Rede von
Dr.
Helmut
Bertram
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Theorie, von der manche der Vorredner auszugehen schienen, daß es- zwischen der westlichen und der östlichen Welt notwen-
digerweise zu einem Kriege kommen müsse, ist sicherlich unzutreffend.
— Manche meiner Vorredner waren Heldensängern ähnlich, dem guten Homer entsprechend, der zwar schön gesungen hat, dessen Lieder inhaltlich aber wenig zutreffend waren.
— Ich habe Sie nicht verstanden.
Ich selber will diese Methode der schönen Worte nicht befolgen, sondern denke, daß es zweckmäßiger ist bei einer so ernsten Frage, einer Frage, bei der es notwendig- ist, alle Argumente und Gegenargumente sorgfältig zu prüfen, nüchtern zu bleiben und mit dieser Nüchternheit dann zu einem Fazit zu kommen, — wenn das überhaupt jetzt schon möglich ist.
Der Herr Bundeskanzler hat uns eine kurze Zusammenfassung seiner Pläne gegeben. Diese kurze Zusammenfassung läßt es nicht zu, zu Einzelheiten Stellung zu nehmen. Aber auch sie läßt zwei Grundprinzipien deutlich erkennen. Diese zwei Grundprinzipien sind einmal die europäische Verteidigungsgemeinschaft — wie das Vertragswerk von ihm bezeichnet worden ist — und als zweites Grundprinzip die Wehrverfassung innerhalb Deutschlands, die sogenannte allgemeine Wehrpflicht. Die europäische Verteidigungsgemeinschaft nach dem Konzept des Herrn Adenauer ist und bleibt nach meiner Überzeugung ein Mittel, Deutschland von dem politischen Einfluß auf das Weltgeschehen und auf die europäische und die Weltstrategie auszuschalten. Es ist unzutreffend, daß die Einstimmigkeit im Ministerrat uns den ausreichenden politischen Einfluß sichern könnte! Kriege werden nicht mehr nach monatelangen Debatten begonnen, sondern sind heutzutage als entsetzliches Unglück plötzlich da!
Nicht einmal das amerikanische Parlament hat die Möglichkeit, den Präsidenten daran zu hindern, in diesen Fällen sofort Maßnahmen zu ergreifen. Um wieviel weniger wird ein deutscher Vertreter im Ministerrat mit seinem Veto die einmal angelaufene Kriegsmaschine daran hindern können, weiterzulaufen und vielleicht die deutschen Kontingente zurückzupfeifen!
Die europäische Verteidigungsgemeinschaft ist tatsächlich ein Plan, Deutschland trotz formeller Gleichberechtigung materiell in dem halbsouveränen Zustand zu belassen, in dem wir uns zur Zeit befinden. Welche Generalstabspläne ausgearbeitet, wie die Feldzüge gestaltet werden, was etwa zerstört werden und was geopfert werden muß, darf Deutschland nach dieser Konzeption nicht bestimmen; das wird im NATO-Hauptquartier bestimmt. Es gibt ja nicht einmal ein Oberkommando der Europaarmee! Gerade heute morgen ist eine entsprechende Verlautbarung des belgischen Verteidigungsministers in der „Welt" erschienen: Kein Armeekorps wird unter deutschem Oberbefehl marschieren, wohl aber unter dem Oberbefehl der anderen alliierten Mächte.
Daß wir unter diesen Umständen bei den entscheidenden Entwürfen keinen Einfluß und auch in den sekundären und äußerlichen Fragen nur ein Mitspracherecht haben, dürfte im Ernst nicht bezweifelt werden können. Wenn die Beurteilung, die wir diesem Rezept der sogenannten europäischen Verteidigungsgemeinschaft geben, nicht richtig wäre — warum macht Frankreich jetzt Vorschläge, Deutschland eng mit der NATO zu verbinden, warum aber lehnt es mit aller Entschiedenheit seinen Eintritt ab? Dieses Mißtrauen ist ja auch durch die Äußerung des Herrn Alphand in London eindeutig bestätigt worden. Wenn Herr Alphand Professor Ophüls persönlich erklärt hat, daß seine Bemerkung, daß die europäische Verteidigungsgemeinschaft deshalb geschaffen worden sei, um Deutschland von dem Einfluß auf die Weltstrategie auszuschalten, und wenn er diese Bemerkung in einem privaten Gespräch dementiert hat, so ist das eine Gefälligkeit, aber keine politische Erklärung. Ein politisches _Dementi muß gegenüber den Gremien erfolgen, an die die Erklärung selbst gerichtet worden ist. Nur dann hätte dieses Dementi auch nur irgendeinen Wert.
Aber wie ich eben ausführen durfte, ist es ja auch der Inhalt des Vertrags — soweit er uns bekanntgeworden ist —. der uns von den eigentlichen entscheidenden strategischen Fragen ausschaltet. Der von der Regierung geplante Verteidigungsbeitrag ist aber geeignet, die deutsche Gleichberechtigung auf die Dauer zu verhindern, er ist wegen der Art der Wehrverfassung abzulehnen. Die Auswahl der Offiziere sowie das ganze System der allgemeinen Wehrpflicht — —
— Entschuldigen Sie bitte: Wir haben uns gestern vom Herrn Bundeskanzler sagen lassen, daß eine notwendige Konsequenz seiner Konzeption das System der allgemeinen Wehrpflicht sein würde.
— Sie werden mir wohl gestatten, auf das System der allgemeinen Wehrpflicht einzugehen, ein System, das unserer Überzeugung nach nur schädlich sein kann.
— Gerade diese Äußerlichkeiten interessieren mich überhaupt nicht. Aber die Frage der Wehrverfassung ist entscheidend! Wenn Herr Blank in seiner Rundfunkrede Äußerungen über die Uniform machte, dann sind das Dinge, die .für einen Kammerunteroffizier sehr wichtig sind, für uns hier aber unwichtig. Aber die Frage, welche Wehrverfassung wir bekommen, rührt an das Fundament unseres Staates, und deshalb werden Sie mir gestatten müssen, dazu Ausführungen zu machen.
Der Einfluß der deutschen politischen Gewalten auf die in Deutschland stationierten Truppenkörper wäre von ihrer Entstehung an äußerst gering, weil das gesamte Rekrutierungs- und Ersatzwesen von einer ausländischen Zentrale aus gesteuert würde. Niemand weiß ja, wie sich dieser Machtblock entwickeln wird, wenn nicht der Bundestag selber die hohen Offiziere auswählt und auf das ganze Ersatzwesen durch die Einschaltung demokratischer Kontrollorgane — wie beispielsweise
bei den Polizeiausschüssen bei den Regierungspräsidenten der britischen Zone — seinen Einfluß ausüben wird.
Wenn wir die hohen Offiziere nicht selber wählen, dann bin ich fest davon überzeugt, — —
— Ich weiß nicht, ob Sie im letzten Kriege dabeigewesen sind. Ich kann nur sagen, daß wir bei der Auswahl der hohen Offiziere ein Problem vor uns haben, das sehr ernst und sehr wohl überlegt sein muß. Wenn wir nicht ferner beim ganzen Ersatzwesen demokratische Kontrollorgane einschalten, dann ist die Gefahr einer Verselbständigung dieser kommenden Wehrmacht, eines Ausder-Hand-Gleitens aus den demokratischen Händen, außerordentlich stark gegeben.
Es ist auch nicht richtig, daß — wie behauptet wurde — die vorgeschlagene Wehrpflicht allgemein sei. In Friedenszeiten werden nur Mannschaften und allenfalls Unteroffiziere eingezogen. Offiziere und Generäle sind im Frieden immer noch freiwillig gekommen. Genau genommen würde man diese allgemeine Wehrpflicht besser „allgemeine Wehrpflicht für die niedrigen Dienstgrade" nennen. Wir bekennen uns ja auch in unserem gesamten wirtschaftlichen und kulturellen Leben möglichst zum Prinzip der Freiwilligkeit. Dieses Prinzip stellen wir dem russischen System des Zwanges gegenüber. Aber ausgerechnet bei der Wehrverfassung erwarten wir Höchstleistungen durch einen Zwang. Auch hier kann höchste Leistung nur durch Freiwilligkeit erzielt werden! Kein noch so ausgeklügeltes Punkt und Testsystem kann den richtigen Mann an den richtigen Platz bringen, wenn nicht die Freiwilligkeit dahintersteht. In einem Kriege kommt es auf die höchste moralische, geistige und körperliche Leistungsfähigkeit an, die von mürrischen und unwilligen Menschen niemals erreicht werden kann.
Bei dem vorgeschlagenen Wehrsystem wird auch verkannt, daß eine allgemeine Wehrpflicht in Friedenszeiten zu schwersten Störungen des Wirtschaftslebens führen muß, während in Kriegszeiten eine Dienstpflicht für alle, ob Mann, ob Frau, eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Die Störung des Wirtschaftslebens in Friedenszeiten scheint mit ein Nahziel des Weltkommunismus zu sein, zu dessen Erreichung wir eben nicht helfen sollen.
Das System der allgemeinen Wehrpflicht ist uns durch zwei gewaltige kriegerische Niederlagen treu geblieben. Was hier Ursache und Wirkung ist, kann ich nicht entscheiden. Daß dieses System etwa das ideale wäre, hat schon Seeckt sehr bezweifelt. Ein Umdenken tut hier endlich not, ein Umdenken dahin, wie man erreichen kann, daß jeder Mann auf den richtigen Platz kommt und daß keiner mehr bloßes Material, bloßer Baustein ist.
Die moderne Technik hat auch im Waffenwesen ihren Einzug gehalten. Das moderne Kriegsmaterial besteht aus den kompliziertesten Maschinen, die wir uns denken können. Sie so zu bedienen, daß auch in der Erregung, des Kampfes Fehler vermieden werden, erfordert langjährige und unerhört festsitzende Ausbildung, also Routine. Diese erreichen wir nicht mit einer Dienstzeit von 18 Monaten; dazu bedarf es vielmehr einer wesentlich
längeren Ausbildung. Die Ausbildung von freiwilligen Soldaten erfordert zudem naturgemäß einen wesentlich geringeren Prozentsatz von Ausbildungsstäben als die Ausbildung bei dem System der sogenannten allgemeinen Wehrpflicht, der der eigentlichen Kampfkraft gewonnen wird. Die moderne Technik verlangt auch große Beweglichkeit und ständiges Bereitsein. Auch das kann nur bei Berufssoldaten erreicht werden. Was nützt uns eine noch so große Anzahl ausgebildeter Reservisten, wenn sie am Tage X um die xte Stunde nicht parat-stehen? Sie werden wahrscheinlich viel zu spät kommen, um ihren Versammlungsplatz überhaupt zu erreichen.
Hören Sie außerdem einmal die Stimmung im
Volk. Volkesstimme wird oft Gottesstimme genannt.
Kaum einer in unserem Volk leugnet die Notwendigkeit der Institution der Wehrmacht an sich; aber die meisten sind entsetzt und wehren sich, wenn sie hören, daß sie zwangsweise ausgehoben werden sollen. Diese Pille können Sie auch nicht dadurch versüßen, daß Sie für das erste Jahr keine Einziehung ankündigen. Hier braucht niemand aufgeputscht zu werden. Gerade das deutsche Volk hat auf diesem Gebiet genug erlebt.
Der Aufbau einer Wehrmacht auf der Basis einer allgemeinen Wehrpflicht erfordert die Arbeit von vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Die Gefahr des russischen Eingreifens während der Zeit des Aulbaus ist die Hauptsorge, die uns alle bewegen soll. Es ist ja doch keineswegs so, daß mit der Aufstellung irgendeines Ausbildungsstabs die deutsche Verteidigungskraft auch nur irgendwie steigen würde. Eine sofortige Verstärkung der deutschen Position wird sich unter keinen Umständen ergeben. Eine vorübergehende Verstärkung der Besatzungsstreitkräfte ist deshalb unerläßlich.
Wer sagt, es erschiene untragbar, daß im Kriegsfall die jungen Leute zu Hause blieben und die Familienväter ins Feld geführt werden müßten und daß es dem demokratischen Grundsatz der gleichen Rechte und Pflichten entspräche, die allgemeine Wehrpflicht zu haben, der hat meines Erachtens das Problem nicht durchdacht. Ob jemand im Kriege, der so oder so brutal oder total sein würde, als Soldat oder als Kohlenarbeiter, als Eisenbahner oder als Nachrichtenmann tätig ist, immer dient er, wenn er an einer notwendigen Stelle steht, in gleicher Weise und wahrscheinlich auch unter der gleichen Lebensgefahr dem Volksganzen. Wenn man den Gedanken von den gleichen Rechten und Pflichten durchdenkt, wird man nur diese Auffassung akzeptieren können, da sonst auch Frauen Soldaten werden müßten. Andere Länder, die die allgemeine Wehrpflicht haben, haben andere und weitergesteckte Aufgaben.
