Meine Damen und Herren! Ich muß auch mit einer Richtigstellung anfangen. Im Parlamentarischen Rat ist über die Frage Frankfurt-Bonn geheim abgestimmt worden. Im Parlamentarischen Rat hat die KPD-Fraktion einen Antrag eingebracht, der hieß: Die Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Für diesen Antrag haben die Mitglieder der KPD-Fraktion gestimmt.
— Wogegen haben wir gestimmt?
— Verzeihung, Herr Neumann, Ihnen ist heute schon eine derartige Reihe von historischen Irrtümern unterlaufen, daß ich wirklich bitten muß, mir Gelegenheit zu geben, nachher im Stenogramm festzustellen, was Sie eigentlich gemeint haben. Wir haben auch bei der Abstimmung Frankfurt-Bonn hier im Hause einen eigenen Antrag eingereicht:
Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands. — Waren Sie da gerade beurlaubt oder waren Sie gerade auf der Luftbrücke von Berlin nach Bonn unterwegs? Ich weiß es nicht.
Aber bitte, lesen Sie das Stenogramm der Sitzung nach. Wir haben auch in der entscheidenden Minute Berlin als Hauptstadt für Deutschland gefordert. Herr Neumann, es tut mir leid. Na ja, Sie haben heute soviel — ich hätte beinahe ein unparlamentarisches Wort gebraucht — schon erzählt; ich verzeihe Ihnen auch diesen kleinen Ausflug in die Unwahrhaftigkeit.
Nun der Überraschungsantrag! Das war es ja gar nicht. Die Frage, wie man über das Problem BonnFrankfurt abstimmen sollte, ist im Ältestenrat lang und breit gewälzt worden.
Man ist sich im Ältestenrat darüber einig geworden, die Frage der Möglichkeit der geheimen Abstimmung ohne Diskussion über die Bühne gehen
zu lassen. Ohne Diskussion! Daraus habe ich im
Ältestenrat geschlußfolgert, daß quer durch alle
Fraktionen das Bestreben geht, von dem freizukommen, was man zu der Frage in der Öffentlichkeit gesagt hat, um hier geheim für Bonn stimmen zu können. Das ist der Hintergrund, so wie er im Ältestenrat abgelaufen' ist. Machen wir uns doch bitte in der Frage gegenseitig nichts vor! Der Antrag, die Geschäftsordnung in diesem Punkt zu ändern, war ein sehr zweckbedingter Antrag. Er sollte gewissen Mitgliedern gewisser Fraktionen Gelegenheit geben zu echappieren.
Das war der Sinn.
Nun aber zu dem Problem selber. Der Antrag der Bayernpartei ist gut. Wir stimmen vorbehaltlos für ihn. Nur empfinden wir es so ein bißchen komisch, daß es ausgerechnet die Bayernpartei ist,
die sich als Gralshüter der Demokratie aufgespielt hat. Es gibt so etwas wie ein Grundgesetz. Das ist bei uns flexibel; das hat sich schon langsam herumgesprochen. In Artikel 42 des Grundgesetzes steht — das hat Herr Kollege Dr. Arndt schon erwähnt —, daß der Bundestag öffentlich verhandelt. Frage: Was wolten die Gesetzgeber?
Wollten sie nur, daß das wertgeschätzte Publikum da oben auf dem Balkon Gelegenheit haben soll, die goldenen Worte der Herren Parlamentarier hier anzuhören? Oder wollten die Gesetzgeber auch, daß das sehr geehrte Publikum Gelegenheit hat, zu sehen, wie die Herren Abgeordneten stimmen, wie sich also ihre politische Entscheidung zu ihren goldenen Worten verhält? Da soll es ja bekanntlich sehr oft einen Widerspruch geben.
Ich will ganz vorsichtig sein.
Aber im Grundgesetz steht noch etwas anderes In Artikel 46 steht drin, daß ein Abgeordneter zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung usw. gerichtlich oder dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags zur Verantwortung gezogen werden kann und darf. Wenn der Gesetzgeber verhüten will, daß jemand wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden kann, hat ihm doch dabei die öffentliche Abstimmung vorgeschwebt. Denn für die geheime Abstimmung kann man ja schließlich von niemandem verantwortlich gemacht werden, weder von einer Behörde noch vom Wähler. Und darauf kam es den Bejahern dieser Änderung an. Sie wollten von ihren Wählern nicht für ihre politischen Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Das ist der wahre Inhalt dieses Beschlusses.
Aber warum soviel Kraftaufwand, soviel Pathos?
Ihre Demokratie ist etwas sehr Flexibles, und es gibt in diesem Hause eine Mehrheit, die bewiesen hat, daß sie die Demokratie so auslegt und praktiziert, wie sie es gerade versteht, wie es ihr gerade opportun erscheint. Das ist doch nichts Neues, das sind doch alte Binsenweisheiten. Wieder einmal mehr: Wie ich die Demokratie praktisch anwende, das ist eine Frage der Macht.
Und die Mehrheit in diesem Hause hat bisher die Tatsache, daß sie zahlenmäßig die Macht in der Hand hat — das hat sogar der Herr Kollege Dr. Arndt , unverblümt ausgesprochen —, bereits mehrfach benutzt, um die Minderheiten ihrer im Grundgesetz garantierten Rechte hart und gnadenlos zu berauben. So habe ich das gemeint, wenn ich
'davon sprach, daß das eine Machtfrage ist, wie denn ja auch Verfassungsfragen Machtfragen sind.
