Rede von
Dr.
Erik
Nölting
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Bei der von der sozialdemokratischen Fraktion am 9. Februar dieses Jahres veranlaßten Arbeitslosendebatte war das von der Bundesregierung wohl nicht ganz zufällig am gleichen Tage vorgelegte Arbeitsbeschaffungsprogramm erst in seinen ersten Umrissen bekannt. ich habe bereits damals in Übereinstimmung mit meinen Parteifreunden darauf hingewiesen, daß uns schon beim ersten Blick der Eindruck kam, daß diesem Programm die einheitliche Systematik fehle, daß es ein in überhasteter Eile und wohl auch mit etwas schlechtem Gewissen zusammengestoppeltes Flickwerk ohne eine grundtragende Konzeption sei, mehr eine Sturzgeburt der Angst als ein Produkt geläuterter nationalökonomischer Erkenntnis.
Die Bundesregierung hat damals gemeint, daß diese Kritik hämisch und lieblos, daß sie bewußt negativ gehalten sei. Aber ich glaube, die Aufnahme in der Öffentlichkeit — nicht nur in der Tagespresse, auch in der wirtschaftlichen Fachpresse wird sie belehrt haben, daß diese unsere damals vorgetragene Ansicht inzwischen zu einer communis opinio geworden ist.
Ich will von vielen kritischen Stimmen hier nur zwei zitieren, die ich absichtlich nicht dem eigenen Lager entnehme. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt in der Nummer 149 vom Sonntag, 2. Juli:
Die Arbeitsbeschaffungspolitik der Bundesregierung ist zu einem enttäuschenden und gefährlichen Fehlschlag geworden.
Und in den Monatsberichten der Bank Deutscher Länder, die mir hier vorliegen, heißt es:
Die langsame Durchführung der einzelnen Programme hat vielfach Enttäuschung hervorgerufen ... Die Durchführung ist durch Umstände verzögert worden, die nicht notwendig mit solchen Maßnahmen verbunden sein müssen.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat uns heute mit einem Sturzbach von Zahlen überschüttet. Ich kann auf seine Zahlen zur Stunde nicht unmittelbar reagieren. Ich halte mich, Herr Bundesarbeitsminister, an jene Zahlen, die die Bank deutscher Länder in ihrem letzten Monatsbericht vorgelegt hat. Da aber steht, daß sich nach dem Stand vom Ende Mai 1950 bei einem Betrage von rund 250 Millionen für das Sonderprogramm Bundesbahn die bis Ende Mai tatsächlich abgerufenen Kredite — und auf diese kommt es doch an — auf 85 Millionen beliefen.
Bei dem Schwerpunkteprogramm für industrielle Investitionen in den Notländern waren von 300 Millionen 97 Millionen zugesagt und bis Ende Mai ganze 7 Millionen abgerufen.
Bei der Exportfinanzierung von 300 Millionen waren zugesagt bis Ende Mai 16 Millionen und abgerufen 12 Millionen. Das heißt, Herr Bundesarbeitsminister, von insgesamt 950 Millionen, die doch vorgesehen waren, waren bis Ende Mai tatsächlich abgerufen 124! Soll man sich da noch wundern, daß die mit großem Bombast angekündigte „Stoßwirkung", der „Schockeffekt", die „Initialzündung", die von Erhard versprochene Wunderwirkung des „geballten Kapitaleinsatzes" bei diesem Schneckentempo ausgeblieben ist?
Nun, meine Herren, wenn etwas schiefgegangen ist, begibt man sich nach bewahrtem Rezept auf die Jagd nach dem Sündenbock. Plötzlich soll es die schwerfällige Länderbürokratie gewesen sein, und einmal hat man ja auch die Obstruktion der unter sozialdemokratischer Leitung stehenden Arbeitsämter zitiert. Sie sollen die Schuld daran tragen, daß wir nicht vom Fleck gekommen sind. Ach nein, meine Herren von der Bundesregierung, ich glaube, es war vor allem Ihre eigene Schwunglosigkeit, es war die fehlende Vorbereitung, es war der Mangel einer einheitlichen Konzeption, es war die planlose Unsystematik, die verantwortlich sind für dieses Debakel. Wie sollte auch letzten Endes ein Arbeitsbeschaffungsprogramm sich einpassen in Ihr System absichtlicher Planlosigkeit? Sie sind und bleiben doch Liberalisten, Gefangene Ihrer Doktrin. Was Sie tun oder tun sollten, war ja von Ihrem Standpunkt aus Sünde gegen das eigene Blut,
war Griff in die planwirtschaftlich-sozialistische Hausapotheke. Man kann aber nicht über seinen eigenen Schatten springen. Wenn Sie ein wirkliches Arbeitsbeschaffungsprogramm durchführen wollten, müßten Sie ja Planung realisieren. Das aber ist für Sie doch ein Schimpf- und Schmähwort. Daher die zögernde Unlust.
