Rede von
Friedrich Wilhelm
Wagner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident, ich werde auf Zwischenrufe, die mich sturen, eingehen. Sie mussen sich dann an den wenden, der diese Störung veranlaßt, und nicht an den, der darauf reagiert.
— Seien Sie nur nicht so nervös! Sie werden schon sehen, was noch kommt. Sie werden noch viel mehr Grund zur Nervosität bekommen.
Meine Damen und Herren, es dreht sich hier um einen Antrag aux Änderung der Verfassung. Die linse der Unterschriften der Mitglieder des Parlamentarischen Rats unter das Grundgesetz ist kaum trocken, und schon kommt man mit Antragen auf Änderung der Verfassung.
— Da haben Sie also die Berechtigung meiner Behauptung, daß ihr Antrag lauten sollte: Das Grundgesetz ist abgeschafft.
Es ist nur gut, daß diese Partei nicht groß ist, sonst gabe es keinen Parlamentarismus mehr.
- Wenn man von Verfassung auf Ewigkeit spricht,
so mochte ich in diesem Zusammenhang sagen:
diese Verfassung war genau neun Monate alt, als
der Antrag von der Bayernpartei gekommen ist.
Schließlich dürfen Sie doch nicht vergessen, daß
in der Präambel zu lesen ist, daß dieses Grundgesetz für eine Übergangszeit gilt und daß der
letzte Artikel dieser Verfassung sagt, daß sie gelten solle, bis das deutsche Volk in einer freien unabhängigen Wahl zusammentritt und für das gesamte einige Deutschland eine Verfassung schafft.
Man spricht doch jetzt schon von freien Wahlen in
ganz Deutschland und von der Neuberufung einer
Nationalversammlung. Meine Damen und Herren,
wenn das der Fall ist und wenn die mitzuwirken
haben, die von direkter Teilnahme ausgeschlossen
waren, dann stehen alle Grundsätze zur Diskussion, dann ist der Augenblick da, wo Sie mit solchen Anträgen kommen können. Wenn Sie aber jetzt schon das Tor öffnen wollen für Verfassungsänderungen, dann möchte ich Ihnen doch eines zur Warnung sagen: Auch meine Fraktion hat verschiedenen Bestimmungen nur mit aufeinandergebissenen Zähnen zugestimmt.
Wir könnten es uns durchaus leisten wie Sie und könnten auf allen möglichen Gebieten verfassungsändernde Anträge stellen, beispielsweise in der Frage des konstruktiven Mißtrauensvotums,
beispielsweise in der Frage der ganzen Regelung der Finanzangelegenheiten, in vielen anderen Dingen mehr. Aber ist denn das eine Staatspolitik? Kann denn ein Volk so arbeiten, daß es heute eine Verfassung macht und — kaum ist die Tinte trocken — mit Verfassungsänderungen beginnt? Kann denn dem deutschen Volke überhaupt eine Grundlage für eine Aufbauarbeit gegeben werden, wenn es — kaum ist eine Grundlage geschaffen — schon wiederum damit beginnt, die Dinge zu untergraben und die Verfassung, das Grundgesetz des Staates, zu ändern?
— Der Art. 79 bringt zum Ausdruck, daß man Verfassungen
nicht ändern kann wie Gesetze, sondern nur mit verfassungsändernder Mehrheit.
Er bringt ja zum Ausdruck, daß man bei Verfassungsänderungen besonders vorsichtig sein soll und daß man zum Schutze einer vernünftigen Entwicklung eine erhöhte Mehrheit verlangt.
Wie dem auch sei, an und für sich kann man diesen Vorstoß aus verfassungspolitischen Gründen nur aufs tiefste bedauern.
Aber wir haben gar keine Veranlassung, irgendwie der materiellen Erörterung dieser Frage aus dem Wege zu gehen.
- Sagen Sie nicht so früh „endlich", es ist noch nicht ganz so weit.
Wir sind in der Frage, die der Artikel 102 geregelt hat, an einer Grundsatzfrage angelangt, an einer Frage, die der Parlamentarische Rat diskutiert und in dem Sinne des Art. 102 entschieden hat. In der deutschen Verfassungsgeschichte war es nicht das erste Mal, daß diese Frage zur Erörterung stand. Wenn Herr Dr. Etzel bei seinen Betrachtungen etwas weiter zurückgegangen wäre, dann hätte er festgestellt, daß es bereits in der Deutschen Reichsverfassung von 1849 im Art. 3 § 9 heißt: „Die Todesstrafe sowie die Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung sind abgeschafft!"
- Oh ja, da haben Sie vollständig recht. Das war
bereits ein Beschluß jenes Parlaments, und ich will
nicht über jene gescheiterte Revolution sprechen, sondern die Idee war da, und die Idee hatte bereits Formen angenommen, wie ich sie Ihnen jetzt verlesen habe.
— Ich werde Ihnen darauf antworten.
- Ich werde Ihnen darauf antworten, Herr Kollege Etzel, wir haben Sie trotz Ihrer zum Teil grausigen Ausführungen ruhig mit angehört, und Sie müssen sich gefallen lassen, daß man Ihnen auch etwas sagt.
So hat im Laufe der letzten hundert Jahre die Frage der Todesstrafe bei den Erörterungen in unseren Parlamenten eine große Rolle gespielt.
Bei der Schaffung des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund war in der ersten Lesung die Todesstrafe abgeschafft, und in der zweiten Lesung ist sie durch eine ungewöhnliche Intervention der Regierung wieder eingeführt worden. Sie können aber daraus ersehen, daß es schon 1870 Menschen gegeben hat, die auf diesem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und Herren, viel weiter waren als manche Menschen der heutigen Zeit.
