Rede von
Hans
Ewers
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Materie, die wir erörtern, wäre, wenn im Hintergrund kein hochpolitisches Argument stünde, außerordentlich spröde; und ich fürchte, selbst durch meine etwas aufgelockerte Form der Darstellung ihr nicht alle Sprödigkeit nehmen zu können.
Grundsätzlich kann ich vorausschicken: die heutige Debatte und die folgende Abstimmung werden zeigen, daß es außerordentlich ungeschickt ist, wenn man dauernd gelten sollende Bestimmungen auf Grund einer hochpolitischen Meinungsverschiedenheit auslegt.
Darin bin ich mit dem Herrn Ausschußvorsitzenden Ritzel durchaus einig. Nicht einig bin ich mit dem, was heute hier geschehen ist, insofern, als wir nach § 129 die grundsätzliche Auslegung des § 60 im Bundestag nur dann vornehmen können, wenn eine „Prüfung" durch den Geschäftsordnungsausschuß vorangegangen ist, und als damit, daß hier das Votum des Ausschusses, der Antrag an den Bundestag, vorgelesen wird, das Haus über diese Prüfung hinreichend informiert sein soll. Wir pflegen solche Anträge immer „Mündlicher Bericht" zu nennen; in Wirklichkeit sind sie ja immer nur das Extrakt der Verhandlungen, nämlich hinsichtlich der Frage: Welche Beschlüsse beantragt der Ausschuß? Diese Anträge bedürfen der Begründung, und erst die Begründung ist der „Bericht". Da ein schriftlicher Bericht hier nicht vorliegt, hätte meines Erachtens zunächst einmal Herr Langer als bestellter Ausschußberichterstatter das Wort haben müssen, um hier so objektiv wie möglich die Sachlage dem Hause darzulegen. Das ist nicht geschehen.
Statt dessen hat unser sehr verehrter Herr Ritzel mit der Autorität seiner Person und seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Geschäftsordnungsausschusses für seine Fraktion nicht ohne Leidenschaftlichkeit — die ich ihm gern nachsehe; wir sind ja ungefähr gleichaltrig, wir freuen uns unserer Leidenschaft —
den Standpunkt seiner Partei vertreten.
Gestatten Sie mir, daß ich — zwar nicht als Beauftragter, aber als mich ermächtigt fühlender Vertreter der Regierungskoalition — den gegenteiligen Standpunkt mit möglichst ebenso viel Nachdruck
— wenn auch nicht mit so viel Leidenschaftlichkeit
— und mit ein wenig Humor vertrete.
Herr Ritzel, unsere Anträge in den Ziffern 1 und 2 sind im Ausschuß einstimmig gefaßt worden. Wir erkennen an, daß über die Frage der Anwendung dieses Gesetzes auf Berlin in der Vorlage der Regierung ein wichtiger § 10 steht. Wir erkennen gemeinsam an, daß es auf den inneren Zusammenhang einer zu erledigenden Sache mit der eigentlichen Hauptangelegenheit ankommt, wenn der Sachzusammenhang des § 60 der Geschäftsordnung gewahrt sein soll.
Was nun den § 10 des Gesetzes anlangt, so bitte ich alle diejenigen Mitglieder des Hauses, die die Debatte mit einiger sachlicher Aufmerksamkeit verfolgen wollen, einmal die Seite 18 des Berichts in Drucksache Nr. 3115 aufzuschlagen, wo Sie den § 10 der Regierungsvorlage in der linken Spalte finden. Nachdem einige Seiten vorher in der linken Spalte rein gar nichts zu lesen war, kommt dann plötzlich der § 10. Es kann, wie Sie dort feststellen werden, nicht die Rede davon sein, daß die in den Gesetzen allgemein übliche Berlin-Klausel hier nur eingefügt sei. An dieser Stelle ist vielmehr nach Satz 1 ein jetzt in dieser Ausschußvorlage gesperrt gedruckter Satz 2 eingefügt, dessen Wortlaut — ich muß ihn leider verlesen, denn darauf kommt es entscheidend an — lautet:
Über die Auswirkungen des vom Lande Berlin zu erlassenden Gesetzes auf den Bund oder die gesetzliche Unfallversicherung im Bundesgebiet regelt die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Senat des Landes Berlin das Nähere.
Zu deutsch: eine Ermächtigung soll der Gesetzgeber der Bundesregierung geben, um eine Regelung der Beziehungen zu Berlin herbeizuführen.
— Nicht nur „Ausführungsbestimmungen", sondern die Auswirkungen" sollen geregelt werden; das geschieht nur durch eine Rechtsverordnung. these Ermächtigung stand in der Vorlage. Wenn der Standpunkt der SPD richtig wäre, hätte der Sach-
und Fachausschuß allein vor der Frage gestanden: Friß, Vogel, oder stirb! Davon kann keine Rede sein.