In diesem Arbeitsbeschaffungsprogramm gehen drei verschiedene Gedankenreihen, wie mir scheint, höchst kraus durcheinander: Erstens, man wollte durch eine Art Notstandsprogramm im Stile des Jahres 1932 zu einer möglichst schnellen und sichtbaren Herabminderung der Arbeitslosigkeit kommen. Zweitens, man wollte, weil man gewisse soziale Explosionsgefahren befürchtete, in den über-
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füllten Flüchtlingsländern gewisse optische und psychologische Wirkungen erzielen; und drittens, man wollte die strukturellen Verzerrungen des Wirtschaftskörpers einrenken und überwinden. Diese drei grundverschiedenen und sich vielfach gegenseitig aufhebenden Tendenzen wurden nun zu einem einheitlichen Programm zusammengekleistert, das deshalb die klare Grundlinie vermissen läßt. Daher auch der Kompetenzenstreit in den eigenen Reihen der Bundesregierung. Deshalb haben so viele Köche in diesem Brei herumgerührt und ihn schließlich verdorben.
Die Federführung lag beim Herrn Bundesarbeitsminister. Dieser aber war sekundiert vom Herrn Flüchtlingsminister, sehr einseitig ausgerichtet auf Notstandsarbeiten, nicht aber auf die Schaffung von produktiven Dauerarbeitsplätzen, die natürlich längere Zeit und auch besser durchdachte Vorarbeit beansprucht haben würde. Bei den Flüchtlingsbetrieben aber stellte sich bald heraus, daß eine bloße Investitionsfinanzierung vielfach nicht ausreichte, sondern daß man darüber hinaus größerer Betriebsmittel bedurfte, um die erste Zeit überbrücken zu können, weshalb man erst nachträglich eine Korrektur vornahm, indem man zuließ, daß 40 % der Mittel nun auch als Betriebsmittel Verwendung finden können. Aber das hätte man sich doch vorher überlegen müssen, daß allein mit der Investition nicht alles getan ist.
Wir haben immer die Ansicht vertreten, daß für einen zweckmäßigen Mitteleinsatz an der richtigen Stelle der Wirtschaftsminister zuständig sein sollte, was in unserem Munde von Herrn Professor Erhard gewiß nicht als Kompliment und Vertrauenskundgebung für seine Person mißdeutet werden wird. Dazu fehlen alle Unterlagen. Es ist deshalb nur eine rein ressortmäßige Feststellung.
Es lagen ja auch von der Verwaltung für Wirtschaft feste Vorschläge vor; es war sogar ein fertiges Programm ausgearbeitet auf Grund der Vorschläge aller Länder; ich denke an die Kapitalmarktempfehlungsliste. Später hat man dann mitten in der Furt die Gäule ausgewechselt und einen interministeriellen Ausschuß unter dem Vorsitz des Herrn Arbeitsministers eingesetzt. Dieser aber ist — von dem ewigen Kompetenzenstreit ganz abgesehen, der unter der Asche fortschwelte und zu fortgesetzten Verzögerungen führte — gewissen, ich will einmal sagen außerökonomischen Erwägungen unterlegen, die á la longue gesehen, weder dem Bund noch den Ländern noch den Flüchtlingen dienen werden.
Der Beweis: In dem Ausschuß des Bundestages für Arbeit erklärte der Herr Bundesarbeitsminister am 19. April, daß die Aufteilung der 300 Millionen für das Schwerpunkteprogramm vorgenommen werden müßte nach folgenden Gesichtspunkten: Erstens nach der Bevölkerungsdichte; zweitens nach dem Grade der Arbeitslosigkeit und drittens nach der Steuerkraft. Gewiß, meine Herren, das sind höchst relevante Gesichtspunkte, aber muß man nicht auch fragen nach der Standortgunst, die gerade für junge Industriepflanzungen entscheidend ist, nach der vorhandenen Kapazitätssituation, nach der Exportleistung der Betriebe, nach dem Modernisierungsbedarf? Das, Herr Bundesarbeitsminister, sind die ausschlaggebenden volkswirtschaftlichen Kriterien.
Wir sind durchaus für eine gesunde und volkswirtschaftlich vertretbare industrielle Aufschließung der Flüchtlingsländer. Wir glauben auch, daß
namentlich zahlreiche Leichtindustrien dort einen durchaus angemessenen Platz finden könnten. Nur soll man darüber nicht ganz die alten Industriezentren vergessen, die doch letzten Endes für die Resorption von neuen Arbeitskräften das stärkere Ansaugvermögen besitzen und die ihrer Bedeutung entsprechend mit den notwendigen Finanzierungserleichterungen auszustatten wären. Es liegt jedoch im Zuge unserer Wirtschaftspolitik, daß an den Grundstoffindustrien, daß an der Wasserwirtschaft, die Talsperren und Kläranlagen dringend benötigt, daß an den Trägern der Verkehrswirtschaft, den Energieversorgungsbetrieben usw. der aus Hortungsgewinnen und Knappheitsüberpreisen stammende Kapitalstrom weitgehend vor-übergeflossen ist, weshalb sie in ihrem Kapitalbedarf bisher arg vernachlässigt worden sind. Man kann aber eine Wirtschaft nur von unten her, vom Erdgeschoß aufbauen, nicht aber im Mansardenstübchen beginnen, so erfreulich ein wohnliches Mansardenstübchen ist.
