Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zweifellos ein ungewöhnlicher Vorgang, wenn eine größere Anzahl von Antragstellern im Deutschen Bundestag beantragt, ein Gesetz in seinem Vollzug zu hemmen, das derselbe Deutsche Bundestag vor wenigen Monaten erlassen hat. Dieser Vorgang mag ungewöhnlich sein, aber er wird gerechtfertigt durch Voraussetzungen, die auch ihrerseits wohl als ungewöhnlich angesprochen werden müssen.
Die am 9. Dezember vorigen Jahres erfolgte Volksabstimmung hat in Gesamtbaden eine Mehrheit von 52,2 % und im Lande Baden eine Mehrheit von 63 % für die Wiederherstellung des Landes Baden ergeben. Im Lande Baden haben 383 000 Stimmen für die Wiederherstellung und nur 233 000 Stimmen für den Südweststaat gestimmt. Es liegen daher in beiden Fällen eindeutige Mehrheiten für die Wiederherstellung des alten Landes Baden vor. Trotzdem muß der Südweststaat gebildet werden, weil das Zweite Neugliederungsgesetz dies dekretiert. Das ist eine Folge des merkwürdigen Abstimmungsmodus, der in § 10 des Zweiten Neugliederungsgesetzes festgelegt worden ist. Wir haben immer und immer wieder in diesem Hohen Hause und außerhalb dieses Hauses darauf hinge-
wiesen, daß wir diesen Abstimmungsmodus als undemokratisch und unfair empfinden.
Es wird uns entgegengehalten, daß das höchste deutsche Gericht diesen Abstimmungsmodus nicht beanstandet, daß es ihn als nicht verfassungswidrig bezeichnet habe. Wir möchten da eine Unterscheidung machen, die durchaus nicht eine sophistische und postume Erfindung der Badener ist, sondern die auf ganz andere Ursprünge zurückgeht. Es ist von keinem Geringeren als von Immanuel Kant unterschieden worden zwischen dem, was „Rechtens" ist im Sinne des positiven Rechts, und dem, was „Recht" ist im Sinne des überpositiven und des moralischen Rechts.
So konnte sich auch das Bundesverfassungsgericht nur über das aussprechen, was Rechtens ist; aber es hat in seinem Urteil und in seinen Leitsätzen erfreulicherweise ein Bekenntnis zu dem überpositiven Recht, dem es sich verpflichtet fühlt, abgelegt. Die Berufung auf dieses überpositive Recht, das auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als eine Rechtsquelle anerkannt worden ist, gibt uns das Recht — auch wiederum vom Gesichtspunkt dieses überpositiven Rechtes aus —, das Urteil selbst zu messen und uns zu fragen, wieweit es eben nicht nur Rechtens, sondern auch Recht in diesem Kantschen Sinne ist und Recht in diesem Sinne geschaffen hat.
Es ist wohl der schwächste Punkt dieses Urteils, daß darin gesagt wird, es bestehe tatsächlich eine Ungleichheit der Chancen. „Ein Abstimmungsgesetz" heißt es, „das willkürlich den Abstimmungsmodus so wählt, daß ein Teil der Stimmberechtigten benachteiligt oder der Ausgang der Abstimmung in einem bestimmten Sinne gesichert wird, ist nichtig.," Aber diese Nichtigkeit wird trotzdem nicht angenommen, weil, wie gesagt worden ist, nicht festgestellt werden könne, daß der Bundesgesetzgeber sich von diesem Vorhaben, die Chancenungleichheit zu schaffen, habe leiten lassen. Wenn dem nicht so wäre, dann möchte ich doch die Frage stellen, warum damals in diesem Hohen Hause, als wir die Abänderungsanträge gestellt und die Durchzählung in den alten Ländern Baden und Württemberg verlangt haben, uns in vereinter Weise so stark entgegengetreten worden ist, warum ein anderes Abstimmungsprinzip verlangt und gewählt worden ist, durch welches der — nach unserer Auffassung beabsichtigte — Abstimmungserfolg der Mehrheit in drei von vier Abstimmungsbezirken herbeigeführt werden sollte.