Und als später bei der Schaffung der Weimarer Verfassung diese Frage erneut zur Debatte stand — so wissen Sie, und der Herr Vertreter der Todesstrafe hat es Ihnen ja hier vorgetragen —, da wurde sie zunächst mit 14 Stimmen gegen 14 Stimmen abgeschafft und schließlich mit ganz schwacher Mehrheit wieder beibehalten.
Die Frage hat seit unserer Reform des Strafrechts eine Rolle gespielt, und Sie, die Sie jemals sich um politische Dinge gekümmert haben, wissen alle, daß bereits Reichsjustizminister Koch-Weser im Hinblick auf die bevorstehende Justizreform — und, Herr Justizminister, man war jenes Mal auch sehr optimistisch bezüglich der Justizreform, ich habe selber die Ehre gehabt, Mitglied des Strafrechtsreform-Ausschusses des Deutschen Reichstags zu sein —, im Hinblick auf die Gedanken, die da zum Ausdruck gekommen sind, die Länderminister gebeten hat, keine Todesurteile in der Zukunft mehr zu genehmigen, sondern Begnadigungen auszusprechen.
Wenn dann im Bonner Grundgesetz diese Frage
zur Erörterung gestellt worden ist und entschieden
wurde, so lag das doch durchaus in der Linie dieser
Debatten, die wir seit hundert Jahren gesetzgeberisch, verfassungsmäßig in Deutschland haben.
Nun lassen Sie mich auf die Argumente, auf die materielle Prüfung der Berechtigung der Todesstrafe eingehen. Zur Todesstrafe muß Stellung genommen werden von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus. Einmal vom Gesichtspunkt der Abschreckung, das andere Mal vom Gesichtspunkt der Sicherung der Gemeinschaft, schließlich vom Ge-
sichtspunkt der Vergeltung oder Sühne und endlich von der grundsätzlichen Seite überhaupt.
Lassen Sie mich die Frage der Abschreckung kurz prüfen. Es wird so hingestellt, als ob durch die Einführung des Art. 102 im Bonner Grundgesetz die Mordtaten, die früher mit der Todesstrafe bedrohten Handlungen in auffälliger Weise, bedingt und verursacht durch den Art. 102, zugenommen hätten, daß also das Abschaffen der abschreckenden Todesstrafe dafür verantwortlich sei, daß die Mordtaten in Deutschland zugenommen hätten.
Meine Damen und Herren! Da fällt mir gerade ein, daß der Herr Kollege Etzel während seiner Ausführungen einen Kollegen des Parlamentarischen Rates zitiert hat, der mir entgegentrat und der einen Fall anführte, der in jenen Tagen des Mai in Köln zur Aburteilung vor dem Schwurgericht stand. Ich kann mich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern. Es handelte sich um eine Krankenschwester, die Menschen umgebracht hatte. Da ist ihm allerdings das Pech passiert, daß jene Krankenschwester ihre Mordtaten unter dem System der Todesstrafe ausgeführt hat! Die Todesstrafe war also für sie nicht abschreckend, die Straftaten, die mit ihr bedroht sind, trotzdem zu begehen. Wenn es so wäre, daß die Todesstrafe an und für sich den Verbrecher oder denjenigen, der den verbrecherischen Willen hat zu töten, von seiner Tat abhielte, dann müßte es, im großen und ganzen gesehen, unter dem System der Todesstrafe keine Straftaten mehr geben, die mit ihr bedroht sind.
Das ist aber nicht der Fall. Umgekehrt müßten in den Ländern und unter den Systemen, bei denen die Todesstrafe abgeschafft ist, die Verbrechen zunehmen. Das ist aber erst recht nicht der Fall.
Sie haben auch von Italien gesprochen. In Italien war die Todesstrafe abgeschafft von 1890-1925, und die diesbezüglichen Verbrechen sind in dieser Zeitperiode um die Hälfte zurückgegangen.
Das scheint mir nun nicht gerade für die Theorie zu sprechen, daß die Todesstrafe abschreckend wirke und die Abschaffung der Todesstrafe die Verbrechen fördere und ihre Zahl ansteigen lasse.
Schließlich muß man dann den Menschen, ob es Abgeordnete sind oder ob es Menschen unseres Volkes draußen sind, die diese Frage doch recht oberflächlich betrachten, und insbesondere dem Gesetzgeber sagen: Man braucht auf allen Gebieten, um zu einwandfreien Schlüssen zu kommen. eine bestimmte Beobachtungszeit, eine bestimmte Beobachtungsperiode. Kein Mensch wird doch behaupten wollen, daß eine Zeit von neun Monaten seit Inkrafttreten der Verfassung eine Periode ist, von der man sagen kann, daß sie wissenschaftlich ausreicht, um irgendeinen Nachweis, sei es in der einen, sei es in der anderen Richtung, zu erbringen. Was würden Sie von einem Naturwissenschaftler, von einem Mediziner, was von einem Techniker halten, der genaue wissenschaftliche Beobachtungen macht, wenn er mit den Beobachtungsperioden käme, mit denen man hier kommt? Unsere Naturwissenschaften, unsere medizinischen Wissenschaften und was weiß ich immer haben riesige Fortschritte gemacht. Aber ich muß sagen, eine Wissenschaft, die Wissenschaft des Verhaltens des Menschen dem Menschen gegenüber hat keinen Fortschritt gebracht!