Und noch ein anderes: Wenn man Notstandsgebiete herausschälen will, braucht man doch eine klare Definition dieses Begriffes, wobei ich darauf verweise — was schon mein Parteifreund Arndt heute morgen getan hat —, daß Notstandsgebiete sich keineswegs immer mit den Ländergrenzen decken. Auch in den sogenannten wohlhabenden Ländern gibt es böse ökonomische Sumpflöcher. Jetzt endlich ist unter Führung des Bundeswirtschaftsministeriums ein interministerieller Ausschuß eingesetzt worden, der die objektiven Kriterien festlegen soll, was ein Notstandsgebiet ist. Ist es nicht höchst charakteristisch für diese Regierung, daß man sich jetzt um die Herausarbeitung eines Begriffes müht, der längst hätte feststehen sollen, als man das Notstandsprogramm aus der Taufe hob!
— Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.
Nun, meine Damen und Herren, soll im Herbst ein zweites Arbeitsbeschaffungsprogramm auf gelegt werden, das diesmal den Namen, wie wir erfuhren, „Wirtschaftsförderungsprogramm" erhalten und unter Federführung des Bundeswirtschaftsministers laufen soll. Ist das nur ein anderes Wortetikett, oder betrifft die Umbenennung einen anderen Inhalt, einen Wandel des Systems? Wir fragen, ist das neue Programm kabinettsreif, und wird es im Herbst wirklich rechtzeitig gestartet werden können, wenn die gegenwärtige Witterungsgunst der Saisonflaute Platz macht? Hat man aus den trüben Erfahrungen gelernt? Hat man begriffen, daß man Zeit zum Anlaufen braucht? Sind die Bremsklötze aus dem Weg geräumt? Ist die Abwicklungsapparatur inzwischen gestrafft, geschmeidigt, vereinfacht worden? Vor allem aber: Hat man klare Zielvorstellungen von dem, was man tun will, oder glaubt man noch immer, daß man an einem beliebigen Tage X nur auf den Knopf zu drücken braucht und das ganze Programm automatisch abrollt? Hat man die Garantie, daß die Bank deutscher Länder, die gerne auf ihre souveräne Autonomie pocht und mit dem Hochmut des Fachmannes die Nase über die Politiker" rümpft, wirklich mitzieht? Liegen hier direkte Zusagen oder wieder nur weiche Versprechungen vor? Bekennt sich die Regierung einschließlich der Bundesbahn zur Pflicht aktiver Konjunkturführung und Wirtschaftsgestaltung?
Denn, meine Damen und Herren — das zum Schluß —, wir sind mit der Arbeitslosigkeit noch nicht über den Berg! Das bißchen saisonale Erleichterung gegenwärtig wird der Herbst wieder ein-
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kassieren. Noch hält die Arbeitslosigkeit bei rund 1,5 Millionen. Sie können sich selber sagen, was es bedeutet, wenn wir mit dieser Hypothek belastet in den Winter gehen, ohne eine planvolle und umfassende Vorsorge! Verlassen Sie sich bitte nicht auf die wundertätige Selbstheilungskraft Ihrer mysteriösen Marktautomatik! In unserer Lage verbieten sich Leichtfertigkeit und bloßer emotionaler Zweckoptimismus. Vertrauen verdienen allein vorausschauende Zielklarheit und konstruktive Energie.
Und deshalb, weil wir aus dem Nebel herauskommen möchten, haben wir einen Antrag vorgelegt, den ich dem Herrn Präsidenten überreichen darf und den ich am besten kurz einmal vorlese:
Der Bundestag wolle beschließen, die Bundesregierung zu beauftragen, dem Bundestag beschleunigt das in Aussicht gestellte zweite Arbeitsbeschaffungsprogramm vorzulegen und
dabei insbesondere folgende konkrete Angaben
zu machen über
erstens: den Umfang der in Aussicht genommenen Kreditmittel,
zweitens: den Ursprung der in Aussicht genommenen Kreditmittel und die Sicherheit ihrer Aufbringung,
drittens: die vorgesehene Verwendung der Kreditmittel sowie den Zeitpunkt des Einsatzes
— denn vier Monate Verzögerung haben uns damals
500 000 Arbeitslose gekostet —; und letztlich
die Organisation der Weiterleitung der Kreditmittel durch die beteiligten Behörden und Bankinstitute.
Wir werden auch dann noch nicht die Arbeitslosigkeit beseitigt haben, aber wir werden uns wenigstens auf einem überschaubaren Gelände bewegen.