Aber nun zu einem anderen Problem. Die Frau Kollegin Dr. Weber hat hier einen sehr, sehr diskutablen Vergleich gezogen, als sie von den Abgeordneten gesprochen hat, die in direkter Wahl in ihren Wahlkreisen gewählt worden sind, und denen, die über die Liste in den Bundestag eingezogen sind. Sie hat damit ein Kernproblem angeschnitten, aber dabei unterlassen zu sagen, daß, wenn man über die Liste hier in den Bundestag einziehen wollte, man nachgewiesenermaßen fast das Dreifache an Stimmen gebraucht hat wie die sehr verehrten Sieger dieser letzten Wahl von der CDU/CSU.
Aber sie hat noch ein anderes Wort geprägt, das Wort von der Persönlichkeit. Ich will hier nicht gehässig werden — es ist schon 21/4 Uhr —, ich will hier nicht die Frage aufwerfen, wieviel „Persönlichkeiten" — —; ich will die Frage offenlassen. Aber wie kann man, verehrte Frau Dr. Weber, die geheime Abstimmung bejahen und dabei gleichzeitig das Persönlichkeitswahlsystem als das einzig richtige ansprechen?
Eine Persönlichkeit — wenigstens das, was ich darunter verstehe — steht für ihre Entscheidungen grade. Das ist das Wesen der Persönlichkeit. Das andere sind Hampelmänner oder Wiesen- und Waldredner; das sind Parteimarionetten.
Und die Freiheit wohnt am allerwenigsten im
Schatten des Geldschrankes, sondern von da gehen
die Bindungen aus. Aber nun befindet sich die
Frau Weber — weil Sie Essenerin sind, darf ich Sie
daran erinnern — in einer sehr vornehmen Gesellschaft, der der deutschen Wählergesellschaft.
Einer der führenden Männer ist der Herr Botschafter a. D. Dr. Bracht. Wir kennen ihn ja, diesen
Bracht, der vor 1933 einmal bei uns in Essen
Oberbürgermeister war und dem ich damls schon
einmal bei einer ähnlichen Gelegenheit sagte, — —
— Nein, Verzeihung, ich meine Luther. Ich meine nicht Bracht, den allerletzten; der war ja auch von Ihnen!
Ich meine Luther, der in der Wählergesellschaft
diese entscheidende Rolle spielt. Das ist nicht alt.
— Bei Bracht kann man ja auch einiges zitieren; so die Geschichte mit dem Zwickel.
— Aber wir reden jetzt von der deutschen Wählergesellschaft, von Ihrem Mann und von der Persönlichkeitswahl und von diesem Luther, der heute in diesem Kampf an führender Stelle steht, dem ich vor 1933 in Essen einmal gesagt habe: „Luther, hier stehe ich, ich kann auch anders!"
Dieser Luther, der alte Reaktionär, ist heute der Vorkämpfer. Herr Lehr, fühlen Sie sich auch angesprochen; Sie gehören in denselben Verein.
Das ist jetzt einer der typischen Vorkämpfer für die sogenannte Persönlichkeitswahl.
— Ich komme jetzt zur Sache.
Ich komme nun zu den Gralshütern der Demokratie. Ich habe schon vorhin gesagt, daß ich mich wundere, daß Herr Seelos hier in .die Kampfbahn geritten ist; derselbe Herr Seelos mit denselben Freunden von der SPD, die bei anderer Gelegenheit in puncto Öffentlichkeit der Verhandlungen des Bundestags eine absolut abweichende Auffassung haben.
Was meine ich damit? Ich meine: wenn man für die Öffentlichkeit gegenüber dem Publikum ist, dann sollte man auch konsequenterweise einen Schritt weitergehen. Man sollte dafür sein, daß für die Abgeordneten des Bundestags die Öffentlichkeit unter allen Umständen gesichert ist. Das soll heißen: man sollte dafür sorgen, daß in allen Ausschüssen des Bundestags die Abgeordneten aller Fraktionen Zutritt haben. Das haben Sie verhindert.
— Manches muß ich kompliziert machen, damit Sie es verstehen, damit Sie die Zusammenhänge verstehen.
Dieselben Gralshüter der Demokratie, die hier für das hochgeschätzte Publikum kämpfen, haben einem Beschluß zugestimmt, der zur Folge hat, daß gewählte Vertreter des Volkes in verschiedenen besonders interessanten Ausschüssen nicht einmal teilnehmen dürfen.
Ich hoffe, daß aus diesem wirklichen Bravourritt, den Herr Dr. Seelos in dieser Frage geritten hat, und aus der nicht minder grundsätzlichen Einstellung der Sozialdemokratie und der übrigen Sprecher jetzt ein Resultat entspringt: das Resultat, die Öffentlichkeit auch für die Herren gewählten Vertreter des Volkes, also auch für die Bundestagsabgeordneten in ihrer Gesamtheit herzustellen.
— Armer Herr Dr. Seelos! Hier sind wir doch im Mutterland der Demokratie; hier machen Sie doch „Ihre Demokratie".
Hier legen Sie doch die Demokratie so aus, wie es Ihnen paßt. Hier verhindern Sie doch, daß gewisse Abgeordnete gewisser Fraktionen hinter gewisse krumme Dinge kommen, die in den Ausschüssen gedreht werden. Nichts anderes steckt dahinter als Ihre Absicht, krumme Dinge, die Sie in den Ausschüssen drehen, vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten.