eine Vollmacht für den Abschluß von Verträgen gewertet worden, die diese Möglichkeiten nicht ausdrücklich gewährleisten.
Meine Damen und Herren! Viermächteverhandlungen werden früher oder später kommen! Die deutsche Position wird aber nur dann befriedigend gesichert sein und werden können, wenn deutscherseits darauf gedrängt wird, jede Verhandlungsmöglichkeit auszunützen, und nicht, wenn eine Viermächtekonferenz als sogenannter letzter Versuch zur Demonstration etwa einerseits der Kompromißunwilligkeit der Sowjetregierung oder andererseits der Teilungsabsichten der Westmächte aufgezogen wird. Die deutsche Politik muß am Gegner bleiben, und soweit es in ihren Kräften steht, muß sie Verhandlungsmöglichkeiten positiv fördern.
Der Herr Bundeskanzler hat in der Periode des Notenwechsels der vier Besatzungsmächte wiederholt interveniert. Abgesehen davon, daß er in keinem Falle vorher mit einem der in Frage kommenden Ausschüsse des Bundestages die Art seiner Interventionen besprochen hat, hat er mehrfach öffentlich zum Ausdruck bringen lassen, daß er es vorziehe, lieber keine Viermächtekonferenz als eine Viermächtekonferenz zur Unzeit zu haben.
Es ist bekannt, daß sich der Herr Bundeskanzler
für den Einbau gewisser hemmender Faktoren in
die Antwortnoten der Westmächte eingesetzt hat.
Bestimmend dafür war offenbar sein Zeitfahrplan: erst Vollzug der Integration Westdeutschlands in das westeuropäische Vertragssystem, und dann den Zeitpunkt abwarten, an dem die Sowjetregierung geneigt sein würde, eine Art Ultimatum anzunehmen. Es ist also die eigentümliche Lage entstanden, daß der deutsche Bundeskanzler zwar grundsätzlich Viermächteverhandlungen begrüßt — wie er es ja auch gestern getan hat —, daß er aber, wenn sie konkret in Frage stehen, ihnen praktisch entgegenzuwirken versucht, weil er meint, der Zeitpunkt sei ungünstig.
Es ist ja — das mag hier als eine Nebensache klingen, aber es muß in diesem Zusammenhang wohl auch einmal angesprochen werden — nicht einmal bekanntgeworden, ob der Herr Bundeskanzler Verhandlungen auf der Ebene, sagen wir einmal, der Hohen Kommissare zur Erörterung der Sperrmaßnahmen an der Zonengrenze und zur
Wiederherstellung des kleinen Grenzverkehrs und der Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen im Zonengrenzgebiet verlangt hat. Ich glaube, sogar in dieser Frage ist der Herr Bundeskanzler der Meinung, es sei nicht zeitgerecht, Verhandlungen zu führen, obwohl dies nun schon auf einer ganz anderen Ebene und von brennender Notwendigkeit im unmittelbaren Lebensinteresse der Betroffenen liegt.
Seitdem der Bundestag am 6. Februar den Entwurf einer Wahlordnung für freie Wahlen zu einer Nationalversammlung in den vier Zonen und Berlin verabschiedet hat, ist von der Bundesregierung kein wesentlicher neuer positiver Schritt unternommen worden. Aber es genügt doch nicht, sich auf frühere Vorschläge zu berufen, und es ist mißlich, nur mit solchen Vorschlägen zu kommen, deren Ablehnung durch die sowjetische Seite man von vornherein so gut wie sicher sein kann.
Es drängt sich einfach die Frage auf: Was wäre, wenn der Herr Bundeskanzler den Bemühungen um die Wiederherstellung der deutschen Einheit mindestens soviel Kraft und Zeit geopfert hätte wie seinen Bemühungen um die sogenannte Integration?
Die sogenannte Integration führt ja nicht automatisch — das ist nicht mein Wort, das ist in der Debatte von den Befürwortern dieser Integration auch schon gebraucht worden — zur Wiedervereinigung Deutschlands. Der Bundeskanzler begeht in dieser Beziehung zwei Rechenfehler. Erstens: er nimmt an, die Zusammenlegung des Wirtschafts- und Militärpotentials einer Gruppe westeuropäischer Länder werde zu einem gewissen Zeitpunkt die Verhandlungsbereitschaft der Sowjetregierung erzwingen; zweitens: durch die Integrationsverträge seien die westlichen Vertragspartner eindeutig auf eine Politik der Wiedervereinigung Deutschlands festgelegt.
