Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mir sehr lieb, daß ich von den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Richter zu dem überleiten kann, was ich sagen möchte. Ich habe bisher noch nicht den Eindruck gehabt, daß die Herren, die Herr Abgeordneter Richter hier vertritt, sich über das wirkliche Anliegen evangelischer Christen und der Kirche in irgendeiner Weise im klaren gewesen sind.
Ich möchte bewußt nichts oder nichts Wesentliches zu der politischen Auseinandersetzung sagen, die hier stattfindet. Wir alle stehen unter dem Eindruck — oder sollten jedenfalls alle unter dem Eindruck stehen —, daß wir heute hier nicht ein Gespräch nur unter uns führen, sondern ein Gespräch, wie es in diesem Volke noch niemals geführt worden ist, an dem Millionen von deutschen Menschen aus innerstem Herzen Anteil nehmen.
Wir alle sollten uns jederzeit dieser Tatsache und
auch der weiteren Tatsache bewußt sein, daß viele
Menschen, die jetzt am Lautsprecher zuhören, die
politischen Auseinandersetzungen zwischen den
verschiedenen Parteien dieses Hauses, die gestern
und heute geführt worden sind, nur zu einem
geringen Teil bewegen, daß sie aber in dieser
Frage aus sehr viel anderen, sehr viel tieferen Gründen Sorgen, Bedenken und Fragen haben. Ich halte mich um des Amtes willen, das ich in diesem Hause habe, das mich ja nicht davon entbindet, eine persönliche politische Überzeugung zu haben, aber auch um meines kirchlichen Amtes willen für verpflichtet, diese Sorgen und Bedenken hier auszusprechen, weil ich meine, daß es niemand im deutschen Volke geben sollte, der sagen könnte, daß das, was viele Menschen zutiefst bewegt und ihnen Tag und Nacht Not macht, in diesem Hause, nicht ausgesprochen wäre.
Wenn wir das tun, sollten wir uns von vornherein davor hüten, das politische Gespräch so zu führen, als ob es nur schwarz oder weiß gäbe und als ob die Meinungen, die wir hier gegeneinanderstellen, Meinungen wären, die so weit auseinander sind, daß sie niemals auf einen Nenner gebracht werden können.
So ist es nicht! Wir müßten uns gegenseitig glauben, daß das, was wir sagen, auch wenn es in der Formulierung einmal mißgluckt — das kommt ja schließlich uberall vor! —, aus einer inneren Verantwortung herauswachst. Darum — man muß das ja konkretisieren — muß ich sagen, daß ich einen Satz, um nur ein Beispiel zu nennen, der vorhin fiel, bedauert habe. Der verehrte Kollege Professor Schmid hat gesagt, niemand habe das Recht, zu verlangen, daß die Menschen sich sinnlos zu Kriippeln schleßen lassen. Meine verehrten Damen und Herren, das hat in diesem Hause und im deutschen Volke niemand verlangt und wird niemand verlangen!
Ich bin Herrn Abgeordneten Ollenhauer sehr dankbar dafür, daß er die sachliche Fundierung der Aussprache gefordert hat. Wir tun uns allen einen guten Dienst, wenn wir in einer solchen sachlichen Fundierung fortfahren. Nicht nur heute! Denn dieses Gespräch geht heute nicht zu Ende, sondern geht weiter. Wir haben heute nur eine Zwischenbilanz gemacht und uns darüber informiert, was wir denken, um darauf weiterzuarbeiten und danach zu handeln. Wir dürfen nicht mit irgendwelchen Unterstellungen irgend jemand diskriminieren. Es kommt einem ja manchmal so vor, daß am meisten derjenige, der sich auch in einer letzten Verantwortung für einen Verteidigungsbeitrag entscheidet, schon darum verdammt werden müßte. Man kann sich — ich sage das sehr offen — sicher ohne innere Skrupel für einen Verteidigungsbeitrag entscheiden. Man kann sich aber offenbar auch ohne innere Skrupel dagegen entscheiden. Beides sollte nicht möglich sein. Herr Kollege Ollenhauer hat mit Recht gesagt, daß jeder Versuch, mit dem Appell an das Gefühl die Entscheidung für oder gegen diese Frage zu erzwingen, verantwortungslos sei. Ich stimme ihm zu. Das gilt dann aber auch für Sie, verehrter Herr Kollege Dr. Decker. Sie haben heute mittag gesagt — ich glaube, Sie richtig verstanden zu haben —, daß man die Leute heute veranlassen wolle, mit Begeisterung in das Lied einzustimmen: „Volk ans Gewehr!" Das will niemand, das tut niemand, und das wird im deutschen Volke niemand tun.
Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir vielen Menschen im Volke und uns 'selbst keinen guten Dienst tun, wenn wir zu leicht über den Begriff
des Gefühls hinweggehen. Wir müssen wissen, daß es im menschlichen Bereich nicht möglich ist, bestimmte Dinge so auseinanderzuteilen, daß man sagen kann: hier ist das Gefühl, und hier ist die Ratio. Diese Dinge gehen vielmehr durcheinander; eine saubere Scheidung ist nicht möglich. Diese gefühlsmäßigen Erwägungen verbinden sich bei vielen Menschen im deutschen Volke mit sehr erwägenswerten sachlichen Argumenten.
Lassen Sie mich hier ruhig einmal aussprechen: ich glaube, daß die Argumente und die Gefühle, die bei einer Unzahl von Frauen in unserem Volke wirksam sind, hierbei ein entscheidendes Gewicht haben. Dieser Hinweis bietet mir die erwünschte Gelegenheit, dem entgegenzutreten, daß ein etwas schlecht informierter Pressedienst gemeint hat, ich wünschte die Damen dieses Hauses anzugreifen.
— Frau Kollegin Weber, wie könnte ich es wagen, mich mit Ihnen anzulegen!
Ich muß dann aber auch das andere aussprechen. Die Gefühlserwägungen und die sachlichen Erwägungen, die die Frauen in unserem Volke anstellen, werden in gleicher Weise von den Frauen und Müttern jedes anderen Volkes angestellt. Wir dürfen nicht so tun, als ob es einen Vorbehalt oder ein Sonderrecht für die Gefühle der Mütter unseres Volkes gäbe. Es ist noch niemals, glaube ich, in der Geschichte der Bundesrepublik und seit langer Zeit auch in der Geschichte des deutschen Volkes vorgekommen, daß eine politische Entscheidung so unmittelbar und stark in den religiösen Bereich vorgestoßen ist.
Wir haben noch niemals gemerkt, daß Christen aller Konfessionen sich durch eine Fragestellung so angesprochen fühlten wie durch diese.
Ich muß sagen — und das, glaube ich, meine Damen und Herren, darf ich hier sagen, weil es niemandem in seiner persönlichen religiösen Überzeugung zu nahe tritt —: wir sind gehalten, diese Bedenken und Sorgen der Christen in unserem Volk und in allen anderen Völkern mit großer Aufmerksamkeit zu hören.
Lassen Sie mich darum zu einigen Argumenten etwas sagen, die in diesem Zusammenhang immer wieder vorgebracht werden. Wir hören bis zum Überdruß — und manche dieser Dinge werden selbst im christlichen Bereich bis zum Überdruß gesagt —, das Wort Gottes habe uns die Waffen aus der Hand geschlagen, damit wir sie niemals wieder aufnehmen könnten. Daß Gott uns die Waffen aus der Hand geschlagen hat, das allerdings ist richtig, und das ist unsere gemeinsame Überzeugung.
Ich weiß aus dem Alten Testament, daß Gott den Propheten die Fähigkeit gegeben hat, seinen Willen — auch in der Zukunft — zu erkennen. Ich habe bisher nicht das Gefühl gehabt, daß uns in der gegenwärtigen Debatte über diese Dinge sehr zahlreiche Propheten entgegengetreten wären.
Wir sind jedenfalls keine, sondern wir haben in
einem Respekt und in einer Achtung, die dem uns
einsehbaren Willen Gottes geziemen, unsere Entscheidung nicht aus irgendwelchen Gefühlsargumenten, sondern aus einer sachlichen Einsicht in die Dinge zu fällen.
Ich persönlich würde für mich erklären, es wäre gut, wenn wir überlegten, warum uns Gott die Waffen, die wir einst geführt haben, aus der Hand geschlagen hat. .
Das ist auch ein Beitrag zu dem, was wir eben über diese merkwürdige Gleichsetzung von gestrigen und heutigen Fragestellungen gehört haben. Nach meiner Meinung müßten wir das eine beherzigen, wenn wir denn überhaupt noch ein verantwortliches Leben führen wollen: daß wir die Waffen nicht noch einmal im gleichen Geist und nicht noch einmal mit dem gleichen Ziel wie damals in die Hand nehmen.
Ich bin glücklich darüber, daß quer durch dieses Haus hindurch darüber Einigkeit besteht, und es möge uns niemand — keiner dem andern — unterstellen, daß wir noch einmal 1933 oder 1935 oder 1939 oder 1941 wollten!
