Gesamtes Protokol
Ich eröffne die Sitzung nach Art. 56 des Grundgesetzes.Ich begrüße namens des Deutschen Bundestages und des Bundesrates insbesondere alle Ehrengäste aus dem Inland und aus dem Ausland.Meine Herren Präsidenten! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Wir haben uns heute zur Vereidigung und zur Amtseinführung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland versammelt. Es gibt in unserer Demokratie keinen repräsentativeren Staatsakt als diesen. Die Anwesenheit des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung, der Vertreter der höchsten Gerichte und der Verwaltung verleiht dieser Versammlung den Charakter einer Gesamtrepräsentation der Bundesrepublik Deutschland. Sie bedeutet nicht nur Zeugenschaft an der Vereidigung des Staatsoberhauptes, sie ist darüber hinaus ein Zeugnis für unseren Staat und seine Verfassung, wie wir es eindrucksvoller nicht ablegen können.Unser Staat besteht nun seit 20 Jahren. Er hat - bedenkt man die Situation seiner Begründung — Leistungen vollbracht, die weder unser Volk noch die unter uns weilenden 52 Mitglieder des Hauses, die ihm vom ersten Tage seines Zusammentretens an angehören, zu erträumen gewagt haben. Wir können stolz darauf sein, daß der Maßstab und das Ziel dieser Leistungen ausschließlich Frieden und Wohlstand unseres Volkes und nicht innere und äußere Macht gewesen sind. Es geht mir hier nicht um eine Erfolgsbilanz, auch nicht um vielleicht umstrittene Einzelheiten eines geschichtlichen Rückblicks. Denn ein Tag wie dieser sollte uns eher Veranlassung sein, die junge Tradition unserer Demokratie mit ihren Zukunftserwartungen zu verbinden. Aber auch Zukunftserwartungen, sollen sie mehr sein als Wunschträume und Spekulationen, brauchen eine Ausgangsbasis, einen festen Grund. Er besteht in der Dauerhaftigkeit der Verfassung, in der Festigkeit der Demokratie als eines Regimes der Vernunft und des sozialen Ausgleiches, in der Integrität des Rechtsstaates und der persönlichen Freiheit seiner Bürger.Das alles ist gemeint, wenn wir von der Stabilität unseres Staates sprechen und wenn wir es mit Stolz tun. Niemand sollte vergessen, daß diese Stabilität das Fundament der sozialen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft ist. Sie ist ebenso das Fundament unserer nationalen Zukunftserwartung, der Freiheit der ganzen deutschen Nation, der dieser Staat sich verfassungsmäßig verpflichtet hat.Wir alle wissen, daß unser Staat aus eitler beispiellosen Katastrophe entstanden ist, in einem Lande, das vor einem Nichts stand. Seine Stabilisierung auf dem vor Erregung zitternden Boden der Weltpolitik hat aber niemals ein Stehenbleiben, ein Sich-Zufriedengeben erlaubt. Seit ihrem Bestehen war die Bundesrepublik ein Land tiefgreifender Wandlungen und raschen Fortschritts zum modernen Wirtschafts- und Sozialstaat . Vielleicht ist uns diese Entwicklung damals, im Zeichen einer für Deutschland ganz ungewohnten Dauerhaftigkeit der politischen Verhältnisse, nicht so bewußt geworden, wie sie es heute sein muß. Tatsache ist jedenfalls, daß sich der evolutionäre Charakter der deutschen Gesellschaft mehr und mehr ausgeprägt hat. Er verlangt auch im Staatlich-Politischen den Willen zur ständigen Erneuerung. Die Notwendigkeit einer Anpassung unserer Politik und unserer staatlichen Institutionen an diese Entwicklung ist heute unbestritten. Nicht nur bei uns, sondern in fast allen Ländern ist sie das große Thema des nächsten Jahrzehnts. Wir werden manche Schritte ins Ungewisse tun müssen, ohne uns überall auf Erfahrungen stützen zu können. Um