Meine Damen und Herren! Ich bin leider nicht in Übereinstimmung mit dem Herrn Kollegen Pünder und seinen Ausführungen über die formelle Behandlung dieses Gegenstandes. Wir haben hier bestimmte Normen für die geschäftsordnungsmäßige Behandlung aufgestellt. Wir hatten bisher auch die Gepflogenheit, daß bestimmte, im Ältestenrat getroffene Vereinbarungen eingehalten werden. Daß man diese Dinge dann durch Majoritätsbeschlüsse zufälliger Art, nachdem die Debatte noch dazu von Rednern bestritten wird, die an den Verhandlungen des Ältestenrats überhaupt nicht teilgenommen haben, so einfach umwirft und ändert, halte ich nicht für eine gute Sitte und einen nachahmenswerten Brauch in diesem Hause. Ich bin infolgedessen nicht in der Lage, das anzuerkennen, und bin sogar der Meinung, daß dieser Vorfall uns Anlaß geben muß, die Art und Weise der geschäftsordnungsmäßigen Behandlung dieser Vorlage noch weiter zu erörtern und die Angelegenheit zu einer grundsätzlichen Klärung zu bringen.
Was den Gegenstand anlangt, so darf ich für meine Freunde sagen, daß sie von der Dringlichkeit und der Bedeutung der in diesem Antrage ausgedrückten Wünsche und Absichten durchaus überzeugt sind. Sie sind aber der Meinung, daß es sich hier nicht nur um einen Gegenstand rein materieller Fürsorge und Unterstützung handeln darf, sondern daß darüber hinaus der politische Zusammenhang und die Absonderlichkeit der politischen Verhältnisse in Kehl und in seinem Hinterland Gegenstand auch zwischenstaatlicher Gespräche sein müssen.
Wenn man über Kehl nach Straßburg zum Europarat fährt, dann hat man einen merkwürdigen Eindruck, meine Damen und Herren; dann kommt man nicht nur durch eine zertrümmerte und weithin verwüstete Stadt, sondern dann kommt man durch eine Zone von Stacheldraht. Dieser Anblick ist so seltsam und steht so in Widerspruch zu allen europäischen Deklarationen, er ist so unerträglich und so quälend, daß hier allerdings ein Fall vorliegt, um dessentwillen der europäische Geist eine Bewährungsprobe zu bestehen hat. Hier handelt es sich um eine Angelegenheit, die durchaus zwischen den zwei beteiligten Ländern ausgetragen und gelöst werden kann. Es bedarf da gar nicht einer großen
gesamteuropäischen Organisation, sondern hier bedarf es der Bewährung des europäischen Geistes in der Praxis, um diese Stacheldrahtzone mit allen ihren unglückseligen Folgen zu überwinden, indem man sie als eine Sinnlosigkeit, als eine Monstrosität in der gegenwärtigen Zeit, angesichts der europäischen Notwendigkeiten überhaupt, begreift.
Es ist doch so, daß mit finanziellen Zuwendungen allein auf die Dauer diesem Gebiet gar nicht geholfen werden kann. Wir können hier noch so bereitwillig sein, Hilfe zu gewähren und Zuschüsse zur Verfügung zu stellen. Damit lösen wir das ganze Problem Kehl nicht. Das Entscheidende ist, diesen Wirtschaftsraum Kehl wieder existenzfähig zu machen. Es ist nicht allein damit getan, daß man Menschen zurücksiedelt. Man muß ihnen auch die Arbeitsplätze wiedergeben, die sie gehabt haben, das heißt also, man muß dies Gebiet wieder in die volle Handlungsfähigkeit versetzen, in der es sich einmal befunden hat.
Dazu gehört zunächst einmal der Anschluß an das deutsche Währungsgebiet. Ich brauche wohl nicht auszuführen, was es an Behinderung bedeutet für eine industrielle, für eine gewerbliche Entwicklung, für eine Ausnutzung des Hafengebietes, für die Entfaltung eines regen Speditionsgewerbes und dergleichen mehr, wenn man aus diesem Gebiet gegenüber Deutschland ein Zoll- und Währungsausland macht. Was wir zur Zeit sehen, ist nichts weiter als die künstliche Niederhaltung von Industriefirmen, von gewerblichen Betrieben, vor allen Dingen auch von Lagerhaus- und Transportunternehmen und dergleichen mehr. Hier ist mit irgendeiner gemeinsamen Hafenverwaltung, die sich ausschließlich auf Kehl erstreckt, keine Lösung zu finden. Bei den Beengungen der Wirtschaft im Kehler Gebiet, bei den Wettbewerbsbefürchtungen oder Wettbewerbsvorwänden der Straßburger Wirtschaftskreise ist doch niemals in einer gemeinsamen Verwaltung, die sich ausschließlich auf den Kehler Hafen erstreckt, eine ausgleichende Kraft zu sehen, weil in ihr diejenigen, die die Kehler Betriebe und die Kehler Entwicklung als Wettbewerb zu befürchten vorgeben, so etwas wie eine Vorherrschaft über den Wettbewerber ausüben könnten. Dabei möchte ich überhaupt Zweifel anmelden, ob dieser von Straßburg anscheinend erwartete Wettbewerb in Wirklichkeit eintreten würde und ob er nicht eine Fiktion ist, die gegenstandslos wäre, wenn die Schikanen wegfielen: diese zahllosen Beengungen und alles, was mit der Stacheldrahtzone und der Währungsenklave in Kehl zusammenhängt.
Wenn das alles wegfiele, würden sich die natürlichen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung des Kehler Raumes als so lebendig erweisen, daß gar nicht einmal eine Notwendigkeit bestünde, etwa zwischen dem Straßburger und dem Kehler Raum wirklich bedenkliche und gefährliche Wettbewerbsverhältnisse eintreten zu lassen, die dann für Straßburger Wirtschaftskreise ein Anreiz sein könnten, nun sich immer wieder um diese Dämpfung, um diese Beschränkungen gegenüber der Kehler Wirtschaft zu bemühen. Es würde damit zugleich die Möglichkeit bestehen, den Raum um Kehl herum, das Hinterland von Kehl, einer Gesundung entgegenzuführen. Die landwirtschaftlichen Verhältnisse in der Umgebung von Kehl sind deswegen empfindlich gestört, weil hier früher eine Stadt mit einer einstmals großen Zahl von Konsumenten war. Diese Konsumenten sind jetzt noch nicht wieder da. Denn die Stadt ist entvölkert worden, und die Rücksiedlung ihrer Bewohner kann sich unter den eben gekennzeichneten Verhältnissen nur sehr langsam vollziehen. Ergebnis ist, daß die umliegende Landwirtschaft, die gewohnt war, ihre Erzeugnisse in Kehl und Umgebung abzusetzen, nun nicht mehr in der Lage ist, zu günstigen, zu einigermaßen erträglichen Absatzbedingungen die Abnehmer für ihre Erzeugnisse zu finden.
Ich glaube, zusammenfassend sagen zu können, daß es sich hier allerdings um ein Anliegen handelt, bei dem eine gewisse Initiative der Bundesregierung dringlich ist, nicht nur hinsichtlich der finanziellen Hilfen, sondern im Hinblick auf die Lösung und Heilung der Verkrampfungen, die der europäischen Integration entgegenstehen.