Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wir bedauern es, daß die Zentrumsfraktion uns schon heute den Entwurf eines Bewahrungsgesetzes vorgelegt hat, obwohl wir mit unseren Beratungen im Ausschuß für öffentliche Fürsorge auf Grund des Antrages der CDU noch nicht zu Ende gekommen waren und bei weitem noch nicht die Möglichkeiten sozialpädagogischer Behandlung gefährdeter Menschen entwickelt und den gesamten Problemkreis noch nicht genügend durchdacht hatten.
Der vorliegende Gesetzentwurf rollt eine der allerschwierigsten Fragen der öffentlichen sozialen Fürsorge auf, nämlich die Frage, ob Recht und Pflicht des Staates zu erzieherischen Zwangsmaßnahmen — die heute bereits sehr fragwürdig geworden sind — über die bisherige Altersgrenze hinaus erweitert werden sollen. Es handelt sich also um nichts anderes als um die Erweiterung der Zwangserziehung für über 18 Jahre alte Menschen, für die die Öffentlichkeit sie als wünschenswert oder notwendig ansieht. Ich glaube, daß wir uns bei der Behandlung dieser Frage alle klar darüber sind — das hat die Diskussion bis jetzt gezeigt —, welche Verantwortung wir auf uns nehmen, wenn wir eine Gesetzgebung schaffen wollten, die einen Freiheitsentzug vorsieht.
Wir verkennen in keiner Weise, daß ein ernstlicher Notstand der Anlaß zur Vorlage dieses Gesetzentwurfs gewesen ist. Im Gegenteil, wir sind uns darüber klar, daß in unserem Fürsorgewesen im Hinblick auf diese gefährdeten Menschen eine Lücke geschlossen werden muß. Es gibt eine große Zahl von Menschen, deren physische oder psychische Veranlagung sie so schwer benachteiligt, daß sie dem Mißbrauch durch andere ausgesetzt sind oder daß sie unfähig sind, sich in den Verhältnissen zurechtzufinden, in denen sie leben müssen. Sie verfallen rettungslos dem Elend. Sie gefährden sich und unter Umständen die Umwelt. Diese Menschen, die aus Veranlagung oder aus Milieuschäden heraus nicht die Kraft haben, sich im Leben zu behaupten, die nicht in der Lage sind, mit den Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden, bedürfen der Hilfe der gesellschaftlichen Organisation, nicht etwa, um die Allgemeinheit zu schützen, sondern vielmehr, um ihnen einen Schutz vor sich selber zu geben. Es ist untragbar, daß der Mensch nur dann erfaßt wird, wenn er gegen Gesetze oder gegen Polizeivorschriften verstößt, daß wir uns aber nicht genügend um ihn bemühen, wenn er aus seiner Lebensuntüchtigkeit heraus unserer Hilfe bedarf.
Wir wenden uns also nicht dagegen, daß für dieses Fürsorgegebiet eine gesetzliche Lösung angestrebt wird. Wir wenden uns aber gegen den vorliegenden Gesetzentwurf, weil er in Grundhaltung und Wortlaut dem Gesetzentwurf, der bereits in den zwanziger Jahren im Reichstag abgelehnt worden ist, völlig entspricht und weil er keine genügende Rücksicht auf die Erkenntnisse nimmt, die inzwischen auf dem Gebiet der Soziologie, der Psychologie, der Psychotherapie und
der Sozialpädagogik gewonnen wurden. Gewiß sind wir durch die Isolierung und durch die Schwierigkeiten während des Zusammenbruchs gerade den anderen Ländern gegenüber in diesen Fragen sehr im Rückstand geblieben. Aber das verpflichtet uns um so mehr, bei einer solchen Gesetzgebung sorgfältigste Studien und wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen und die Erfahrungen des Auslandes heranzuziehen, um mit wirklich neuen Erkenntnissen und neuen Methoden an die Lösung dieser Frage heranzugehen.
Es gibt unter uns wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß unsere Fürsorgeerziehung, weil sie eine Zwangsmaßnahme ist, mit ihren oft rückständigen Methoden nicht die Erziehungserfolge gebracht hat, die für die Jugendlichen wünschenswert wären. Statt die jungen Menschen lebenstüchtig und gesellschaftstüchtig zu machen, hat man sie infolge veralteter Auffassungen in vielen Fällen lebensuntüchtig und widerstandsunfähiger gemacht. Weil es so ist, gehen alle Reformbestrebungen der Fürsorgeerziehung darauf hinaus, die Isolierung in einer Anstalt so weit wie möglich aufzuheben, den Zwang einzuschränken und auf der Grundlage eigener, wachsender Verantwortung die Kräfte zu entwickeln, die der junge Mensch im Leben braucht.