so notwendiger ist es deshalb, daß unser Handeln auch weiterhin von dem Willen zur Stabilität diktiert wird, damit die Dynamik, der wir weder ausweichen können noch ausweichen wollen, nicht haltlos wird.Auf der anderen Seite müssen wir uns eingestehen, daß diese Entwicklung ohne krisenhafte Begleiterscheinungen vor sich gehen wird. Ein Teil der Reformen, und nicht der unwichtigste, ist mit bestimmt durch eine tiefgreifende Krise der Repräsentation, und auch dies nicht nur bei uns, sondern in allen modernen Staaten. Diese Krise der Repräsentation beschränkt sich also nicht nur auf die Bundesrepublik Deutschland, sie hat keine spezifisch deutschen Ursachen. Nichtsdestoweniger müssen wir ihr be-
Metadaten/Kopzeile:
13662 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969
Bundestagspräsident von Hasselgegnen durch die Weiterentwicklung unserer Staatlichkeit, durch ihre Modernisierung, aber ebenso durch den Willen, an dieser repräsentativen Demokratie festzuhalten. Denn ohne die Idee der Repräsentation kann es keine stabile Verfassung geben, und kein Tag ist für eine solche Überlegung geeigneter als dieser, der dem höchsten repräsentativen Amt der Bundesrepublik gewidmet ist.Heute vor zwei Wochen, am 17. Juni, haben wir auch der Wiederkehr der Annahme des Grundgesetzes gedacht. Hier im Hause saß die Mehrheit der heute noch lebenden Schöpfer unserer Verfassung. Diese Väter des Grundgesetzes haben die Autorität des höchsten Staatsamtes im Rückblick auf die Weimarer Republik streng von der Ausübung politischer Macht getrennt. Das Staatsoberhaupt soll bei der Vollziehung seiner repräsentativen Aufgabe nicht in Versuchung geraten, die Exekutive für sich in Anspruch zu nehmen. Er soll nicht Partei werden, sondern sich mit dem Staate als Ganzem identifizieren. In dieser Aufgabe des Staatsoberhauptes liegt der eigentliche Sinn seiner Repräsentation, die ihm über sein Amt hinaus moralische Autorität verleiht. Die Wahrung seiner moralischen Autorität verbietet es dem Staatsoberhaupt, machtpolitisch zu intervenieren, denn das hieße Partei zu ergreifen. Er ist weder Exponent politischer Mehrheiten noch Anwalt dissentierender Minderheiten.Und weil diesem Amte keine politische Macht zukommt, kann von ihm eine besondere Integrationswirkung ausgehen, kann sich in ihm die Persönlichkeit seines Inhabers zu einer Autorität entfalten, wie sie gerade die moderne Massendemokratie und der Parteienstaat brauchen.Es ist deshalb eine glückliche Lösung, daß die Amtseinführung des Bundespräsidenten erst geraume Zeit nach seiner Wahl stattfindet. Denn die Wahl des Bundespräsidenten ist ein Akt der poltischen Willensbildung, sie geschieht und sie muß geschehen in der Konkurrenz der politischen Parteien. Aber wer dieses Amt gewinnt, verliert damit seine Parteilichkeit, und Freunde und Gegner brauchen Zeit, um die Distanz zu gewinnen, die der Respekt vor dem Staatsoberhaupt verlangt.Der Präsident der Bundesrepublik Deutschland ist als Staatsoberhaupt der erste und der vornehmste Bürger der deutschen Demokratie. Er steht für alle, die sich in diesem Staate engagieren. Was er sagt, muß den Respekt der Regierung, der Parteien und der öffentlichen Meinung verdienen. Seine Warnungen und seine Empfehlungen sollen einen hohen Grad moralischer Verbindlichkeiten gewinnen. Gerade mit dieser Bürde informeller, notwendigerweise oft ganz persönlich gefärbter Verpflichtungen verbindet sich unsere Hoffnung für das Gelingen seiner Aufgabe.Diese Stunde des Wechsels im Amte des Staatsoberhaupts ist zunächst die Stunde des Dankes an den scheidenden