Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird für viele Millionen Heimatvertriebener eine Genugtuung bedeuten, wenn das verehrte Hohe Haus dem jetzt zur Debatte stehenden Tagesordnungspunkt für wenige Minuten ein ebensolches Interesse entgegenbringt — allerdings ein mehr inneres und sachliches und weniger äußerlich lebhaftes Interesse —, wie Sie, meine Damen und Herren, es unserem Kollegen, dem Abgeordneten Besold bei seinem mannhaften Eintreten für die Belange der bayerischen Kaminkehrer entgegengebracht haben.
Es handelt sich um eine sehr wesentliche Angelegenheit, denn wir sind durch die Entwicklung und durch die Umstände gezwungen, der Frage näherzutreten, was zu geschehen hat, um dem Ministerium für Angelegenheiten der Vertriebenen eine größere und wirkungsvollere Vollmacht und Kompetenz zu geben. Am 24. März 1950 hat der Herr Minister Lukaschek von dieser Stelle aus — es war bei der ersten Haushaltsdebatte — seine Aufgaben in großen Zügen umrissen. Er nannte damals folgende drei Aufgaben:
erstens den Heimatvertriebenen das Bewußtsein zu vermitteln, daß das deutsche Volk alles tut, um dieses Leid zu mildern; zweitens gegenüber der westdeutschen Bevölkerung mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß das eine Sache der Gesellschaft, des gesamten Volkes ist, und drittens, in die Welt hineinzurufen, daß sie helfen muß, dieses Problem zu lösen.
Und ein Jahr später sagte der Minister wörtlich: Es handelt sich um das riesigste Problem, um ein gesamtdeutsches Problem, um ein Problem, das die Beheimateten hier beinahe mehr angeht als die Heimatvertriebenen.
Damit ist in großen Zügen klargestellt worden, welche Aufgaben das Vertriebenenministerium hat. Detailliert brauche ich sie vor diesem Hohen Hause nicht anzuführen. Sie sind derart vielfältig und umfangreich, daß man sagen kann: das Ministerium hat sich mit all den Problemen zu befassen, wie sie die heutige turbulente Zeit überhaupt hervorbringt.
Die Wirkungsmöglichkeit des Ministeriums war bisher durch die Artikel 83 und 84 des Grundgesetzes gegeben. Das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 scheiterte am mangelnden Durchführungswillen der Länder. Es ist dem Hause zur Genüge bekannt, daß wir uns vor 3 Wochen mit der Frage der Umsiedlung befassen mußten. Dabei ist von allen Seiten des Hauses bestätigt worden, daß es mit den bisherigen Methoden und den beschränkten Wirkungsmöglichkeiten des Ministeriums so nicht weitergeht. Dem Ministerium fehlen das Weisungsrecht und die Auftragsverwaltung, dazu eine klare und einheitliche Organisation. Der Mangel an Kompetenz und der Mangel an Vollmacht sind für das Ministerium die stärksten Hindernisse bei der Lösung des Heimatvertriebenenproblems.
Ich könnte hier, wenn ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen wollte — aber das liegt mir jetzt fern —, eine große Reihe von Stimmen aus diesem Hause, und zwar von links bis rechts, zitieren — ich habe mir die Mühe genommen, diese Stellen aus den Protokollen herauszusuchen —, die eindeutig immer wieder als das Grundübel und eine der Hauptursachen für die Behinderung in der Durchführung aller Maßnahmen bei der Lösung der Heimatvertriebenenprobleme die mangelnde Kompetenz und die mangelnde Vollmacht des Ministeriums herausstellen. Ich meine, wir müßten aus dieser übereinstimmenden Auffassung auch die Konsequenz ziehen, wenn wir es ehrlich mit der Lösung des Vertriebenenproblems meinen. Immer wieder wird an der Person des Ministers Lukaschek Kritik geübt. Ich weiß nicht, ob sich diese Kritik nicht eher gegen die tieferen Ursachen richten müßte als gegen die Person des Dr. Lukaschek. Es geht hier nicht um die Frage: Lukaschek oder irgendein anderer, sondern es handelt sich darum, daß der Minister in Zukunft — gleichgültig, wie er heißt — die entsprechenden Vollmachten bekommt, um die an ihn herantretenden Probleme lösen zu können.
