Rede von
Johann
Cramer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir selbstverständlich bekannt, daß Wilhelmshaven nicht den Anspruch erheben kann, das einzige Notstandsgebiet im Bundesgebiet zu sein. Es gibt eine ganze Reihe solcher Gebiete und Bezirke, die diesen Anspruch erheben können; ja, wir haben heute vormittag erneut gehört, daß es ganze Länder gibt, die als Notstandsländer angesprochen werden müssen. Man muß aber differenzieren. Es gibt Gebiete, die besonders hart angeschlagen sind. Eine solche Stadt ist Wilhelmshaven mit dem umliegenden Bezirk, mit dem angrenzenden Kreis Friesland.
Ich möchte nicht mit allzuvielen Zahlen operieren, aber doch wenigstens einige Zahlen anführen. Die Erwerbslosigkeit im Bundesgebiet beträgt im Durchschnitt 8 %, gerechnet nach der Zahl der unselbständigen Erwerbslosen. Die Zahl der Erwerbslosen in Schleswig-Holstein, also in dein Lande, das am ehesten noch als Notstandsgebiet angesprochen werden kann, beträgt 21,5 %; die entsprechende Zahl für Niedersachsen ist 14 %. In Wilhelmshaven beträgt die Zahl der Erwerbslosen 28,9 %, die Zahl der männlichen Erwerbslosen sogar 31,4 %. Diese Zahlen beziehen sich auf den 30. September. Inzwischen ist die Zahl der Erwerbslosen gestiegen, so daß man ruhig sagen kann, die Zahl der Erwerbslosen betrage heute 30 % aller erwerbsfähigen Menschen in Wilhelmshaven. Von diesen Erwerbslosen waren 39 %, also rund 40 %, seit über einem Jahr erwerbslos, und das schlimmste ist, daß sie keine Aussicht haben, in absehbarer Zeit in ein angemessenes Arbeits- verhältnis zu kommen.
Selbstverständlich sind auch die Steuereinnahmen der Stadt Wilhelshaven im Vergleich zu den Einnahmen anderer Städte sehr viel niedriger. Wir haben uns die Mühe gemacht, einmal Vergleiche mit Städten etwa derselben Größe anzustellen. Im Jahre 1949 erbrachte die Gewerbesteuer in Osnabrück 5 600 000, in Remscheid 4 300 000, in Flensburg 2 900 000 und in Wilhelmshaven nur 1 000 000 DM. Der Ertrag an Gewerbesteuer war sogar geringer als der in Watenstedt-Salzgitter, wo 1,2 Millionen an Gewerbesteuer eingenommen werden konnten.
Ich könnte diese Beispiele erweitern, meine Damen und Herren, aber ich glaube, die genannten Zahlen genügen, um die schwere wirtschaftliche Lage dieser Stadt am Jadebusen aufzuzeigen. Ich glaube, diese Zahlen genügen auch, um ihrem Anspruch, als Notstandsgebiet anerkannt zu werden, Berechtigung zu verleihen.
Über die Ursachen dieser schwierigen wirtschaftlichen Lage auch ein paar Worte: Wilhelshaven ist ein Kind des Reiches. Es war die Rüstungswerkstatt der Kriegsmarine. Der größte Arbeitgeber waren die Werft und die Marine. Selbstverständlich wurden alle Einrichtungen und Anlagen innerhalb der Stadt auf die Bedürfnisse von Werft und Marine abgestellt. Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 fielen diese beiden größten Arbeitgeber der Stadt weg. Nicht nur das: die Einrichtungen, die einmal als Arbeitsstätten gedient hatten, wurden demontiert. Bekanntlich kam die Werft nach Rußland. Alle Anlagen und Gebäude, die nicht demontiert oder wegtransportiert werden konnten, wurden demoliert, wurden gesprengt und zerstört. Ja, es war bei den Alliierten sogar die Absicht vorhanden, die Stadt Wilhelmshaven ganz von der Landkarte verschwinden zu lassen. Man wollte einen Damm um die Stadt herumziehen und Wasser über das Stadtgebiet laufen lassen, so daß von Wilhelmshaven nichts mehr übrig geblieben wäre. Dagegen haben sich alle vernünftigen Menschen gewandt — insbesondere die Stadtverwaltung — und haben damit erreicht, daß aus diesem scheußlichen Plan nichts geworden ist.
Die Stadtverwaltung war aber auch nicht passiv in der Beschaffung von neuen Arbeitsmöglichkeiten. Seit 1945 wurden in Wilhelmshaven rund 130 neue Betriebe gegründet, mehr als 100 Betriebe von Flüchtlingen oder Vertriebenen. 8000 bis 10 000 neue Arbeitsplätze wurden dadurch geschaffen, aber die Kraft der Stadt ist selbstverständlich einmal am Ende, und dieser Zustand ist seit einiger Zeit erreicht. Die Stadt kann nun nicht mehr weiter, wenn sie nicht die Hilfe des Bundes bekommt. Deshalb hat sich die Stadtverwaltung auch rechtzeitig mit der Bitte an die Bundesregierung gewandt, das Gebiet dort am Jadebusen als Notstandsgebiet anzuerkennen und — was für uns viel wichtiger ist — entsprechend zu behandeln.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß — zu erklären aus der Entstehungsgeschichte Wilhelmshavens — mehr als die Hälfte des städtischen Grund und Bodens Eigentum des Bundes ist und daß schon dadurch ein Interesse des
Bundes vorhanden sein sollte, sich um Wilhelmshaven zu kümmern.