Bundespräsidenten Heinrich Lübke. — Sie haben diesem Amt zehn Jahre lang mit dem Einsatz Ihrer ganzen Kraft gedient. In den Jahren Ihrer Präsidentschaft hat sich die Bundesrepublik weiter gefestigt. Sie haben zur Stabilisierung unseres Staatswesens beigetragen durch Tugenden, die heute vielleicht nicht mehr so selbstverständlich sind wie früher, die Ihre Amtsführung aber in ganz besonderem Maße ausgezeichnet haben. Diese Tugenden heißen Treue und Pflichterfüllung — vom ersten bis zum letzten Tage —, nicht nur in der formellen Ausübung Ihres Amtes, sondern in den Zielen, die Sie selbst sich gesteckt haben. Sie haben, Herr Dr. Lübke, nie danach gefragt, was Sie für Rechte hatten, Sie haben immer obenan die Pflicht gestellt.Sie waren Staatsoberhaupt und damit Ihrem Volke, dem Vaterland in erster Linie verantwortlich, und dennoch waren Sie leidenschaftlicher Europäer. Sie wußten, daß ohne ein größeres vereinigtes Europa die Alte Welt ihre friedenserhaltende, ihre völkerversöhnende Rolle nicht mehr würde spielen können.Sie haben durch Ihre vielen Besuche in allen Teilen der Bundesrepublik, durch Ihre vielen Gespräche mit allen Schichten unseres Volkes die bei uns noch nicht gelösten Probleme, so manche Not, viele Sorgen gesehen. Sie kennen aber auch die Dritte Welt, und Sie wissen, daß wir als große Industrienation — trotz vieler hier nicht geschlossener Lücken — die Pflicht haben, dieser Dritten Welt in ihren Nöten, ihren Sorgen zur Erreichung ihrer Aufbauziele beizustehen, und zwar nicht nur durch Hergabe von Geld, sondern durch persönliches Engagement, durch eigenen Einsatz.Es ist Ihr historisches Verdienst, daß Sie für Deutschland in der Welt geworben haben und durch Ihr glaubwürdiges Auftreten sein Ansehen gefestigt haben. Sie haben bei aller Weltoffenheit, bei Ihrem Gefühl für die Mitverantwortung Deutschlands für die Welt nie verleugnet, daß auch das deutsche Volk ohne Nationalgefühl nicht leben kann. Sie haben sich aber stets gegen Nationalismus gewandt. Sie, für den Toleranz und Freiheit des einzelnen selbstverständlich sind, haben wiederholt die Intoleranz kleiner radikaler Minderheiten persönlich erfahren müssen.Herr Dr. Lübke, Sie sollen beim Scheiden aus Ihrem Amt aber wissen: die überwältigende Mehrheit unseres Volkes hält etwas von seinem Staat und von seiner Freiheit. Sie wird beides verteidigen und zu schützen wissen.Ihre Treue und Pflichterfüllung gegenüber Staat und Volk, Ihre beispielhafte Treue gegenüber der alten Reichshauptstadt Berlin, Ihr Verantwortungsgefühl gegenüber einer neuen Welt und ihrer Zukunft, das ist es, was wir in dieser Stunde anerkennen und wofür wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet sind.Ich verbinde unseren Dank an den scheidenden Präsidenten mit einem besonderen Dank an Sie, Frau Lübke. Sie haben nicht nur Ihrem Mann die Last dieses Amtes tragen helfen, Sie haben viel Zeit und Kraft karitativen Aufgaben, dem Dienst an anderen gewidmet. Es gab sicherlich nicht viele Tage, an denen Sie das tun konnten, woran Sie Freude, wozu Sie Neigung gehabt hätten. Sie haben, gnädige Frau, sich aufgeopfert, die Ihrem Mann über-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969 13663
Bundestagspräsident von Hasseltragene Last mit zu tragen. Sie verdienen unseren hohen Respekt.
Um Dank und Anerkennung für den scheidenden Bundespräsidenten zu bekunden, erheben sich die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften, um im Namen des deutschen Volkes und vor der Öffentlichkeit zu bezeugen:Heinrich Lübke hat sich um sein Vaterland verdient gemacht.