Niemand!
Aber wenn wir dann diesen Willen Gottes ernst nehmen, dann, meine ich, sind wir auch gefordert, nicht aus falschen Erwägungen unserem Volke grundsätzlich das zu verwehren, was anderen Völkern mit Selbstverständlichkeit zugestanden werden muß. Denn diese Völker leben wie wir in einer Welt, die weder durch unseren Willen noch offenbar durch die Politik der anderen plötzlich zu einem Hort des Friedens geworden ist.
Es wäre eine höchst gefährliche Simplifikation des Wortes Gottes, mit diesen Argumenten zu arbeiten. Der fromme Klang der Worte allein erweist noch nicht, daß die Entscheidung vom Worte Gottes her gefällt ist.
Meine Damen und Herren, wir wissen alle, daß wir, wenn wir das aussprechen, zu einem andern gefordert sind, nämlich dazu, unter den Völkern dazu zu helfen, daß quer durch die politischen Gegensätze hindurch eine Gemeinschaft der Menschen wächst, und zwar nicht nur der Christen, sondern all der Menschen, die verantwortlich leben. Meine Freunde, ich darf dann wohl vielleicht bei allem, was so negativ über Amerika gesagt wird, auch einmal feststellen, daß nach meinem Eindruck das, was die amerikanischen Christen von 1945 bis heute getan haben, der stärkste Beitrag zum Frieden der Welt ist, den es überhaupt geben kann.
— Herr Kollege Loritz, daß wir nicht einig sind, das ist eine Sache, die Sie nicht jedesmal neu zu betonen brauchen.
Aber neben dieser geistlich klingenden Argumentation gibt es eine andere, die ich als eine säkulare Verflachung bezeichnen möchte, nämlich den sehr einfachen Hinweis: „Was sollen wir uns darum kümmern? Lassen wir es doch die anderen machen! Die haben uns ja hineingeritten; die haben ja die Politik getrieben, die sie von Jalta über
Potsdam hierher geführt hat. Jetzt sollen sie die Suppe auch ausloffeln!" Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir treiben hier nicht amenkanische Politik, in der Gesamtheit auch keine russische Politik,
sondern wir treiben deutsche Politik, und wir können beim besten Willen nicht erwarten, daß auch ein noch so freundwilliges und gutgesinntes anderes Volk in erster Linie deutsche Politik und dann amerikanische oder franzosische Politik treibt!
Das müssen wir freundlichst schon allein besorgen.
Und wenn wir die Interessen Deutschlands zuerst
vertreten, dann werden wir das mit Nachdruck,
aber auch mit Verantwortungsgefühl tun mussen,
weil wir alle Augenblicke spüren, daß ja selbst die
Vertretung gemeinsamer europaischer Interessen
offenbar eine hockst schwierige Angelegenheit ist.
Herr Kollege Arndt, in diesem Zusammenhang muß ich doch meine Betrübnis über ein Wort ausdrücken,
das Sie gesprochen haben, nämlich den Satz: „Amerika kann Deutschland nicht ausgeben." Herr Kollege Arndt, ich fürchte, es kann es.
Aber selbst wenn es es nicht könnte, scheint es mir unklug zu sein, eine nach Ihrer Meinung bestehende Zwangslage Amerikas, sich selbst an der Elbe verteidigen zu müssen, so auszunutzen, wie Sie es hier vorschlagen.
Sie haben ja schließlich gesagt, daß der Friede eine Leistung unserer Vernunft wäre. Meine Damen und Herren, in den Beziehungen der Volker untereinander gibt es außerordentlich wenig wirksame Gefühlsargumente. Es gibt aber sehr viele Vernunftargumente, und zu diesen Argumenten gehurt, daß man sich ganz einfach und schlicht ausrechnet: wie wirken ganz bestimmte Dinge draußen, und wie bringt man andere Völker dazu, in ihrem eigenen Interesse das zu tun, was auch unserem Volke nützlich ist?
Das scheint mir eine konstruktive Politik zu sein.
Ich lese in einem alten Reichstagsprotokoll — wir sollten das viel öfter tun, wenn wir die Zeit dazu hätten — einen Satz, in dem darauf hingewiesen wird, daß man doch zu einer Vereinbarung kommen müsse. Und da steht:
Aber ich fürchte, die Situation ist noch schlimmer. Nicht nur die Regierungen, auch die gesamte öffentliche Meinung der Welt werden wir dann gegen uns bekommen, wenn die Verständigung jetzt an unserem Widerstand scheitern sollte. Herr Briand hat vorgestern in der französischen Kammer gesagt: die Isolierung ist die Gefahr. Das hat Herr Briand von seinem Staate gesagt, der stärksten Militärmacht der Welt.
