Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich über das Gesetz im allgemeinen einige Ausführungen machen; denn durch die Länge der Zeit und das außerordentliche Hin und Her zwischen Bundesrat und den Ausschüssen und schließlich der Einbringung des Gesetzes ist so viel Zeit vergangen, daß man, glaube ich, es heute für richtig hält, einmal den Entwicklungsgang aufzuzeigen.
Ich war erst wenige Tage im Amt, als im Bundesrat der Antrag — und zwar der hauptbelasteten Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen — einging, wonach der Bundesregierung zur Pflicht gemacht werden sollte, sofort eine solche Rechtsverordnung einzubringen, die den Zugang der Ostzonenflüchtlinge regeln und insbesondere ein Weisungsrecht für den Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen einbauen sollte. Nach diesem Antrag sollten die in die ohnehin überbelasteten Länder kommenden Flüchtlinge sofort in die minderbelasteten Länder eingewiesen werden. Ich habe damals — ich erzähle das heute nur, um einmal psychologisch die ganze Lage voll verständlich zu machen — dringend gebeten, von einer solchen Rechtsverordnung Abstand zu nehmen, weil ich übersah, daß wir damit an derart schwere Entscheidungsfragen von politischer Bedeutung herankommen müßten, die uns vor sehr harte Entscheidungen stellen würden. Ich habe vielmehr gebeten, daß doch die Länder, die die Uelzener Beschlüsse — in Uelzen sind nämlich die Vereinbarungen zwischen den Ländern getroffen worden — gefaßt haben, sich weiter einigen sollten, mir die Vollmacht zu geben, mit all den möglichen Verwaltungsmaßnahmen den Zustrom der Ostflüchtlinge irgendwie zu hemmen und zu regeln. Ich hätte mir davon das gleiche versprochen wie von einer Reichsverordnung. Der Bundesrat bestand auf der Vorlegung der Verordnung, und nun ist durch die ganzen Monate hindurch der Streit um diese Verordnung gegangen. Auch im Rechtsausschuß des Bundesrats hat man eine Einigung über die grundsätzliche Frage nicht finden können: Verstößt eine solche Rechtsverordnung gegen die Bundesverfassung, weil der § 12 — nämlich die Frage der Freizügigkeit — nicht durch Rechtsverordnung geregelt werden könne, sondern nur durch Gesetz? Das ist überhaupt der Grund, weshalb nun das Gesetz eingebracht worden ist.
Dieses Gesetz ist nun in der Fassung der SPD dem Bundestag vorgelegt worden. Diese Fassung enthält die Vorschrift, daß nur abgewiesen werden kann, wer die Ostzone wegen Bedrohung von Leib und Leben verlassen muß. Diese Fassung ist meiner Meinung nach zu eng, denn sie enthält implizite die Erklärung: wir nehmen jeden auf; dazu liegt aber keine Veranlassung vor, sondern die Deutsche Bundesrepublik hat alle Veranlassung, zu regeln und den Strom hier herein aufzuhalten.
Sie wissen, wie die Zustände bei uns sind: 71/2 Millionen Vertriebene — echte Heimatvertriebene oder, wie wir sagen, A-Flüchtlinge — und heute schon rund 1,4 bis 1,7 Millionen — die Zahlen schwanken — Ostflüchtlinge. Die Deutsche Bundesrepublik, insbesondere ich, stehen auf dem Standpunkt, daß jeder, der in der Ostzone oder auch sonstwie nicht mehr leben kann, von
Bundesminister Dr. Lukaschek
uns aufgenommen werden muß, denn wir sind Deutsche. Wenn gerade heute dieses Gesetz zu dem Zeitpunkt zur Verhandlung kommt, in dem die Frage der Aufnahme der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei — sei es, daß sie hier Zuzugsgenehmigung haben, sei es, daß sie von Polen oder der Tschechoslowakei ausgewiesen sind —akut ist, so müssen wir uns hier über den Unterschied klar sein, der zwischen beiden Arten von Flüchtlingen besteht. Wer heute aus Polen oder der Tschechoslowakei als Deutscher an unsere Grenze kommt und aufgenommen werden will, der ist offensichtlich und klar unter einem Zwang; denn er ist ausgewiesen. Darüber, daß wir diesen Leuten gegenüber den Standpunkt vertreten, aus Gründen der Menschlichkeit müssen wir unsere Pforten öffnen, brauchen wir nichts zu sagen.