Diesen Dank an den scheidenden Präsidenten verbinde ich mit der herzlichen und aufrichtigen Begrüßung seines Nachfolgers, Gustav Heinemann, der als gewählter Bundespräsident nunmehr seinen Eid ablegen wird. Der bisherige Bundesminister Gustav Heinemann hat als Bürgermeister, als Bundesminister und als Parlamentarier eine erfahrungsreiche politische Laufbahn hinter sich. Als Jurist und als Minister der Justiz besitzt er für die Rechts- und für die Verfassungsordnung dieses Landes ein geschultes Auge. Wir alle kennen ihn als einen Mann, der mit äußerstem Ernst um die Verbindung seiner religös-sittlichen Überzeugungen mit dem Wohle des Staates und seinen Aufgaben als Politiker gerungen hat.Herr Dr. Gustav Heinemann, der demokratische Wahlakt der Bundesversammlung in Berlin ist allen noch in lebendiger Erinnerung. Jeder hat gesehen, daß es ein heißes Ringen war. Heute nun übernehmen Sie Ihr neues Amt. Aus diesem Anlaß möchte ich Ihnen versichern: wir bekennen uns alle zu dieser Wahlentscheidung; auch die Abgeordneten, die Ihnen die Stimme nicht gaben, achten in Ihnen das frei gewählte deutsche Staatsoberhaupt.
Wir alle wünschen Ihnen, der Sie für die nächsten Jahre der Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland und unser erster Bürger sein werden, ein segensreiches Wirken für Volk und Staat und persönliche Erfüllung in Ihrem Amte. Wir alle werden uns bemühen, Ihnen Ihre schwere Aufgabe zu erleichtern.
Das Wort hat nun der scheidende Bundespräsident.Dr. h. c. Lübke: Meine Herren Präsidenten! Meine Damen und Herren! Für die gütigen Worte, die der Herr Bundestagspräsident meinem Wirken widmete, möchte ich herzlich danken. Einschließen in diesen Dank möchte ich aber auch alle jene, hier und draußen im Land, die mir während meiner Amtszeit geholfen haben, die Last zu tragen, die ich vor nunmehr fast zehn Jahren übernahm.Bei meiner Vereidigung im September 1959 erwähnte ich drei Aufgaben, denen ich besondere Aufmerksamkeit widmen wollte.Zunächst ging es mir darum, das Vertrauen des Bürgers in unseren Staat und in unsere demokratischen Institutionen zu stärken. Ich sagte, alle, die ein öffentliches Amt innehaben, die also ein Stück Staatsautorität verkörpern, müssen aus dem Bewußtsein handeln, daß sie eine dem Gemeinwohl dienende Funktion ausüben. Diese Verpflichtung des Dienens dem einzelnen Staatsbürger gegenüber wie auch der Gemeinschaft muß sichtbar werden. Dann wird der Staat dem Bürger nicht als eine anonyme, fremde Macht gegenüberstehen, sondern der Bürger wird sich in ihm geborgen und mitverantwortlich wissen. Das setzt aber voraus, daß die Autorität des Staates selbst nicht in Frage gestellt und vor allem nicht mit Gewalt untergraben wird.Die zweite Aufgabe, von der ich sprach, betraf das Schicksal unseres auseinandergerissenen Volkes, dem bis heute seine Einheit in einem freien Gemeinwesen versagt blieb. Ich war und bin mir bewußt, daß die Lösung der Deutschlandfrage nur im Verlauf eines langwierigen und schwierigen Prozesses anzustreben ist, aber doch schließlich einmal gefunden werden wird. Deshalb wäre es falsch, wenn wir Deutsche angesichts der Verantwortlichkeit der Vier Mächte in Resignation verfielen. In uns und aus uns selbst müssen wir die Kräfte entwickeln, die unerläßlich sind, um einen solchen Prozeß in Gang zu bringen und voranzutreiben. Deshalb habe ich in meinen Reden und in Unterhaltungen mit in- und ausländischen Politikern immer wieder dieses Thema und besonders Berlin behandelt. Wir dürfen auch in Zukunft nicht müde werden, das zu tun, und dürfen vor allem nicht den Eindruck entstehen lassen, als würden wir unseren Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen nur noch mit halbem Herzen geltend machen.
