Rede von
Heinz
Renner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(KPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (KPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung: ich habe nicht geglaubt, daß ich heute in die Lage versetzt werden könnte, mich mit dem Gewerkschaftskollegen Wönner auseinandersetzen zu müssen. Damit konnte man wirklich nicht rechnen.
— Ja, hätten Sie das nur bei Ihren Ausführungen beachtet, Herr Kollege Wönner!
Er sagt: Wer hat die Kommunisten beauftragt, diesen Antrag zu stellen? — Ja, Herr Kollege Wönner, seit 1914 bezahle ich z. B. Gewerkschaftsbeiträge,
und ich glaube, daß wir Mitglieder der Gewerkschaften die Gewerkschaften darstellen.
Die Reden des Herrn Bundesjustizministers sind Mitte Oktober gehalten bzw. bekannt geworden. Jetzt haben wir Mitte Dezember. Zwei Monate hätten Sie also Zeit gehabt, sich hier, auf der gegebenen Plattform, mit dem Herrn Minister auseinanderzusetzen. Sie hätten allen Anlaß dazu gehabt; denn nicht nur in Ihrem offiziellen Verbandsorgan, sondern auch in Tausenden von Resolutionen aus den Kreisen der Gewerkschaften, aus den Betrieben heraus, ist Ihnen die Auffassung zugeleitet worden — wie auch den Parteien —, daß diese Rede des Herrn Ministers Dehler eine ungeheuerliche, unerträgliche Beleidigung der Gewerkschaften ist. Sie haben sich also sehr viel Zeit gelassen, um wach zu werden.
Ich habe aus dem Verhalten des Herrn Dehler heute einmal mehr den Schluß gezogen: Das ist der wohlverdiente Tritt in die Rückseite gewisser Gewerkschaftsführer, der heute hier ausgeteilt worden ist, an die Adresse der Herren, die sagen
— ich zitiere einen Satz aus dem Wahlaufruf der Sozialdemokratischen Partei zu diesem Bundestag —: „Hinter dem Wall der kämpfenden Sozialdemokratie hat die Reaktion ... usw." —, Sie wissen, was ich meine — „ ... das übelste, unsozialste System aufgerichtet!" Heute haben Sie einmal mehr den Dank des Hauses AdenauerPferdmenges für die Feuerwehrdienste erhalten, die Sie dieser Reaktion gelegentlich leisten.
Ich verwahre mich auch dagegen, daß man in dieser Rede nicht mehr erblicken will als eine auf den engen Rahmen eines Parteitages zugeschnittene Rede, etwa eine Entgleisung. Entgleisungen der Herren Minister lesen wir ja jeden Montag am laufenden Band in der Presse. Aber diese Entgleisungen sind doch nicht falsche Zungenschläge; das sind doch Enthüllungen.
— Ich war als Minister Kommunist und bin auch heute noch Kommunist.
— Nein, ich bin als Minister vielleicht gelegentlich auch schon mal entgleist, aber zu meinem Glück nicht hinsichtlich meiner politischen Überzeugung. Ich bin, wenn Sie wollen, gelegentlich mal entgleist, wenn ich z. B. für den Herrn Erzbischof von Köln per Reichsleistungsgesetz ein Auto beordert habe. Das ist mir als Minister auch mal passiert.
Aber zurück zum Thema. Hier handelt es sich nicht um einen falschen Zungenschlag; hier handelt es sich um die Enthüllung eines Geistes. Hier steht nicht allein der Herr Dehler zur Diskussion; hier steht dieses Kabinett Adenauer zur Diskussion, in dem er ja nur einen Korporal darstellt. Hier ist auch festzuhalten, daß es ja nicht allein der Herr Dehler ist, der als Minister solche Beleidigungen an die Adresse der Sozialberechtigten ausspricht. Da ist sein „wertgeschätzter" — weil er die Werte in der Hand hat — Kollege Schäffer, der noch weit wichtigere, weit gröber Beleidigungen gegen denselben Personenkreis ausgesprochen hat.
Aber nun zurück zum Herren Minister. Ich finde es für einen Minister immerhin sehr eigenartig, wenn er als Minister spricht, sich dabei aber auf einen „Arzt" beruft, hinter irgendeine obskure anonyme Persönlichkeit zurückzieht. Das ist nicht gerade Mannesmut vor Königsthronen, eine solche Haltung. Der Herr Minister hat es auch heute unterlassen, den Kronzeugen für diese seine Auffassung bekanntzugeben, wonach ein Drittel aller Renten zu Unrecht bezogen werde. Es handelt sich da übrigens nicht um Hunderttausende, sondern wenn schon von einem Drittel geredet wird, dann sind es 3,5 Millionen Menschen, die ihre Renten nach Dehler zu Unrecht beziehen.
Ich war ja nur gelegentlich Minister; ich bin auch kein Jurist. Aber ich bin 1917 als junger Mensch in die Kriegsopferbewegung eingetreten. In Zehntausenden und Aberzehntausenden von Fällen habe ich erlebt, unter welchen Schwierigkeiten ein Rentenberechtigter in den Genuß seiner Rente kommt. Das war damals so, wie es heute ist. Ich habe die Maschine der Bürokratie in den Behörden kennengelernt. Ich habe auch die routinemäßige Behandlung der Antragsteller durch die Ärzte kennengelernt. In Tausenden und Abertausenden von Fällen habe ich begriffen, wie sehr der Rentenberechtigte einfach auf Grund der Tatsache ins Unrecht gesetzt wird, daß er des Geldes wegen nicht in der Lage ist, auf seine eigenen Kosten ein Gegengutachten gegen das entscheidende Gutachten des Amtsarztes oder eines konsultierten Professors in der bestimmten Angelegenheit beizubringen. Ich habe also tausendmal eher begriffen, gesehen und erlebt, welch schweren Kampf der Rentenberechtigte führen muß, ehe sein berechtigter Rentenanspruch erfüllt wird. So liegen die Dinge, und hier stellt sich ein Minister hin und beschuldigt in Bausch und Bogen sowohl die Ärzteschaft wie die Beamtenschaft wie auch die Rentenbezieher selber eines betrügerischen Zusammenspiels;
denn wenn einer zu Unrecht seine Rente bezieht, dann ist ja nicht nur er dafür verantwortlich, sondern auch der Beamte und der Arzt, der sie ihm zubilligt. Dann haben wir drei Schuldige vor uns stehen, nicht nur einen einzigen.
Was wir aber hier in der Haltung des Herrn Bundesjustizministers erleben, das ist ein Ausschnitt aus dem Generalangriff der Reaktion auf die Sozialgesetzgebung in unserem Lande;
ein Ausschnitt nur. Leider habe ich nicht die Möglichkeit, die Dinge so zu unterlegen, wie ich das leicht tun könnte, wenn ich fünf Minuten Redezeit mehr hätte. Aber was ist das für eine Konzeption für einen Minister in einer Regierung, die sich sozial und christlich nennt, die Dinge so hinzustellen, als bestünde unser Volk nur aus Rentenpsychopathen, aus Hysterikern, aus Betrügern, die diesen armen Staat betrügen! Was ist das für ein Minister, der solch generelle und ungeheuerliche Beschuldigungen ins Haus und in die Öffentlichkeit hineinschleudern darf! Was wir hier erleben, ist der Generalangriff der Reaktion
auf den sogenannten „Wohlfahrtsstaat".
Was wir hier erleben, ist nichts anderes als die Vorbereitung eines großen Rentenabbaus, eines
Generalangriffs auf die gesamte Sozialversicherungsgesetzgebung und auf die Rentenversorgung für die Kriegsopfer.