Es ist auch nicht so, daß es sich bei § 10 der Vorlage, wenn die Hauptsache ein Fahrrad wäre, lieber Herr Ritzel, nur um die .,Hosenklammern" gehandelt hätte; mindestens ist eine sehr volltönende Fahrradglocke bereits angebracht gewesen. Uns allen klingen die Ohren davon, daß wir hier der Bundesregierung eine Ermächtigung erteilen sollen, und das klingt uns nicht sympathisch. Das hat der Ausschuß abgelehnt und statt dessen eine schon vorher in anderen Gremien besprochene und mit Berlin schon weitgehend geförderte spätere Vorlage gleich in das Gesetz hineingearbeitet, und zwar ist das, wie wir aus dem Munde des Herrn Arbeitsministers, der den Senatsbeschluß von Berlin Nr. soundsoviel verlesen hat, eben gehört haben, mit voller Zustimmung der dortigen Landesregierung uno actu in diesem Gesetz geregelt.
Das alles hat nun mit der Frage des Sachzusammenhangs sehr viel zu tun. Wäre es für die Bundesregierung bei der Vorlage des Gesetzes bezüglich der §§ 1 bis 9 überhaupt nicht in Frage gekommen, es auch auf Berlin Anwendung finden zu lassen, solange dort versicherungstechnisch noch Unordnung herrscht, dann wäre ein Sachzusammenhang bestimmtestens nicht gegeben gewesen. Da aber die Bundesregierung auch bei diesem Gesetz wie allen sonstigen, die wir erlassen und die Allgemeingültigkeit beanspruchen sollen, an Berlin gedacht hat und Berlin an den Segnungen und Verpflichtungen dieses Gesetzes teilnehmen lassen wollte — den Segnungen für die Arbeitnehmerschaft und den Verpflichtungen für die Organe —, so hat sie den § 10 ausdrücklich hineingenommen.
Nun sagt Herr Ritzel — und dem darf ich doch mit einiger Energie widersprechen —, der § 10 und seine weitere Durchführung stehe im Verhältnis zu den übrigen Paragraphen wie eine Hauptsache zur Nebensache. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist gefährlich, auch nur eine Bemerkung gegen Berlin zu machen; aber die Auffassung, daß im Verhältnis zum Gesamtinhalt eines Gesetzes die
Vorschrift, daß es auch auf das zwölfte Land Anwendung finden soll, die „Hauptsache" sei, geht doch wohl ein bißchen weit.
Hier ist das Bundesgebiet mit, ich glaube, heute 45 Millionen Einwohnern, und in Berlin haben wir mit rund zwei Millionen Einwohnern eine für uns sehr wertvolle Bastei gegen den Osten. Aber daß es die Hauptsache sei, daß dieses Gesetz auch in Berlin Anwendung findet, und daß gegenüber der Frage, ob in Berlin in der Materie das gleiche Bundesrecht gilt, die ganze Regelung des Bundesgesetzes eine Lappalie sei, — —
— Doch, es wurde gesagt: das eine ist die Hauptsache und das andere eine Nebensache. Nein, meine Herren, davon ist keine Rede, sondern hier handelt es sich um eine gewiß auch für Berlin wünschenswerte Regelung, und nur die Regelung selbst ist die Hauptsache. Die Frage aber, ob diese nun auch in Berlin gelten soll oder nicht, ist im Verhältnis zur Hauptsache eine außerordentliche Nebensache, ebenso wie wenn Sie, wollen wir mal sagen, das Land Schleswig-Holstein ausnehmen wollten; das wäre auch keine Hauptsache im Verhältnis zu dem Gesamtinhalt des Gesetzes. Die Begriffe sind also ein wenig verschoben.
Ich komme zum Ausgangspunkt zurück. Für die Koalitionsparteien und ihre Rechtsberater steht einwandfrei fest, daß die Abschnitte 1 und 2 des Beschlusses des Geschäftsordnungsausschusses stets grundsätzlich Leitmotiv für die Frage sein müssen: Erstens: Wann ist der „Gegenstand" noch derselbe? Nur dann, wenn von ihm in einer Vorlage überhaupt die Rede ist. Zweitens: Besteht zwischen
dem Hauptgegenstand und dem, was geregelt worden ist, ein innerer Sachzusammenhang? Das letztere ist keine grundsätzliche Frage. Hierzu bin ich folgender Meinung: Wenn in einem Gesetz eine Sache durch Ermächtigung oder meinetwegen nur durch Ermächtigung zum Erlaß von Ausführungsbestimmungen geregelt werden sollte und ein Ausschuß statt dessen vorschlägt, nicht zu ermächtigen, sondern das Entsprechende ins Gesetz selbst hineinzuschreiben, dann ist der Sachzusammenhang so klar, daß es sich nicht um eine Fahrradglocke, sondern um eine Kirchenglocke handelt. Insoweit ist wirklich kaum ein Zweifel möglich.
Es wäre mir, wie gesagt, lieber, ich könnte das alles ohne Rücksicht auf die hochpolitische Bedeutung dieser Frage, die sie offenbar auch für Berlin selbst hat, hier ausführen. Wir Juristen der Koalition, die wir als Mehrheit für den Vorschlag des Ausschusses gestimmt haben, haben bei dieser Sache ohne Leidenschaft und ohne Ereiferung gehandelt und ein ganz ausgezeichnet gutes Gewissen.