— Auch das war einmal! —
Was sollen wir sagen, wenn wir uns jetzt freiwillig isolieren? Was für Gefahren beschwören Sie
— damals nach rechts gesagt —
damit über das deutsche Volk herauf. Die Isolierung würde uns nicht nur die Verhandlungsbereitschaft in London und in Paris kosten, sie würde auch jede amerikanische Unterstützung, auf die Sie soviel bauen, für lange Zeit unmöglich machen.
Meine Damen und Herren, ich kann dem, was Herr Abgeordneter Dr. Hilferding
am 25. August 1924 bei den Beratungen über den Dawes-Plan ausgesprochen hat, nur vollinhaltlich zustimmen.
Ich möchte doch. manchen meiner Freunde, die in diesen Zeiten über die praktischen Möglichkeiten sprechen, einmal das eine sagen: auch wenn man im christlichen Bereich redet, darf der Appell an die Menschenfreundlichkeit der anderer nicht zu große Forderungen stellen, wenn man ernst genommen werden will.
. Und ich sage ein zweites Wort zum Thema der Gleichberechtigung, nicht weil politisch heute soviel darüber geredet worden ist, sondern weil ich glaube — und ich spreche ja in diesem Zusammenhang —, daß es auch eine christliche und kirchliche Forderung nach der Gleichberechtigung gibt. Denn diese Gleichberechtigung hat unmittelbar etwas mit der Würde und der Ehre der Menschen und der Völker zu tun und ist darum ein christliches Postulat.
Wir haben gerade in diesen Tagen einen Bericht des Herrn Kirchenpräsidenten D. Stempel aus Speyer bekommen, der sämtliche deutschen Gefangenen in Frankreich, in Belgien und in Holland hat besuchen und darüber nicht sehr viel Gutes hat berichten können. Wir meinen, daß diese Dinge aus Rechtsgefühl — ich will nicht an Staaten appellieren, in einer christlichen Verantwortung zu handeln — und aus politischer Klugheit in Ordnung gebracht werden müssen.
Wir werden uns allerdings nicht durch den Lärm einer gewissen Propaganda darüber hinwegtäuschen lassen, daß die eigentlich uns bedrängenden Nöte in dieser Frage nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten herrühren.
Und, meine Damen und Herren, ich möchte, daß die Leute, die im Lande darüber reden, diese Dinge nicht zu leicht vergessen. Ich habe am Montag eine Debatte in der Universität gehabt. Da ist ein Student aufgetreten und hat gesagt, er sei SS-Mann gewesen und habe ein halbes Jahr in Neuengamme gesessen, und hat dann daran seine Erwägungen über die deutsche Politik und die Alliierten geknüpft. Nun, es mag bedauerlich, vielleicht sogar ungerecht gewesen sein, daß dieser Junge in Neuengamme gesessen hat. Wieviel dumme Ungerechtigkeiten haben wir erlebt! Aber ich muß nun schon sagen: heute hatte er jedenfalls die Freiheit in diesem Staat, die Regierung und die Alliierten anzugreifen, ohne daß ihm etwas geschah. An anderer Stelle hätte er 25 Jahre Zwangsarbeit — mindestens! — bekommen. .
Ich sage das, meine verehrten Damen und Herren, weil ich den Eindruck habe, daß viele Leute
— auch im Raum der Kirche — mit einer merkwürdigen Diskreditierung des Westens ihre Politik betreiben.
Wir sind die letzten — wenn man am dichtesten dran ist, merkt man es ja am leichtesten —, die nicht wüßten, was in unserem Staat und im Westen faul ist. Aber wir sollten uns keinen Augenblick durch eine falsche und scheinbare Gerechtigkeit zu der Meinung bringen lassen, daß das, was im Osten ist, im Vergleich zum Westen überhaupt nur erwägenswert sei.
Darum nehme ich mit großer Dankbarkeit das Wort von Herrn Kollegen Ollenhauer auf — und ich glaube, daß das auch die gemeinsame Überzeugung aller verantwortlichen Mitglieder dieses Hauses ist —, daß das deutsche Volk in seiner erdrückenden Mehrheit sich unlösbar mit den Lebensvorstellungen der westlichen Welt verbunden weiß. Aber wenn man das weiß, dann sollte man das nicht nur aussprechen — an Deklamationen ist in Europa und in der Welt kein Mangel —, sondern dann sollte man das auch in der Praxis in einzelnen Entscheidungen bewähren. Ich bitte jedenfalls herzlich darum, daß es geschieht.
