Meine Damen und Herren! § 120 der Geschäftsordnung dieses Hauses gibt dem Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität das Recht, auch ohne Auftrag seitens des Plenums Dinge, welche die Geschäftsordnung und Geschäftsführung dieses Hauses betreffen, zu erörtern. Die Niederlegung des Mandats des Herrn Abgeordneten Müller von der KPD hat zu einer solchen Erörterung im Ausschuß Veranlassung gegeben. Ich lasse zunächst
den Tatbestand folgen gebe aber vorher einem
Wunsch des Herrn Abgeordneten Renner statt, der in der Sitzung des Ausschusses gebeten hat, bekanntzugeben, daß alles, was in der Presse als seine Ausführungen zu diesem Punkt mitgeteilt worden sei, nicht von ihm herrühre.
Der Tatbestand ist folgender: Der Herr Abgeordnete Müller hat in einem Brief, der das Datum des 6. Mai dieses Jahres trägt, das Mandat mit der Begründung niedergelegt, daß er dies aus persönlichen Gründen tue. Auf diese Mandatsniederlegung hin ist ordnungsgemäß dem Landeswahlleiter von Nordrhein-Westfalen Bescheid gegeben worden. Als dann Bedenken über die Rechtswirksamkeit dieser Mandatsniederlegung auftauchten, ist dem Landeswahlleiter in Nordrhein-Westfalen von diesen Bedenken Kenntnis gegeben worden. Er hatte inzwischen aber bereits seinerseits dem auf der Liste nachfolgenden Herrn Niebes, Düsseldorf, Kenntnis gegeben, ihm die Annahmeerklärung zur Unterzeichnung zugesandt und hat dann die Annahmeerklärung ohne Unterschrift zurückverlangt. Dieser Brief hat sich mit der Übersendung der Annahmeerklärung seitens des Herrn Niebes an den Landeswahlleiter von Nordrhein-Westfalen gekreuzt.
— Das wissen Sie besser als ich.
— Schweigen Sie jetzt einmal still!
Der Tatbestand im einzelnen ist folgender. Am 16. März war laut Tagungsliste der Abgeordnete Müller zuletzt in einer Plenarsitzung. Die Diäten für den Monat April sind abgeholt. Am 6. Mai ist ein Brief verfaßt, der keine Ortsbezeichnung über den Absendeort trägt, sondern nur beginnt: „den 6. Mai 1950", geschrieben mit Schreibmaschine, adressiert: „An den Präsidenten des Bundestags, zu Händen Herrn Dr. Erich Köhler, im Hause". Die Unterschrift ist mit Tinte geschrieben; sie ist
meines Erachtens echt. Es hat aber vorsorglich eine Prüfung vom gerichtlichen Sachverständigen der Universität Bonn stattgefunden, und dieser kommt in seinem Gutachten vom 24. Mai zu dem gleichen Ergebnis. Ich darf die Schlußfeststellungen dieses Gutachtens mit Genehmigung des Herrn Präsidenten vortragen:
1. Die fragliche Unterschrift zeigt keine Unterschiede gegenüber den Vergleichsunterschriften Müllers, sondern nur zahlreiche, zum Teil recht charakteristische Übereinstimmungen, die den Schluß rechtfertigen, daß Müller die fragliche Unterschrift selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschrieben hat.
2. Ob die fragliche Unterschrift zu nahe an der Schreibmaschinenschrift steht, —
ich darf einfügen: das letzte mit Schreibmaschine geschriebene Wort „Hochachtend" steht verhältnismäßig sehr dicht über der mit Tinte geschriebenen Unterschrift;
also der Sachverständige sagt:
Ob die fragliche Unterschrift zu nahe an der Schreibmaschinenschrift steht, wodurch die Priorität von Unterschrift und Schreibmaschinenschrift vielleicht in etwa geklärt werden könnte, kann mangels entsprechenden Vergleichsmaterials nicht entschieden werden.
