Rede von
Gerhard
Ribbeheger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge hat sich in Zusammenarbeit mit den Vertretern der zuständigen Bundesministerien in mehreren Sitzungen mit dem Antrag der SPD-Fraktion Drucksache Nr. 355 betreffend Sofortmaßnahmen zur Behebung der Not der arbeits-, berufs- und heimatlosen Jugend befaßt. Schon die Überweisung dieses Antrags an diesen Ausschuß durch den Bundestag macht deutlich, daß hier neben dem sozialpolitischen und sozialrechtlichen auch ein soizalpädagogisches Problem in den Vordergrund tritt, das zwar oft mit erwähnt, aber nicht in seinem ganzen Umfang, nicht in seiner elementaren Bedeutung und auch nicht in seiner Tragik gesehen und genügend herausgestellt ist.
Die Ausschußmitglieder haben deshalb den Antrag der SPD-Fraktion in dem Sinne behandelt, zunächst einmal über die trostlose Lage der arbeits-, berufs- und heimatlosen Jugend ein möglichst klares und umfassendes Bild zu gewinnen. Es wurde deshalb versucht, erstens im Verein mit dem Jugendaufbauwerk und den jeweils zuständigen Länderministerien einschließlich des Magistrats von Groß-Berlin die arbeits-, berufs- und heimatlose Jugend zahlenmäßig zu erfassen; zweitens die wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen und die Anstrengungen der einzelnen Länder zur Behebung dieser Not kennenzulernen; drittens bundeseinheitliche Möglichkeiten festzustellen und dem Bundestag die notwendigen Schritte und Maßnahmen vorzuschlagen.
Es kann gesagt werden, daß sich rein zahlenmäßig folgendes Bild ergibt. Am Stichtag, dem 28. Februar 1950, zählte man im Bundesgebiet einschließlich Berlin rund eine halbe Million Jugendlicher Arbeitsloser im Alter bis zu 25 Jahren. Davon sind unter 18 Jahren 23 355 männliche Arbeitslose und 32 517 weibliche Arbeitslose, im Alter von 18 bis 25 Jahren 290 931 männliche und 125 318 weibliche Arbeitslose. Das entspricht bei der männlichen arbeitslosen Jugend unter 18 Jahren einem Prozentsatz von 1,6 % aller Arbeitslosen, bei den weiblichen Arbeitslosen einem Satz von 6,5 % aller Arbeitslosen; bei der männlichen arbeitslosen Jugend im Alter von 18 bis 25 Jahren einem Satz von 19,7 %, bei den weiblichen Arbeitslosen einem solchen von 25 % aller Arbeitslosen.
Von der Gesamtarbeitslosenzahl sind Heimatvertriebene unter 18 Jahren 7630 männliche gleich 1,5 % aller Vertriebenen und 10 716 gleich 6,5 % weibliche. In der Altersstufe von 18 bis 25 Jahren beträgt die Zahl der männlichen Arbeitslosen 77 988 gleich 16 % aller Heimatvertriebenen, die Zahl der weiblichen 40 000 gleich 24,3 % aller Heimatvertriebenen.
Hinzu kommt noch, daß zu Ostern ungefähr 500 000 Schulentlassungen stattgefunden haben. Berlin zählt rund 23 000 Schulentlassungen. Wenn man bedenkt, daß nur 40 bis 50 % dieser 500 000 Schulentlassenen in Arbeit und Beruf vermittelt werden können, so kann man daraus ersehen, daß die Arbeitslosenziffer infolge der hohen Zahl der Schulentlassungen noch gesteigert wird. Da aber in der amerikanisch besetzten Zone und in der französisch besetzten Zone Mitte dieses Jahres noch Schulentlassungen stattfinden werden, die man beiläufig auf 200 000 bis 250 000 beziffern könnte, ergibt sich das Bild, daß die Zahl der Arbeitslosen unter den Jugendlichen durch diese eminent hohe Zahl der Schulentlassungen noch weiter steigen wird. Diese relativ vielen Schulentlassungen sind dadurch verursacht, daß wir bis zum Jahre 1939 relativ starke Geburtenjahrgänge zu verzeichnen haben, so daß die Zahl der Schulentlassungen bis 1953 andauernd hoch sein wird.
Ich möchte noch erwähnen, daß sich außer diesen Gruppen in den Westzonen zur Zeit noch zirka 20 000 nicht erfaßbare illegale Jugendliche aufhalten. Des weiteren strömen laufend Jugendliche aus der Ostzone in die Westzone ein, deren Zahl nie genau ermittelt werden kann. Die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern sind als ausgesprochene Flüchtlingsländer naturgemäß am stärksten betroffen.
Ich möchte hier nicht vergessen, darauf hinzuweisen, daß die große Berufsnot gerade der weiblichen Jugend im Alter von unter 18 Jahren ins Auge fällt, wogegen die Zahl der männlichen Arbeitslosen im Alter von 18 bis 25 Jahren bei weitem überwiegt. Ich möchte Ihnen einige Zahlenbeispiele dazu angeben. In Schleswig-Holstein zählt man 3911 männliche Arbeitslose und 5225 weibliche, in Niedersachsen 3689 männliche
und 4263 weibliche Arbeitslose, in Nordrhein-Westfalen 1914 männliche und 3425 weibliche, in Bremen 305 männliche und 334 weibliche, in Württemberg-Baden 1159 männliche und 2598 weibliche, in Bayern 6383 männliche und 10 575 weibliche Arbeitslose. Wie ich schon betonte, übersteigt die Zahl der männlichen Arbeitslosen im Alter von 18 bis zu 25 Jahren die Zahl der weiblichen Arbeitslosen. Dafür nur einige Beispiele: Schleswig-Holstein zählt an männlichen Arbeitslosen im Alter von 18 bis 25 Jahren 29 598, an weiblichen Arbeitslosen 16 854, Niedersachsen 61 543 männliche und 23 7411 weibliche Arbeitslose, Nordrhein-Westfalen 37 816 männliche und 17 546 weibliche, Bayern 82 270 männliche und 37 517 weibliche, Baden 3 336 männliche und 839 weibliche Arbeitslose.
Die Bundesländer haben versucht, durch Entfaltung oder Förderung der staatlichen oder privaten Initiative dieser Not mehr oder weniger zu steuern. Man hat Jugendwohnheime, teils mit Familiencharakter, sowie Jugendlehrwerkstätten errichtet. Sie kennen den Jugenddienst und das Jugendaufbauwerk aus den einzelnen Ländern. Es muß hier einmal ganz deutlich gesagt werden, daß neben dieser staatlichen und privaten Hilfe sich insbesondere die freien Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, Persönlichkeiten und karitativen Verbände des Auslandes eingesetzt haben, um diese ungeheuere Not zu lindern. Trotz alledem, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es durch diese Taten — im großen und ganzen wertvollste Hilfsmaßnahmen — allein aber nicht möglich, ein Problem von diesem Ausmaß zu lösen.
Daher — und damit komme ich zu Punkt 3 — hat sich der Ausschuß für Jugendfürsorge und Jugendpflege veranlaßt gesehen, von der Bundesebene her das Problem zu sehen und dementsprechende Maßnahmen dem Bundestag vorzuschlagen. Allen Mitgliedern des Ausschusses stand dabei deutlich vor Augen, daß eine solche Not der arbeits-, berufs- und heimatlosen Jugend allergrößte Beachtung und den willensstarken Einsatz aller erfordert. Jugend ohne Heimat, ohne Beruf und ohne Arbeit ist für unser Volk ein Alarmzeichen und für die verantwortlichen Politiker ein Signal zum Handeln, nicht nur um Gefahren, Nachteile und Schäden nach der politischen, wirtschaft-
lichen, kulturellen, soziologischen und volkswirtschaftlichen Seite hin zu beseitigen und zu vermeiden, sondern vielmehr aus der Verantwortung heraus, ein gesundes, lebens- und existenzfähiges Volk zu erhalten.
Die Vorschläge des Ausschusses gehen dahin, im Zusammenwirken aller verantwortlichen Stellen unseres Bundesgebietes Lehrstellen und Fortbildungsmöglichkeiten zu gewinnen und neu zu schaffen, Wohnraum und Jugendwohnheime zu errichten, wobei besonderes Augenmerk auf die Auffanglager zu richten ist.
Des weiteren hat sich der Jugendfürsorgeausschuß für die baldige Abfassung eines sozialen Arbeitsschutzrechtes für den jungen Menschen eingesetzt.
Der Ausschuß ist nach langer Beratung einstimmig zu folgendem Ergebnis gekommen. Er trägt dem Bundestag den einstimmig angenommenen Antrag zur Beschlußfassung vor, der in Drucksache Nr. 751 niedergelegt ist:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird ersucht, in Zusammenarbeit mit
den Landesregierungen,
den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege,
dem Jugendaufbauwerk,
dem Deutschen Bundesjugendring,
den Spitzenverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie
dem Zentralverband der vertriebenen Deutschen
nach den im folgenden zusammengestellten Gesichtspunkten wirksame Maßnahmen zu ergreifen bzw. anzuregen, um die Not der arbeits-, berufs- und heimatlosen Jugend zu beheben:
1. Gewinnung und Schaffung von Lehrstellen mit anerkanntem Lehrvertrag in Handel, Handwerk, Industrie, Landwirtschaft, öffentlichen Dienststellen und öffentlich-rechtlichen Körperschaften durch
a) steuerliche Maßnahmen,
b) Zuteilung verbilligter Kredite für zusätzliche einwandfreie Lehrlingsausbildung,
c) Bevorzugung solcher Betriebe bei der Vergebung von Aufträgen der öffentlichen Hand,
d) Freimachung des von betriebsfremden Personen belegten Werkwohnraumes,
e) bundeseinheitliche, den wirtschaftlichen und sozialen Erfordernissen Rechnung tragende Regelung des Arbeitsschutzrechts für Jugendliche,
f) Veranlassung umfangreicher Werbemaßnahmen,
g) volle Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Ausbildungsmöglichkeiten in der gesamten öffentlichen Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der weiblichen Jugend.
2. Förderung und Errichtung von überbetrieblichen Lehr- und Fortbildungswerkstätten.
3. Förderung und Errichtung von fachlichen Umschulungsbetrieben und Lehrwerkstätten auf privater und öffentlicher Grundlage.
4. Laufender übergebietlicher Ausgleich von Lehrlingen und jugendlichen Arbeitskräften.
5. Eörderung und Errichtung von Auffanglagern aus Bundesmitteln.
6. Bau von Lehrlings- und Jugendwohnheimen sowie finanzielle Sicherung der Unterhaltung dieser Heime.
7. Einführung eines 9. Volksschuljahres oder eines zusätzlichen Schuljahres für Berufsausbildung.
8. Ausweitung des hauswirtschaftlichen Lehrverhältnisse mit Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten.
Ich möchte namens des Ausschusses für Fragen der Jugendfürsorge und Jugendpflege das Hohe Haus bitten, diesem einstimmig eingebrachten Antrag des Ausschusses seine Zustimmung nicht zu versagen, und der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Bundestag diesen Antrag ebenso einstimmig annehmen wird.