Darauf ist viel von unserem Unglück nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt zurückzuführen. Wenn man die Dinge so betrachtet, wie sie oft betrachtet werden, dann fällt mir immer ein Satz von Albert Schweitzer ein, der da sagt: „Die Gedankenlosigkeit ist dem modernen Menschen zur zweiten Natur geworden."
In Italien wurde die Todesstrafe wieder eingeführt im Jahre 1925. Durch wen? Durch den Faschismus! Durch jenes tyrannische, räuberische, Menschen und Freiheit tötende System! Das sollte alle schrecken, die so nach der Wiedereinführung der Todesstrafe schreien.
Meine Damen und Herren! Wenn es richtig ist, daß in den letzten Jahren, in den letzten Monaten zahlreiche Verbrechen begangen worden sind, auf die normalerweise die Todesstrafe anwendbar wäre, so dürfen wir nicht vergessen, daß wir überhaupt in einer Periode zunehmender Kriminalität leben.
Wir haben nicht nur auf dem Gebiet des Mordes, der
Tötung von Menschen, wir haben auch auf anderen Gebieten eine Kriminalität, die zum Teil erschreckend ist. Aber, meine Herren, Sie können nicht einfach die Kriminalität damit bekämpfen, daß Sie Köpfe abschlagen, sondern Sie müssen sich fragen: Woher kommt denn diese Kriminalität?
Wodurch ist sie denn verursacht?
Es ist doch gar kein Wunder, daß in einer Zeit, wie der unseren die Kriminalität zugenommen hat. Vergegenwärtigen Sie sich doch diese ungeheuren Massen von entwurzelten Menschen, Menschen ohne Wohnrecht, Menschen ohne Wohnsitz, umherziehend, Menschen ohne regelmäßige Arbeit, Menschen ohne Wohnung, Menschen, die sich in einer Situation befinden, die außerordentlich schwer für den vorstellbar ist, der in einer ähnlichen Situation des Entwurzeltseins, des Herausgerissenseins sich noch nicht befunden hat. Loslösung, Herauslösung aus jedem Familienverband — darüber und daraus resultieren Verwahrlosung, Verwahrlosung durch Krieg und Faschismus. Und, meine Damen und Herren, wenn Sie dem auf den Grund gehen, was wir erlebt haben auf dem Gebiet der Ausübung von Gewalt, der Morde und der Körnerverletzungen — alle diese demoralisierenden Wirkungen, sie kommen von dem großen organisierten Massenmord, genannt Krieg.
Das ist das Übel. Und dieser Krieg und dieser Massenmord hat sich ausgewirkt in der mangelnden Erziehung, er hat sich ausgewirkt in einer Verrohung, er hat sich auswirkt in einer Weise, die wir zum Teil jetzt schaudernd erleben.
Meine Herren, gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen. Es ist nicht nur diese Entwurzelung, die Verwahrlosung, diese wirtschaftliche Not, dieses Elend, dieses sich aus der Gesellschaft Ausgestoßenfühlen,
es ist noch etwas anderes, und zwar trifft das nicht
nur zu für Deutschland; das traf auf alle Länder zu, in denen ich war, nicht nur als Spaziergänger, sondern um dort zu leben — ja, das trifft zu für Frankreich, das trifft zu für Amerika, das trifft zu — vielleicht weniger — für England, aber für
alle anderen Länder. Das sind - und da richte ich ein Wort an die Redakteure der Zeitungen - die Kriminalberichte,
das sind jene Kriminalberichte, die die Jugend und auch solche Jugend, die nicht mehr zu ihr zählt, mit einer wahren Inbrunst studiert.
Da werden die Verbrechen ausgemalt,
da wird alles dargestellt bis in jede kleine Einzelheit; da wird Schundliteratur in der ganzen Welt in einer Weise fabriziert,
die doch schwache Menschen geradezu zur Nachahmung anreizt.
Und wenn dazu noch eine Situation kommt, wie wir sie jetzt in Deutschland und in der Welt haben. dann ist das kein Wunder. Ich habe das auch in Frankreich gesehen. Lesen Sie die großen französischen Boulevardblätter. Sie lesen da über Mord und Totschlag auf der ersten Seite mehr als über die großen Fragen der Politik und des Lebens. Lesen Sie die amerikanischen Blätter; die haben das gleiche. Lesen Sie in Deutschland die ganzen Generalanzeiger. Irgendeiner ist umgebracht worden. Da lesen Sie alle Einzelheiten. Ja, es ist geradezu ein Anschauungsunterricht, wie es der, der noch gar kein Mörder ist, machen soll, um es zu werden.
Meine Damen und Herren! Ich würde mir bei dieser Gelegenheit doch gestatten, einen Appell an alle die zu richten, die darauf Einfluß haben. daß man diesen Zeitungsraum für viel wichtigere Dinge benutzt,
aber nicht für Dinge, die gegen jede Moral und gegen jedes gesunde Gefühl. im anständigen Menschen sind.
Und schließlich eins: Warum wundern wir uns, daß nach diesem Kriege und nach dem Faschismus die Mordtaten zugenommen haben. wenn sie wirklich zugenommen haben? Der Faschismus ist doch der Ausdruck für die Geringschätzung des Wertes des Lebens.
