Es wird seit einiger Zeit aus diesem Hause heraus, und zwar von einigen Abgeordneten der Regierungsparteien der Versuch gemacht, eine Art von Legende zu bilden, die man mit einigen wenigen dürren Worten etwa so wiedergeben kann: die sozialdemokratische Bundestagsfraktion zeichne sich dadurch aus, daß sie in diesem Parlament sehr tapfer Forderungen stelle, daß sie aber immer sehr bescheiden sei, wenn es darum gehe, die Realisierung dieser Forderungen durch Bewilligung von Mitteln sicherzustellen.
Wir haben um so mehr Ursache, diesem Versuch einer Legendenbildung entgegenzutreten, als diese dichterischen Phantasien, die sich in letzter Zeit ,gezeigt haben, vermutlich noch eine Bestärkung erfahren werden, wenn unsere Ablehnung der heutigen Vorlage weiteres Material für das Bemühen um Legendenbildung liefern wird, zumal wir in letzter Zeit aus der Presse erfahren mußten, daß man gern so tun möchte, als ob die bisher immer noch nicht zustande gekommene Erhöhung der Sozialrenten von der Bewilligung der Umsatzsteuererhöhung abhängig sei.
Dazu ist einiges zu sagen. Das Bemühen um eine solche Legendenbildung entspringt dem schlechten Gewissen einer ganzen Reihe von Abgeordneten der Regierungsparteien. Ich will hier keine weiteren Ausführungen über die Problematik der Umsatzsteuer machen. Eine Bemerkung, die ich vor einiger Zeit irgendwo gelesen habe, trifft, glaube ich, den Kern. Es hat dort geheißen, die Umsatzsteuer sei nichts weiter als die Generalakzise der absolutistischen Staaten
Wir hätten erwarten können, daß der Herr Bundesfinanzminister, wenn er üherhaupt schon nach dieser Seite operieren wollte, uns zum mindesten einmal Vorschläge gemacht hätte, die gegenwärtige Umsatzsteuer in ihren Grundzügen zu ändern. Wir hätten erwarten können, daß er Vorschläge meinetwegen in der Richtung gemacht hätte, die nicht kumulative Allphasen-Umsatzsteuer vorzuschlagen, durch die nur die jeweilige Wertschöpfung versteuert wird. Wir hätten erwarten können, daß er uns meinetwegen die Phasenpauschalierung, die doch immerhin in Österreich praktiziert wird, vorgeschlagen hätte. Der Herr Finanzminister hat uns erklärt, er sei durch die Notwendigkeiten des Tages bisher daran gehindert gewesen, zu irgendwelchen grundlegenden Reformen zu kommen. Ich möchte ihm sagen: wenn er sich im vorigen Jahre die sehr umfangreiche Arbeit zur Einkommensteuernovelle gespart hätte, dann hätte er vermutlich genügend Zeit gehabt, sich mit einer grundlegenden Steuerreform zu beschäftigen.
Um unseren Standpunkt zu dieser Vorlage etwas deutlicher zu präzisieren, möchte ich bei dieser Gelegenheit eine Äußerung des Herrn Bundesfinanzministers aus der Plenarsitzung vom 7. März 1951 mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren. Er sagte damals:
Ich muß das Hohe Haus bitten, es zu würdigen, daß die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung
— nämlich zu dem Bundesratsvorschlag, die Grundnahrungsmittel wenigstens auf 3% zu halten —
vorschlägt, keinem Abänderungsvorschlag zuzustimmen, nachdem unsere Kalkulation ohnehin auf des Messers Schneide steht.
Und nun frage ich Sie: Wenn die Kalkulation zum Etat wirklich auf des Messers Schneide steht, woher kommt dann diese eigentümliche Wendung, die wir in den letzten Wochen erlebt haben? Damals und im Finanzausschuß hat uns der Herr Bundesfinanzminister auf Anfrage eines Kollegen einer Regierungspartei, ob in seine Kalkulation auch die Erhöhung der Sozialrenten eingeschlossen sei, vorgetragen: Diese kostet mindestens eine Milliarde, und ich weiß nicht, wo ich dieses Geld holen soll. Damals hat er uns gesagt: Ich brauche die Sonderumsatzsteuer; sie macht fast 600 Millionen aus. In den letzten Tagen erfuhren wir aus der Presse, daß es auf einmal sogar ohne die Sonderumsatzsteuer geht und daß offenbar keine großen Schwierigkeiten mehr bestehen, die nunmehr endlich beabsichtigte Erhöhung der Sozialrenten durchzuführen.