Auf Grund der Bemühungen der Stadtverwaltung hat die Bundesregierung am 28. März ds. Js. beschlossen, Wilhelmshaven als Notstandsgebiet zu behandeln. Damit ist zunächst das erreicht, was die Stadtverwaltung Wilhelmshavens als die verantwortliche Körperschaft erreichen konnte. Bei den Verhandlungen über die Bereitstellung von Mitteln zur Arbeitsbeschaffung wurde Wilhelmshaven besonders berücksichtigt. Von den 90 Millionen, die Niedersachsen bekommen sollte, wurden Wilhelmshavener Betrieben 20 Millionen zur Verfügung gestellt. Leider, muß ich allerdings sagen, meine Damen und Herren, ist der erhoffte Erfolg ausgeblieben, weil — Sie wissen das alle — bei der Ausgabe des Geldes wegen der von den Banken geforderten Sicherheiten Schwierigkeiten aufgetreten sind. Die 20 Millionen, die uns im Frühjahr vielleicht eine Abnahme der Zahl der Arbeitslosen um 6000 bis 7000 gebracht hätten, haben sich bis heute kaum ausgewirkt, so daß man von einer nennenswerten Erleichterung durch diese Mittel nicht sprechen kann. Die Maßnahmen sind eben zu langsam durchgeführt worden. Es ist selbstverständlich, daß die Stadtverwaltung das Entgegenkommen der Bundesregierung, das Gebiet Wilhelmshaven als Notstandsgebiet zu behandeln, auch in der Praxis ausnutzt und ständig mit Vorschlägen, mit gut durchdachten und exakt ausgearbeiteten Plänen an die Bundesregierung herantritt, und ich muß zugeben, daß in einzelnen Fällen auch einige Erfolge erzielt worden sind. Aber wir sind damit noch lange nicht am Ende dessen, was geschehen muß, um aus dem Zustand der überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit herauszukommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß Wilhelmshaven, ähnlich wie Watenstedt-Salzgitter, über keinerlei kommunaleigene Verkehrsmittel, über kein eigenes Wasserwerk verfügt. Das alles befindet sich heute noch im Besitz des ehemaligen Reichs, ist also Bundesvermögen. Wir müssen demnächst mit der Bundesregierung darüber verhandeln, ob es möglich ist, diese Einrichtungen auf die Stadt zu übernehmen, oder ob es notwendig ist, die Stadt Wilhelmshaven, ähnlich wie Watenstedt-Salzgitter, mit einer kommunalen Erstausstattung zu versehen. Das sind aber alles Dinge, die wir heute nicht entscheiden können; dazu sind langwierige Verhandlungen zwischen der Stadtverwaltung und der Liegenschaftsverwaltung des Bundes erforderlich. Diese Verhandlungen sind aber auch schon zum Teil eingeleitet.
Die Bereitwilligkeit der Bundesregierung, Wilhelmshaven zu helfen, muß aber auch im Etat selber ihren Niederschlag finden. Im Etat für 1950/51 sind einige erhebliche Mittel vorgesehen, um die vorhandenen bundeseigenen Gebäude und Anlagen in einen entsprechenden Zustand zu versetzen, daß sie weiterhin als Wohn- oder Betriebsräume verwendet werden können. Wir haben nur den Wunsch, Herr Bundesfinanzminister, daß die in diesem Voranschlag vorgesehenen Mittel nicht gekürzt werden und daß in den kommenden Jahren neue, nach Möglichkeit noch erheblichere Mittel dafür eingesetzt werden.
Wenn man zu der Auffassung kommen sollte, daß in Anbetracht der Entwicklung in anderen Teilen Westdeutschlands allgemeine Arbeitsbeschaffungsmittel nicht mehr notwendig sind, dann möchte ich doch darauf hinweisen, daß diese Auffassung für Wilhelmshaven keinesfalls zutreffen darf und kann, sondern daß man nach wie vor zur Arbeitsbeschaffung, zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen Mittel bereitstellen muß. Mit vorübergehenden Maßnahmen ist uns nicht gedient. Es muß das Ziel aller unserer Politik sein, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, um damit gleichzeitig zu verhindern, daß sich in diesem Elendsgebiet etwa politische Kräfte auswirken, die nachher nicht zum Nutzen dieses Gebietes tätig sein würden. Es kommt darauf an, den Menschen am Jadebusen neuen Lebensmut zu geben.
Meine Damen und Herren, der Antrag des Haushaltsausschusses geht allerdings an den Dingen etwas vorbei, indem er durch die Vorwegbewilligung von 1,5 Millionen den Antrag Drucksache Nr. 584 für erledigt ansieht. Wie der Berichterstatter schon gesagt hat, ist damit das Problem Wilhelmshaven nicht erledigt. Ich möchte vorschlagen, die Fassung in dem Antrag des Ausschusses wie folgt zu ändern:
Der Bundestag wolle beschließen, den Antrag Nr. 584 der Drucksachen mit Rücksicht auf die inzwischen von der Bundesregierung beschlossenen
— ich meine damit den Beschluß vom 28. März —
und noch geplanten Maßnahmen für das Gebiet Wilhelmshaven für erledigt zu erklären.
Mit dieser Änderung erkläre ich mich mit der Annahme des Antrags des Haushaltsausschusses einverstanden und bitte um Ihre Zustimmung.
Ich bitte allerdings die Bundesregierung, das Problem Wilhelmshaven damit nicht als erledigt zu betrachten. .