Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich, daß die Kehler Frage, die bisher rein auf der Ebene lokaler und regionaler Behörden verhandelt wurde, nun endlich vor das Forum des Bundestags kommt und auf der Bundesebene verhandelt wird, wohin sie gehört; denn es liegt nicht nur ein Notstand zugrunde, dem man mit Geld abhelfen kann, sondern es liegt ein politischer Notstand zugrunde, der durch das Eingreifen einer der Besatzungsmächte, die gleichzeitig unser Nachbar ist, verursacht worden ist und dem man wahrscheinlich nur mit den Mitteln der außenpolitischen Verhandlungen wirksam begegnen kann.
Deshalb begrüßen wir es von ganzem Herzen, daß wir bei diesem Anlaß Gelegenheit haben, das Problem Kehl etwas mehr vom Grundsätzlichen her anzuschneiden, als es auf der badischen Ebene allein bisher möglich war.
Die Frage selbst ist schon öfter in der Öffentlichkeit behandelt worden, allerdings weniger im Bereich des ganzen Bundesgebiets, als vor allem in demjenigen Teil des deutschen Bundes, aus dem ich komme, nämlich im südwestdeutschen Raum. Meine Freunde haben im südbadischen Landtag schon vor langer Zeit einen Antrag eingebracht, der damals die einmütige Zustimmung des ganzen Landtags fand und durch den Kehl zum Notstandsgebiet erklärt wurde. Durch eine spätere Entscheidung des südbadischen Landtags wurde in diesen Kreis der Notstandsgebiete auch einbezogen die Stadt Breisach und eine Reihe von anderen schwer kriegsbetroffenen Gemeinden. Ich erwähne den Namen Breisach deshalb, weil ich in dem Schlußwort meines Vorredners einen Anklang an Straßburg als die europäische Hauptstadt fand und gerade Breisach ein Beispiel dafür gegeben hat, wie lebhaft und wachsam trotz aller Hemmungen im Wiederaufbau, die infolge der jetzigen Umstände dort bestehen, und trotz aller Zerstörungen, die die Stadt hat auf sich nehmen müssen, der europäische Geist dort ist. Sie entsinnen sich noch, daß es gerade Breisach war, das sich bei einer der Abstimmungen über den Zusammenschluß zur europäischen Föderation mit einer Mehrheit von über 90 % aller Stimmberechtigten für den Zusammenschluß ausgesprochen hat. Ich glaube, beiderseits des Rheins — ich betone: beiderseits — sollte man aus dieser Abstimmung etwas lernen, und darüber, was man auch auf der anderen Seite daraus lernen kann, werde ich Ihnen noch einige Gedanken vortragen.
Es haben damals schon eine Reihe von Besprechungen, an denen auch der jetzige Bundestagsabgeordnete Maier beteiligt war, stattgefunden mit dem derzeitigen französischen Hohen Kommissar Francois-Poncet, mit dem derzeitigen französischen Außenminister Schuman und auch mit dem damaligen franzöischen Deutschlandminister Alain Poher. In diesen Besprechungen sind ganz konkrete Vorschläge gemacht worden, wie man der Notlage Kehls zu Leibe gehen könnte: zum Beispiel dadurch, daß man drüben in Straßburg mit deutschen Arbeitskräften und deutschem Material etwas schneller, als das augenblicklich geschieht, Wohnraum schafft, damit die Bevölkerung aus dem evakuierten Straßburg, die heute noch in Kehl ansässig ist, in ihre Heimat zurückkehren kann und damit Kehl ganz den Deutschen zur Wiederansiedlung zurückgegeben werden kann. Denn was nützt uns das Geld für die Wiederansiedlung, wenn der Raum dafür nicht zur Verfügung steht! Leider ist man damals auf diese Vorschläge nicht eingegangen.
Es hat uns alle sehr erschüttert, als wir als deutsche Delegierte in der Beratenden Versammlung von dem wieder zum Leben erwachten blühenden Straßburg, dessen Hafen kaum nennenswerte Schäden erlitten und der heute wieder einen großen Teil seines Vorkriegsumschlags erreicht hat — ungefähr zwei Drittel der in Straßburg jeweils in den besten Jahren umgeschlagenen Gütermenge wird dort heute wieder umgeschlagen —, nach Kehl hinüberkamen und hier einen vollständig toten Hafen vorfanden. Kein Schiff ist zu sehen; keine Maschine rührt sich; die Kräne sind zerstört, sie funktionieren nicht; man kann gar kein Schiff ausladen; es sind kaum Menschen im Hafen; kein Schlot raucht; keine Fabrik, kein Eisenbahnwaggon ist zu sehen; ein völlig verödetes, riesiges Hafengelände, das durchaus imstande wäre, heute einen großen Teil des über den Oberrhein laufenden Schiffsverkehrs für die Bedürfnisse des südwestdeutschen Wirtschaftsraums bei sich aufzunehmen.
Ohne daß das Schicksal des Hafens mit entschieden wird, ist die Wiederbesiedlung der Stadt Kehl allein verhältnismäßig sinnlos. Ich möchte Ihnen daher sagen, daß wir uns darüber freuen würden, wenn die Bundesregierung sich durch diesen Antrag, der zunächst rein finanzieller Natur zu sein scheint, bewogen fühlte, das Problem Kehl auf der Ebene der deutsch-französischen Aussprache und der Aussprache mit den Hohen Kommissaren mit dem Ziel anzuschneiden, daß der Hafen möglichst bald der deutschen Wirtschaft zurückgegeben wird; denn davon hängt Leben oder Tod dieser Stadt ab. Die Industrien, die in Kehl früher ansässig waren, sind unmittelbar um den Hafen herum gruppiert gewesen. Sie hängen in ihrer Zufuhr und in ihrer Abfuhr so mit dem Hafen zusammen, daß ohne ein Übergehen des Hafens in die deutsche Verwaltung an einen Wiederaufbau Kehls ernsthaft nicht gedacht werden kann.
Kehl hat in und nach dem zweiten Weltkrieg viel stärkere Zerstörungen erlitten als Straßburg. Von 1740 Gebäuden, die im Jahre 1944 vorhanden waren, sind 501 total zerstört und 313 schwer bzw. leicht beschädigt. Nur 926 Gebäude sind überhaupt erhalten geblieben. Der Kehler Hafen hatte 1937 einen Umschlag von über 2 Millionen Tonnen. Er ist durch Kriegsschäden schwerstens betroffen, wird aber ohne Rücksicht auf die Schäden heute überhaupt nicht benutzt. Von den 12 400 Einwohnern Kehls im Jahre 1939 lebte der größte Teil vom Hafenbetrieb und der im Zusammenhang damit dort aufgebauten Industrie. Diese Industrie ist heute praktisch tot. Das können Sie an einer Zahl, nämlich an der Zahl über das Steueraufkommen erkennen. Das Steueraufkommen Kehls betrug im Jahre 1942 1 552 908 RM und erreichte im Jahre 1949 63 100 DM. Ich glaube, die Gegenüberstellung dieser Zahlen zeigt erschütternd, in welcher Lage sich die Stadt befindet, und zeigt uns, welche Verpflichtung wir auf uns nehmen müssen, um der Stadt zu helfen.
Sie wissen — Sie haben es vom Vorredner erfahren; irgendwelche Dokumente sind dem Bundestag darüber bisher nicht zugegangen —, daß die Alliierten das Washingtoner Abkommen geschlossen haben, in dem sie sich untereinander dahin absprachen, daß innerhalb weniger Monate ein Drittel der Stadt Kehl zu räumen sei und daß der Rest der Stadt nach und nach im Laufe von vier Jahren an Deutschland zurückgegeben werden solle.
Kehl ist ein Sonderfall in Deutschland. Es handelt sich nicht einfach um einen Bestandteil der französischen Besatzungszone, sondern der heute noch französische Teil Kehls ist aus der deutschen Verwaltung auch des Landes Baden ausgegliedert, ist französisches Zollgebiet, bildet praktisch auf einige Zeit einen mit Frankreich verbundenen Teil und bildet in der Verwaltung nicht einen ordentlichen Bestandteil des lediglich französisch besetzten Gebiets Deutschlands.
