Rede von
Dr.
Hermann
Ehlers
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich darf weiter darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß mich der Herr Bundeskanzler gebeten hat, den Punkt 13 der heutigen Tagesordnung, Beratung des Antrags der Fraktion des Zentrums betreffend Verhandlungen wegen Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die UN — Nr. 1583 der Drucksachen —, heute abzusetzen und auf Freitag anzusetzen. Ich habe mich mit der antragstellenden Fraktion in Verbindung gesetzt; sie hat keine Einwendungen erhoben. Der Herr Bundeskanzler wünscht zu dieser Frage selbst eine Erklärung abzugeben. — Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist und bitte, den Punkt 13 der heutigen Tagesordnung zu streichen.
Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung:
a) Interpellation der Abgeordneten Dr. Edert, Frau Krahnstöver, Dr. Oellers, Wittenburg und Genossen betreffend Umsiedlung von Heimatvertriebenen aus Schleswig-Holstein ;
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsiedlung von Heimatvertriebenen aus den Ländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein .
Es ist eine Aussprachezeit von 90 Minuten vorgesehen. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist.
Zur Begründung der Interpellation hat das Wort der Abgeordnete Dr. Edert.
Dr. Edert , Interpellant: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Interpellation, die zu begründen ich die Ehre habe, ist von allen deutschen Abgeordneten des Landes Schleswig-Holstein unterzeichnet. Sie ist unterstützt von unseren Freunden aus dem Nachbarland Niedersachsen. Wir hätten auch unsere Freunde aus Bayern um Unterstützung bitten können; denn im Grunde sind alle drei Länder — Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein — in ähnlicher Lage, nur daß die Not sich steigert, je mehr man von Süden nach Norden geht.
Daß hier ein gemeinsamer Schritt aller Fraktionen vorliegt, mag Ihnen ein Beweis dafür sein, wie ernst wir alle ohne Unterschied der Partei die Lage unseres Landes ansehen, das tatsächlich am Rande des Ruins steht, ein Land, das bis dahin eine wirklich gesunde Wirtschaft hatte und erst durch den Zusammenbruch von 1945 in diese schwere Notlage geraten ist. Bis dahin war es ein guter Steuerzahler und erfreute sich eines behäbigen Wohlstandes. Jetzt ist es ein Bettelland geworden, das in jedem Monat suchen muß, wo es Überbrückungskredite für die Zahlung der Gehälter seiner Beamten finden kann.
Der Bundesregierung sind die Ursachen dieser Notlage bekannt. Ich will sie hier nicht noch einmal aufzählen; ich will nicht noch einmal sprechen von der Insellage, von der Verkehrsferne, von dem Eisernen Vorhang, der den ganzen Ostseehandel lähmt, von der Demontage unserer Werften und von der Zerstörung unserer Kriegsindustrie, die ein Fünftel unseres Industriepotentials ausmachte. Die Hauptursache dieser Notlage kommt aus der ungeheuren Übervölkerung, die 73 % gegenüber dem Stand von 1939 — bei 17 % im Bundesdurchschnitt — beträgt. Das ist ein Bevölkerungszuwachs, den das industriearme, wesentlich landwirtschaftlich genutzte Land einfach nicht unterbringen kann.
Dabei hat sich das Land Schleswig-Holstein in allen seinen bisherigen Regierungen die erdenklichste Mühe gegeben, für die vertriebenen Brüder und Schwestern aus dem Osten zu sorgen. Aber heute ist es das steuerschwächste Land von allen, und auf die schwächsten Schultern hat man die schwersten Lasten gelegt. Um nur einiges herauszugreifen: Es hat für vertriebene Landwirte Hunderte von neuen Siedlungen geschaffen; im laufenden Jahr sind über tausend neue Siedlungen geplant. Es hat sich um neue Industrien bemüht, hie und da auch mit Erfolg, aber dieses verkehrsarme Land mit den teuren Kohlenpreisen lockt keine Unternehmer an. Es hat die Eingliederung in den
Einzelhandel gefördert. Von den neu vorgelegten Anträgen sind nicht weniger als 44 % allein für Heimatvertriebene bewilligt worden. Bei der Anstellung von Beamten sind die Flüchtlinge über ihre Zahl hinaus berücksichtigt worden. In unseren Landkreisverwaltungen sind heute 42,2 % Heimatvertriebene, eine Tatsache, die von der dänischen Propaganda ausgenutzt wird. Auch die einheimische Bevölkerung beklagt sich nicht mit Unrecht, man höre auf den Landratsämtern überwiegend ostpreußisch, und das Plattdeutsche sei zur Seite gedrängt. Unter den Lehrern an den Schulen sind 51 % Heimatvertriebene, unter den vollbeschäftigten Richtern auch mehr als 50 %, unter der Polizei sogar 61 %; zweifellos eine Überfremdung, die Besorgnis erregt!
