Rede von
Maria
Niggemeyer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Gestatten Sie mir zunächst einen Hinweis darauf, daß ich und sicher nicht ich allein, sondern zumindest alle Mitglieder des Jugendausschusses es an sich bedauert haben, daß dieser so wichtige Punkt erst am Ende unserer Tagesordnung behandelt wird. Es ist eine Angelegenheit, die uns allen, die wir in dieser Arbeit stehen, ans Herz greift; wie sehr, haben Sie ja an meinem Herrn Vorredner erlebt. Sie werden verstehen, daß ich heute nicht nur unter dem Eindruck der Materie spreche sondern auch unter dem Eindruck dessen, wie sehr ein Mensch, der sich mitten in die Jugendarbeit hineingestellt hat und vor der Öffentlichkeit und vor dem Parlament für die Jugend werben will, davon innerlich so betroffen wird, daß er zusammenbricht.
Ich bedauere es also, daß dieser wichtige Punkt als letzter Punkt der Tagesordnung des letzten Tages einer arbeitsreichen Woche behandelt wird, und sicher bedaure nicht ich allein das. Gewiß entschädigt die Tatsache etwas, daß etwa zwei Stunden Redezeit für die Aussprache zur Verfügung stehen. Ich will auch nicht etwa dem Rat der Ältesten, dem Rat der Weisen, der diese Entscheidung getroffen hat, das Generationenproblem, wie es gestern durch das Haus gegeistert ist, nahebringen. Ich käme da ja nicht in den Verdacht, daß ich es anschneiden wollte, weil ich ja nach Jahren gerechnet dem Rat der Alten und Weisen selber nahestehen könnte. Ich möchte aber doch in dieser Tatsache, daß wir dieses wichtige Problem am Schlusse einer arbeitsreichen Woche behandeln, kein böses Omen dafür sehen, daß es etwa auch bei der weiteren Behandlung und Bearbeitung an letzter Stelle stehen wird.
Der Herr Berichterstatter unseres Ausschusses hat mit vielen Zahlen die materielle Bedeutung dieses Problems umrissen. Unser Vorredner hat aus tiefstem Herzen heraus von der Not der Jugend gesprochen. Ich möchte dartun, daß es ein Problem ist, das von der Regierungsseite her gesehen alle Ministerien angeht, das vom Innenministerium her in das Flüchtlingsministerium, Arbeitsministerium. und, leider nicht zuletzt, in das Finanzministerium hinein seine Ausstrahlungen haben muß. Ich freue mich, daß gleich zu Beginn der Debatte der Vertreter des Flüchtlingsministeriums schon zu dem Problem Stellung genommen hat. Aber über all dem, über das Wirtschaftliche, das Finanzpolitische, das Arbeitsrechtliche hinaus, steht die Not unserer Jugend, steht unserem Gesamtvolk gegenüber die Frage, wie wir diese Not der Jugend lindern wollen.
Wir ringen hier oft um Entschlüsse und um Erkenntnisse, wenn es um rein materielle Dinge und C Gesetzesmaterien geht. Hier, wo es um unsere Jugend, um die Zukunft unseres Volkes geht, sollte — so scheint mir — bei allen Stellen noch ernster, noch verantwortungsvoller geprüft werden, wie geholfen werden kann. im Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge hat sich Einmütigkeit in der Erkenntnis der Not ergeben und eine Einmütigkeit darüber, welchen Weg wir beschreiten wollten. Wir waren der Ansicht, daß wir bei Meisterung dieser Notlage nicht allein und nicht maßgebend den Staat einschalten wollten. Wir ließen uns von der Erkenntnis leiten und wir haben uns auch darüber gefreut, daß die Notlage der Jugend draußen im Volk von den verschiedensten Organisationen, von den Ländern, von der Jugend selbst erkannt worden ist und schon Wege der Abhilfe beschritten worden sind. Ich nenne den Deutschen Bundesring und das Jugendaufbauwerk.
Ich finde, unsere Jugend verdient es, wenn an dieser Stelle einmal gesagt wird, daß sie die ihr innewohnende Aufbaukraft schon zu erkennen gegeben hat. Wir waren im Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge der Ansicht, daß alle Ansatzpunkte der Hilfe, die schon gegeben sind, daß alle Träger der Hilfe, die schon am Beginn des Aufbaues stehen — oft schon mit guten Erfolgen —, jetzt durch den Bund zusammengefaßt werden müssen, um eine einheitliche Lenkung der Hilfe, einen einheitlichen Lastenausgleich der Länder untereinander zu erreichen und so einen Strom der Hilfe für die Jugend zu schaffen, bei dem wir die Gewähr dafür haben, daß auch wirklich Abhilfe geschaffen wird.