Wir halten uns damit an die in der Präambel des Grundgesetzes ausdrücklich formulierte Verpflichtung, für die Menschen im anderen Teil Deutschlands einzustehen.Eine europäische Friedensordnung setzt eine Lösung der Deutschlandfrage voraus, deren Garant nicht die Gewalt, sondern nur die Billigung durch das ganze deutsche Volk sein kann. Über die Wege, auf denen man zu diesem Ziel gelangen kann, mag man durchaus verschiedener Auffassung sein. Um so mehr müssen wir festhalten an dem Willen zur Einheit Deutschlands, der hier in diesem Hohen Hause schon so oft eindrucksvoll bekundet wurde. Festhalten müssen wir an der Bereitschaft, den Völkern der Welt, auch denen, die uns wenig Verständnis entgegenbringen, durch unser Verhalten zu beweisen, daß wir aus ehrlicher Überzeugung unseren Teil zu einer friedlichen und fortschrittlichen Entwicklung beitragen. Dazu gehört die Aussöhnung mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern, mit den Völkern, denen im deutschen Namen viel Unrecht und Leid zugefügt worden ist.Ich betrachte es deshalb als ein besonders wertvolles Ergebnis deutscher Nachkriegspolitik, daß sich unser Verhältnis zu Frankreich von Grund auf gewandelt hat. Aus zwei Völkern, die sich bereits daran gewöhnt hatten, einander als Erbfeinde zu betrachten, sind Nachbarn geworden, deren Freundschaft sich stärker erwiesen hat als politische Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten.
Metadaten/Kopzeile:
13664 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969
Dr. h. c. LübkeAuch mit den anderen Staaten im freien Teil der Welt haben sich unsere Beziehungen ständig verbessert. Diese Entwicklung fortzusetzen, ist unser aller Verpflichtung.Daneben dürfen die Anstrengungen um bessere Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn trotz aller Rückschläge nicht vernachlässigt werden. Es liegt im Interesse beider Seiten, wenn an die Stelle unsachlicher Polemik ein sachlicher Dialog tritt, der die Voraussetzungen für eine friedliche, gerechte und damit dauerhafte Lösung schafft.Der dritte Problemkreis, auf den ich in meiner Ansprache am 15. September 1959 einging, war die Bekämpfung des Hungers in der Welt. Es ist dies eine Aufgabe, die nach den jüngsten Erkenntnissen ein noch viel größeres Ausmaß hat, als wir damals wußten. Schon in wenigen Jahren drohen Hungerkatastrophen und damit Hungerrevolten in verschiedenen Teilen der Welt. Wir können sie nur abwenden, wenn die Industrieländer sich großen Anstrengungen unterziehen. Die Industrieländer müssen im eigenen Interesse den Gebieten beim Aufbau ihrer Landwirtschaft helfen, die vorn Hunger bedroht sind. Andererseits müssen aber auch die Entwicklungsländer ihre ganze Kraft auf die Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion konzentrieren. Dazu müssen wir an der Seite der anderen Industriestaaten unsere Erfahrungen, unsere Kenntnisse und unsere materielle Hilfe zur Verfügung stellen. Ich habe mich deshalb bei meinen Staatsbesuchen in Ländern der Dritten Welt immer darum bemüht, unser Engagement zu verstärken und unsere Auffassung von einer sinnvollen Entwicklungspolitik zu verdeutlichen. Überall fanden wir Verständnis für unsere Einstellung, guten Willen der Partner und hatten damit beachtlichen Erfolg.Als eine der schönsten Früchte dieser Arbeit betrachte ich, daß während meiner Amtszeit in Gegenwart des damaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in der Villa Hammerschmidt der Deutsche Entwicklungsdienst gegründet wurde. Seine freiwilligen Mitarbeiter sind in Afrika, Asien und Lateinamerika für viele Regierungen und für ungezählte Menschen ein Beweis für unser Interesse an der Lösung ihrer Probleme geworden. Junge Deutsche draußen in der Welt, nicht als Eroberer, sondern als Pioniere einer friedlichen und fortschrittlichen Entwicklung — das ist etwas, worauf wir stolz sein können!
