Meine Damen und Herren! Für den verstorbenen Abgeordneten Brunner ist Frau Abgeordnete Ansorge in den Deutschen Bundestag eingetreten. Ich heiße sie herzlich willkommen und wünsche ihr eine erfolgreiche Arbeit im Deutschen Bundestag.
Meine Damen und Herren, ich habe weiter bekanntzugeben, daß der Herr Abgeordnete Dr. Glasmeyer aus der Fraktion des Zentrums ausgetreten und zur Fraktion der CDU/CSU übergetreten ist.
Ich bitte, freundlichst zur Kenntnis zu nehmen, daß die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion der FDP betreffend bundeseigene Mittel- und Unterbehörden für die Umsiedlung von Heimatvertriebenen — Nr. 2853 der Drucksachen — ergänzt werden soll. Dieser Antrag soll zusammen mit der Interpellation der CDU/ CSU unter Punkt 1 behandelt werden. Ich darf annehmen, daß das Haus mit dieser Ergänzung der Tagesordnung einverstanden ist. — Das ist der Fall.
Ich rufe also zunächst Punkt 1 auf:
Beratung der Interpellation der Fraktion der CDU/CSU betreffend Umsiedlung von Heimatvertriebenen in Verbindung mit der
Beratung des Antrags der Fraktion der FDP betreffend bundeseigene Mittel- und Unterbehörden für die Umsiedlung von Heimatvertriebenen .
Herr Abgeordneter Dr. Edert wird die Interpellation begründen. Bitte, Herr Abgeordneter!
Dr. Edert , Interpellant: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Interpellation liegen folgende Tatsachen zugrunde. Das Hohe Haus hat am 8. März dieses Jahres einstimmig beschlossen, daß 300 000 Heimatvertriebene aus den Ländern Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein in die übrigen Länder der Bundesrepublik umgesiedelt werden sollen, davon 200 000 bis zum 30. 9. 1951 und weitere 100 000 bis zum 31. 12. 1951. Das Gesetz ist am 22. Mai 1951
verkündet worden. Nach dem Grundgesetz sind die Länder verpflichtet, es durchzuführen. Insbesondere sind die Aufnahmeländer verpflichtet, die auf sie entfallende Anzahl von Vertriebenen in der vorgesehenen Zeit bei sich aufzunehmen. Tatsächlich sind aber nach dem Bericht der Abgabeländer vom 1. Oktober 1951 mit dem Stichtag vom 31. August 1951 von den 300 000 nur 11 500 umgesiedelt worden, mit dem Stichtag vom 31. Oktober 1951 fast 21 000. Dabei besteht noch ein Überhang aus dem Vorjahre von rund 19 000.
Somit ist der durch den Beschluß des Bundestages kundgegebene Wille des Volkes nicht ausgeführt. Die Ursache liegt, wenn ich richtig sehe, einmal in dem selbstsüchtigen Verhalten einiger Aufnahmeländer und zum anderen in der mangelnden Weisungsbefugnis der Bundesregierung.
Bereits am 6. Juni 1951 haben die Aufnahmeländer auf einer Tagung in Stuckenbrok erklärt, daß sie die vorgeschriebene Umsiedlung im wesentlichen nur in neu zu erstellenden Wohnraum durchführen könnten. Auch dann seien sie nur bereit, 100 000 statt der 300 000 aufzunehmen.
Nun sehen aber die Richtlinien für den Wohnungsbau nach dem Erlaß vom 20. Februar den Einsatz der Bundesmittel so vor, daß der Wohnungsbau für Heimatvertriebene, Bombengeschädigte und Heimkehrer bevorzugt gefördert werden soll, daß die Soforthilfemittel für den sozialen Wohnungsbau zusätzlich gewährt werden und daß die Bereitstellung dieser Soforthilfemittel die Länder nicht von der Verpflichtung entbindet, einen angemessenen Teil der allgemeinen Wohnungsbaumittel den Heimatvertriebenen zuzuteilen. Diese klare Forderung ist von der Mehrzahl der Aufnahmeländer nicht erfüllt worden. Sie a sehen das Problem in erster Linie als ein wirtschaftliches und nicht als ein menschliches an. Sie verstehen nicht, daß diese Umsiedlung ein Lastenausgleich unter den Ländern ist, eine gesamtdeutsche Aufgabe.
Was hat nun die Bundesregierung dazu gesagt? Der Herr Bundesminister für Vertriebene weist in einem Schreiben vom 22. Juni 1951 den Herrn Minister für Wohnungsbau sehr ernst auf diese Verpflichtung der Länder hin. Er führt dabei die Antworten auf, die ihm die Verwaltungen der Vertriebenen in den Bundesländern auf seine Vorhaltungen hin gegeben haben, daß die Länder nämlich aus den bisher gewährten Mitteln der Soforthilfe nicht hinreichend bauen können, daß sie aus den allgenwinen Wohnungsbaumitteln nicht bauen wolleffr Diese Entschuldigungen, die NordrheinWestfalen, Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern vorbringen, kommen mir so fadenscheinig vor wie die Entschuldigungen der Geladenen im Gleichnis vom großen Abendmahl. Sie laufen alle auf dasselbe hinaus. Am meisten überrascht mich die Antwort von Baden, das sagt, es könne auf seine nachgeordneten Dienststellen keinen wirksamen Einfluß dahin ausüben, daß diese die Vorbereitungen für den Baubeginn beschleunigten. Das ist das Musterländle, das sich selbst dieses testimonium paupertatis ausstellt.
So dringlich die Bitte des Vertriebenenministers ist, doch einen bestimmten Anteil für die Geschädigten festzusetzen, so antwortet der Minister für den Wohnungsbau doch erst einen Monat später und erinnert die Länder nochmals mit ernsten Worten an ihre Verpflichtung, ja auch an den einstimmigen Bundestagsbeschluß. Aber er
ordnet nicht an; er bittet nur, die Länder möchten doch aus den allgemeinen Wohnungsbaumitteln für die Umsiedler wenigstens so viel aussondern, daß man ihren guten Willen erkennen könne. Für diese höfliche Ausdrucksweise haben die Länder offenbar kein Verständnis gehabt. Jedenfalls ist auch in den beiden nächsten Monaten nichts Entscheidendes geschehen, bis dann die Abgabeländer am 1. Oktober 1951 erneut vorstellig wurden und erstens feststellten: die Aufnahmeländer sind offensichtlich nicht gewillt, ihrer Bevölkerung die Opfer zuzumuten, die die Bevölkerung der Abgabeländer seit Jahren trägt, d. h. zunächst, den Altwohnraum ganz zu erfassen — ich bemerke dazu, daß in Nordrhein-Westfalen*) 3,7 Personen auf eine Wohnung kommen, in Schleswig-Holstein aber 6,1 Personen —; zweitens: die Aufnahmeländer sind trotz der Richtlinien vom 20. Februar nicht bereit, den aus öffentlichen Mitteln geförderten Wohnungsbau auch für die Umsiedlung einzusetzen.
Die Abgabeländer beklagen außerdem die verspätete Bereitstellung der Wohnungsbaumittel und die mangelhafte Koordinierung der nötigen Maßnahmen bei den verschiedenen Stellen der Bundesregierung und verlangen deswegen ein einheitliches Umsiedlungsamt mit einer klaren Abgrenzung der Zuständigkeit, also eine Zentralinstanz mit den nötigen Machtmitteln, um sich gegenüber den Ländern durchzusetzen. Das ist eine Forderung, die ich angesichts der Größe der Aufgabe durchaus unterstütze.
Meine Damen und Herren, daß es möglich ist, auch mit den gegebenen Mitteln etwas zu leisten, mögen Sie daraus ersehen, daß Rheinland-Pfalz sein Soll wenigstens bis zu 48 % erfüllt hat, während Nordrhein-Westfalen seiner Verpflichtung nur zu 0,8 % nachgekommen ist.
