Rede von
Willy
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der sozialdemokratischen Fraktion betreffend Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitslosenfürsorge, der Körperbeschädigten- und Hinterbliebenenversorgung, der Soforthilfe und der öffentlichen Fürsorge datiert vom 29. Juli dieses Jahres. Ich muß mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß gerade in diesem Hause so hochwichtige Fragen, von deren Lösung das Schicksal von Millionen von Menschen abhängt, in einer so langsamen Prozedur behandelt werden, wobei wir ja leider das Ende dieses Antrages noch gar nicht voraussehen können.
Wer in der praktischen Gemeindearbeit steht, weiß, daß eine Reihe von Gemeinden heute schon insbesondere mit der Erhöhung der Wohlfahrtsunterstützungen beschäftigt und auf Grund ihrer eigenen Finanzlage nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu fällen, wenn nicht eine Form der Hilfe durch die Länder und durch den Bund geschaffen wird.
Das Schicksal dieses Antrages scheint auch damit verbunden zu sein, daß gerade auch von offiziellen Stellen noch im Juli, August dieses Jahres die von uns behauptete Preissteigerung im Anschluß an die Brotpreisfrage, an die Subventionsfrage einfach schlankweg bestritten worden ist. Ich möchte es an Hand der tatsächlichen Ereignisse doch geradezu als eine Unverfrorenheit bezeichnen, daß das Bundespresseamt noch am 23. August 1950 nach der „Neuen Zeitung" erklärt hat, daß die Preisentwicklung keinen Anlaß zu irgendeiner Beunruhigung gebe.
Ich glaube, es kommt immer sehr darauf an, wer das sagt und in welchen Einkommensverhältnissen der entsprechende Sprecher steht.
In diesem Zusammenhang ist ein Streit der Statistiker entstanden, ob überhaupt von einer Preis-
steigerung oder von einer Indexsteigerung die Rede sein könne. So hat das statistische Amt des Bundeswirtschaftschaftsministeriums erklärt, daß die Lebenshaltung für einen vierköpfigen Haushalt von Januar 1949 bis Februar 1950 um 16,6 Punkte, nämlich von 168,5 auf 151,9, zurückgegangen sei. Anfang September erklärte der Herr Bundeswirtschaftsminister Erhard in Trier auf einer Tagung, daß das Bruttoeinkommen des deutschen Arbeiters durch die soziale Marktwirtschaft seit der Währungsreform um 45 % gestiegen sei, während die Lebenshaltungskosten um 10 % gesunken seien.
— Für diese Leute mag es bestimmt gewesen sein. In der Öffentlichkeit ist darüber eine lebhafte Beunruhigung entstanden und der weitere Eindruck, daß unsere Regierungsorgane es nicht verstehen, vom praktischen Leben aus Politik zu machen, sondern nach dem Rechenstift Politik machen. Tatsache ist doch wohl, daß eine Steigerung der Lebensmittelkosten vom Juni 1948 bis zum April 1950 um rund 35°/o eingetreten ist und daß eine neue Preissteigerung im Juli im Anschluß an die Debatte des Bundestages bzw. an die Ablehnung der Subventionen für Getreide und Düngemittel eingetreten ist.
Der Streit der Statistiker hat sich besonders dadurch ausgezeichnet, daß man mit Zahlen jongliert hat, die praktisch im Juni schon abgeschlossen waren, also die neue Preissteigerung in keiner Weise berücksichtigen konnten. In keiner Weise ist berücksichtigt, daß die Lebenshaltung der arbeitenden Schichten insbesondere durch Erhöhungen der direkten und indirekten Steuern und durch Erhöhung der Sozialbeiträge im Laufe der letzten Jahre eine erhöhte Belastung erfahren hat. Gewerkschaftskreise, die, glaube ich, von statistischen Berechnungen auch etwas verstehen, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die Reallöhne der arbeitenden Schichten im günstigsten Falle 75 % gegenüber dem Jahre 1938 betragen.
Diese Preissteigerungen, die Anlaß unseres Antrages geworden sind, haben praktisch mit dem Purzelbaum eingesetzt, der in diesem Hause durch die Verweigerung der Getreidesubventionen bei der bekannten zweiten Abstimmung vollzogen worden ist, nachdem sich das Haus gefallen lassen mußte, zum mindesten in indirekter Form mit Hysterikern gleichgestellt zu werden.