Ich hoffe, daß sich das Verständnis in unserem Volk für die Notwendigkeit und für unsere Verpflichtung, an diesem Aufbauwerk mitzuarbeiten, vertieft; denn wir helfen damit nicht nur anderen, sondern erweisen auch uns einen Dienst, wenn wir dafür sorgen, daß der Name Deutschlands draußen immer mehr mit Achtung und mit dem Gefühl der Freundschaft genannt wird.Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort an Sie richten, Herr Dr. Heinemann. Sie treten heute ein Amt an, das Ihnen schwere Verantwortung und große Pflichten aufbürdet. Ich wünsche Ihnen für den Weg, der vor Ihnen liegt, Gottes Hilfe, Gesundheit und Kraft, dazu Freude und reiche Erfüllung in Ihrer Arbeit für unser deutsches Volk.
Ich danke dem scheidenden Bundespräsidenten.
Herr Bundespräsident, die Bundesversammlung hat Sie nach den Vorschriften des Grundgesetzes am 5. März des Jahres 1969 in Berlin zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Sie haben vor der Bundesversammlung die Annahme der Wahl erklärt.
Ich bitte Sie, sich zur
Eidesleistung neben mich zu stellen.
Herr Bundespräsident, ich übergebe Ihnen die Urschrift des Grundgesetzes zur Eidesleistung.
D. Dr. Dr. Heinemann, Bundespräsident: Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Ich stelle fest, daß Herr Dr. Gustav Heinemann nach Artikel 56 unseres Grundgesetzes den vorgeschriebenen Amtseid geleistet hat. Herr Bundespräsident, Gottes Segen und unser aller Wille begleiten Sie in Ihrem Amte.
Das Wort hat der Herr Bundespräsident.
D. Dr. Dr. Heinemann, Bundespräsident: Meine Herren Präsidenten! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Mit dem hier geleisteten Eid trete ich in die Verantwortung des Amtes ein, für das mich die Bundesversammlung am 5. März gewählt hat.Zunächst danke ich Ihnen, Herr Bundestagspräsident, für die Begrüßung und die guten Wünsche dieser Versammlung zu meinem heutigen Amtsantritt sowie Ihnen, Herr Dr. Lübke, für die überaus freundliche und hilfreiche Art, mit der Sie Ihr Amt auf mich überleiten.Ich wiederhole, was ich damals in Berlin gesagt habe: ich danke allen, die mich gewählt haben, für das Vertrauen, das sie mir schenken. Ich respektiere, daß etliche eine andere Wahlentscheidung getroffen haben, in vollem Maße. Ich hoffe — so sagte ich am 5. März —, daß es auch mit ihnen zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit über der Gemeinsamkeit der uns gestellten Aufgaben kommt.Als Bundespräsident habe ich keine Regierungserklärung abzugeben. Ich bin aus der Bundesregierung und aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden; ich habe alle Funktionen in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands niedergelegt. Nach dem Willen des Grundgesetzes stehe ich fortan
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969 13665
Bundespräsident Dr. Dr. Heinemanndenen zur Seite, die die politischen Entscheidungen zu vollziehen und zu verantworten haben. Wohl aber steht dem Bundespräsidenten gerade in dieser Stunde ein persönliches Wort zu.Meine Damen und Herren, ich trete das Amt in einer Zeit an, in der die Welt in höchsten Widersprüchlichkeiten lebt. Der Mensch ist im Begriff, den Mond zu betreten, und hat doch immer noch diese Erde aus Krieg und Hunger und Unrecht nicht herausgeführt. Der Mensch will mündiger sein als je zuvor und weiß doch auf eine Fülle von Fragen keine Antwort. Unsicherheit und Resignation mischen sich mit der Hoffnung auf bessere Ordnungen. Wird solche Hoffnung endlich erfüllt werden? Das ist eine Frage an uns alle, zumal an uns hier, die wir kraft der uns erteilten Mandate Verantwortung für unsere Mitbürger tragen.Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.24 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stehen wir immer noch vor der Aufgabe, uns auch mit den östlichen Nachbarn zu verständigen. Das allseitige Gespräch über einen gesicherten Frieden in ganz Europa ist fällig und muß kommen. Mit dem deutschen Volk, dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung weiß ich mich einig in dem Willen zum Frieden. Ich appelliere an die Verantwortlichen in den Blöcken und an die Mächte, ihre Zuversicht auf Sicherheit nicht im Wettlauf der Rüstungen, sondern in der Begegnung zu gemeinsamer Abrüstung und Rüstungsbegrenzung zu suchen.