Aber all diese ehrlichen Bemühungen um Eingliederung der Heimatvertriebenen sind angesichts der ungeheuren Zahl vergeblich. Nach wie vor ist daher die Arbeitslosenzahl eine der höchsten im ganzen Bundesgebiet. Sie beträgt wieder im ganzen Land 27,3 %, unter den Heimatvertriebenen fast 60 0/0, bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung in anderen Ländern. Die Lasten sind unerschwinglich. Allein die Schullasten haben sich verdoppelt. 35 000 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren sind zur Zeit in unserem Lande ohne Lehrstellen., und für die künftigen Jahre bis 1956 wird sich diese Zahl wiederum in jedem Jahr um 20 000 vermehren.
Auch in der Beschaffung des Wohnraums hat sich das Land die redlichste Mühe gegeben. Es hat den vorhandenen Wohnraum restlos beschlagnahmt, eine Maßnahme, die von anderen Ländern als undurchführbar abgelehnt wird. Während in der Vorkriegszeit in Deutschland 1,3 Personen in einem I Wohnraum lebten, ist die Wohndichte in Schleswig-Holstein auf 2,0 bis 2,2 Personen auf den Wohnraum gestiegen. Nordrhein-Westfalen, das von Kriegseinwirkungen zweifellos am stärksten berührte Land, hat in den Jahren 1947/48 festgestellt, daß bei ihm die Wohndichte 1,53 Personen betrage und daß man, wenn sie auf 1,9 steige, nicht mehr von menschenwürdigen Unterbringungen reden könne. In Schleswig-Holstein ist die Zahl höher. Ja, wir können nach genauen Feststellungen sagen, daß 450 000 Menschen in unserem Lande in nicht menschenwürdigen Verhältnissen wohnen.
Nun wird uns von den Aufnahmeländern immer wieder entgegengehalten: wir haben auch nicht genügend Wohnraum, wir müssen erst bauen. Selbstverständlich, jeder, der mit der Umsiedlung zu tun hat, weiß, daß diese nur Sinn hat, wenn sie in Länder mit Arbeit und mit Wohnung erfolgt. Aber Arbeit ist ja vielfach vorhanden, und was den Wohnraum anlangt, so möchten wir in aller Bescheidenheit, aber auch in aller Deutlichkeit sagen: so rückt ihr doch auch einmal zusammen, wie wir zusammengerückt sind. Während bei uns Tausende von Familien je einen einzigen Wohnraum benutzen, hält zum Beispiel ein süddeutsches Land daran fest, daß jedes Kind über 14 Jahre sein eigenes Zimmer haben soll. Schafft doch wenigstens vorübergehend die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen, um den vorhandenen Wohnraum auszunutzen!
Meine Damen und Herren, niemand von uns verkennt die Schwierigkeiten in den Aufnahmeländern. Eine Umsiedlung dieses Ausmaßes hat es ja in der Geschichte überhaupt noch nicht gegeben.
Wir erkennen mit Dank die Fürsorge an, die einige
Länder — sowohl die Behörden wie die Bewohner — unseren Heimatvertriebenen gewährt haben. Aber leider sind an vielen Stellen nicht das gleiche Verständnis und die gleiche Bereitschaft vorhanden.
Nun hatte Schleswig-Holstein gehofft, daß mit der Errichtung der Bundesrepublik eine großzügige Umsiedlung in die Länder mit Arbeit und Brot einsetzen würde. Es sollten vom Juli 1949 bis zum Dezember 1950 aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern im ganzen 300 000 Menschen umgesiedelt werden, davon allein aus Schleswig-Holstein 150 000. Bis heute sind es rund 110 000. Die allerletzten Zahlen liegen mir nicht vor. Zur gleichen Zeit aber sind im Rahmen der Familienzusammenführung 17 500 Menschen dazugekommen. Nehmen Sie nun die zahlreichen illegal Eingewanderten dazu, so kommen Sie auf eine Entlastung von rund 90 000, etwas mehr als der Hälfte der geplanten Entlastung; ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn Sie bedenken, daß wir 1,2 Millionen Heimatvertriebene bei uns haben.