Das mögen Sie auch aus dem Beispiel der Abgabeländer ersehen. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen wurden die öffentlichen Mittel für Wohnungsbauzwecke zu 80 %, in Bayern zu 70 % für Geschädigte zweckgebunden, hiervon in SchleswigHolstein 75 % für Vertriebene, das sind 60 % der Gesamtsumme. Hätten die Aufnahmeländer ihre Mittel in der gleichen Weise gebunden, so würde sich der Bestand auf 100 000 Wohnungen für Vertriebene belaufen. Wenn man jede Wohnung für vier Personen rechnet, bedeutet das Wohraum für 400 000 Menschen, also für 100 000 mehr als vorgesehen. Die Länder, die am stärksten unter dem Druck der Flüchtlinge leiden, haben am besten für sie gesorgt.
Das Problem hat noch eine politische Seite. Die Unruhe und Unzufriedenheit unter den Heimatvertriebenen wächst bedrohlich. Sie stellen fest, daß sie mangels einer einheitlichen straffen Leitung in Bonn jetzt auch durch die freie Wanderung ins Hintertreffen geraten; denn diese kommt im wesentlichen aus den Randgebieten der Industrie, aus der illegalen Zuwanderung aus der Sowjetzone und nicht so sehr aus den eigentlichen Notstandsgebieten, die sich j a fast alle in ungünstiger Verkehrslage befinden. Sie erfaßt also nicht diejenigen Vertriebenen, die, durch jahrelange Not zermürbt, geduldig — aber umsonst — auf die Umsiedlung warten. So wird die Drohung mit der Selbsthilfe verständlich. In Süderbrarup in Schleswig, einem Ort unmittelbar neben meinem Wahlkreis gelegen,
*) Berichtigung durch den Redner: in der französischen Zone
hat sich eine Treckvereinigung gebildet, die unter Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit, wie früher von Osten nach Westen, nun von Norden nach Süden ziehen will. Es sind das an sich ganz ruhige Leute. Aber, so führen sie in einem Brief an den Herrn Bundespräsidenten aus, sie wollen sich nicht mehr vertrösten lassen; sie wollen, enttäuscht durch den Zusammenbruch der staatlichen Umsiedlung, nun das Problem selber lösen. Familienväter, Familienmütter ziehen es vor, noch einmal die Strapazen eines Trecks auf sich zu nehmen, ehe sie und ihre Kinder an dem harten Schicksal zerbrechen. Wer einen Treck mitgemacht hat oder aus eigener Anschauung kennt, weiß, was dieser Beschluß bedeutet. Der große Treck soll im Frühjahr des nächsten Jahres vor sich gehen. Sosehr man diesen Schritt bedauern mag, der ja nur neues Elend heraufführt, so ist er verständlich aus der hoffnungslosen Lage des Notstandsgebiets mit der höchsten Zahl der Arbeitslosen, nach den letzten Mitteilungen mehr als 20 %, davon mehr als 50 % Heimatvertriebene.
Wir beklagen so oft an dieser Stelle das Wiederaufleben des Faschismus. Aber er wächst auf dem Boden der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit am besten. Hier, wo Arbeitslose seit Jahren zusammengepfercht in beschränktem Wohnraum hausen, wachsen die Zellen. Diese Leute, die ja auch das Dritte Reich erlebt haben, ziehen aus der bitteren Not und Hoffnungslosigkeit Vergleiche zwischen heute und damals und sagen mir: Was sollen eure einstimmigen Beschlüsse im Bundestag, wenn ihr sie doch nicht durchführt; eure Bundesregierung kann sich nicht durchsetzen, und eure Länder — ganz einerlei, was sie für eine Regierung haben — stehen nicht brüderlich nebeneinander als hilfsbereite Bundesgenossen, sondern als Vertreter ihrer Interessen.
Meine Damen und Herren, diese Worte mögen demjenigen hart klingen, der die ganze Größe der Aufgabe der Umsiedlung erkennt. Aber ich meine, das ist die Stimme des Volkes; wir sollten auf sie hören, ehe es zu spät ist. Wenn die demokratischföderalistische Bundesrepublik dieses Problem nicht löst und wenn sie an den Sonderinteressen der Länder scheitert, wenn wir das beschämende Bild erleben, daß im nächsten Frühling Trecks von Zehntausenden von Norden nach Süden auf unseren Straßen liegen, dann hat die junge westdeutsche Republik auf diesem Gebiete ihre Bewährungsprobe nicht bestanden.