Uns ist schon etwas über die Ursache dieser Not gesagt worden. Der Krieg mit seinem Zusammen-
bruch und seinen furchtbaren Folgen sei schuld daran, daß wir auf drei verschiedenen Gebieten eine so große Not sehen: bei den arbeitslosen Jugendlichen, bei den heimatlosen Jugendlichen und bei den berufslosen Jugendlichen. Bei Lösung dieser Fragen kann es nicht nur um materielle Hilfe gehen. Hier muß der Personenkreis derer gesehen werden, um die es sich handelt, die Jugend, und zwar die Jugend in einem weiteren Ausmaß, als die Juristen diesen Begriff umfassen, unsere Jugend, die in nicht ferner Zeit unser Deutschland darstellen wird. An uns ist es, wie sie es darstellen wird.
Ich brauche die Zahlen der Betroffenen nicht zu nennen. Es ist uns eingehend in der Berichterstattung gesagt worden, was alles unter den Begriff der arbeitslosen, der heimatlosen, der berufslosen Jugend fällt. Ich unterstrich schon, daß es nicht so sei, daß die Not nicht schon im Volk gesehen werde.
Der Jugendfürsorgeausschuß hat in seinen Arbeiten über die Lösung dieser Frage der berufslosen, arbeitslosen und heimatlosen Jugend geschlossen seine Auffassung dahin vertreten, daß alle vom Bund zu ergreifenden Maßnahmen im Zusammenhang mit den Gruppen zu erfolgen haben, die schon in dieser Richtung gearbeitet haben.
Lassen Sie mich jetzt einiges Grundsätzliches sagen, wie meine Freunde und ich die Maßnahmen geleitet sehen wollen, die über den Rahmen der Hilfe am einzelnen hinaus getan werden. Es gilt da, die Verantwortung des einzelnen zu wecken, die Verantwortung der freien Verbände und der Jugendverbände. Die Behörden sollen nur Hilfestellung zu der Förderung leisten. Alles, was nach dieser Richtung hin nach Maßnahmen des Staates und nur des Staates aussieht, wird im Volke auf den heftigsten Widerspruch stoßen. Je mehr die Behörde bei der Durchführung der Maßnahmen zurücktritt, um so mehr werden in aller Öffentlichkeit die Befürchtungen überwunden werden können, als bahnten sich hier wieder Wege einer Staatserziehung an. Also keine Staatserziehung! Auch eine Vermassung nach irgendeiner Seite hin muß bei der Durchführung der Maßnahmen vermieden werden. Die Massenarbeitslosigkeit der Jugend darf nicht zu Massenmaßnahmen führen. Darum ist bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden, von jeder Vermassung, jeder Uniformierung Abstand zu nehmen. Die Freiwilligkeit muß gewahrt bleiben. Die Familie muß im Vordergrund, im Blickfeld aller Maßnahmen stehen. Sie soll gestützt werden, sie soll befähigt werden, die vorberufliche Wartezeit ihrer Söhne und Töchter selbst fruchtbringend zu gestalten.
Alle Maßnahmen zur Behebung der Berufsnot müssen darum familienähnlichen Charakter tragen. Also Vermeidung aller Formen, die mit Kasernen und Lagern zusammenhängen! Alle Maßnahmen müssen als tragendes Fundament die echte Arbeitserziehung haben, Erziehung zum Arbeitsethos hin, zum Dienstgedanken, zur Arbeitsfreudigkeit. Eine solche Arbeitserziehung bietet dann die Gelegenheit, die große Zahl der Jugendlichen, für die eine Berufsausbildung im engen Sinne des Wortes nicht in Betracht kommt, aus dem Dasein und dem Bildungstiefstand des ungelernten Arbeiters, des Hilfsarbeiters herauszunehmen. Ein einseitiges Ausleseverfahren muß vermieden werden. Nicht nur der besonders befähigte und talentierte Jugendliche, sondern jeder ausbildungsfähige Jugendliche hat Anrecht auf Unterstützung.
Die Mittel, die vom Bund und von den Ländern zur Behebung der Berufsnot eingesetzt werden, sind sparsam zu verwerten, möglichst nutzbringend zu verwenden. Dabei ist darauf zu achten, daß die Mittelaufwendungen für den einzelnen Jugendlichen nicht in ein Mißverhältnis zu den Unterstützungssätzen kommen dürfen, die den Familien gewahrt werden.
Es schien mir notwendig, diese unsere grundsätzliche Einstellung zu den jugendfördernden Maßnahmen, sofern es sich um Einrichtungen handelt, die über die Hilfe am einzelnen hinausgehen, kurz festzulegen.