3. Die fragliche Schreibmaschinenschrift ist nicht mit der Maschine, von der die Vergleichsschriften herrühren, geschrieben worden.
4. Eine Tinten-Altersbestimmung war in diesem Falle nicht möglich.
Dieser Brief vom 6. Mai wurde unter recht merkwürdigen Umständen in den Geschäftsgang gegeben. Herr Renner ging in Gegenwart des Herrn Kollegen Oskar Müller — wobei nicht festzustellen ist, ob die Gegenwart zufällig oder nicht zufällig war —
auf den Herrn Präsidenten Dr. Köhler — ich glaube,
hier im Restaurant — zu, übergab ihm diesen Brief
und hatte gleichzeitig eine vorbereitete Empfangsquittung zur Hand und bat ihn, diese Quittung zu
unterschreiben. Der Herr Präsident, liebenswürdig
wie immer, hat auch diesem Wunsch stattgegeben.
Als dann aber Herr Renner verlangte, daß neben
diese Unterschrift unter die Anerkennung des Empfangs dieses Briefes auch noch ein Stempel gesetzt
werden sollte, da verlor sogar der Herr Präsident
seine Liebenswürdigkeit und lehnte das strikte ab.
Es wurden dann wenige Stunden danach im Büro des Bundestags der Ausweis und die Fahrkarte des Abgeordneten Müller abgegeben.
— Bitte zu fragen: von Herrn Renner oder in dessen Auftrag?
— Gut, einverstanden! — Es wurde dann ferner im Ausschuß ermittelt, daß dieser Brief und die Beilagen des Briefes, d. h. also der Abgeordnetenausweis und die Fahrkarte — der Brief trägt, wie gesagt, keine Ortsbezeichnung, aber als Adressat den Zusatz „im Hause" —, nicht hier in Bonn geschrieben bzw. aufgegeben, sondern von dem Sekretariat der Kommunistischen Partei in Frankfurt am Main hierhergeschickt worden sind.
Diese Vorgänge waren am 11. Mai. Ich bitte, damit die Pressemeldungen zu vergleichen, zu welcher Zeit Herr Müller in der Ostzone verhaftet worden ist.
Nun ist die Frage aufzuwerfen, ob diese Mandatsniederlegung rechtswirksam ist oder nicht. Die Unterschrift ist nach meiner persönlichen Ansicht und auch nach der Auffassung des Gutachters zweifellos echt. Die zweite Frage ist die, ob sie als Blankettunterschrift etwa schon im September oder Oktober vorigen Jahres zu Beginn dieser Session oder ob sie nicht schon bei der Aufstellung des betreffenden Herrn als Kandidat gegeben worden ist.
—Das ist die Frage, sage ich; und nun kommen wir zur Beantwortung dieser Frage. Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb von Bedeutung, weil selbstverständlich eine Niederlegung eines Mandats, gestützt auf eine Monate vorher gegebene Blankettunterschrift, keine freiwillige Mandatsniederlegung mehr darstellen kann. Sie kann aber dann um so weniger freiwillig sein, auch wenn sie nicht als Blankett gegeben sein sollte, sondern vielleicht jetzt erst gegeben wäre, nämlich dann, wenn die näheren Umstände, die wir aus der Presse kennen, darauf schließen lassen, daß hier in irgendeiner Weise Gewalt angewendet worden ist.
Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität kommt auf Grund der verschiedensten Indizien zu dem Ergebnis, daß nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins, auf der Grundlage der praesumptio facti, die Vermutung dafür spricht, daß diese Mandatsniederlegung nicht freiwillig erfolgt ist und deshalb rechtsunwirksam ist.
Die Indizien, die hierfür sprechen, sind folgende. Wie Sie wissen, hat die KPD hier im Hause die Anträge gestellt, uns für die Immunität der kommunistischen Landtagsabgeordneten von Niedersachsen, der Herren Landwehr und Lehmann, unsererseits einzusetzen, weil sie von der Besatzungsmacht verfolgt oder verhaftet seien. Dieses Hohe Haus steht auf dem Standpunkt, daß es der Arbeitsfähigkeit und der Würde des Hauses entspricht, sich in solchen Fällen für die Immunität der Abgeordneten, auch für die Immunität der Abgeordneten eines deutschen Landtages, einzusetzen. Das Hohe Haus hat dies getan. Es wäre mit dieser Praxis des Hohen Hauses und mit den Anträgen der KPD, welche die Beschlußfassung in diesen Fällen ausgelöst haben und in einem Falle noch auslösen sollen, unvereinbar gewesen, wenn jetzt in der Ostzone Herr Müller zu einem Zeitpunkt verhaftet worden wäre, als er noch Mitglied des Deutschen Bundestages war. Die Vermutung spricht also dafür, daß diese Mandatsniederlegung, weil er verhaftet werden sollte, hier vorher einlaufen mußte. Der Geschäftsordnungsausschuß hat sich bei diesen Erwägungen auch an die vorgenannten Daten gehalten, die diesen Dingen zugrunde liegen.
Zweitens. Wir haben andererseits festzustellen, daß, wenn Mitglieder der KPD aus harmloseren Gründen in die Ostzone verreisen — ich erinnere z. B. an den Herrn Abgeordneten Reimann, der ja,
wenn wir ihn hier auch nicht sehen, Mitglied dieses Hohen Hauses ist —,
das Mandat nicht niedergelegt wird, daß also auch Herr Reimann sein Mandat nicht niedergelegt hat, obwohl er des öfteren in der Ostzone weilen dürfte. Wir haben auch festgestellt, daß jemand, der Interzonenpässe beantragt hat, um in die Ostzone zu verreisen, keineswegs vorher seinerseits das Mandat niedergelegt hätte.
Daraus ergibt sich, da die sogenannte Mandatsniederlegung des Herrn Müller mit dieser seiner Reise in die Ostzone, die zu seiner Verhaftung führte, zeitlich zusammenfällt, die Schlußfolgerung, daß sie ursächlich damit zusammenhängt, und auch die, daß diese Mandatsniederlegung nicht freiwillig erfolgt ist.
Schließlich sprechen noch folgende Umstände für die Deduktion des Ausschusses. Es ist bekannt, daß in der KPD eine geradezu eiserne Disziplin herrscht, daß die Abgeordneten unter einem ganz großen Zwang stehen,
daß sie nicht Herr ihrer Entschlüsse und ihrer Handlungen sind.
—Den Beweis will ich Ihnen bringen. Wir haben festgestellt, daß sämtliche für die Mitglieder der KPD-Fraktion hier im Hause eingehende Post nicht von diesen Herren persönlich, sondern stets geschlossen abgeholt wird.
Wir haben ferner festgestellt, daß die Aufwandsentschädigungen und die Diäten der KPD-Abgeordneten dieses Hauses stets geschlossen durch eine Person, nämlich durch den Herrn Abgeordneten Renner, mit Vollmacht abgeholt werden.
Es ist aus früheren privaten Äußerungen von Mitgliedern der KPD bekannt, daß diese ihre Aufwandsentschädigungen und Diäten nicht voll ausgezahlt bekommen,
sondern daß diese nur in Form eines Gehaltes, also vermutlich nur teilweise, ausgezahlt werden.
Vor allen Dingen aber haben die Herren — und das haben wir im Ausschuß auch erwogen — ja nicht das Recht einer eigenen Meinung.