Zunächst zum ersten. Die Annahme des Herrn Kanzlers berücksichtigt nicht das Risiko einer Ablehnung eines solchen Ultimatums durch Sowjetrußland.
Die deutsche Politik läuft Gefahr, daß die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands an so viele weltpolitische Voraussetzungen geknüpft, so vielen weltpolitischen_ Fragen untergeordnet und zum Gegenstand nationalegoistischer Erwägungen fremder Mächte gemacht wird, daß eine Regelung mit friedlichen Mitteln aus dem Bereich des Möglichen herausrücken könnte.
Zum Zweiten: Die westlichen Vertragspartner erlangen durch die Verträge in Wirklichkeit ein ausgesprochenes Vetorecht gegen die Wiedervereinigung Deutschlands.
Der Bundeskanzler hat keinerlei Sicherheit dagegen, daß z. B. die französische Politik die Verträge dem französisch-russischen Pakt von 1944
unterordnet. Schon jetzt machen sich doch Tendenzen bemerkbar, mit Sowjetrußland auf der
Grundlage der Teilung Deutschlands zu paktieren.
Bei den Verhandlungen im Senat der Vereinigten Staaten wurde übrigens — sehr verehrter Herr Kollege, damit Sie sehen können, daß diese, wie Sie sagen, „tollen Behauptungen" nicht aus der Luft gegriffen sind — ausdrücklich darauf hingewiesen, und zwar vom amerikanischen Außenminister, daß in der Frage der Wiedervereinigung „Frankreichs traditionelle Furcht" durch die Verträge verkleinert worden sei.
Es könnte sich sehr bald herausstellen, daß von allen vertragschließenden Partnern nur die Bundesrepublik wirklich gebunden ist.
Die Behauptung, die bisherigen sowjetischen Angebote seien schon ein Ergebnis der — wie Sie es jetzt zu nennen belieben — „Politik der Stärke des Westens", und deshalb dürfe man sich nicht beirren lassen, geht von der falschen Voraussetzung aus, man könne mit gewissermaßen arithmetischer Sicherheit den Zeitpunkt errechnen, an dem es sich lohnen werde, mit Sowjetrußland zu verhandeln. Wer aber kann bestreiten, daß an einem bestimmten Punkt dieser Reihe ein Umschwung in entgegengesetzter Richtung vor sich gehen kann? Wenn Sie Wasser über einen bestimmten Punkt hinaus erhitzen, gibt es Dampf! Die deutsche Politik muß nicht nur das Risiko einer Entwicklung nach dem Muster von Prag, sondern sie muß auch das Risiko einer Koreanisierung Deutschlands zu verhindern trachten.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat durch ihren Kampf gegen das sowietzonale Terrorregime und seine Expansionsbestrebungen einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung einer Entwicklung nach dem Muster der Tschechoslowakei und anderer Satellitenstaaten geleistet.
Die Sozialdemokratische Partei sieht in den Möglichkeiten der Handhabung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und in der Beziehung, in die wir dazu gebracht werden sollen, die Gefahr einer Koreanisierung Deutschlands. Die Gefahr des Wettrüstens auf deutschem Boden widerlegt das Rechenexempel vom automatisch erreichbaren militärischen Übergewicht
und erhöht das Risiko Deutschlands, Kriegsschauplatz zu werden.
— Herr Euler, Sie legten vorhin so großen Wert darauf, erst nach mir zu sprechen.
Vielleicht lassen Sie mich nun wirklich sprechen.
Die Wiedervereinigung Deutschlands könnte nach Wortlaut und Sinn der Vertragstexte — das können Sie nachprüfen, und es wird Sache der zweiten Lesung sein, das wirklich gründlich, nach bestem Wissen und Gewissen, nachzuweisen und zu prüfen — nur noch in der Form des Anschlusses der jetzigen sowjetischen Besatzungszone an das westliche Paktsystem denkbar sein. Es ist unrichtig, einzelne, in der Präambel oder an anderen Textstellen zu findende Bekenntnisse zur Wiedervereinigung als eines gemeinsamen Zweckes an die Stelle der Gesamtwirkung und der Tendenz
der Vertragswerke, die ja für die einzuschlagende Richtung bestimmend sind, zu stellen.
Aufrichtiger wäre es — ich sage das freimütig —, wenn die Befürworter der Verträge sagten: Jawohl, wir geben zu, für eine geraume Zeit müssen wir die Wiedervereinigung zurückstellen, aber wir haben dafür die und die Begründung. Denn das ist ja der Tatbestand, den Sie mit Kopfschütteln oder mit Ihren Wünschen nicht aus der Welt schaffen können!