Abrüstung erfordert Vertrauen. Vertrauen kann nicht befohlen werden; und doch ist auch richtig, daß Vertrauen nur der erwirbt, der Vertrauen zu schenken bereit ist.Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben unserer Politik, Vertrauen aufzuschließen. Dieser Aufgabe sind alle Machtmittel unterzuordnen — die zivilen und die militärischen.Auch die Bundeswehr ist nicht Selbstzweck. Wir wissen, daß sie keine politischen Lösungen zu erzwingen vermöchte. Ihr Auftrag ist, zu verhindern, daß uns Gewaltlösungen von fremder Seite aufgezwungen werden. Darum setzen wir unsere Verteidigungsanstrengung fort. Darum gilt unsere Achtung allen denen, die sich dieser Aufgabe unterziehen.
Ich möchte alles, was ich tun kann, in den Dienst der Bemühungen um eine Friedensregelung stellen, die unser ganzes Volk einschließt. Auf dem weiten Weg bis zu diesem Ziel gilt es, die Lebensverbundenheit der Menschen unseres Volkes zu stärken und zu verbessern.Hilfreich wäre es, wenn auch wir der Friedensforschung, das heißt einer wissenschaftlichen Ermittlung nicht nur der militärischen Zusammenhänge zwischen Rüstung, Abrüstung und Friedenssicherung, sondern zwischen allen Faktoren, also z. B. auch den sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen, die gebührende Aufmerksamkeit zuwenden würden.Bei alledem geht es nicht nur um den Ost-WestKonflikt, sondern in steigendem Maße auch um den Nord-Süd-Konflikt. Hunger und Elend in der Welt rufen nach Hilfe. Die Industrienationen in allen Lagern dürfen sich dieser Hilfe nicht entziehen. Ich bin meinem Amtsvorgänger Herrn Dr. Lübke, dem wir alle und auch ich für vieles Dank schulden, besonders dankbar dafür, daß er uns diese Verpflichtung immer wieder — auch heute — ins Bewußtsein gerückt hat.
Unser Volk kann aus seiner Geschichte vieles aufweisen, was uns mit Freude und Selbstbewußtsein zu erfüllen vermag. Es ist nicht wenig, was wir zur Bereicherung der Menschheit beigetragen haben. Aber unter Mißbrauch des Namens unseres Volkes ist auch das Unheil des Zweiten Weltkrieges entfesselt worden. Nur wenn wir uns selber nicht aus der Frage entlassen, wie es zu dem schreckensvollen Kapitel des Nationalsozialismus kommen konnte, werden andere Völker dieses Kapitel nicht länger gegen uns hervorkehren können.Diese Vergangenheit darf auch um derer willen nicht wiederkehren, die neben den Millionen Juden und den weiteren Millionen Kriegstoten in aller Welt aus unserem eigenen Volk zu den Opfern des nationalsozialistischen Terrors, des Krieges und schließlich der Vertreibung von Haus und Hof gehören. Als 1945 der Krieg endlich zu Ende war, als sich nach einem Wort von Theodor Heuss damals die Paradoxie ereignete, daß wir gleichzeitig erlöst und vernichtet waren, sollte das Geschehene zum Anlaß einer Erneuerung werden.Auch nach allem materiellen Wiederaufbau und über allem fortschreitenden Generationenwechsel hinweg bleibt die Aufhellung unserer eigenen Geschichte um unserer Zukunft willen geboten.Meine Damen und Herren, wir stehen erst im Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muß endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. Nur wenn das gelingt, begegnen wir der Widersprüchlichkeit unserer Zeit, die ich darin sehe, daß der Bereich dessen, was der Einzelne gestalten kann, enger wird, zugleich aber die Selbstbestimmung des Einzelnen Raum gewinnt. Was ich meine, ist dieses: In einem zuvor nie erlebten Tempo macht sich die Menschheit die Schöpfung bis in den Weltraum hinein untertan. Der Einzelne 'aber wird immer ohnmächtiger. Die Konzentration >der Wirtschaft schreitet fort. Die ohnehin großen Bürokratien wachsen weiter. Was wird so frage ich — aus dem freien Existenzraum der Einzelnen? Ihr Anteil am Getriebe von Erzeugung und Verbrauch wird immer spurenloser, immer unpersönlicher, immer fremdbestimmter.
