Rede von
Dr.
Else
Brökelschen
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Herren und Damen! Die Frage der illegalen Einwanderung in das westdeutsche Bundesgebiet ist eine Frage, die sicher uns alle in unserem Gefühl tief bewegt. Und doch ist es eine Frage — das sage ich trotz aller Leidenschaftlichkeit, die Frau Korspeter auf dieses Thema verwandt hat —, die wir nicht allein gefühlsmäßig entscheiden dürfen. Meine Herren. und Damen, wenn man über die Situation der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen im westdeutschen Bundesgebiet mit Ausländern spricht, stößt man immer wieder auf das vollkommene Fehlen jeder Vorstellung über die tatsächliche Grundlage dieses Problems, die nämlich darin besteht, daß wir gar nicht mit festen Größen rechnen können, sondern daß diese Millionen sich dauernd verschieben und die Zahl dauernd größer wird.
Das statistische Amt für das Bundesgebiet hat Anfang Februar die Zahl von 1,3 Millionen Personen veröffentlicht, die allein aus der Sowjetzone und aus Ostberlin hier zu uns nach dem Westen gekommen sind, und nach den Zahlen, die von Gießen und Uelzen seit September vorliegen, sind dort 73 000 Personen eingetroffen. Das ist ein Strom, der irgendwie gefaßt werden will, der irgendwie geordnet werden muß.
Nun sprechen der SPD-Entwurf zu diesem Gesetz und auch das Gesetz selbst von der Tatsache, daß es sich um eine Notaufnahme handelt. Das setzt also voraus, daß irgendein Notstand da sein muß, der gegeben sein muß, ehe über die Aufnahme entschieden werden kann. Darüber ist im Ausschuß keine Debatte entstanden und wird auch hier im Plenum keine entstehen, daß jedem, der an Leib und Leben gefährdet ist, dessen persönliche Freiheit in Gefahr steht, und jedem, bei dem sonst zwingende Gründe vorliegen, eine Zuflucht hier im Westen offenstehen muß. Das ist eine Auffassung, die über alle Parteien hinweggeht, und ich erkläre hier mit allem Ernst, meine Damen und Herren, daß wir bereit sind, zu dieser Auffassung zu stehen, und wir müssen dazu auch in schweren Situationen bereit sein, in die wir vielleicht noch hineinkommen können.
Gerade aber weil wir diesen Ernst der Situation sehen, müssen wir in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß der Westen kein Land des Wohllebens ist. Frau Korspeter, es ist nicht so, daß die Menschen wirklich nur aus Not aus dem Osten herüberkommen! Die Menschen drüben müssen wissen, daß, wenn sie herüberkommen. der Preis, den sie für die Gewinnung ihrer persönlichen Freiheit und Sicherheit zu zahlen haben, ein hartes Leben ist, wirtschaftliche Not und für lange Zeit höchstens eine Behausung, keine Wohnung und keine Heimat. Gerade wenn wir die von Frau Korspeter geforderte Menschlichkeit walten lassen, dürfen wir nicht unbesehen weitere Hunderttausende und Millionen hier in den überfüllten Westen hineinlassen, wenn wir diesen Menschen nicht ein wirklich menschenwürdiges Leben garantieren können.
Die Menschenwürde bleibt auf dem Papier, meine Damen und Herren, wenn wir die Grenzen für die Ströme aus dem Osten völlig öffnen, und gerade unsere Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten verlangt von uns, daß wir sehr sorgfältige Überlegungen anstellen.
