Meine Damen und Herren! Die Amnestie, so wie sie ja wohl von allen Frak-
tionen dieses Hauses ihrem Sinne nach bejaht worden ist, soll auch nach dem Wortlaut der Begründung durch die Regierung einen Schlußstrich unter Jahre der Not, der Rechtsverwirrung und ungeordneter Zustände ziehen, in denen viele Menschen Straftaten begangen haben, die sie sonst, unter normalen Umständen, nicht begangen hätten.
Wenn man dieses Ziel erreichen will, muß man bei der Amnestie eine gewisse Großzügigkeit walten lassen. Die Meinung meiner politschen Freunde ist die, daß die Straffreiheitsgrenze, die nun mit sechs Monaten Haft- oder Gefängnisstrafe festgelegt worden ist, dieser notwendigen Großzügigkeit nicht entspricht. Denken Sie bitte daran, wieviele Vergehen — Eigentumsvergehen und andere — in diesen Jahren aus einer Notlage heraus von kleinen, sonst unbescholtenen, ehrlichen Leuten begangen worden sind, die mit mehr als sechs Monaten bestraft worden sind und die nun bei der Grenzziehung, wie sie in dem Entwurf vorgesehen ist, nicht unter die Amnestie fallen würden. Man kann dem nicht entgegenhalten, daß in § 2 Absatz 2 des Gesetzentwurfs bedingter Straferlaß bis zu einem Jahr gewährt werde, eben deshalb, weil es nur ein bedingter Straferlaß ist, der zudem an gewisse subjektive Voraussetzungen geknüpft ist. Das würde bedeuten, daß in allen bereits abgeschlossenen Verfahren, wenn also das Urteil bereits gesprochen ist, erneut geprüft werden müßte, ob diese subjektiven Voraussetzungen für den Straferlaß, der bei Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr gewährt werden soll, gegeben sind. Das bringt einmal eine neue Belastung der Gerichte mit sich und legt zum andern die Straffreiheit wieder zu einem großen Teil in das Ermessen der Staatsanwaltschaften und Gerichte und zieht so eben nicht einen generellen Schlußstrich unter die Vergangenheit. Aus diesem Grunde tritt die kommunistische Fraktion dafür ein, die Straffreiheitsgrenze generell und ohne Bedingungen von einem halben Jahr auf ein Jahr zu erhöhen. Für die Einzelberatung werden wir dem Herrn Präsidenten einen entsprechend formulierten Antrag überreichen, und wir bitten Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Im übrigen darf ich zu der Straffreiheitsgrenze noch bemerken, daß zu der Gefängnisstrafe von sechs Monaten die verhältnismäßig hohe Freigrenze von 5000 D-Mark für Geldstrafen in etwas auffälligem Gegensatz steht. Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß diese hohe Grenze von 5000 DM Geldstrafe daraus resultiert, daß ursprünglich beabsichtigt war, Wirtschaftsvergehen, Vergehen gegen die Bewirtschaftung usw. bei der Straffreiheit gesondert und begünstigt zu behandeln. Erfreulicherweise ist diese Absicht im Ausschuß nicht durchgedrungen, und es wird jetzt kein Unterschied gemacht. Aber übriggeblieben ist eben doch, daß man die Grenze der Straffreiheit hinsichtlich der Geldstrafen auf das betreffende Kontrollratsgesetz zugeschnitten hat, auf bestimmte Wirtschaftsvergehen, während man bei den Gefängnisstrafen bedeutend daruntergeblieben ist. Es bleibt auf diese Weise auch jetzt noch eine gewisse soziale Ungerechtigkeit bestehen, die wir dadurch zu beseitigen bitten, daß man auch die Grenze für Gefängnisstrafen von sechs Monaten auf ein Jahr erweitert. Auch dann werden noch gewisse Härten übrigbleiben, aber das ist ja wohl unvermeidlich, weil irgendwo eine Grenze gezogen werden muß. Wir können daher nur den Wunsch aussprechen, daß die dann noch verbleibenden Härtefälle wenigstens auf dem Wege der Einzelbegnadigung weitestgehendem Verständnis seitens der Justizbehörden begegnen.