In offiziellen Verlautbarungen hat man sehr oft auf Korea verwiesen. Wir wissen zwar, daß zu der Erhöhung der Rohstoffpreise diese außenpolitischen Vorgänge einen wesentlichen Teil beigetragen haben. Aber ich glaube, es wird sich niemand finden, der den unmittelbaren Anlaß zur Steigerung der Lebensmittelpreise nicht in der Verweigerung dieser Subventionen sehen muß. Bei den Getreideerzeugnissen hat sich gegenüber dem 15. Juni am 11. August eine Steigerung bis zu 20,3 % ergeben, bei Rindfleisch von 121/2 %, Schweinefleisch 22,2 %, Speck 22,2 bis 23,6 %.
Dennoch möchte ich sagen, daß gegenüber der Wirklichkeit alle diese statistischen Zahlen wahrhaftig als tote Zahlen anzusprechen sind und daß man, um die Lebenshaltung der von uns in dem Antrag angesprochenen Schichten der Bevölkerung einigermaßen verstehen zu können, doch daran festhalten muß, daß die Steigerung sich insbesondere bei den Gütern des sogenannten starren Bedarfs am allerdeutlichsten zeigt und daß diese auch zugrunde gelegt werden müßte.
Wiederum nach dem statistischen Amt Wiesbaden ist vor allen Dingen die Lebenshaltung breitester Schichten unserer Bevölkerung, insbesondere der arbeitenden Schichten und der Rentner und Versicherten am deutlichsten daraus zu erkennen, daß im Vergleich zu 1938 der Verbrauch wichtigster Lebensmittel beachtlich zurückgegangen ist, und zwar bei Fleisch um 58 %,
bei Eiern um 42 %, bei Milch um 28 %, bei Fett um 18 % und bei Butter um 17 %. Der Lebensmittelverbrauch hat sich insofern verschoben, als mehr verzehrt werden: 2 % Kartoffeln, 4 % Zukker, 10 % Nährmittel, 11 % Mehl und 13 % Brot. Was sonst noch an der Lebenshaltung von 1938 fehlt, ist bei uns durch den Begriff „soziale Marktwirtschaft" ersetzt worden.
Es sind erschütternde Zahlen, wenn man nicht nur die nackte Lebenshaltung, sondern auch die Einkommensverhältnisse etwas unter die Lupe nimmt. Nach diesen Statistiken lebt etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung mit einem monatlichen Gesamteinkommen bis zu 250 DM. Man sollte meinen, daß solche Zahlen für sich selbst sprechen. Es ist ganz klar, daß für Menschen mit einem so geringen Einkommen in erster Linie Ausgaben für den sogenannten starren Bedarf, nämlich für Lebensmittel, Mieten, Instandhaltung von Kleidung und Wohnung usw. erforderlich sind. Ebenso klar ist es, daß man keine allgemeine Indexziffer ansetzen kann, sondern diesen besonderen Bedarf und diese besonderen Lebensmittel, die wiederum in besonderem Grade der Teuerung ausgesetzt waren, zum Vergleich heranziehen muß; denn der sogenannte elastische Bedarf — Textilien, Schuhe, Hausrat usw. — muß bei diesen Einkommensschichten weitgehend zurückgestellt werden.
Um auf die Gruppe zu sprechen zu kommen, die im Antrag besonders erwähnt worden ist, so sind für Rentnereinkommen folgende Durchschnittsmaßstäbe anzusetzen: Rentnereinkommen aus Invalidenversicherung durchschnittlich 63 DM im Monat, Angestelltenversicherung durchschnittlich bis zu 90 DM, Arbeitslosenversicherung bei der Alu durchschnittlich 117 DM bis zu 122 DM, Arbeitslosenfürsorge 96 DM bis zu 99 DM.
Meine Damen und Herren, Sie kennen selbst zur Genüge die Beträge, die aus der Soforthilfe fließen. Menschen, die die Soforthilfe in Anspruch nehmen müssen, mutet man heute zu, mit durchschnittlich 70 DM volle vier Wochen ihr Leben zu fristen. Die KB-Renten stehen im Mittelpunkt unserer Debatten. Ich kann mir deshalb bei 20 Minuten Redezeit ersparen, Einzelheiten zu beleuchten, muß aber sagen, daß die im KB-Versorgungsgesetz vorgesehenen Sätze vor der Teuerung festgelegt waren.