Wir haben in den letzten Monaten wiederholt Anfälle von besonderer Bußfertigkeit auf seiten der Herren der KPD feststellen müssen,
wobei die genannten Herren öffentlich Abbitte taten, der eine deshalb, weil er zu objektiv gewesen sei, der andere deshalb, weil er nicht linientreu gewesen sei, und der dritte bereute, daß er Irrtümer begangen habe,
d. h. Irrtümer, die nicht etwa menschlichen Ursprungs sind, wie sie jedem passieren können, son-
dern Irrtümer, die nachträglich zu Irrtümern kommandiert wurden, sodaß man bei allen Erklärungen dieser Herren niemals weiß, ob es sich um Irrtümer von gestern oder um Irrtümer von morgen handelt!
Auf Grund all dieser Dinge und vor allen Dingen in Verbindung mit der Tatsache des gleichzeitigen Zusammentreffens der Mandatsniederlegung und der Verhaftung in der Ostzone und in Verbindung mit dem Zwang, der auf den Mitgliedern der KPD ruht — ich darf einfügen, daß wir im Ausschuß auch der Auffassung Ausdruck gegeben haben, daß man dieses Verhalten der genannten Herren verschieden beurteilen kann; die menschlich wohlwollendste Feststellung ist die eines tiefen Bedauerns, daß in einem Staat, der die Freiheit kennt, von dieser Freiheit kein Gebrauch gemacht wird —,
sind wir daher zu dem Ergebnis gekommen, festzustellen, daß nach dem Beweis des ersten Anscheins die Vermutung dafür spricht, daß die Mandatsniederlegung nicht freiwillig erfolgt ist und daß sie demgemäß vermutlich rechtsunwirksam ist.
Jede Vermutung kann durch den Gegenbeweis entkräftet werden. Es steht den Herren der KPD frei, diese Vermutung durch den Gegenbeweis zu entkräften.
Der Antrag, den der Geschäftsordnungsausschuß diesem Hohen Hause vorlegt, sieht deshalb zu Punkt 1 die Möglichkeit vor, diesen Gegenbeweis zu eröffnen. Der Präsident des Bundestages wird darin ersucht, alle Maßnahmen zu treffen, die es dem Abgeordneten Kurt Müller möglich machen, in Freiheit eine Erklärung von Behörden innerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland oder der Westsektoren von Berlin darüber abzugeben, ob er freiwillig die Mandatsniederlegung erklärt hat und zu dieser freiwilligen Erklärung heute noch steht.
Zum zweiten: dieses Hohe Haus hat nach Art. 41 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes zu prüfen, ob die Niederlegung eines Mandates, überhaupt die Beendigung eines Mandates rechtsgültig eingetreten ist oder nicht. Deshalb wird zu Punkt 2 des Antrages die Beschlußfassung dieses Hauses dafür erbeten, daß es unter den gegebenen Umständen eine rechtswirksame Mandatsniederlegung seitens des Herrn Abgeordneten Müller nicht als vorliegend ansieht, so daß er also noch, wenn dieser Beschluß gefaßt wird, als Abgeordneter anzuerkennen wäre.
Der Punkt 3 des Antrages zieht daraus die Schlußfolgerung. Wenn dem Antrag zu 2 stattgegeben wird, wenn der Herr Abgeordnete Kurt Müller eben nach unserer Auffassung noch Abgeordneter ist, dann ist seine Immunität nicht nur verletzt, sondern es liegt eine strafbare Handlung, nämlich Hinderung eines Abgeordneten an der Ausübung seines Mandats vor.
Nach dem derzeit noch geltenden Besatzungsstatut sind die Herren Oberkommissare in auswärtigen Angelegenheiten die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie nicht ihrerseits in einzelnen Angelegenheiten diese Dinge der deutschen Bundesregierung selbst überlassen haben. Unter diesen Umständen geht der Antrag drittens dahin, die Oberkommissare zu bitten, ihrerseits alles zu tun, was erforderlich ist,
um die Immunität des Abgeordneten Müller zu sichern und seine Freilassung herbeizuführen.
Ich empfehle Ihnen die Annahme dieses Antrags.