Der andere Mangel des Entwurfs liegt unseres Erachtens darin, daß Disziplinarstrafen von Beamten von der Straffreiheit ausgenommen sind. Wir sind der Meinung, daß die Verhältnisse in den vergangenen Jahren, auf die sich das Straffreiheitsgesetz ja beruft, in vielen Fällen auch zu Disziplinarstrafen von kleinen Beamten geführt haben, deren Vergehen ebenfalls nur aus der damaligen Situation verständlich sind und die unter anderen Umständen nicht begangen worden wären. Auch unter diese Dinge muß ein Schlußstrich gezogen werden. Im Ausschuß waren von einer Fraktion entsprechende Vorschläge angekündigt. Wir unterstützen einen jeden derartigen Vorschlag, der darauf abzielt, auch die Disziplinarstrafen der Beamten in die Straffreiheit einzubeziehen, oder jeden anderen Weg, der gewährleistet, daß das so schnell als möglich erfolgt.
Noch einige Worte zu dem § 6 aa, der unseres Erachtens einer unbedingten politischen Notwendigkeit entspringt. In den Ausschußberatungen sind Fälle genannt worden, in denen Menschen, die im Jahre 1945 im Wechsel zwischen dem Ende der nationalsozialistischen Regierung und dem Beginn des Besatzungsregimes, eingegriffen und sich zur Aufrechterhaltung einer notdürftigen Ordnung zur Verfügung gestellt haben. Diese Menschen haben mitunter nicht genau nach den formalen Bestimmungen soundso vieler Gesetze gehandelt, haben vielleicht auch damals in der begreiflichen Empörung den einen oder anderen Nationalsozialisten hart angegriffen und sollen deshalb nun vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Es scheint uns notwendig zu sein, daß derartige Verfahren nicht durchgeführt werden.
Die Formulierung des § 6 aa ist allerdings sehr a dehnbar und verschieden auslegungsfähig. Sie ist dadurch entstanden, daß die Mehrheit des Ausschusses eine große Scheu davor hatte, das Kind beim Namen zu nennen und zu sagen, daß man Handlungen straffrei lassen will, die aus Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus begangen worden sind. Durch die vorliegende Formulierung werden auch solche Fälle nicht getroffen, die bereits in der ersten Lesung angeschnitten worden sind, nämlich Handlungen, die aus Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft schon in der Zeit vor dem 8. Mai 1945 begangen worden sind. Es ist zwar im Ausschuß einstimmig die Auffassung vertreten worden, daß solche Handlungen nicht strafbar sind und somit auch keiner Amnestie bedürfen. Leider. ist aber diese Auffassung, die wir für absolut richtig halten, nicht immer die Auffassung unserer Richter und Staatsanwälte, und wir fürchten, daß, wenn das nicht klar und eindeutig in Gesetzesform ausgesprochen wird, wir heute und auch noch in den nächsten Jahren erleben werden, daß Gegner des Nationalsozialismus vor Gericht zitiert werden, daß ihnen ein Verfahren angehängt wird — wie in einem Falle, der hier schon einmal erwähnt wurde —, weil sie im Jahre 1942 oder 1943 einen Meineid geschworen haben, um sich selbst oder irgendeinen anderen vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu bewahren. So groß die Einmütigkeit in dieser Frage im Ausschuß gewesen sein mag, bei der Einstellung unserer Staatsanwälte und Richter sehen wir darin allein noch keine genügende Gewähr, daß solche Dinge in Zukunft wirklich unterbunden werden. Wir bitten also das Bundesjustizministerium — das hat mit der
Amnestie gar nichts zu tun —, doch entsprechende Maßnahmen zu treffen.
Meine Fraktion wird diesem Gesetz im ganzen zustimmen, weil sie die Notwendigkeit einer Amnestie bejaht. Sie appelliert aber an das Hohe Haus, großzügig zu sein und den Strafrahmen weiter zu stecken, als es jetzt im Entwurf geschehen ist.