Ich glaube, man sollte alle Bemühungen darauf erstrecken, daß dieser Zustand baldmöglichst beendet oder mindestens seine Dauer nennenswert verkürzt wird. Das kann man tun, wenn man mit der französischen Regierung einmal durchspricht, welche konkreten Hindernisse denn überhaupt im Wege stehen. Im Kehler Hafen haben die französische Truppe und einige Holzfirmen ein sehr unbeträchtliches Lager. Das läßt sich verpflanzen. Der Straßburger Hafen ist groß genug, um das aufzunehmen. In der Stadt Kehl leben noch einige hundert französische Familien aus Straßburg. Auch darüber ließe sich reden, daß dann eben die Deutschen einen Beitrag zum Bau entsprechender Wohnungen drüben in Straßburg leisten, damit wir wieder nach Kehl hinein können und diese deutsche Stadt selber wiederaufbauen können. Aber das könnte wesentlich schneller gehen, als das augenblicklich durch die Gewalt der Umstände möglich ist.
Das Ganze ist damit wirklich eine Bundessache geworden. Die badische Regierung ist weder sachlich in der Lage, noch kommt es ihr nach dem Grundgesetz zu, außenpolitische Verhandlungen mit unseren Nachbarn zu führen. Das ist Sache der Bundesregierung. Man muß darüber hinaus ein Wirtschaftsprogramm entwickeln, damit dem zurückzugebenden Hafen wirklich wieder Blut und Leben zufließt, damit der Hafen wieder seine Rolle in der südwestdeutschen Wirtschaft spielen kann. Das kann nicht allein mit Geld geschehen, sondern wir werden uns überlegen müssen, welche früher dort ansässigen Industrien und welche neuen dazu rund um den Hafen herum angesiedelt werden können. Platz genug bietet er, und an Arbeitskräften dürfte es in der Nachbarschaft Kehls nicht allzu stark mangeln.
Damit wäre Kehl wieder zu einem Schwerpunkt, zu einem Mittelpunkt des südwestdeutschen Wirtschaftsraums geworden. Das Ganze ist nur möglich, wenn man auch den Wohnungsbau in Gang bringt. Vielleicht läßt sich darüber reden, wie man die Mittel des sozialen Wohnungsbaues, die ja nach bestimmten Schwerpunkten verteilt werden, auch in dieser Weise in den Wiederaufbau von Kehl bevorzugt hineinsteckt.
Nun zum Schluß, meine Damen und Herren: Welches Problem ergibt sich für uns in bezug auf unsere Nachbarn? Kehl kann ein Beispiel werden, wie vernünftige europäische Gesinnung aussieht. Heute ist es ein Beispiel dafür, wie man europäische Parolen zur Ausnutzung sehr realer nationaler Interessen mißbrauchen kann.
Das wollen wir ganz eindeutig und nüchtern ohne allzu große Enttäuschung hier feststellen. Kehl liegt Straßburg gegenüber. Die Bevölkerung ist voll guten Willens. Sie erhofft sich von der europäischen Neuordnung sehr viel. Aber das kann dann nicht so aussehen, wie es uns zum Beispiel der französische Hafendirektor sagte: „Nun ja, augenblicklich untersteht der Kehler Hafen französischer Verwaltung. Wir sind durchaus bereit, eine deutsch-französische Gesellschaft zu gründen." Und auf meine Gegenfrage: „Ja, für beide Häfen, für Straßburg und Kehl, dann sind wir damit einverstanden" : „Nein, natürlich nur eine deutschfranzösische Gesellschaft für den Kehler Hafen; aber der Straßburger Hafen, der geht euch nichts an, der bleibt ausschließlich in französischer Hand." Wenn die Europäisierung so aussieht, daß nur die Deutschen das Ihre nach Europa einbringen, die übrigen Länder aber auf ihren vollen nationalen Souveränitätsrechten beharren, dann ist das Ganze in Wahrheit eben kein Beitrag zu einer europäischen Neuordnung.
Ich glaube, auch hier schaut Kehl nach Straßburg; und es schaut auf uns, ob Franzosen und Deutsche an diesem Beispiel demonstrieren können, daß man im Geiste vernünftiger europäischer Zusammenarbeit diese deutsche Stadt dem Wiederaufbau zuführen kann.