Rede von
Hans
Tichi
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(WAV)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (WAV)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe namens meiner Partei, des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten, Nachstehendes zu erklären.
Wir bedauern es sehr, daß es trotz der ernsten Zeit diesmal nicht gelungen ist, eine einheitliche Erklärung der deutschen Parteien in dieser schicksalsschweren Frage herbeizuführen. Wenn wir die deutsche Einheit wollen, dann müssen wir selbst eine Einigkeit darstellen. Für uns ist die Frage der gesamtdeutschen Wahlen kein außenpolitisches Problem, sondern eine gesamtdeutsche Frage ersten Ranges. Die heutige Rede des Abgeordneten Reimann hat uns davon überzeugt, um was es in Wirklichkeit geht, und ich möchte doch einiges dazu sagen.
Niemand in Westdeutschland hat den neuerlichen Grotewohl'schen Vorschlag auf gesamtdeutsche Wahlen als einen grundsätzlichen Gesinnungs- und Kurswechsel im kommunistischen Lager aufgefaßt. Aber auffallend einmütig wurde diesmal der neue Volkskammerappell als Ausdruck einer unverkennbar zunehmenden schwierigen Stellung. der SED und ihrer sowjetischen Befehlshaber empfunden, und er muß deshalb ernster genommen werden, als es bisher geschah, um so mehr, als es Gewißheit ist, daß die Bevölkerung der Sowjetzone von gesamtdeutschen Wahlen und westlich-demokrati-
schen Sicherheiten die Befreiung von kommunistischer Parteidiktatur erwartet.
Die allgemeine Forderung, die Kommunisten diesmal in ihrer eigenen Propagandaschlinge zu fangen und die deutsche Wiedervereinigung im demokratischen Sinne vorzutreiben, kann nicht überraschen, sondern entspricht dem Gefühl zunehmender Stärke des Westens gegen sowjetische Bedrohung.
Für uns als Heimatvertriebene haben gesamtdeutsche Wahlen auch noch eine andere Bedeutung. Wir tragen es schwer, daß drüben in der Sowjetzone noch Millionen Deutsche leben, die genau von dem gleichen Schicksal verfolgt sind wie wir, die ihre Existenz, ihr Vermögen und ihre Heimat verloren haben und die gleiche Sehnsucht haben, mit uns in einem vereinigten Deutschland leben zu können. Der Herr Bundeskanzler hat auch zu dieser Frage in seinem Referat Stellung genommen. In hunderten Briefen an uns klagen unsere Schicksalsgefährten aus dem Osten, welchem Druck und welcher politischen Verfolgung sie ausgesetzt sind. Tausende suchen illegal bei uns in Westdeutschland Zuflucht, und wir müssen sie gegen die Übergriffe unserer eigenen Bürokratie schützen. Mit fadenscheinigen Begründungen werden diese Menschen bisher von allen Betreuungsmaßnahmen ausgeschlossen.
Ihre Not ist ebenso eine Auswirkung der Beschlüsse von Jalta und Potsdam, die nicht nur 15 Millionen Deutsche aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, sondern darüber hinaus weitere Millionen der Willkür des bolschewistischen Systems auslieferten. Keine politische Instanz der deutschen Bundesrepublik darf sich deshalb der sittlichen Verpflichtung entziehen, für die von dieser Not Betroffenen einzutreten. Wir verlangen deshalb, daß im Vertriebenengesetz die Vertriebenen in der sowjetischen Zone und in Berlin den Vertriebenen in Westdeutschland in jeder Beziehung gleichgestellt werden. Schon diese Umstände gebieten es, daß wir durch gesamtdeutsche Wahlen ein gesamtdeutsches Parlament schaffen, in dem es keinen Unterschied zwischen Heimatvertriebenen im Westen und im Osten gibt.
Wir begrüßen deshalb die Anträge der SPD, an die Besatzungsmächte die Aufforderung zu richten, dem deutschen Volke baldigst Gelegenheit zu geben, in freien, allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen unter internationaler Kontrolle eine verfassung- und gesetzgebende sowie regierungsbildende Nationalversammlung für das Gebiet der vier Besatzungszonen und Berlin zu wählen. Ebenso werden wir dem Antrag des Zentrums über den Zusammenschluß eines freien Europas und Einbeziehung der Bundesrepublik als gleichberechtigten Partner unsere Zustimmung nicht versagen. Wir begrüßen insbesondere die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers auf das wärmste, vor allem die angekündigte Wahlordnung für gesamtdeutsche Wahlen. Ich freue mich besonders über die Erklärung des Kollegen Dr. Kather, daß auch die ostdeutschen Gebiete in unsere Sorgen und in unsere Forderungen eingeschlossen werden müßten, nicht nur die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, sondern auch die Gebiete im Sudetenland, und vor allem ist es notwendig, daß die Saar miteingeschlossen wird. -
Eines muß aber klar sein: Mögen die heutigen Erklärungen der politischen Parteien dieses Hohen Hauses und auch die Regierungserklärung nicht den gleichen Wortlaut haben, aus allen geht das deutliche Verlangen und die Sehnsucht, ein einheitliches Deutschland zu schaffen, hervor, darüber hinaus unsere Brüder und Schwestern drüben aus Unfreiheit und Knechtschaft zu befreien. Wir müssen die Regierung auffordern, den nationalen Anspruch auf deutsche Einheit zur Richtschnur ihres Handelns zu machen.