Daher ist, meine ich, eine Erweiterung der Vollmacht erforderlich, so daß wir in gleichzeitiger Anerkennung des Vertriebenenproblems als einer gesamtdeutschen Aufgabe — vor der Notwendigkeit einer Revision oder Korrektur des Grundgesetzes zugunsten einer stärkeren Wirkungsmöglichkeit des Vertriebenenministeriums stehen. Es ist vollkommen richtig, meine Damen und Herren, und viele von Ihnen werden der Auffassung sein — auch ich stimme damit überein —, daß Verfassungsänderungen nicht täglich und nicht leichtfertig durchgeführt werden sollten; denn das Grundgesetz ist die Grundlage der gesamten Ordnung. Wir dürfen eine Verfassungsänderung nicht so betrachten wie irgendeine x-beliebige Gesetzesänderung, müssen aber doch Ergänzungen und Änderungen vornehmen, wenn veränderte Zeitlagen, soziologische Strukturveränderungen oder nicht vorausgesehene Entwicklungen sie erforderlich machen. Das vielfältige und umfassende Vertriebenenproblem fordert ständig veränderte Maßnahmen zur Lösung. Die Voraussetzungen und Bedingungen, die zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes bestanden, sind heute praktisch überholt, und neue Gesichtspunkte erfordern neue Handhabungen. Inwieweit bei der Schaffung des Grundgesetzes auch die Siegermächte mitgesprochen und gewisse Formulierungen mit bestimmt haben, ist wahrscheinlich allen zur Genüge bekannt.
Der an sich richtige Grundsatz der Unantastbarkeit einer Verfassung darf jedoch nicht davon abhalten, auf Grund der Erfahrungen in der Praxis gewisse Dinge zu verbessern. Wir müssen die begreifliche Zurückhaltung oder Furcht vor Verfassungsänderungen überwinden, wenn dadurch in der Lösung der Probleme Fortschritte erzielt werden können. Unser Antrag ist daher unter der Perspektive der Vervollkommnung, der Verbesserung, der Ergänzung des Grundgesetzes und nicht eines die Verfassung erschütternden oder deren Charakter verändernden Eingriffs zu sehen.
Erfährt der Grundsatz des Föderalismus durch unseren Antrag etwa eine Einbuße? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, Teile des Ganzen — ich meine jetzt die Länder — durch entsprechende Einwirkungsmöglichkeit stark, aber paritätisch stark, zu machen, ist unser Ziel, nicht, daß einem starken Land dank seiner Macht die Vorherrschaft vor einem anderen, schwächeren Land und dessen Interessen ermöglicht wird. So dient unser Antrag in seiner ausgleichenden Tendenz hinsichtlich des allzu differenzierten Vertriebenenproblems der Stärkung der föderativen Grundidee, allerdings der echten föderativen Grundidee unserer Verfassung. Er dient keinem Föderalismus der Zersplitterung im Sinne des kleinlichsten Länderegoismus. Ich selber bin keineswegs ein Vertreter des Zentralismus, wie er heute vom Standpunkt eines unechten Föderalismus oft und unberechtigterweise gefürchtet wird. Ich bin allerdings ein Gegner des Föderalismus bayerischer Prägung, weil ich auf dem Boden einer natürlichen und echten Selbstverwaltung stehe.
Zusammengefaßt, meine Damen und Herren: die Grundidee des Grundgesetzes erfährt durch unseren Antrag in keiner Weise irgendwelche Einbuße, sondern im Gegenteil eine Stärkung. Ich bitte Sie daher, unter Berücksichtigung der nur angedeuteten, Ihnen aber zur Genüge bekannten vielfältigen Aufgaben der Flüchtlingsverwaltung, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich beantrage die Überweisung an den Ausschuß für Heimatvertriebene — federführend —, ferner an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht und an den Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung. Die Ausschüsse werden wahrscheinlich auch den Einbau unseres Antrags auf Errichtung einer bundeseigenen Verwaltung für die Angelegenheiten der Vertriebenen im Bundesvertriebenengesetz unter Beachtung des § 27 zu behandeln haben.
Dem Hohen Hause darf ich noch mitteilen, daß ich heute eine ausführliche Besprechung mit Minister Lukaschek hatte, der im Augenblick leider nicht anwesend sein kann.
— Ich weiß den Grund dafür nicht; aber ich nehme mir die Freiheit, dem Hohen Hause mitzuteilen, daß auch Minister Lukaschek, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, hier zu sein, die Annahme dieses Antrags im Sinne der Überweisung an die zuständigen Ausschüsse wärmstens befürwortet hätte.