Hier handelt es sich darum, bei dem Zustrom aus der Ostzone regulierend einzugreifen. Die Bedeutung dieses Gesetzes oder der Verordnung liegt auf psychologischem Gebiet, nämlich in der herzlichen Bitte an unsere Deutschen in der Ostzone: Bitte, kommt nicht ohne dringende Not hierher, denn ihr schadet euch am allermeisten. Ihr schadet euch, weil unsere wirtschaftlichen Verhältnisse wirklich nicht so mit dem Schlagwort „Goldener Westen" gekennzeichnet werden können, und ihr schadet euch, weil ihr drüben das Deutschtum im Stiche laßt.
— Daß wir alle, die drüben strafrechtlich verfolgt werden, zurückweisen, Herr Renner, ist eine Selbstverständlichkeit. Nur sind unsere Ansichten darüber, ob eine Strafverfolgung berechtigt oder nicht berechtigt ist, — —
Verzeihen Sie gütigst. mein Umzug hierher bestand aus 23 Postpaketen. Denn ich hatte damals noch keinen Koffer, und ich habe nicht ein einziges Stück Möbel besessen, als ich aus der Ostzone nach hier herüberkommen mußte, weil mir die wirtschaftliche Grundlage entzogen war.
— Ich habe keine Pension gehabt, denn die gab es nicht., und es gibt ja auch heute noch keine Pensionen hier, wenn man nach einem bestimmten Stichtag herüberkommt. — Ich wiederhole: mit 23 Postpaketen — zu 8 Kilogramm, waren es damals, glaube ich — habe ich hier mein „glänzendes" Leben begonnen. Aber das nur nebenbei. Die Informationen, die hierüber erteilt worden sind, sind funditus falsch gewesen; ich habe mich nicht dagegen gewehrt, weil es keinen Sinn hat, über solche Dinge zu sprechen.
Aber um nun in der grundsätzlichen Debatte fortzufahren: Wir können nicht ohne weiteres jeden, der glaubt, hier seine Pension zu bekommen, der glaubt, hier besser leben zu können, aufnehmen, ohne wenigstens ein Sieb vorzuschalten. Dieser § 1 Absatz 3 des durch den Ausschuß abgeänderten Gesetzes sagt das ja mit deutlichen Worten, und ich möchte ganz besonderen Nachdruck auf den Absatz 3 legen, in dem es heißt: „... oder aus sonstigen zwingenden Gründen". Wir können Härtefälle nicht einfach schematisch zurückweisen. Es gibt Fälle der Familienzusammenführung; es gibt Fälle, wo jemand aus wirtschaftlichen Gründen drüben nicht mehr leben kann; diese wollen wir mit Güte und menschlich entscheiden, können die Dinge aber nicht ungeregelt lassen.
Das wollte ich sagen und gleichzeitig die Erklärung abgeben, daß ich meinen ganzen Einfluß dahin geltend machen werde, daß nicht mit bürokratischer Härte, sondern mit Menschlichkeit entschieden wird, daß aber gleichzeitig der denkbar größte Wert auf eine Beratung dahin gelegt wird, daß die Leute nicht wild hierherkommen. Denn sonst laufen alle alten Beamten von drüben weg, insbesondere wenn wir in den nächsten Wochen zur Pensionsregelung kommen. Das sind verständliche Dinge, und mir persönlich — dessen können Sie versichert sein — hat diese Notverordnung mehr Qual als vielleicht jedem anderen bereitet. Deshalb habe ich mich auch persönlich und nicht nur sachlich so dagegen gewehrt. Aber heute müssen wir, nachdem die Dinge als Gesetz zur Erörterung gestellt sind, auch den Mut zu einer Entscheidung haben.