Meine Herren und Damen, lassen Sie mich ein Weiteres sagen. In besonderen geschichtlichen Situationen gibt es besondere geschichtliche Aufgaben, denen der, dem sie gestellt sind, sich nicht entziehen darf. Das darf nicht geschehen, weil wir eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und eine Verpflichtung gegenüber der Zukunft haben. Die Bewältigung solcher Aufgaben braucht nicht in großen bemerkbaren Taten zu bestehen, sondern sie kann — und das ist oft das Schwerste dabei — im Ausharren und Bewahren, im Da-Sein und im Dableiben bestehen. Das ist vielleicht die schwere historische Aufgabe, die unseren Brüdern und Schwe-
stern im Osten, im Augenblick auferlegt ist. Wir können Ihnen diese Aufgabe nicht abnehmen. Wir wissen genau, wie schwer sie auf jedem Tag und auf jeder Stunde bei 'jedem einzelnen drüben lastet. Gerade wir als Frauen sprechen nicht gern von diesen Dingen, die tief in die Beziehungen des Menschlichen hineinreichen. Wir wollen aber doch klar herausstellen, daß die Verantwortung für diese Situation nicht bei dem Westen Deutschlands, sondern in der Weltsituation liegt, in der wir nur Amboß sind, einer Situation, in der es fünf Jahre nach Kriegsschluß noch nicht möglich gewesen ist, zum Frieden zu kommen und die gequälte Menschheit freizumachen von Sorge, Angst und Not.
Meine Herren und Damen, die Folge dieser furchtbaren Weltsituation ist dieses Gesetz, ist damit die Tatsache, daß wir — und das haben wir in all seiner Furchtbarkeit bedacht — als Deutsche ein Gesetz gegen Deutsche machen müssen.
Das ist eine Situation, in der vielleicht noch niemals ein Volk gewesen ist.
— Herr Arndt, sagen Sie nicht, das brauchten wir nicht! Ich komme gleich noch auf die Dinge zurück. Wir müssen dieses Gesetz machen, Herr Arndt! Sie wissen genau wie wir, daß in dem Memorandum der Hohen Kommissare verlangt wird, wir sollten die Maßnahmen angeben, die wir treffen wollen, damit wir dem Ansturm nicht erliegen. Wir möchten diese Dinge durch ein deutsches Gesetz erledigen, wir wollen die Entscheidung über diese Fragen nicht in die Hand der Hohen Kommissare legen.
- Herr Renner, Sie sollten den Petersberg außer acht lassen, Sie sollten vielmehr an Stalin und den Osten denken! Wenn die Dinge im Osten nicht so wären, wie sie sind, wären wir in dem ganzen Konflikt nicht drin und brauchten das Gesetz nicht zu machen!
Nun sagt die SPD in ihrem Antrag: der Aufnahmeantrag soll nur abgelehnt werden, wenn es sich um Fälle handelt, in denen ein Tatbestand vorliegt, der auch hier im Westen unter Strafe gestellt würde. Meine Herren und Damen, wir kennen aus vergangenen Zeiten die Gesetzgebung eines autoritären Staates und auch die Möglichkeiten, die da gegeben sind, viel zu sehr, als daß uns eine solche Formulierung einleuchten würde. Wir müssen festhalten, daß eine wirkliche Gefährdung vorliegen muß. Wenn wir uns die Zahlen von Gießen und Uelzen ansehen, machen wir folgende interessante Feststellung: Fast 13 000 Aufnahmegesuchen im September stehen noch nicht 5000 im Januar gegenüber, mit anderen Worten: die Zahl der Aufnahmegesuche ist um über ein Drittel zurückgegangen. Warum? Weil inzwischen die Uelzener Beschlüsse vorlagen, aus denen man wußte, daß man nicht herüberkommen konnte, ohne wirklich zwingende Gründe nachzuweisen, und weil man vor allen Dingen wußte, daß die Witterung schlechter sein würde und
infolgedessen auch die Anstrengungen bei einer Reise nach dem Westen größer sein würden.
Meine Damen und Herren! Diese Tatsache des Rückganges in den winterlichen, ungünstigen Monaten zeigt, daß nicht überall die Notwendigkeiten vorliegen, von denen Frau Korspeter so eindringlich gesprochen hat. Ich möchte weiter sagen: wir wollen — die Zahlen beweisen, daß es notwendig ist — alle Abenteurer fernhalten. Frau Korspeter, Sie sagen, die sind nicht da. Sie sind da, denn gerade die Verhältnisse im Osten verlocken die Menschen, irgendwie den Versuch zu machen, neu Fuß zu fassen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, daß die Zeiten, in denen man wie Kulpe im Stil von Hermann Hesse über die Landstraßen wanderte, restlos vorbei sind. Die Menschen kommen in Not hinein und haben sehr oft nicht die charakterlichen. Voraussetzungen, dieser Not standzuhalten,
Des weiteren, meine Herren und Damen, legen wir absolut keinen Wert darauf - Sie kennen die Geschichte dieses Trupps, der nach Bonn unterwegs war —, in den Westen Sendboten einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung in größerer Zahl hineinzubekommen.
denen drüben gewisse Aufträge geworden sind und die hoffen, aus Zusammenbruch und Chaos hier im Westen ihre Früchte ziehen zu können. Das wollen wir nicht. Wir wollen hier unseren Westen mit aller Mühe und alle: Arbeit aufbauen können und uns nicht durch destruktive Elemente mit besonderer Zielsetzung in dieser Aufbauarbeit stören lassen.
Meine Damen und Herren, was uns auch bei einer Eindämmung des Stromes bleibt, ist die große Zahl der Illegalen. Frau Korspeter, diesen Rest sehen wir unbedingt. Es kommt uns nur darauf an, den Zustrom dieser Illegalen einzudämmen. Sie wissen genau — das ist im Ausschuß oft und klar genug besprochen worden —, daß wir die Menschen nicht durch Polizeibüttel üben die Grenzen zurücktreiben lassen wollen, sondern wir wollen den Menschen die Hoffnung verringern, daß sie hier im Westen ohne weiteres ein leichtes Leben finden können. Zahlenmäßig, Frau Korspeter, beweist die Entwicklung der Lage in Uelzen Tatsachen, die Sie nicht abstreiten können. Wir wissen genau; daß wir vorläufig die Zahl der Illegalen gar nicht feststellen können. Das Statistische Amt des Vereinigten Wirtschaftsgebiets gibt als geschätzte Zahlen 200 000 bis 700 000 an; wahrscheinlich wird die richtige Zahl bei 400 000 liegen.
Was mir als Frau neben den Nichterfaßten viel Sorge macht, ist die Riesenzahl der Jugendlichen. Ich freue mich, daß gerade in der vorigen Woche der Jugendwohlfahrtsausschuß zur Behebung der Not dieser heimatlosen Jugendlichen so energische Maßnahmen verlangt hat. Da liegt tatsächlich. ein menschliches und ein politisches Problem vor, dem wir so schnell wie möglich auf den Hals rücken müssen. Die Behebung der Not der illegalen Jugendlichen ist Bundessache. Es geht auf die Dauer nicht, daß wir mit dem einzigen Lager Poggenhagen versuchen, dieser Not herr zu werden. Wir müssen weitere Auffang-
lager haben, in denen diese Jugendlichen zunächst einmal gesammelt und von wo auch sie dann in geordnete Verhältnisse und an ordentliche Arbeitsplätze gebracht werden müssen.
Meine Herren und Damen! Wir wissen genau, daß in dieser Frage bei der ungeheuren Not eine befriedigende Lösung nicht gefunden werden kann. Wir streiten der SPD die Ehrlichkeit ihrer Überzeugung, daß es nur durch dieses fast unbegrenzte Öffnen der Grenzen möglich ist, der Frage Herr zu werden, nicht ab. Wir sind aber nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, daß es nur andersherum geht, nur dadurch, daß man die Aufnahme erschwert. Frau Korspeter, ich bin mit Ihnen absolut einig: Deutschland muß die Heimat aller Deutschen bleiben, aber nicht die westdeutsche Bundesrepublik, sondern das gesamte Deutschland. Das sollten wir auch in dieser Stunde nicht vergessen!