Das Leben hat überhaupt keinen Wert. Dem Führer paßt einer nicht, paßt die Nase nicht, paßt die Gesinnung nicht, und dann wird der Mann abgeknallt. Sie brauchen nur daran zu denken. wie es im Juni 1934 gewesen ist. Hitler und Göring paßten einige ihrer Bundesgenossen nicht mehr, und dann haben sie sie hingemordet, abgeknallt, wie man Hasen und Hunde abknallt. Dann sind sie zusammengetreten und haben erklärt: Das, was da geschah, ist Rechtens. Wenn Mord Rechtens ist, dann wundern Sie sich, wenn Menschen, die 14 Jahre unter diesem System der Verachtung des Menschenlebens gelebt haben, die darin erzogen worden sind, keinen Respekt vor dem Menschenleben haben! Sie können den Mord nur bekämpfen, indem Sie jedem Menschen den Respekt vor der Heiligkeit des Lebens einpflanzen.
- Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren: nicht die Abschaffung der Todesstrafe, nicht das Wegfallen der abschrekkenden Wirkungen, sondern die Erscheinungen, die ich jetzt versucht habe, Ihnen in Kürze zu skizzieren, sind die Veranlassung für jene bedauernswerten Vorgänge, die wir alle zusammen mit Schrecken festgestellt haben. Sie dürfen bei der Betrachtung dieser Dinge und bei der Frage, ob die Todesstrafe wirklich abschreckend ist, eines nicht vergessen, und als Gesetzgeber müssen wir in diesem Punkte die Sache — und da gebe ich dem Herrn Kollegen Etzel recht — sehr leidenschaftslos betrachten: Je grausamer die Strafen, desto grausamer die Verbrechen! Das ist der Satz, der sich aus der Kriminalgeschichte ergibt.
Und schließlich eines: Bei der Frage, ob die Todesstrafe abschreckend wirkt, kann man nicht von dem normalen Menschen ausgehen, der wohleingebettet in seiner natürlichen, sei es wirtschaftlichen, sei es sozialen, sei es psychologischen Situation lebt. Nachdem der Herr Kollege Etzel erklärt hat, auch Gedanken, die weiter zurückliegen. brauchten nicht falsch zu sein. gehe ich noch viel weiter zurück als nur bis zu 1912. Ich gehe zurück bis zum Jahre 1783. Im Jahre 1783 hat ein Mann namens Pestalozzi gelebt. Der Name Pestalozzi ist an vielen Schulhäusern zu finden, aber den Geist von Pestalozzi kann man auch heute nur sehr schwer entdecken. Dieser Pestalozzi hat in seinem Buche „Gesetzgebung und Kindermord" wörtlich gesagt:
Die Todesstrafen haben auf den Lasterhaften
und Elenden einen viel kleineren Einfluß als
auf bessere und glücklichere Menschen. Laster
und Elend verheeren einmal im Menschen die
in ihm sich selber hütende und ihn vor Gefahren schützende Sorgfalt. Sie töten in ihm
die Schrecken der Schande. Sie ersticken in ihm
das reine Gefühl vom Wert des Lebens. Meine Damen und Herren, Sie mögen daraus ersehen, daß die Frage der abschreckenden Wirkung doch nicht so leicht und oberflächlich beantwortet werden kann, wie sie draußen beim Volk — das ist gar kein Zweifel — oft behandelt wird.
Wenn Sie aber an die abschreckende Wirkung glauben, dann richte ich an Ihre Anhänger eine Frage. Wenn Sie die abschreckende Wirkung der Todesstrafe wollen, warum führen Sie dann die Exekutionen nicht öffentlich aus? Warum köpfen Sie nicht die Verbrecher auf offenem Markt, auf daß das ganze Volk sich ansammelt und sieht, wie schrecklich das ist, wenn ein Mensch geköpft wird? Warum machen Sie das nicht?
Sie machen das nicht, weil die Länder, die dieses
System haben, sich schämen, eine solche Hinrichtung öffentlich vorzunehmen, und weil es noch
eine andere Tatsache gibt, über die der gleiche
Schriftsteller sich folgendermaßen äußert:
Der lasterhafte Mensch wird vielmehr durch das Anschauen all der kaltblütigen Gerechtigkeitsschauspiele in seinem Innern noch mehr verheert. Man darf nur die niedrigsten Volksgebärden vor und nach den Exekutionen und Prangerstellen beobachten, so wird man an der Wahrheit meiner Äußerungen nicht zweifeln.
Und nun, immer wieder unter Berufung auf den Satz, daß auch früher richtige Erkenntnisse vorge-
legen haben, wörtlich die Schlußfolgerungen dieses Mannes:
Ich schließe kurz, daß die Todesstrafe kein geeignetes Mittel ist, dem Quell des Übels Einhalt zu gebieten.
Nun wird gewöhnlich eines gemacht — und das hat der Verteidiger der Todesstrafe hier auch vorgetragen —: man tut so, als ob der Verbrecher, der eine Tat begangen hat, für die man die Todesstrafe verlangt, in einer Weise behandelt werde, die geradezu einer Unterstützung seiner Straftat gleichkomme. Heute hat man gesagt: er wird in einen Staatspensionär verwandelt! Meine Damen und Herren, wenn jemand zu fünf oder zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wird, so ist das, glaube ich, schon etwas Furchtbares, und wenn er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wird, so habe ich manchmal das Gefühl, daß durch das Übermaß der Eindruck, den es auf uns macht, verfehlt wird; denn lebenslängliches Zuchthaus ist doch immerhin eine Strafe, die etwas Schreckliches ist, eine Strafe, die nicht nur entehrt, sondern die in vielen Fällen doch auch zerstört; kurz, eine Strafe, die furchtbar ist.