Ich muß schon sagen: ich bewundere die Wendigkeit unseres Herrn Bundesfinanzministers. Ich bewundere seine Fähigkeit, der deutschen Öffentlichkeit Zauberkunststücke vorzuführen. Ich habe allerdings die Befürchtung, daß die 1,5 bis 2 Milliarden, die in der letzten Zeit aus der Etatbesprechung verschwunden sind, eines Tages in Form eines Nachtragsetats wieder auftauchen werden.
Der Herr Bundesfinanzminister hat uns die grundsätzliche Wendung in seiner Einkommen- und sonstigen Steuerpolitik einmal durch ein Bild darzustellen versucht. Dieses Bild war gezeichnet unter dem Stichwort Korea. Er sagte: Wenn ich nach Korea meinen Wintermantel abgelegt habe — und jetzt möchte ich in diesem Bilde weitersprechen und sagen: um entsprechend den derben Sitten seines Landes die Krachlederne anzuziehen, dann muß man, wenn man ein solches Kleidungsstück, das für die Hitze gut ist, haben will, als einfacher und armer Mann zunächst tüchtig sparen, d. h. man muß sich auf eine solche Situation vorbereiten; sonst kann es passieren, Herr Bundesfinanzminister, daß man plötzlich, wenn der heiße Sommer anbricht, in der Unterhose dasteht, und das wäre peinlich.
Um aus dem Bild zu steigen, ist zu sagen, daß die Regierung, wenn sie sich auf alle Unbilden des politischen Klimas, der politischen Entwicklung wirklich vorbereiten wollte, alles hätte tun müssen, um das Volk gut zu ernähren, damit es diesen Unbilden gewachsen wäre. Das heißt auf gut deutsch: die Regierung und die Koalitionsparteien hätten versuchen müssen, den sozialen Fundus zu sichern, den Unterbau der Einkommenpyramide so solide herzustellen, daß sie nicht bei jedem Erdstoß ins Wackeln kommt. Nur wenn die breiten Schichten der Bevölkerung erträglich leben können, kann die Gefahr der Infektion durch die faschistischen und bolschewistischen Ideologien abgewehrt werden. Man hätte also alles tun müssen, um den Massenkonsum zu fördern und den volkswirtschaftlich uninteressanten Konsum einzuschränken. Statt dessen hat man durch die Freigabe der Preise mit der Tendenz zu einem Verkäufer-Markt und durch die Steuerpolitik die großen Einkommen gestärkt. Man hat damit weiter erreicht, daß die Produktionskapazitäten überflüssiger Konsumgüterindustrien ausgeweitet wurden; und durch die Konsumdrosselung bei den breiten Massen unserer Bevölkerung wurde für eine relativ kleine Schicht die Freiheit der Konsumwahl gerettet. Hierin sehen wir also das Ergebnis dieser Politik. Die Regierung und die sie
Deutscher Bundestag — 149. und 150. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Juni 1951 5957
stützenden Parteien haben ihre Politik auf die Zufälligkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit, auf die damals zufällig vorhandenen Vermögen und Erwerbsquellen aufgebaut, haben diese Zufälligkeiten zur Grundlage genommen und eine volkswirtschaftliche Entwicklung herbeigeführt, die wir als verderblich ansehen. Diese Regierung und die Regierungsparteien haben weder die historische noch die geographische Position Westdeutschlands begriffen; sie haben auch nicht begriffen, daß wir uns in einer Revolution größten Ausmaßes befinden und daß uns in unserer historischen und geographischen Situation nur die eine Aufgabe gestellt ist, die sittlichen Werte der persönlichen Freiheit und die Kulturwerte des Abendlandes in einen neuen Abschnitt der Geschichte hinüberzuretten.
— Das hat mit der Umsatzsteuer sehr viel zu tun. Wenn man die Aufgabe erfüllen will, die ich herausgestellt habe, muß man Haare lassen. Die Erfüllung ist nur durch tiefe Eingriffe in alte, liebgewordene und vertraute Gewohnheiten und Bequemlichkeiten möglich.
Die Regierung will aber in ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik nur das Bestehende konservieren.
Wir geben zu, daß der Herr Finanzminister gelegentlich einige Erleuchtungen und Anwandlungen in der Richtung zum Sozialen hat. Wir bestätigen ihm zumindest die gute Absicht, mit dem Vorschlag der Sonderumsatzsteuer, gleichgültig wie deren Auswirkungen sind, den Ansatz in dieser Richtung gesucht zu haben. Wir bestätigen ihm, daß er in der Frage des Spesenunwesens den Ansatzpunkt gefunden hat, ohne daß er allerdings dazu gekommen ist, die Konsequenzen zu ziehen. Er ist auch von der alten Auffassung, kuriert, daß man die Steuerunmoral nur durch Senkung der Steuern beseitigen könnte. Aber immer wieder folgt dieser Herr Bundesfinanzminister den Spuren seines Kollegen vom Wirtschaftsressort.
Es wäre vielleicht ganz gut, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie das alte deutsche Sprichwort „Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht!" etwas besser beachtet hätten.
Die Einkommensteuerausschöpfung ist ein Problem, das ich heute nicht noch einmal anschneiden möchte; aber Sie sind selbst schuld daran, daß wir den alten Herrn Cato immer wieder aus dem Hades rufen und in die Gegenwart hineinstellen müssen; denn Sie haben bisher nichts getan, um der Opposition in diesem Punkte endgültig den Schnabel zu stopfen. Die Regierungsparteien hätten mit dem Finanzminister schon vor einem Jahr, wenn sie gewollt hätten, das machen können, was man jetzt allmählich einsieht, daß man nämlich der Steuerhinterziehung ernsthaft nur über § 106 Abs. 3 entgegentreten kann.
Meine Damen und Herren, Ihr Verhalten bei der Beratung der Einkommensteuervorlage in der vorigen Woche hat uns gezeigt, daß bei Ihnen auch heute noch kein echter Wille vorhanden ist, den Spesenrittern wirklich ernsthaft auf den Leib zu rücken, daß bei Ihnen noch kein echter Wille vorhanden ist, zu der notwendigen stärkeren Nivellierung unserer hohen Einkommen zu kommen, und daß Sie sich bis heute hinsichtlich der Offenlegung der Steuerlisten immer noch um die Entscheidung herumdrücken, und zwar mit sehr interessanten ethischen Grundsätzen, die Sie damals in die Debatte geworfen haben. Ethische Prinzipien sind in Raum und Zeit unteilbar, wenn sie Wert haben sollen. Wo bleibt die Ethik jetzt bei dieser Steuer, von der wir zu sprechen haben, wenn man Leute Steuern zahlen lassen will, die heute bereits unter ihrem Existenzminimum leben müssen? Wo bleiben diese ethischen Prinzipien, wenn man selbst Sozialrentnern, die weit unter dem Existenzminimum leben, eine Erhöhung ihrer Ausgaben um 3 bis 4 % zumuten will? Und wo bleibt die Ethik, wenn man die kleinen Lohnsteuerpflichtigen auf Heller und Pfennig ihre Lohnsteuer zahlen läßt, ohne der anderen Seite entsprechend entgegenzutreten?
Die Regierung und ihre Parteien können nach dem Buchstaben des Grundgesetzes die heute zur Diskussion stehende Vorlage zum Gesetz erheben. Wir können dagegen nichts machen, obwohl wir wissen, daß die Mehrheit, die sich heute im Parlament zeigt, eine Fiktion ist. Aber die Geschichte hat auch ihre moralische Seite. Wenn man sich eine Vorlage wie die heutige von der Seite der Moral aus anschaut, dann muß man Ihnen mit allem Ernst und in aller Eindringlichkeit sagen: Solange die gegenwärtige Regierung und die gegenwärtige Mehrheit dieses Parlaments nicht gewillt sind, mit ihrer bisherigen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik radikal zu brechen, solange spricht die sozialdemokratische Opposition dieser Regierung und dieser Mehrheit die moralische Legitimation ab, dem Volke ein Gesetz mit einer solchen unsozialen Belastung zuzumuten.