Wir wissen, daß dieser Weg sehr mühsam ist, daß er sehr oft Rückschläge bringt. Aber wir könnten einem Gesetz im Hinblick auf diesen Personenkreis nur dann zustimmen, wenn es in der Richtung der Freiwilligkeit liegt, da wir der Ansicht sind, daß sich eine solche Tendenz in der gesamten deutschen Fürsorgegesetzgebung und Fürsorgepraxis durchsetzen muß. Es müßte deshalb seht sorgfältig geprüft werden, wieweit wir die Länder zu einer
3) Fürsorge für bewahrungsbedürftige Erwachsene auf der Grundlage der Freiwilligkeit verpflichten könnten. Das heißt, daß wir durch eine Gesetzgebung die Länder veranlassen sollten, für die Unterbringung und Erziehung dieses Personenkreises finanziell aufzukommen. Weiterhin müßte sehr sorgfältig, mit genauesten Untersuchungen und Studien, geprüft werden, wieweit für besonders schwierige Fälle andere Maßnahmen, die aber immer Fürsorge- und Erziehungscharakter zu tragen haben, getroffen werden müßten. Dabei möchten wir von vornherein betonen, daß dieser Kreis aufs äußerste eingeengt werden müßte, um jede Gefahr eines Mißbrauchs zu vermeiden.
Wir sind also der Meinung, daß man an Stelle eines Bewahrungsgesetzes ein Fürsorgegesetz schaffen sollte, das die Bestimmungen der Fürsorgepflichtverordnung für den Kreis der seelisch und sozial nicht Intakten ähnlich regelt, wie es beispielsweise das Krüppelgesetz für die Körperbehinderten tut. Darüber hinaus sind wir der Meinung, daß eine Regelung dieses Problemkreises nur in engstem Zusammenhang mit der Gesetzgebung in bezug auf psychische Krankheiten, und zwar im Hinblick auf die Anstaltsunterbringung Geisteskranker, erfolgen kann, in dem die Fürsorgegesetzgebung für diesen bewahrungsbedürftigen Personenkreis nur als ein Teil der großen Gesetzgebung gelten kann. Es erscheint uns unmöglich, daß heute noch Geisteskranke auf Grund von Polizeiverordnungen in die Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen werden können. Ebenso unmöglich erscheint es uns, daß bei dem Entmündigungsverfahren nicht genügend Sicherheiten für den Entmündigten eingebaut sind. Dieses Verfahren entspricht in keiner Weise mehr den sozialen Verhältnissen und den ärztlichen Erkenntnissen.
Wir hoffen, daß der Herr Innenminister im Hinblick auf eine solche Gesetzgebung unserem Wunsch entspricht. Ich möchte betonen, es hat uns sehr angenehm berührt, daß der Herr Minister auf die Schwierigkeiten dieser Gesetzesmaterie hingewiesen hat. Wir wünschen also, daß die Regierung uns Gesetzentwürfe vorlegt, die den gesamten Problemkreis umfassen, damit wir zu einer umfassenden Gesetzgebung kommen, und daß die Beratung des Gesetzentwurfs der Zen-. trumsfraktion so lange ausgesetzt wird — wir treffen uns darin ja mit den anderen Fraktionen —, bis die Regierung mit der Vorlage eines solchen Gesetzes zu Rande gekommen ist.
Daß wir mit unserem Vorschlag, die Länder zur Fürsorge für bewahrungsbedürftige Erwachsene auf der Grundlage der Freiwilligkeit zu veranlassen, auf dem richtigen Wege sind, beweisen auch die Ausführungen der Vertreterin des katholischen Frauen- und Mädchenfürsorgevereins, die sie im Ausschuß für öffentliche Fürsorge über diesen Problemkreis gemacht hat. Sie beklagte sich bitter über die Einsichtslosigkeit der Bezirksfürsorgeverbände, die nicht bereit seien, für Bewahrungsbedürftige, die in ihrem Heim untergebracht seien, und zwar auf freiwilliger Grundlage, zu zahlen. Sie erklärte wörtlich: „Es kann dann" — und sie meinte mit dem „dann" wenn die Bezirksfürsorgeverbände für die Kosten aufkommen würden — „sehr viel auf freiwilliger Basis" — also ohne Zwang — „geschehen". Ich darf allerdings nicht verschweigen, daß sie in ihren weiteren Ausführungen zum Schluß in direktem Gegensatz zu ihren ersten Worten erklärt hat: „Ohne Gesetz ist es nicht möglich, noch mehr Anstalten zu schaffen und in erheblichem Umfang zu helfen". Gerade diese sich widersprechenden Ausführungen beweisen die Problematik und die Schwierigkeiten dieser Materie und sollten uns veranlassen, in unseren Maßnahmen sehr sorgfältig zu sein.