Aber was erleben wir? Ich komme da auf den Fall von Hamburg. Vor mir liegt das „Hamburger Echo" vom 2. März 1950, worin das Urteil gegen die Mörder der Taxifahrer behandelt wird. Der Vorsitzende dieses Gerichts hat dazu sehr bemerkenswerte Ausführungen gemacht, Ausführungen, die in den Rahmen dieser Erörterungen durchaus passen und zu denen Stellung genommen werden muß. Ich will in diesem Zusammenhang nur auf einen Satz in diesen Ausführungen hinweisen. Der Vorsitzende des Gerichts sagte:
Es ist ein unerträglicher Gedanke, daß diesen brutalen und heimtückischen Raubmördern auf unbestimmte Zeit bei korrekter Behandlung und guter Verpflegung körperliches Wohlbefinden auf Staatskosten garantiert wird.
Also, meine Damen und Herren, wenn Sie körperliches Wohlbefinden, gute Verpflegung und korrekte Behandlung auf Staatskosten haben wollen, dann müssen Sie ins Zuchthaus gehen!
Das ist keine abschreckende Wirkung einer Urteilsbegründung mehr, sondern diese paradiesische Verherrlichung des Zuchthauslebens reizt die Menschen zu Straftaten geradezu an. Diese verblendete und tendenziöse Darstellung des Hamburger Richters ist sehr bedenklich.
Auf andere Ausführungen dieses Mannes werde ich in anderem Zusammenhang zurückkommen.
Ich komme zu dem Ergebnis — dabei will ich mit meinen Schlußfolgerungen sehr vorsichtig sein —, daß in der bisherigen Kriminalgeschichte in keiner Weise der Nachweis erbracht worden ist, daß die Todesstrafe eine abschreckende Wirkung hat. Wenn ich das so vorsichtig formuliere, dann deswegen, weil alle Beweise, die jetzt vorliegen, das Gegenteil dartun und weil ich die Erfahrungen in Deutschland auf Grund unserer neuen Verfassungsbestimmung abwarten will. Auf jeden Fall: ein Beweis dafür, daß die Todesstrafe abschrekkend wirke, ist nicht erbracht, aber, so würde ich sagen, der Anfang eines Beweises, daß bei Abschaffung der Todesstrafe die Zahl der Verbrechen, die mit der Todesstrafe bedroht werden, zurückgeht, ist geführt.
Es ist richtig: es ist völlig unmöglich, einen Verbrecher, einen Mann, der einem anderen Menschen das Leben genommen hat, auf die Menschheit losuzlassen, ohne ein ganz schweres Verschulden auf sich zu laden. Die menschliche Gesellschaft und Gemeinschaft hat einen Anspruch darauf, daß sie vor derartigen Elementen beschützt wird. Diese Sicherung der Gemeinschaft aber wird völlig ausreichend durchgeführt, indem man die Leute ins Zuchthaus sperrt.
Wenn man nun einwendet — und ich könnte hier viel mehr Einwendungen vorbringen, als der Herr Vorredner sie vorgebracht hat —: „Nach einigen Jahren werden sie amnestiert", dann sage ich: es ist Sache der Parlamente, darüber zu wachen, daß ihre Regierungen nicht unsinnige Maßnahmen ergreifen. Das also ist kein Argument, das dagegen spricht.
Weiter wendet man ein, die Menschen müssen ernährt werden. Natürlich müssen sie ernährt werden. Aber die Menschen müssen ja auch arbeiten. Die Arbeit im Zuchthaus ist ja Zwangsarbeit. In anderen Ländern sagt man statt „Zuchthaus" auch „Zwangsarbeit". Bei dieser Zwangsarbeit wird schon soviel herauskommen, daß das, was sie essen und was sie sonst benötigen, von ihnen erarbeitet wird.
Selbst aber, wenn es nicht so wäre, ist das keine Rechtfertigung für den Grundsatz, der hier aufgestellt wurde. Damit komme ich zur Frage der Vergeltung. Bei dieser Frage muß man sehr ehrlich mit sich selbst zu Rate gehen. Der Vergeltungstrieb wohnt in jedem Menschen, ausgenommen vielleicht ganz außergewöhnlich reine Menschen, die über jeder Norm stehen. Aber normalerweise wohnt der Vergeltungstrieb — keiner von uns wird sich da ausnehmen — in allen Menschen. Wenn uns einer etwas antut, werden wir darauf reagieren. Und so ist es auch in der Entwicklung gewesen. Wenn irgendeinem Angehörigen der Familie ein Leid geschah, ist das gerächt worden. Wenn einer vom Stamme A getötet worden ist, dann mußte vom Stamme B mindestens einer getötet werden, wahrscheinlich aber noch mehrere. Das ist die Vergeltung, die ihren radikalsten und hemmungslosesten Ausdruck in der Rache schlechthin und in der Blutrache findet.
Meine Damen und Herren, ich will in dieser Frage der Vergeltung gar nicht schöntun. Ich will die Sache so leidenschaftslos behandeln, daß ich Ihnen vielleicht aus einem ganz anderen Grunde sogar auf die Nerven gehe. Für uns, die wir bis 1933 uns dem Faschismus entgegengeworfen haben, für uns, die wir alles verloren haben durch den faschistischen —
— Ihre Nerven sind schon angegriffen, ich sehe es ja!
— Es ist für jeden — sehen Sie, Herr Baumgartner, ich komme Ihnen entgegen — —
— Wir sind hier nicht am Biertisch, wir sind im Parlament.
— Wir sind hier nicht auf einem Gartenfest, sind hier nicht im Hofbräuhaus, wir sitzen hier im deutschen Parlament!
Wenn also irgendeiner Grund hat, das Gefühl der Vergeltung und der Rache in sich zu fühlen. so sind es diejenigen, die vom Faschismus unterdrückt und gejagt worden sind, dann sind es diejenigen, die unter ihm gelitten haben. Was ist jetzt natürlicher, als daß man ruft: „à la lanterne!, an die Laterne mit denen, aufgehängt, hingerichtet! Das ist an und für sich eine ganz normale Reaktion, die der einzelne Bürger hat, die alle Menschen haben.
Obwohl wir also sehr verlockt sein könnten, für die Todesstrafe zu sein, zumindest für alle die Naziverbrecher, die vor den Gerichten stehen, betrachten wir die Dinge von einer etwas höheren Warte, von einer Warte, für die allerdings nicht jeder Verständnis hat. Auf der Seite der Verteidiger der Todesstrafe steht man auf dem Standpunkt: die einzige Sühne für den Mörder ist die Todesstrafe, ist die Tötung des Menschen oder ist, wie der Herr Verteidiger der Todesstrafe sich hier ausgedrückt hat, das „Ausmerzen" dieser Menschen. Meine Damen und Herren, wenn ich das Wort „Ausmerzen" auf Menschen angewandt höre, dann habe ich so die Empfindung - und ich werde gleich in anderem Zusammenhang darauf kommen —, daß man über menschliches Leben doch mit etwas mehr Respekt reden sollte.
— Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Meine Damen und Herren, ich habe bereits das Urteil des Richters in Hamburg zitiert, der an anderer Stelle sagt, er mache die Presse darauf aufmerksam, daß sie das wortwörtlich bringen möge. Er spricht von den „östlichen Fremdlingen", die kein Daseinsrecht in Hamburg gehabt haben, und argumentiert dann so: Das Schwurgericht ist sich darüber klar, daß das Endergebnis, nämlich die Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus, in keiner Weise befriedigt. Es ist auch überzeugt, daß das Rechtsgefühl nicht nur der unmittelbar Betroffenen, sondern auch der großen Mehrheit der Hamburger Bevölkerung und darüber hinaus des ganzen deutschen Volkes die einzig mögliche Sühne, die Todesstrafe fordert. Und dann reitet er, der Richter, der dem Grundgesetz unterworfen ist, der Richter, der auf das Grundgesetz vereidigt ist, eine Attacke auf die Bestimmungen des Grundgesetzes.
Ist es denn wirklich so, meine Damen und Herren, daß eine Mordtat als Vergeltung, als Sühne, nur die Todesstrafe zuläßt? Wenn Sie sich darauf im Prinzip einlassen und den Satz verkünden wollen „Wer gemordet hat, der muß sterben", dann können, dann müssen Sie ganz folgerichtig zu gewissen Abstufungen kommen und konsequent bleiben: Wenn einer einen einfachen Mord begangen hat — gut, er wird hingerichtet. Wie ist es aber dann, wenn er die scheußlichsten Verbrechen begangen hat, die auszumalen ich nicht die Gabe habe — Sie haben es heute schon gehört —, wenn einer mehrere Menschen umgebracht, sie in der übelsten Weise massakriert und gequält hat? Wäre es nicht das nächstliegende zu sagen: Ist das eine Vergeltung, daß man ihn auf den Block legt — knack — und das Leben ist aus? Und nebenbei, ist es nicht eine schwerere Strafe, wenn ich mein ganzes Leben lang hinter Gittern im Zuchthaus sitzen muß?
Aber wird man nicht dazu kommen und ist man nicht immer in der Geschichte dazu gekommen, daß man je nach der Art des todeswürdigen Verbrechens eine andere Art der Hinrichtung vorgenommen hat? Wenn Sie nach Vergeltung rufen und sagen, Sühne kann nur der Tod dessen sein, der getötet hat, dann müssen Sie zurückkehren zur alten Hals- und Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. Der hat die Todesstrafe gehabt; er hat sie je nach der Grausamkeit des Verbrechens verschieden abgestuft. Er hatte ein ganzes System von grausamer peinlicher Bestrafung eingeführt. Hexen und Kirchenräuber, Brandstifter, Münzfälscher und Giftmischer hat man dem Feuertod ausgesetzt, Mörder und Giftmörder hat man gerädert; da wurden die Glieder, wie es in der Hals- und Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. heißt, „zerstoßen". Totschläger, Räuber, Landfriedensbrecher, Aufrührer, Notzüchter, Abtreiber hat man mit dem Schwert vom Leben zum Tode befördert. Für andere gab es den Galgen; wieder andere hat man zum Galgen geschleift usw.
Meine Damen und Herren, wenn Sie tatsächlich eine Sühne in dem Sinne haben wollen, wie es dem Prinzip der Todesstrafe entspricht, dann kommen Sie zu einer ganz verschiedenen Art der Ausführung der Todesstrafe je nach der Straftat, die begangen wurde. Dann bleibt es aber nicht nur dabei, daß Sie die Verbrechen des Mordes mit dem Tode bestrafen; dann entdeckt der Gesetzgeber je nach der Stimmung, je nach der Zusammensetzung der Parlamente, je nach den äußeren Situationen daß auch andere Delikte mit dem Tode bestraft werden müssen. Sie haben es bei Hitler gesehen. Die Todesstrafe war in Kraft von Weimar her, und wenn deshalb im Republikschutzgesetz Bestimmungen über die Anwendung der Todesstrafe enthalten waren, dann innerhalb des bestehenden Systems der Todesstrafe, nicht außerhalb des Systems. Wenn Sie aber das System der Todesstrafe nicht mehr haben, dann werden Sie auch keine Gesetze mehr machen können, die diesem System Konzessionen machen. Und wenn Ihnen das unangenehm war und unangenehm ist, dann hätten Ihre Vorgänger seinerzeit gegen die Todestrafe sein müssen.