Die Probleme der vom Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge Ihnen zur Annahme empfohlenen Punkte bieten an sich viel Stoff zur Diskussion und wären auch wert, hier erörtert zu werden. Aber die Zeit reicht dazu nicht aus. So gestatten Sie mir, aus diesen Punkten einzelne herauszugreifen, die ich für besonders wertvoll und wichtig halte. Ober die anderen Punkte nicht sprechen heißt nicht, ihren Wert verkennen. Das sei all den Vertretern der Einzelgruppen der Wirtschaft, des Handels, des Gewerbes gesagt, die vielleicht hier nicht angesprochen werden.
Aber ich unterstreiche doch, daß mir etwas notwendig zu sein scheint im Hinblick auf die Ergreifung geeigneter Maßnahmen. Es scheint mir notwendig, hier gerade auf die Probleme der Landwirtschaft einzugehen, sie in den Vordergrund zu stellen, da sie ja der Sektor ist, der für sein Gesamtleben dringend der Zuführung von Arbeitskräften bedarf. Man spricht von mehreren Hunderttausend, und so scheint sie auch der Sektor zu sein, der geeignet wäre, Jugendliche in größerem Maße aufzunehmen. Wir sind uns aber darüber klar, daß diese Frage und die Frage, die Landwirtschaft bereitwilliger zu machen und in den Stand zu setzen, mehr als bisher Jugendliche aufzunehmen, nicht allein von irgendwelchen Steuerbegünstigungen her gelöst werden kann, auch nicht durch das Freimachen von Wohnraum, der von werksfremden Einwohnern bewohnt ist, sondern es muß eine Regelung unter den Tarifpartnern hinzukommen, die eine Grundlage der Existenzsicherheit für die Landarbeiter und die landwirtschaftlichen Berufe schafft. Hinzukommen muß die fruchtbringende Erziehungsarbeit der ländlichen Berufsverbände zum Landleben hin. Hinzukommen muß nicht nur ein zahlenmäßig festgelegter Anteil der nicht selbständigen Vertreter der Landwirtschaft in den berufsständischen Organisationen, sondern das Verschmelzen der einzelnen Ringe zu einer echten Gemeinschaft der Landwirtschaft. Der Weg dazu ist beschritten; ich weiß es. Das Ziel ist noch fern. Es ist beglückend, daß es auf diesem Wege wieder die Jugend war, die für die Lösung dieser Frage am aufgeschlossensten ist und die da vielleicht die Gewähr dafür bietet, daß sie unentwegt und zielsicher den Weg verfolgt. Erst dann, wenn diese Aufgeschlossenheit, deren Ansatzpunkte wir in der Landjugend sehen, zum Ziel geführt hat, ist nicht nur Landflucht beseitigt, sondern dann ist der Zug zum Lande hin gewährleistet.
Diesem Fernziel stehen andere wichtige Nahziele zur Seite. Als solches Nahziel, das unterstrichen zu werden verdient, ist der Punkt der Vorschläge des Ausschusses zu sehen, der sich damit befaßt, daß alle schon im Bunde vorhandenen Lehrlingswerkstätten in ihrer vollen Kapazität ausgenutzt werden. Hier lassen Sie mich Ihr Augenmerk, das Augenmerk der Öffentlichkeit und das Augenmerk unserer Regierungsvertretung
auf die Lehrlingswerkstätten hinlenken, die wir in
unseren großen Eisenbahnwerkstätten haben. Lassen Sie mich kurz von dem Zustand der Lehrlingswerkstätten Paderborn und Witten sprechen, von den Werkstätten, zu denen die Belegschaft in einem Treueverhältnis steht, das schon Generationen zurückliegt, und deren Belegschaft in den letzten Jahren weithin Verständnis Air die Notwendigkeiten gehabt hat, etwa Kurztagearbeit hinzunehmen, die aber kein Verständnis dafür hat, daß in der Öffentlichkeit von allen Seiten um Lehrstellen für unsere Jugendlichen geworben wird, wenn sie am eigenen Wohnorte erleben muß, daß die Lehrlingswerkstätten in ihrer Kapazität nicht ausgenutzt werden.
Ich möchte auf das Treueverhältnis der Generationen zu diesen Werkstätten hinweisen. Glauben Sie, es hat mich erschüttert, als mir bei einem Besuch der Eisenbahnwerkstätte Paderborn die Belegschaftsmitglieder erzählten: Wenn bei uns ein Junge geboren wird, dann tragen wir ihn zum Fenster hin, das den Blick zum hohen Schornstein der Werkstätte hat, und sagen: Sieh ihn dir an, dort gehörst du hin.
Treue um Treue können diese Menschen erwarten. Herren wir: Nicht nur der Minister fur Verkehr, sondern auch der Finanzminister und der Minister fur Flüchtlingsfragen mögen es sich alle überlegen, ob hier nicht doch die Mittel bereitgestellt werden können, um diese Kapazitaten auszunutzen.
Ein weiteres Nahziel, zu dem ich sprechen wollte, ist die Frage der Auffanglager für heimatlose Jugendliche. Wir haben in ausgedehnten Diskussionen darüber gesprochen und sind einmütig der Ansicht, auch meine Freunde, daß es hier um ein Problem geht, das nicht von einem Lande allein getragen werden kann, daß hier nicht einzelne Länder die Last des Krieges, die Last dieser Not allein darum tragen müssen, weil sie an den Grenzen der Ostzone liegen. Die Erkenntnis ist notwendig, daß die Frage der Auffanglager für Jugendliche und der Lager überhaupt eine Frage des gesamtdeutschen Landes ist.
Zum Schluß lassen Sie mich als Frau und weil das Problem es bei seiner Wichtigkeit erfordert, mit besonderer Nachdrücklichkeit auf die Not der weiblichen Jugend hinweisen. Diese Frage ist in Punkt 8 unserer Empfehlungen angeschnitten, aber sie ist nur angeschnitten. Gewiß ist viel getan, wenn es uns durch fördernde Maßnahmen gelingt, unsere weibliche Jugend wieder dem Hausfrauenberuf zuzuführen. Wir schaffen damit die Grundlage zu ihrer ihr von der Natur gegebenen Aufgabe, Hausfrau und Mutter zu sein. Aber das in Punkt 8 angegebene Mittel ist auch hier nur eines der Mittel. Wie schon bei der Frage der Landwirtschaft angeführt, bedarf es auch hier des Gehens vieler Wege, um zum Endziele zu kommen, nämlich zum freudigen Bejahen der Arbeit im Haushalt durch die weibliche Jugend. Wege des Umerziehens auf beiden Seiten, Forträumen sozialer Spannungen, Schaffung und Sicherung von Aufstiegsmöglichkeiten!
Aber darüber hinaus ist der Berufsnot der Mädchen Rechnung zu tragen. Erschütternde Zahlen gab uns unser Berichterstatter. Wenn im Durchschnitt für je sechs Mädchen nur ein Ausbildungsplatz zur Verfügung steht, dann beweist das, daß alle Anstrengungen gemacht werden müssen, um die weibliche Jugend, die künftigen Mütter und Hüterinnen der Familie, vor sozialer Verelendung und Verwahrlosung zu schützen. Die Wirtschaft möge bereitwilliger als bisher Ausbildungs- und Arbeitsstellen für Mädchen zur Verfügung stellen, vor allem auch in solchen für weiblichen Nachwuchs geeigneten Berufszweigen, die bisher vorwiegend von Jungen beschickt waren. Die Verwaltung des Bundes, der Länder, der Kommunen und öffentlich-rechtlichen Körperschaften möge bei der Einschaltung weiblicher Kräfte die berechtigten Forderungen der Heimkehrer, der Körperbeschädigten und der Flüchtlinge mit den berechtigten Ansprüchen der weiblichen Jugend in eine gesunde Relation bringen. Jedenfalls darf es nicht so sein, daß, wie es die Praxis so oft zeigt, in manchen Verwaltungen um des Mannes wegen, der als erster ein Anrecht auf Arbeit habe, ein langsames Hinausdrängen der weiblichen Kräfte erfolgt. Auch hier müssen Aufstiegsmöglichkeiten der weiblichen Jugend gegeben werden, auch die Möglichkeit des Aufrückens in Beamtenstellen, wenn die Vorbedingungen dazu gegeben sind.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich habe bewußt nicht auf die Schaden hingewiesen, die unsere arbeitslose, berufslose und heimatlose Jugend jetzt scnon durch Verwahrlosung erlitten hat. Diese Krankheitserscheinungen sind auf einem anderen Gebiet zu beseitigen. Aber lassen Sie mich Ihnen warnend sagen: Verschließen wir uns, verschließt sich unsere Regierung der Tatsache, der 'Wichtigkeit dieses Problems dann werden wir in nicht ganz ferner Zeit die
Mittel, die wir hier sparen, im Etat unserer Geschlechtskrankenfürsorge, im Etat der Tuberkulosefürsorge und im Etat unserer Gefängnisse wiederfinden.
Unsere Freunde, die Christlich-Demokratische Union und die CSU, schließen sich dem im Ausschußantrag niedergelegten Standpunkt aus tiefstem Herzen an.