Am erschütterndsten sind die Zahlen, die man aus unseren Städten herausgreift. So hat vor einigen Wochen die Presse über die Untersuchungsergebnisse der Stadt München berichtet. Nach den Feststellungen des dortigen Wiederaufbaureferates sind in München, einer Stadt mit 800 000 Einwohnern, allein 226 000 Personen Rentenbezieher. Wenn man berücksichtigt, daß ein Teil davon doppelte Renten, d. h. von zwei Seiten bezieht, dann kommt man auf 190 000 Renten-
bezieher; mit den Angehörigen haben also etwa 350 000 Menschen in München von diesen dürftigen Renten zu leben. Die Stadt München weist darüber hinaus 11 000 Wohlfahrtsunterstützungsempfänger aus, die bekanntlich mit Richtsätzen von 45 DM für den Haushaltungsvorstand. 25 DM für die Ehefrau und 20 DM je Kind auszukommen haben.
— Und Mietzuschläge, natürlich. Es ist besonders lobenswert, daß Sie auf diesen „Vorzug" aufmerksam machen. Einzelne Menschen sind gezwungen, um überhaupt den Richtsatz des Wohlfahrtsamtes zu erreichen, von drei Stellen Unterstützung zu beziehen: einmal aus der Invalidenversicherung, dann vielleicht irgendeine KB-Rente für eine alte Mutter, die den Sohn verloren hat; und sehr oft reicht das nicht aus, um auf den Richtsatz zu kommen; sie müssen zum dritten noch aufs Wohlfahrtsamt gehen, um ihren Lebensunterhalt einigermaßen sichern zu können.
Ich habe nie begriffen und werde wahrscheinlich in Zukunft auch nicht begreifen können, inwieweit sich diese Verhältnisse damit vertragen, daß man einen solchen Antrag durch eine langwierige Prozedur verschleppt. Ich darf Ihnen sagen, es fallen sehr bittere Worte, und es kommt nicht von ungefähr, daß dieses Haus bei einem großen Teil unserer Wähler nicht gerade im besten Licht steht. Wenn der Wirtschaftsrat eine sogenannte Sozialversicherungsanpassung durchgeführt hat, dann geschah das auf einem Niveau, das von vornherein vollkommen unzureichend war. Bei den alten Rentnern, bei den Arbeitsveteranen gibt es Stimmen - ich könnte es Ihnen schriftlich vorlegen —, die sehr bezweifeln, daß der materielle Aufwand für Zuchthausinsassen und Asoziale geringer sein kann als der Aufwand, der heute in Deutschland für Invaliden der Arbeit geleistet wird.
- Ich bitte Sie, Herr Abgeordneter Kunze; ich möchte nicht untersuchen, wie hoch der Aufwand für einen Zuchthausinsassen im Vergleich zu den Renten ist; ich glaube, er überschreitet 70 DM um ein Beträchtliches. Man sollte gerade bei den Veteranen der Arbeit nicht nur sehen, daß ihre Arbeit für die Gesellschaft produktiv war, sondern daß sie außerdem in der Zeit, in der sie noch arbeitsfähig waren, auf Grund ihrer Einkommen-und Lohnverhältnisse ein großes, jahrelang währendes Opfer an Lebensbegünstigung und Lebensfreude gegeben haben. Ich glaube, ein Staat mit sozialem Charakter, wie wir es sein sollen, müßte sich auch darüber klar sein, daß wir wirklich bei den Veteranen und sonstigen Rentnern das Empfinden verhindern sollten, daß das Rentnerdasein die letzte Station ihres Lebens für sie Ich glaube, wir hätten alle Ursache, unser Möglichstes zu tun, um einen solchen Zustand zu beseitigen.
In dem Zusammenhang soll man auch eins nicht übersehen. Es handelt sich ebenfalls um eine Statistik aus Bayern, die sich vermutlich mit Statistiken aus anderen Ländern decken wird. Es ist die Zahl der Selbstmorde. Mittel- oder Oberfranken — das ist der unmittelbare Bereich meines Wahlkreises — meldeten für das Jahr 1948 242 Selbstmorde. Natürlich sind sie nicht alle auf soziale Nöte zurückzuführen. Die Statistik weist nach, daß die übergroße Zahl jedoch auf diese Nöte zurückzuführen ist. Das Jahr 1949 brachte eine Steigerung von 242 auf 295. In München
stieg die Zahl der Selbstmorde von 150 auf 234; das sind nicht mehr und nicht weniger als 50 %
Wir sollten nicht vergessen, daß es sich bei diesen Menschen, die wir in unserem Antrag ansprechen, keineswegs um einen kleinen Teil unserer Bevölkerung handelt, sondern daß wir .n Deutschland nahezu 10 Millionen Rentner, Sozialfürsorgeempfänger und Erwerbslose zählen, unter denen schätzungsweise 4 Millionen ohne jegliche Beihilfe von Verwandten, sogenannte Alleinstehende sind. Man sollte sich darüber klar sein, daß in diesen Menschen die Überzeugung wachsen muß, daß ihre Verbrauchsgrundlage das Leben für sie einfach nicht mehr lebenswert macht.