Dieser erste Versuch ist eine Enttäuschung, und mit banger Sorge sehen wir den Umsiedlungsplänen für das nächste Jahr entgegen. Aber es ist eine ganz schwere Enttäuschung, meine Damen und Herren, wenn zugesagte Transporte wieder zurückgerufen werden. Ich weiß nicht, ob sich die Aufnahmeländer die psychologische Wirkung einer solchen Maßnahme klarmachen: seit Wochen und Monaten haben die Heimatvertriebenen auf den Transport gewartet, in ihren Baracken gepackt, sie haben ihre Arbeitsplätze aufgegeben, sie haben ihre Kinder aus der Lehre genommen, haben ihre Feuerung, ihre Kartoffeln verkauft, sie haben ihre Wohnung, so kümmerlich sie ist, anderen Leuten übergeben; und plötzlich hören sie: der Transport wird' gar nicht durchgeführt, oder die Vertriebenen müssen, falls er durchgeführt wird, wegen mangelnder Vorbereitung monatelang in den Lägern warten. Meine Damen und Herren, das tun wir den Menschen an, die schon einmal Haus und Hof haben verlassen müssen. Ich frage: Ist das Solidarität, ist das Gemeinschaft? Haben wir die Lehren von 1945 schon wieder vergessen, oder haben wir sie vielleicht gar nicht begriffen? Es gibt ein englisches Sprichwort: „Charity begins at home" — „Die Liebestätigkeit beginnt zu Hause".
Was heißt „zu Hause"? Zu Hause heißt Deutschland!
Was will es denn besagen, wenn wir in großen Reden in Straßburg oder in Konstanz von der Flüchtlingsfrage als einem europäischen Problem sprechen und im eigenen Lande, in Deutschland, nicht der Wille besteht, die schwerste Last des Krieges, die der Heimatvertriebenen, gemeinsam zu tragen?
Jedenfalls: Schleswig-Holstein ist am Ende seiner Kraft. Seine Schuld hat in 21/2 Jahren die Höhe eines Jahreseinkommens an Landessteuern erreicht. Diese Notlage bringt aber nicht nur eine wirtschaftliche, sondern bei uns auch eine innenpolitische und eine außenpolitische Gefahr herauf. Die jahrelange Arbeitslosigkeit, die gesundheitliche, die moralische Schädigung, die Hoffnungslosigkeit führen bei den einen zum politischen Radikalismus und bei den anderen — im schleswig-
sehen Raum — zur Abwendung von Deutschland und der deutschen Bundesrepublik, zum Hinüberwechseln ins dänische Lager.
Was die innenpolitische Lage anlangt, so müssen Sie sich daran erinnern, daß der BHE bei der Landtagswahl vor einigen Monaten selbst 15 Mandate von 69 errungen 'hat. Da aber in den übrigen Fraktionen eine ganze Reihe Heimatvertriebener sitzen, beträgt ihre Vertretung nahezu die Hälfte der Abgeordneten. Nun sind — leider, sage ich — auf Wunsch des BHE die Kommunalwahlen auf die ersten Monate des nächsten Jahres 1951 vorverlegt worden. Bei diesen Kommunalwahlen werden voraussichtlich die Heimatvertriebenen die Mehrheit in allen 17 Landkreisen erhalten. Denn zahlenmäßig sind sie in 8 der Landkreise sowieso überlegen, in einigen kommen sogar 120 Heimatvertriebene auf 100 Einheimische, in den übrigen halten sie sich die Waage. Angesichts dieser drohenden Gefahr der Überfremdung ist es natürlich, wenn sich nun in den einheimischen Kreisen Bestrebungen zeigen, sich ihrerseits politisch zusammenzuschließen. Je radikaler der BHE auftritt, desto stärker wird der Widerstand der Einheimischen. Während bis dahin noch ein erträgliches Verhältnis zwischen den beiden Gruppen bestand, ist jetzt mit schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen zu rechnen, deren Auswirkungen — meine Damen und Herren, seien Sie dessen sicher — weit in das Bundesgebiet hineinreichen werden.