Die Qualität des Ersatzes ist auch beim System der Freiwilligkeit gewährleistet, wie das Hunderttausendmannheer bewiesen hat. Wenn man einwendet, daß das Heer der Freiwilligen teurer sei als das Heer auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht, so kann man darauf nur erwidern, daß das, was nichts kostet, auch nichts ist.
Einer der Herren Vorredner hat erklärt, es sei „selbstverständlich", daß der Sozialbeitrag nicht verringert würde. Diese „selbstverständliche" Voraussetzung dürfte unerfüllbar sein: Jeder, der sich mit der Frage der Kriegsführung beschäftigt hat
wird zugeben, daß eine Einschränkung des Lebensstandards kaum zu vermeiden sein wird. Wir haben über die finanziellen Auswirkungen bis jetzt keinerlei Unterlagen von der Regierung bekommen. Nur einige Pressenotizen kennen wir. Nachdem die Bundesregierung schon bisher die Möglichkeit einer Erhöhung der Sozialleistungen mit dem Hinweis auf den Mangel an Mitteln verneint hat, erscheint es ganz ausgeschlossen, daß die Aufbringung der Kosten des Verteidigungsbeitrags keine Senkung des allgemeinen Lebensstandards bringen würde. Eine Rüstung kostet Geld. Das Geld ist nicht nutzlos hinausgeworfen, wenn damit Kriege verhindert werden. Viel entscheidender ist es deshalb, die Verteidigungslasten so zu verteilen, daß der Lebensstandard der Ärmsten der Armen keine Senkungerfährt. Im übrigen muß bei der Verteilung der Lasten eine erhöhte soziale Gerechtigkeit walten. Wenn das deutsche Volk das Bewußtsein haben würde, daß eine erhöhte soziale Gerechtigkeit herbeigeführt wird, dann, dessen bin ich sicher, würde es auch Einschränkungen auf sich nehmen. Statt mit schönrednerischem Optimismus auf die kommende erhöhte Produktivität hinzuweisen, sollte man auch hier lieber den Ernst der Lage klarmachen. Woher soll bei den bekannten Engpässen in Kohle und Stahl die vom Herrn Bundeswirtschaftsminister behauptete großartige Steigerung der Gesamtproduktivität kommen?! Und wie soll aus dem Sozialprodukt mit den äußerst knappen Verbrauchsanteilen noch ein weiterer Teil für die Verteidigungslasten abgezweigt werden, ohne daß alle den Riemen enger schnallen müßten?!
Wie schwer es für uns ist, aus dem Status der Halbsouveränität, in dem wir uns befinden, herauszukommen, weiß jeder von- uns. Noch immer kontrollieren amerikanische Militärpatrouillen deutsche Fahrzeuge, noch immer sind deutsche Privatwohnungen und Grundstücke für die Besatzungsmacht und Angehörige der Besatzungstruppen beschlagnahmt, noch immer werden laufend Grundstücke neu in Anspruch genommen, noch immer besteht Steuerfreiheit für die Alliierten und kommen Eingriffe in die Strafverfolgungspraxis vor, noch immer bestehen Gesetze, die — wie in der Frage der Dekartellisierung — dem deutschen Rechtsempfinden keineswegs entsprechen. Hier kann aber nur — und das ist das Entscheidende — Geduld und nochmals Geduld helfen und uns aus diesem Status herausheben. Die Zeit arbeitet für uns. Was von 1945 bis 1952 nicht brannte, kann heute mit Bedacht geregelt werden. Hast und Eile — und das ist der Hauptvorwurf, den wir dem jetzigen Verfahren der Regierung zu machen haben — können uns in eine Zwangsjacke bringen, aus der wir nie mehr herauskommen, unseren Wiederaufstieg definitiv gefährden und Deutschland für die Dauer einen Status auferlegen, in dem zu leben sich nicht lohnt, für den zu sterben dann auch niemand bereit wäre.