Dann sollten wir etwas anderes einsehen, meine Damen und Herren, und das scheint mir mit der inneren Struktur unseres Volkes in erster Linie und unmittelbar in Zusammenhang zu stehen: daß die Gleichberechtigung nicht, wie uns Herr Kollege Schmid eben wieder vorgetragen hat, ein Status, sondern eine dynamische Entwicklung ist.
Es ist doch wohl so, daß wir seit 1945 darüber belehrt worden sind. Das, was Herr Kollege Schmid m diesem Zusammenhang gesagt hat, nämlich daß man entweder besetztes Land ist oder es nicht ist, ist in vollem Umfange falsch.
Da ich mir nun einmal die Freude gemacht habe, in alten Reichstagsprotokollen zu lesen — entschuldigen Sie, meine Damen und Herren! —, bitte ich den Herrn Präsidenten um die Erlaubnis, auch einige Sätze aus einem Protokoll von 1930 zu zitieren:
Es besteht Streit darüber, ob diese Entwicklung nach vorwärts und aufwärts gegangen ist. Wir unsererseits sind der Meinung, daß das der Fall ist. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, wie sich die Dinge vollzogen haben vom Diktat zum Vertrag, von der einseitigen Forderung zur Vereinbarung, und wenn wir heute unsere Blicke zurückschweifen lassen auf das, was vor zehn, ja was vor fünf Jahren gewesen ist, wie Deutschland in dem Verhältnis zu den übrigen Staaten Europas und der Welt dastand und jetzt dasteht, so wird kein Vernünftiger leugnen können, daß es eine Entwicklung nach vorwärts und aufwärts gewesen ist, daß wir alle allmählich eingerückt sind in die Linie der politischen Gleichberechtigung.
Freilich, es wird auch von uns nicht geleugnet und nicht verkannt, daß dieser Weg ein Weg war, der durch große und schwere Ungerechtigkeiten für das deutsche Volk geführt hat, ein Weg, auf dem uns die schwersten Opfer auferlegt worden sind, und ich füge hinzu: das Ziel, das wir uns gesetzt haben und das wir uns setzen müssen, ist bis zu diesem Augenblick noch nicht erreicht.
An jedem dieser Meilensteine haben Menschen gestanden, die alle diejenigen, die diesen steinigen Weg beschritten und die ihn weitergehen wollten, nicht nur kritisierten, sondern schmähten und beschimpften. Mangelnde Einsicht, sagten unsere milderen Richter, die anderen aber sprachen von bewußtem oder gar bezahltem Landesverrat ... Diese Hetze wird bis zum heutigen Tage fortgesetzt. Sie wird jetzt gegen alle diejenigen gerichtet, die an dem Zustandekommen des Young-Abkommens positiv mitgewirkt haben. Welchen Charakter sie trägt, haben wir bei der Agitation für das Volksbegehren erlebt. Wo die sachlichen Argumente ausgingen, setzte die Lüge ein.
Ich brauche nur daran zu erinnern, daß behauptet wurde, die Sachverständigen und die Regierung hätten sich damit einverstanden erklärt, daß deutsche Jungmannschaft als Sklaven in die Welt verkauft werden müsse. Das alles geschah im Namen der nationalen Gesinnung ... Nun, wir wollen mit diesen Leuten nicht um die Palme nationaler Gesinnung ringen. Wir stellen fest, daß wir unbeirrt das tun und tun werden, was wir im Interesse des deutschen Volkes, seines ruhigen und friedlichen Aufstieges für geboten erachten.
Meine Damen und Herren, ich sage das nicht, um
die Behauptung aufzustellen, die man mir mit
Recht bestreiten würde, daß eine völlige Parallele zwischen damals und heute besteht. Ich sage
es, weil ich deutlich machen möchte, daß man sich
in einer politischen Verantwortung dafür entscheiden kann, ein Zwischenziel zu erreichen und das
Endziel im Auge zu behalten. Insofern bin ich
Lassen Sie mich eins noch sagen. Wie war 1918 der Ausgangspunkt, und wie war er 1945,
und welches Maß von Schuld haben viele, viele Menschen in Deutschland damals auf sich geladen, die heute nicht gern an diese Schuld erinnert werden möchten?