Die Frage nach der Wiederherstellung der alten Länder bedeutet auch nicht „nur", wie das Gericht meinte, „eine psychologisch und abstimmungspolitisch bedeutsame Aufklärung für die Bevölkerung"; die Beantwortung dieser Frage ist vielmehr eine fundamentale politische Entscheidung. Ebenso ist die Entscheidung darüber, ob ein Land wie das Land Baden seine staatliche Existenz aufgeben soll, nicht nur eine Nebenfolge eines etwaigen Bekenntnisses zum Südweststaat, sondern gleicherweise wiederum eine fundamentale politische Entscheidung. So ist sie auch von dem badischen Volk, dessen Befragung nach Art. 118 des Grundgesetzes vorgesehen ist, verstanden worden. Dieses badische Volk aber; das es rechtlich wirklich gibt — es ist j a in der Verfassung ausdrücklich anerkannt —, ist das Staatsvolk des Landes Baden und nicht die
Bevölkerung des gesamten Südwestraumes. Das ist der Grund dafür, daß wir — wiederum gemessen an den Grundsätzen des überpositiven Rechts — ein Durchzählungsprinzip im gesamten Südwestraum für ebenso unzulässig gehalten hätten, wie wir den Abstimmungsmodus, der in § 10 des Zweiten Neugliederungsgesetzes eingeführt worden ist, für unzulässig gehalten haben. Eine Mehrheit kann aber in der Demokratie nach der ausdrücklichen Erkenntnis des Gerichtes „nur innerhalb des Kreises derjenigen entscheiden, die zur Antwort auf eine und dieselbe Frage aufgerufen sind." Diese Frage war eine und dieselbe im alten Land Baden und im alten Land Württemberg. Im alten Baden und im Lande Baden haben sich doppelte Mehrheiten ergeben, die infolge der Anwendung des von uns beanstandeten § 10 des Neugliederungsgesetzes eben leider nicht respektiert werden können.
Es sind hohe und große Grundsätze, die vom Gericht anerkannt worden sind. Wir bedauern nur, daß nicht auch die Folgerungen aus diesen Grundsätzen gezogen worden sind. Wir fürchten sehr wohl, daß, wenn dieser Abstimmungsmodus, den wir beklagen müssen, Schule macht, andere Länder die nächsten Opfer dieser Art der demokratischen Abstimmung sein werden.
Es ist ein einfaches Spiel, jedes kleine Land wie etwa Hamburg und Bremen mit einem großen Nachbarland wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein in einen Abstimmungsraum zusammenzulegen und die Mehrheit der Gesamtstimmberechtigten über das Schicksal dieses kleinen Landes entscheiden zu lassen.
Das Ergebnis des Abstimmungskampfes hat auch in der Presse, und zwar in der Auslandspresse, eine äußerst kritische Beurteilung gefunden.
In der Abstimmung
— schreibt eine Schweizer Zeitung —
an unserer Nordgrenze
— ich bitte das verlesen zu dürfen —
hat das anorganische Prinzip der Zusammenstückelung von Territorien über das organische Prinzip eines historisch gewachsenen Föderalismus gesiegt . . . Es rächt sich nun, daß nach der Besetzung Deutschlands die Besatzungsmächte ihre Zonengrenzen ohne Rücksicht auf die historischen Ländergrenzen gezogen haben und damit eine Revision provozierten, die heute nach rein utilitaristischen Grundsätzen vom Stärkeren, nämlich von Württemberg, zu seinen Gunsten entschieden wurde.