Die Bundesrepublik unterwirft sich damit in dieser ihrer Lebensfrage einer Strategie, auf deren Ausgestaltung sie ohne Einfluß ist, die aber für die deutschen Lebensinteressen entscheidend ist. Die Auffassungen einzelner westlicher Vertragspartner oder gegebenenfalls ihrer Gesamtheit in den Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands haben von vornherein ein viel höheres spezifisches Gewicht als die Absichten der Bundesrepublik; denn die übrigen Vertragspartner gehören zur Organisation des Atlantikpakts, zu der die Bundesrepublik aber nur in einem Leistungsverhältnis steht.
Die Bundesrepublik soll in diese unter dem Übergewicht der Besatzungsmächte zustande gekommene Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit erheblichen Diskriminierungen eingegliedert werden. Eine Vorbelastung für eine zu erstrebende friedensvertragliche Regelung mit einem wiedervereinigten Deutschland ist z. B. die französische Saarpolitik und sind amerikanische Versuche. die deutschen und französischen Gegensätze in der Saarfrage durch die sogenannte Europäisierung der von Deutschland abgetrennten Saar aus dem
Wege zu schaffen.
Die Saarfrage, meine Damen und Herren, ist für uns eine Probe aufs Exempel der demokratischen Gesinnung der westlichen Vertragspartner.
Aus Besatzungsfesseln werden Bündnisfesseln, und es ist mehr als fraglich, wie diese Bündnisfesseln, die unter dem Übergewicht der Besatzungsmächte geschmiedet worden sind, bei unseren Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und mit friedlichen Mitteln fördern statt hemmen sollen. Die Verträge bedeuten die Eingliederung des zwischen der Ostgrenze des abgetrennten Saargebiets und der Westgrenze der sowjetischen Besatzungszone liegenden Teiles Deutschlands in ein Vertragssystem, das zwar dem Buchstaben nach auf der Gleichberechtigung beruht, in dem dieser Teil Deutschlands aber infolge der unterschiedlichen Startbedingungen und der Fortdauer von Besatzungsrecht in der Form von Vertragsrecht nicht gleichberechtigt mitwirken kann.
Nach der mehr oder weniger offen ausgesprochenen Ansicht westlicher Vertragspartner und ihrer Publikationsorgane und nach ihren Interessen ist unter Umständen das Fortbestehen der Teilung Deutschlands das „kleinere Übel". Nach der Auffassung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands laufen wir Gefahr, die deutschen Möglichkeiten zur Herbeiführung der Einheit mit friedlichen Mitteln ganz erheblich zu erschweren.
Sie fragen nach der Alternative, und es ist ja in letzter Zeit Mode geworden, so zu tun, als habe die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gar keine eigenen positiven Vorschläge.
Umgekehrt wird in steigendem Maße versucht, Gegenvorschläge zur Politik des Herrn Bundeskanzlers und der drei westlichen Besatzungsmächte von vornherein als im Interesse der Sowjetpolitik liegend abzustempeln.
Es ist ein allzu bequemer Standpunkt,
wenn eine Regierung — Herr Wuermeling — einerseits das Ergebnis der nichtöffentlichen Verhandlungen ihres Chefs mit den ausländischen Vertragspartnern als das höchstmöglich Erreichbare hinstellt und andererseits Vorschläge zu Viermächteverhandlungen in den Wind schlägt.
Es ist notwendig und es sollte auch möglich sein, sich über einige grundlegende Forderungen zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit mit friedlichen Mitteln zu verständigen.
Erstens. Wiedervereinigung bedeutet die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in den vier Zonen und Berlin ohne Zonenunterschiede.
— Wenn Sie nervös werden, Herr Gerstenmaier, ich wurde es bei Ihrer gestrigen Rede nicht!
Das wird auch dem Vorspruch des Grundgesetzes gerecht, in dem gefordert wird — und darauf haben sich alle verpflichtet, die zu diesem Grundgesetz stehen —, dafür zu sorgen, daß das ganze deutsche Volk in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden fähig wird.
— Da Sie vorhin gefragt haben, wem ich das sage: Ich sage es denen, die bereit sind, ja zu diesen Verträgen zu sagen, weil dann diese Möglichkeit nicht mehr gegeben sein wird.