Der vorliegende Gesetzentwurf bietet uns nicht die Gewähr, daß eine Bewahrung, wie wir sie uns vorstellen, durchgeführt werden kann. Wir müssen den Gesetzentwurf deshalb als Diskussionsgrundlage ablehnen. Der Entwurf definiert weder den Begriff der Bewahrung noch den der Verwahrlosung. Das sind die beiden Begriffe, die schließlich die Grundpfeiler dieses Gesetzes sind. Gerade der Umstand, daß der Begriff der Verwahrlosung keine genügende Definition gefunden hat, läßt die Gefahr entstehen, daß ein viel zu großer Personenkreis davon betroffen wird. Das waren auch schon die Einwendungen in den zwanziger Jahren, die dazu geführt haben, daß der Entwurf nicht verabschiedet wurde. Diese Einwendungen gelten heute noch in vollem Umfang; sie sind sogar durch die inzwischen erfolgten Änderungen in der soziologischen Struktur noch viel schwerwiegender geworden. Es bedarf wohl keines Beweises, daß es sehr schwerfallen dürfte, für die Verwahrlosung im soziologischen Sinne feste Maßstäbe zu schaffen. Also besteht unsere Sorge absolut zu Recht, daß dem freien Ermessen viel zu viel Spielraum eingeräumt wird. Auch die Tatsache, daß für Personen, die bereits verwahrlost sind, und für solche, die zu verwahrlosen drohen, die gleichen Maßnahmen getroffen werden sollen, stimmt uns sehr bedenklich. Sie werden dem — sicher mit einem gewissen Recht — entgegenhalten, daß unsere
heutige gesellschaftliche Ordnung einen völligen Mißbrauch ausschließt, daß die Öffentlichkeit sich gegen einen Mißbrauch wehren würde. Aber wenn wir Gesetze machen, müssen sie von vornherein so abgefaßt sein, daß jede Gefahr eines Mißbrauchs ausgeschlossen ist. Ich brauche nicht zu betonen, daß wir in Deutschland dazu besonders verpflichtet sind, weil wir ein böses Erbe der Vergangenheit zu überwinden haben.
Der Gesetzentwurf ist dem Entwurf der 20er Jahre gegenüber insofern verbessert, als er ein Gutachten eines Psychiaters fordert. Aber er läßt die Möglichkeit der Mitarbeit eines Psychiaters und eines Psychotherapeuten bei der Durchführung offen. In dem Gesetz sind keinerlei Möglichkeiten für eine solche ärztliche Behandlung und ärztliche Leitung vorgesehen. Ich glaube, das größte Bedürfnis für uns besteht darin, Heime zu schaffen, Heime mit differenziertem Charakter und wirklich ausreichendem und geschultem Personal. Keine Behörde witd uns heute diese Heime nennen können. Deshalb könnte man praktisch die Voraussetzung für eine echte Lösung dieses Problems nur dadurch schaffen, daß man zunächst einmal Mittel für die Errichtung solcher Heime bereitstellt.
Meine Herren und Damen, wir hätten noch eine Menge an diesem Gesetzentwurf zu beanstanden. Insbesondere sind wir der Ansicht, daß die Fristen zu lang sind und daß nicht genügend Sicherheiten eingebaut sind. Aber auf einen Paragraphen muß ich noch eingehen. Das ist der § 6, der die vorläufige Bewahrung regelt. Er regelt sie in einer Weise, die die Gefahren dieses Gesetzes deutlich zeigt. Nach diesem Paragraphen kann eine Person ein halbes Jahr lang interniert werden, wenn die Wahrscheinlichkeit der Anordnung endgültiger Bewahrung besteht, ohne daß Sicherungsmaßnahmen gegen eine ungerechtfertigte vorläufige Bewahrung gegeben sind. Wir lehnen deshalb diesen Gesetzentwurf als Diskussionsgrundlage ab und wünschen, daß die Regierung uns einen Gesetzentwurf vorlegt, wie ich ihn vorhin dargestellt habe, einen Gesetzentwurf, der den ganzen Problemkreis umfaßt.