Meine Damen und Herren, man kann auch die Frage aufwerfen, ob es der richtige Augenblick gewesen ist, in dem der Parlamentarische Rat die Todesstrafe abgeschafft hat, ob man nicht auf eine spätere Zeit hätte warten können? Ich sage nein; das war der Augenblick, der nicht verpaßt werden durfte. Wir haben einen Strich unter das mörderische System 14-jähriger Hitlertyrannei gemacht, bei der das Leben nicht heilig war und nichts mehr bedeutete. Das mußte zum Ausdruck kommen, wenn man für einen Staat, einen neuen Staat, der umkehren, der einkehren, der etwas Neues schaffen will, eine gesunde Grundlage legen will. Denen, die erklären, es sei nicht der richtige Augenblick gewesen, darf man sagen: Für sie kommt für die Abschaffung der Todesstrafe niemals der richtige Augenblick;
sie waren immer dagegen, und der Augenblick ist
ihnen nie passend, weil sie das Wesen dieser Frage
nicht ganz würdigen. Diese Entscheidung bedeutet
einen Trennungsstrich zur Vergangenheit, sie bedeutet einen neuen Anfang.
Meine Herren, wenn nicht wir auf diesem Gebiet — wenn das auch manchem abgelegen vorkommt — den Grundsatz, der im Art. 2 verankert ist, daß jeder das Recht auf Leben hat, mit all seinen Konsequenzen durchführen, wenn wir nicht in unserer Gesetzgebung, in unserem Leben, den Satz durchsetzen, daß das Leben etwas Heiliges ist, dann werden wir auch keinen neuen Staat bauen können, keinen Staat, der auf einer neuen und gesunden Moral und auf der Grundlage der Menschlichkeit beruht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie kann man denn überhaupt die Dinge so anfassen, daß man sagt, es ginge uns um das Wohl des Verbrechers?
Wir betrachten die Frage Todesstrafe ja nicht von der Frage des Wohles des Verbrechers aus, wir betrachten sie von der Frage des Grundsatzes und des Wohles für den Gedanken der Menschlichkeit aus: nicht für den Verbrecher, sondern für die menschliche Gesellschaft!
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: solange die Maaten noch auf gesetzlicher Grundlage Menschen töten, so lange werden Menschen auf ungesetzlicher Grundlage Menschen töten. Und so lange der Staat das Leben nicht achtet, so lange wird auch ein Teil seiner Bürger das Leben der anderen Bürger nicht achten. Wir müssen es dahin bringen, daß eine neue Generation es zu einer Selbstverständlichkeit erklärt, daß das Leben unverletzlich ist, und daß sie sich mit Abscheu von jedem wendet, der irgendwie anderen das Leben nehmen will oder gar nimmt, und daß sie sich auch damit mit Abscheu wendet von dem Staat, der diese Mordtat von sich aus begeht. Seien Sie sich klar darüber: Die Begründung, die der Herr Dr. Etzel gegeben hat, es würde ja auch im Kriege getötet, ist keine Begründung gegen die Todesstrafe. Denn solange die Staaten im kleinen innerhalb ihrer Grenzen töten und das Menschenleben nicht achten, solange werden sie auch im großen töten. Der Krieg ist der organisierte Großmord, wie die Todesstrafe der organisierte Kleinmord der Staaten in ihrem Innern ist. Es bestehen für die Allmacht des Staates Grenzen; und wir sollten aus dem Dritten Reich eigentlich gelernt haben, daß man sehr vorsichtig sein muß, dem Staat eine Allmacht über alles zu geben, was da ist. Darf der Staat auch die Macht und das Recht haben, über das Leben der Menschen zu verfügen? Und da, meine Damen und Herren, wiederhole ich den Satz, den ich im Parlamentarischen Rat geprägt habe: Der Staat hat das Leben nicht gegeben, und der Staat hat auch nicht das Recht. das Leben zu nehmen. Es gibt keine Rechtfertigung für das Töten eines Menschen, und man darf sein Leben nicht in die Hand anderer Menschen geben, auch nicht in die Hand einer organisierten Gesamtheit, wie sie sich im Staate ausdrückt.
All das gilt für schuldige, um wieviel mehr gilt all das erst für unschuldige Menschen, die vor den Richter gestellt werden und zum Tode verurteilt worden sind, obwohl sie nicht schuldig waren. Die Zahl der Justizirrtümer ist nicht gering; die Zahl der Justizirrtümer ist sehr groß. Und wer weiß, wieviele Menschen umsonst gestorben sind, weil die amtierenden Richter — ganz gleich, ob es Laienoder Berufsrichter waren — geglaubt haben, aus bestem Gewissen heraus: er sei schuldig! Sie können gar keine Sicherungen treffen, es gibt gar keine prozessualen Sicherungen, die irgendeine Garantie dafür bieten, daß Justizmorde, d. h. glatte Menschenmorde, im System der Todesstrafe überhaupt verhindert werden.