Die außenpolitische Gefahr ist vielleicht noch größer. Denn im Landesteil Schleswig gewinnt die dänische Bewegung wieder an Boden; sie nutzt die durch den Flüchtlingsstrom hervorgerufene ungeheure Notlage aus, um für den Anschluß Schleswigs an Dänemark zu werben. Es gibt auch an anderen Landesgrenzen solche separatistische Neigungen, um aus dem Elend und der gemeinsamen Verantwortung herauszukommen; aber hier an der Nordgrenze wird diese separatistische Bewegung von der andern Seite der Grenze durch eine starke nationalistische unterstützt — unterstützt vom dänischen Volk und leider auch vom dänischen Staat. Nach den Worten des dänischen Ministers Frede Nielsen trägt Dänemark eine kulturelle Offensive gegen Schleswig vor, stützt sie mit staatlichen und privaten Mitteln von rund 20 Millionen Kronen jährlich, nicht allein um bestehendes dänisches Volkstum zu erhalten — niemand von uns würde dagegen ein Wort sagen —, sondern um deutsches Volk und Land zu gewinnen. Es mag dem Fernerstehenden fast unbegreiflich, ja wie ein seltsamer Anachronismus erscheinen, 'daß in einer Zeit, da wir uns um ein vereinigtes Europa bemühen, unser nördlicher Nachbar, mit dem wir gerne in Frieden und Freundschaft leben möchten, so stark von nationalistischer Denkungsart erfüllt ist, daß er einen romantischen Traum vergangener Zeiten „Schleswig bis zur Eider dänisch!" verfolgt. Tatsache ist aber, daß er diesem Ziel mit der ihm eigenen Zähigkeit und mit der gesammelten nationalen Kraft seines Volkes nachstrebt: dem Ziel, die deutsche Bevölkerung für eine neue Volksabstimmung zugunsten Dänemarks reif zu machen. Und diese Bestrebungen haben Erfolg, haben Erfolg bei einem kerndeutschen Volk, das noch vor 100 Jahren sein Deutschtum mit den Waffen in der Hand gegen Dänemark verteidigt hat, das 1920 bei der Volksabstimmung sich mit überwältigender Mehrheit für Deutschland erklärte, das noch 1932 bei den letzten freien Wahlen der Weimarer
Republik so deutsch stimmte, daß auf der andern Seite nur 1544 Stimmen gezählt wurden.
Das alles läßt sich nur aus der Hoffnungslosigkeit, der Arbeitslosigkeit, der unerträglichen Wohndichte, kurz aus dieser sinnlosen Übervölkerung begreifen. 1949 freilich, als die Bundesrepublik geschaffen wurde, als die Bundeswahlen stattfanden, da hofften die Bewohner des Grenzgebietes, daß ihnen nun endlich der Bund aus der verzweifelten Lage helfen würde. Da gingen die dänischen Stimmen von 99 000 auf 75 000 zurück. Damals wurde in Flensburg, der Hochburg des Dänentums, der Stadt, wo noch heute ein dänischer Oberbürgermeister regiert und eine dänische Stadtverwaltung sitzt, ein deutscher Kandidat gewählt. Aber schon bei den Landtagswahlen dieses Jahres haben die 'dänischen Kandidaten den Sieg davongetragen. Das gläubige Vertrauen von damals ist grausam 'enttäuscht worden.
Der Bund hat zwar einen Versuch gemacht, das Land von der übergroßen Last zu befreien, aber dieser Versuch ist auf halbem Wege liegen geblieben. Der Herr Bundesminister, dessen ehrliches Wollen für mich über jeden Zweifel erhaben ist, ordnet wohl an; aber es fehlt ihm an der zentralen Macht, die Verordnung durchzusetzen. Das Grundgesetz gibt ihm keine Handhabe. Wir benötigen zum wenigsten eine gesetzliche Regelung, wie sie dankenswerterweise von der SPD heute vorgeschlagen ist. Die 'dänische Flüsterpropaganda nützt das Versagen des Bundes aus. Es sind in diesen letzten 14 Tagen nicht weniger als 10 Massenversammlungen durch das Land Schleswig gegangen. Man sagt den Leuten: Man hat euch abgeschrieben, ihr habt von Bonn nichts mehr zu erwarten! Schließt euch an uns an, an Dänemark, das wird die Heimatvertriebenen später hinausbringen, wie Dänemark seinerseits auch die 220 000 Flüchtlinge aus Schleswig nach Westdeutschland evakuiert hat; dann seid ihr frei von den Kriegsfolgelasten, von den Vertriebenen aus Preußen, die im Begriff sind, die schleswigsche Heimat völlig zu beherrschen und euch an die Wand zu drücken. Das ist die grenzpolitische Auswirkung.
Ich fasse zusammen: Die Übervölkerung des Landes Schleswig-Holstein durch die Heimatvertriebenen hat das wirtschaftlich gesunde Land zugrunde gerichtet, an den Bettelstab gebracht. Die Übervölkerung bringt das Land in eine schwere innenpolitische Gefahr und treibt dessen Bewohner in die Reihen der Dänen.