— Zitat vom 11. Dezember 1951. —
Ich glaube aber auch, wenn man dieses Abstimmungsergebnis würdigt und wenn man sich die Bedeutung unseres heutigen Antrages vergegenwärtigt, dann sollte man auf jenes echt demokratische Beispiel hinweisen, das in unserem Nachbarland, der Schweiz, vor wenigen Jahren gegeben worden ist. Als damals die beiden Kantone Basel Stadt und Basel Land darüber abstimmten, ob sie sich zu einem Gesamtkanton vereinigen sollten, wurde in beiden Kantonen eine Mehrheit — in dem einen eine größere, im anderen eine geringere — für den Zusammenschluß erzielt. Der Schweizer Bundesrat hatte die Zustimmung zu diesem Zusammenschluß zu geben; und er hat sie verweigert, weil er sagte, daß in einer Frage von so lebenswichtiger Bedeutung für
das Schicksal dieser beiden Kantone diese schwache Mehrheit nicht genüge und nicht entscheidend sein solle und daß nur ein Bekenntnis einer über die gesetzliche Mindestzahl hinausgehenden Mehrheit genügen sollte, um. diese Lebensentscheidung über die Zukunft der beiden Kantone zu fällen.
Eine ganz ähnliche Lage. liegt bei uns vor, und das ist der Anlaß dafür, daß wir diesen Antrag eingebracht haben. Es ist mit Recht gesagt worden, daß das neue Bundesland in Ehren beginnen muß und daß es nicht im Anfang mit einem Makel behaftet sein darf. Wir erblicken in diesem Abstimmungsmodus in der Tat einen Makel, der der Bildung des neuen Bundeslandes bedauerlicherweise anhaftet. Wir wünschen daher, daß der Wille des badischen Volkes, wie er in beiden Mehrheiten zum Ausdruck gekommen ist, berücksichtigt wird und daß nicht, wie eine Zeitung geschrieben hat, ein unverdienter Strafvollzug am Lande Baden vollzogen wird. Das ist der Grund für unseren Antrag auf Aussetzung bis zur Vornahme der allgemeinen Neugliederung.
Die badische Landesregierung hat sich grundsätzlich — und mit vollem Recht — entschlossen, der Anwendung des Zweiten Neugliederungsgesetzes im Anschluß an die Volksabstimmung keine Obstruktion entgegenzusetzen, sondern an den Arbeiten des Ministerrats in loyaler Weise teilzunehmen. Dies hat nicht die Rechtsverwahrung ausgeschlossen, die von der badischen Landesregierung eingelegt werden mußte, und schließt nicht aus, daß von den demokratischen Mitteln, die uns die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verleiht, Gebrauch gemacht wird und daß aus den dargelegten Motiven heraus auch dieser Antrag gestellt worden ist.
Gestatten Sie, meine Damen und Herren der demokratischen Fraktion, daß ich in diesem Augenblick ein Wort an Sie richte — nicht ein Wort des Streites, sondern ein Wort des Verständnisses und auch der Verständigung. Ich glaube, daß man das Anliegen, das uns im Lande Baden beseelt hat, vielfach nicht richtig verstanden hat. Ich möchte es ganz eindeutig nochmals sagen: Uns hat an den Fragen, die hier zur Entscheidung gekommen sind, nur in zweiter Linie die wirtschaftliche Auswirkung interessiert, nur in zweiter Linie die Frage der angeblichen Staatsverbilligung, die von uns bestritten worden ist. Für uns hat es sich um die grundsätzliche, um die elementare und fundamentale Frage gehandelt, ob auch im Rahmen eines Bundesstaates dasselbe Lebensrecht der kleinen Staatsvölker gilt, das im internationalen Recht immer gerade von demokratischer Seite anerkannt worden ist.
Ich glaube daher, daß es nicht richtig ist, wenn von einer sehr maßgebenden Seite — und damit komme ich zur psychologischen Seite unserer Lage — gesagt worden ist: „Die über die angetane Schmach selbst vergossenen Tränen sind dicke, altbadische Krokodilstränen." Es ist weiter von derselben Seite, die ich persönlich sehr hoch schätze und deren konziliante Verhandlungsführung ich kennengelernt habe und durchaus anerkennen möchte, auf dem Stuttgarter Parteitag gesagt worden:
Unser Gegner wird offensichtlich mehr und
mehr in die Enge getrieben. Er kämpft nicht
mehr,
— nun kommt ein Ausdruck, der mir fremd ist — er strafelt nur noch! Wir werden mit ihm fertig
gemäß dem erprobten schwäbischen Rezept: „Will er net fürsche rei, so muß er hintersche nei!"