Und nun möchte ich auf einen Gesichtspunkt kommen, auf den vorhin in einem Zwischenruf hingewiesen worden ist: die Mehrheit der Richter sei für die Todesstrafe. Ich habe in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt ja auch ein bißchen mit Richtern zu tun. Nach der Abschaffung der Todesstrafe haben viele Richter — nicht Richter, die meiner Partei angehören, wie das überhaupt keine Parteifrage ist — und viele Staatsanwälte mit mir gesprochen und mir erklärt, sie seien glücklich, daß die Todesstrafe abgeschafft worden ist. Ich kann und will natürlich nicht behaupten, daß die Mehrheit der Richter für die Abschaffung der Todesstrafe ist. Das wäre für mich auch kein Argument; das brauche ich nicht. Aber die Richter, die an Todesurteilen mitgewirkt haben, haben oft so schwere innere Kämpfe, so furchtbare innere Kämpfe durchzumachen gehabt, daß sie sagen, sie sind dankbar, daß sie nicht mehr so zu tun brauchten, als ob sie berechtigt wären, Leben auszulöschen, daß sie nicht mehr den kleinen Gott der Welt zu spielen brauchen.
Sie bringen den Richter und den Staatsanwalt in einen ganz schweren Gewissenskonflikt, und diejenigen, die der Hinrichtung beiwohnen müssen, erst recht. Ein Richter sagte mir, auf diesen Gesichtspunkt habe niemand hingewiesen, und der Richter gehört nicht meiner Partei an. Der Richter gehört Ihrer eigenen CDU an, ein Mann, der mir aus dem Erleben heraus diese Dinge dargestellt hat.
Nun, bei dem grundsätzlichen Teil vergessen Sie doch nicht die Richtigkeit jenes Satzes, den man besser gar nicht schreiben kann, als ihn der von mir schon zitierte Schriftsteller in dem zitierten Werk ausgedrückt hat. Er sagt:
Erkennt, Gesetzgeber der Welt, und fühlt in Sonderheit in der Bestrafung der Taten, gegen welche ihr die Gewalt Gottes über den Menschen ausübt, in der Bestrafung der Taten, für welche ihr euren Brüdern, den Kindern eures Gottes, das Leben nehmt, erkennt doch in Ausübung der obersten und höchsten Gewalt, welche ein Mensch sich auf Erden über den anderen anmaßen kann, daß Lasterhaftigkeit in Bestrafung der Laster die Quelle des größten Nationalverderbens ist.
Und wenn er dann dem Gesetzgeber ins Gewissen redet mit den Worten:
Menschen, seid doch wenigstens in dem vorzüglichen Recht der Gottheit, das ihr euch anmaßt, behutsam und nicht kühn und schränkt euch doch in Erfüllung der Jammerpflicht der Kriminalgesetzgebung auf das ein, was ihr unumgänglich tun müßt und versucht doch niemals alles zu tun, was ihr könntet, denn ihr seid Menschen, ihr Götter!
Es ist nun gesagt worden, das Volk sei für die Todesstrafe. Ich weiche diesem Problem gar nicht aus. Es ist gar kein Zweifel, daß die unmittelbare Reaktion aus dem Trieb der Vergeltung, die ja nicht zu leugnen ist, eine starke Neigung zu der Todesstrafe hervorruft, insbesondere deshalb weil
die meisten Menschen sich mit der Problematik ihr Leben lang noch nicht beschäftigt haben. Ich frage: ist es Sache des Gesetzgebers, einem dunklen Trieb nachzugeben, ist es Sache des Gesetzgebers, so zu sprechen, daß es dem Volk, das diese Frage noch
nicht erforscht hat, angenehm ist? Oder ist es nicht Sache des Gesetzgebers, erzieherisch zu wirken und seinem Volk auf dem Wege zur Menschlichkeit voranzugehen?
Ich möchte den Anhängern der Todesstrafe noch folgendes sagen: Wenn sich an dem Tisch in einem Gasthaus zu Ihnen irgendein Mann, ganz gleich welcher sozialen Stellung, setzt, werden Sie sich mit ihm unterhalten; Sie werden ihm die Hand geben, Sie werden mit ihm ein Glas Bier oder ein Glas Wein trinken. Wenn sich aber an Ihren Tisch der Henker setzt, werden Sie dann an diesem Tisch bleiben, ihm die Hand drücken und mit ihm gemeinsam Ihren Schoppen trinken? Sie werden, von Abscheu erfüllt, ihn verlassen. Sie wollen aber den Henker in Deutschland wieder einführen, den Sie verabscheuen, von dem Sie nichts wissen wollen. Demgegenüber wollen wir ein so niedriges und gemeines Instrument nicht mehr. Wir wollen nicht, daß der Staat Menschen zu Mördern, zu Henkern macht. Wir wollen, daß wir uns von der Bestialität zur Humanität entwickeln. Wir wollen nicht wieder zurück in das Dunkel der Barbarei, sei es der faschistischen oder der vorfaschistischen Barbarei, sondern wir wollen vorwärts in eine menschlichere Gesellschaft. Mit Ihrer Entscheidung sprechen Sie das Urteil über sich selbst. Sorgen Sie dafür -und ich bin überzeugt, Sie werden es tun —, daß es kein Todesurteil für den Fortschritt des Menschengeschlechts sein wird, kein Todesurteil für den Glauben an seine Aufwärtsentwicklung, und lehnen Sie den Antrag der Bayernpartei mit überwältigender Mehrheit ab.