— Herr Euler, ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben vorhin Wert darauf gelegt, nach Wehner zu sprechen; sprechen Sie n a c h ihm und nicht zwischendurch!
Zweitens. Die zentralen deutschen Forderungen auf freie Wahlen unter internationaler Kontrolle in den vier Zonen und Berlin sollten nicht durch erschwerende Bedingungen belastet werden. Es sollte also nicht die Anerkennung etwa einer Kommission der Vereinten Nationen oder irgendwelcher anderer Kommissionen zur Voraussetzung des Eintritts in Viermächteverhandlungen gemacht werden.
— Wir sind nicht für russische Kommissionen, wir sind überhaupt weder russisch noch amerikanisch noch britisch noch französisch, sondern versuchen, das deutsche Interesse zum Ausdruck zu bringen!
Drittens. Über die Rechte einer deutschen Regierung, die von der aus freien Wahlen hervorgegangenen Nationalversammlung gebildet wird, müßten zwischen allen Beteiligten klare Abmachungen getroffen werden. Deutscherseits sind meines Erachtens bis zum Abschluß eines Friedensvertrags als Rechte einer Regierung mindestens folgende zu fordern: a) Eine solche Regierung muß die Ordnung im Innern gewährleisten können auf der Basis der Grundrechte; b) sie muß die Sicherheit des freien Verkehrs von Personen und Gütern ungehindert durch Zonengrenzen gewährleisten.
— Ich habe es ja nicht deswegen gesagt, weil ich annehme, daß Sie es nicht wollten. Ich mache ja Vorschläge, zu denen Sie ja oder nein sagen können.
c) Diese Regierung muß die Justizhoheit haben und die Gleichheit des Rechts in allen Teilen Deutschlands gewährleisten können;
d) Sie braucht die zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung notwendigen Vollmachten nach innen und außen; e) sie muß weiter echter Verhandlungspartner bei den Friedensvertragsverhandlungen sein; f) sie muß schließlich ihre Tätigkeit nicht durch das Vetorecht einer Besatzungsmacht oder des Gremiums der Besatzungsmächte einschränken oder stören lassen.
Viertens. Wenn die Möglichkeit
— Sie sind sehr „tolerante" Hörer — besteht, für das vereinigte Deutschland den Status eines Mitglieds der Vereinten Nationen zu erwirken, dann sollte diese Möglichkeit, die auch im sowjetischen Entwurf der Grundlinie eines Friedensvertrags vom 10. März enthalten war, erprobt und nicht in den Wind geschlagen werden.
Fünftens. Die Frage der Sicherung Gesamtdeutschlands muß auf der Grundlage der Mitgliedschaft Deutschlands in den Vereinten Nationen durch Garantieabkommen geregelt werden und kann nicht durch einseitige Festlegung auf EVG oder ähnliches präjudiziert werden.
Ich will am Schluß noch einige Worte zu dem auf der Tagesordnung stehenden von der sozialdemokratischen Fraktion eingebrachten Antr a g betreffend Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen sagen. Der Antrag lautet:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird ersucht, den Besatzungsmächten förmlich mitzuteilen, Bundestag und Bundesregierung erwarten, daß die Regierungen der vier Besatzungsmächte so bald wie möglich in Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen eintreten.
Aus dem, was ich bisher sagte, können Sie entnehmen, wie dringend uns das Anliegen ist, das in diesem Antrag seinen Niederschlag gefunden hat. Es geht um Verhandlungen, möchte ich abschließend betonen, nicht um Demonstrationen oder Entlarvungsversuche, und zu diesen Verhandlungen möchten wir diese Zustimmung haben.
Herr Kollege Strauß hat erklärt, daß es ihm und seinen Freunden darauf ankomme, eine Situation herbeizuführen, in der die vier Mächte sich nicht auf unsere Kosten verständigen können.
Das greife auch ich auf, meine Damen und Herren, und ich möchte sagen: um eine solche Situation herbeizuführen, dazu gehört die Befolgung einer Politik, wie ich sie in dieser Einzelfrage darzustellen versucht habe, die nun einmal zu den Kernfragen der deutschen Politik gehört. Dazu gehört diese Beharrlichkeit im Verhandelnwollen und dieses Unterbauen und Ausbauen der deutschen Position,
das aber Gefahr läuft, kaputtgemacht zu werden mit einer Politik, die Verträge schließen will, in der unser dringendes Anliegen Funktion anderer wäre und in der eine Hoffnung auf „automatische" Entwicklung zu einem schrecklichen Schluß führen könnte.