Ich weiß nicht, ob es glücklich ist, diese zweifellos in manchen Lebenslagen erprobte Lebensregel anzuwenden, wenn es sich darum handelt, die Herzen der Menschen zu gewinnen, die nichts anderes getan haben, als daß sie das Lebensrecht und die Freiheit ihres Volkes — allerdings wie wir sie auffassen — verteidigt haben und um deren seelische Gewinnung es sich jetzt eben doch handelt.
Ich möchte beantragen, daß unser Antrag zunächst dem Rechtsausschuß zur Prüfung überwiesen wird. Dieser Antrag wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Hohe Haus zu Beginn dieser Sitzung bereits beschlossen hat, daß die zweite Lesung heute noch stattfinden soll; denn dieser Beschluß konnte ja nur unter der Voraussetzung gefaßt werden, daß nicht in irgendeiner anderen Form im Anschluß an die erste Lesung eine Entscheidung getroffen wird. Aber weil ich mit der Möglichkeit rechne, daß gegen die Zulässigkeit unseres Antrages und gegen seine Begründetheit vielleicht auch rechtliche Bedenken erhoben werden könnten, halte ich es für richtig, kurz auf diese möglichen oder doch zu erwartendem rechtlichen Bedenken noch einzugehen.
Der Antrag, den wir gestellt haben, enthält keineswegs eine Finanzvorlage. Er berührt nicht die Bundesfinanzen. Wir haben auch immer bestritten, daß durch die Neugliederung im Südwestraum wirkliche Ersparnisse gemacht werden können. Wir befanden uns hierbei in Übereinstimmung mit einem Gutachten des württembergbadischen Städteverbandes. Unser Antrag betrifft lediglich die Frage der Neugliederung und nicht die Frage der Einwirkung auf die Finanzen. Der § 94 der Geschäftsordnung kann hier nicht Anwendung finden.
Unser Antrag ist aber auch mit Art. 118 des Grundgesetzes vereinbar. Die Regelung der Neugliederung kann — und das Hohe Haus hat sich ja diese Auffassung in einem früheren Zeitpunkt selber zu eigen gemacht — nicht nur durch e i n Bundesgesetz, sondern auch durch mehrere Bundesgesetze erfolgen. Der Bundesgesetzgeber ist so souverän, daß er die Hand, die er geboten hat, wieder zurückziehen kann und daß er das Gesetz, das er erlassen hat, in seinem Vollzug hemmen kann. Er kann dies auch dann, wenn er bereits von der Ermächtigung Gebrauch gemacht hat, dieses -Gesetz zu erlassen. Er kann dies auch dann, wenn diesem Gesetz bereits die Volksbefragung gefolgt ist. Er ist nicht gebunden, das Ergebnis gerade dieser Volksbefragung zur Ausführung zu bringen. Aber wenn er daran gebunden wäre, so würde gerade das Ergebnis dieser Volksbefragung dafür sprechen, die doppelte Mehrheit, die sich im Lande Baden und in Gesamtbaden für die Erhaltung des Landes Baden ergeben hat, zu respektieren. Der Gesetzgeber würde daher, wenn er unserem Antrag stattgäbe, gerade in Übereinstimmung mit dem vom badischen Volk bekundeten Willen handeln.
Es liegen also keine Rechtsgründe vor, die die Behandlung unseres Antrages hindern könnten. Aber da diese rechtlichen Bedenken zu erwarten sind, wird die Überweisung des Antrags an den Rechtsausschuß beantragt. Sollte über den Antrag selber eine sachliche Entscheidung gefällt werden,
so stelle ich schon jetzt den Antrag auf namentliche Abstimmung.
Wenn Sie unserem Antrag zustimmen, bringen Sie Ihre hohe Achtung gegenüber dem Gedanken der Selbstbestimmung zum Ausdruck, die die Grundlage unseres demokratischen und föderalen Staatswesens ist und bei deren Durchführung das badische Volk im großen und im kleinen sich eindeutig zur Erhaltung seines badischen Landes als eines Staates, als eines Gliedes der Bundesrepublik Deutschland bekannt hat.