Lassen Sie mich zum Schluß noch darauf hinweisen, daß der Anteil des Sozialaufwandes am Steueraufkommen in Westdeutsland trotz der vielen Debatten und Anträge, die hier gestellt worden sind, denn doch nicht die Höhe erreicht hat, wie es vor 1929 oder vor 1936 der Fall war. Der Anteil des Sozialaufwands beträgt heute 21,4 % gegen 27 % im Jahre 1929. Wir glauben, daß Möglichkeiten bestehen, diesen Menschen zu helfen, wenn wir wenigstens den Versuch unternehmen würden, einigermaßen wieder an diese Zahlen heranzukommen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß unter den Rentnern, die durch das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz erfaßt wurden, damals schon eine große Bitternis entstand, weil sie der Überzeugung sein mußten, daß ihnen die eine Hand nimmt, was ihnen die andere gegeben hatte. Denn sie sind in der Praxis in den meisten Fällen aus der Wohlfahrtspflege ausgeschieden, weil sie nach dieser Anpassung eben gerade diesen Satz, den Richtsatz der Wohlfahrtsbehörde, erreicht hatten.
— Was heißt: die Länder sind schuld daran? Das können Sie mir nicht in die Schuhe schieben. Wir haben auch in den Ländern dagegen angekämpft, aber leider auch nicht die Zustimmung der betreffenden Häuser gefunden.
Ich darf darauf hinweisen — und das ist insbesondere in unserem Antrag in Ziffer 2 angesprochen —, daß die Richtsätze bei den verschiedenen Bezirksfürsorgeverbänden ich will nur die eine Zahl nennen — für die Haushaltungsvorstände zwischen 27 und 45 Mark im Monat differieren. Ich halte es für erforderlich, daß — nicht des Prinzips einer gewissen Gleichförmigkeit halber, sondern aus der praktischen Notwendigkeit — diese Richtsätze durch Anregung des Bundes in den Ländern weitgehend angeglichen werden. Es sollte sich längst in der Welt herumgesprochen haben, daß die Menschen, die auf dem flachen Lande gezwungen sind, Wohlfahrtsunterstützung in Anspruch zu nehmen, nicht gerade immer günstiger in der Preisgestaltung ihrer Lebensbedürfnisse gehalten sind als die Menschen in der Stadt. Ich glaube, daß für diese Anpassung ebenfalls eine unbedingte Notwendigkeit besteht. Ich glaube darüber hinaus, daß der Herr Bundesfinanzminister sehr wohl imstande wäre, diese Anweisungen an die Länderregierungen auch zu kontrollieren und durch die Verweigerung seiner Zuwendungen im Finanzausgleich auch Länder zur Raison zu bringen, die glauben, auf ewig ein „christliches Armenhaus" bleiben zu müssen.
Die Verbraucher stehen jedenfalls dieser Entwicklung in der Preisfrage sehr hilflos gegen-
über. Sie sind den Freibeutern einer „sozialen Marktwirtschaft" zunächst einmal vollkommen ohne jegliche Hilfe ausgesetzt.
Im bayerischen Landtag hat bei einer Preisdebatte am 5. September 1950 die Rechte angeführt, durch die Ansprechung dieser Fragen über die Teuerung würde die Opposition das Schiff anbohren, in dem wir alle säßen. Ich glaube, man hat dabei eines übersehen: Solange es möglich ist, daß in Deutschland Millionen unter dem Existenzminimum zu leben gezwungen sind, so lange ist das Schiff ja gar nicht in Ordnung, so lange ist das Schiff ja schon leck. Wenn wir nicht verstehen, dieses Schiff zu flicken, dann wird es eben untergehen! Wir müssen uns doch darüber klar sein, daß es auch eine Frage der Erhaltung der Demokratie ist und daß nicht immer der Ertrinkende recht hat, der da noch meint, es sei nicht wahr, daß es das Wasser sei, das ihn ertrinken läßt.