Metadaten/Kopzeile:
13666 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969
Bundespräsident Dr. Dr. HeinemannIst es aber zugleich nicht auch so, daß wir eine neue Welle von Umbruch einer jahrhundertelangen Fremdbestimmung des Menschen in eine verantwortliche Eigenbestimmung erleben? Solcher Umbruch hat sich seit dem Ausgang des Mittelalters in verschiedenen Bereichen längst angebahnt. Er kommt aber jetzt in besonderer Breite und Intensität zu neuem Austrag.Überall müssen Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen. Weder die christlichen Kirchen mit ihren Glaubensaussagen und ihren Ordnungen noch der Staat mit seinen verfassungsmäßigen Organen wie etwa den Parlamenten noch Sitte und Moral als solche oder in ihrem Verhältnis etwa zum Strafrecht oder zum Familienrecht noch die Sozialordnungen — zumal in den Bereichen von Ehe und Familie, des Eigentums oder der Arbeit — sind heute von bohrenden kritischen Fragen ausgenommen.Generell wird man sagen müssen, daß ein Drang nach Freiheit von alten Bindungen und nach Mitbestimmung in allen Gemeinschaftsverhältnissen unsere Zeit erfüllt. Es geht um den Dialog, es geht um die Durchsichtigkeit der Geschehnisse und der Entscheidungen. Sind wir — so frage ich — bereit, dem Rechnung zu tragen? Ich meine, wir sind in der Lage, die große Wandlung aus obrigkeitlicher Fürsorge in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu bestehen, ohne daß unser Zusammenleben aus den Fugen gerät.Es kommt ja hinzu, daß der Mensch sich nicht nur in seiner Arbeit und in seinem Verbrauch einer Fremdbestimmung ausgeliefert sieht, sondern daß er auch als Staatsbürger einen realen Anteil an demokratischer Mitbestimmung fordert. In den Massengesellschaften der Industriestaaten kann es aber nur repräsentative Demokratie geben. Diese Bundesrepublik Deutschland ist daher bewußt als repräsentative Demokratie gestaltet. Ich halte ihre auf Menschenwürde und Menschenrecht begründete Ordnung als Grundlage und Rahmen für die beste in unserer bisherigen Geschichte.
Diese Ordnung ist aber nicht fertig.
Alle ihre Orientierungsmerkmale, als da sind: freiheitliche Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit, bedürfen im Staat und in der Gesellschaft der fortwährenden Bemühung um täglich bessere Verwirklichung durch den mündig mitbestimmenden Bürger.Meine Damen und Herren, ich weiß, daß manche das nicht hören wollen. Einige hängen immer noch am Obrigkeitsstaat. Er war lange genug unser Unglück und hat uns zuletzt in das Verhängnis des Dritten Reiches geführt. Andere halten unsere heutige Ordnung für eine besonders raffinierte Ablenkung und Unterdrückung, der mit der „großen Weigerung" begegnet werden müsse. Sie verhalten sich so, als ob sich das Reich Gottes auf Erden verwirklichen oder das verlorene Paradies wiederherstellen ließe.Wir bleiben in diesem unseren Leben an die relative Utopie einer verbesserten Welt gewiesen, die vernünftigerweise allein das Leitbild unseres Handelns sein kann.
Das Geheimnis auch der großen und umwälzenden Aktionen besteht darin, den kleinen Schritt herauszufinden, der zugleich ein strategischer Schritt ist, indem er weitere Schritte in Richtung einer besseren Wirklichkeit nach sich zieht. Darum hilft es nicht, das Unvollkommene heutiger Wirklichkeit zu höhnen oder das Absolute als Tagesprogramm zu predigen. Laßt uns statt dessen durch Kritik und Mitarbeit die Verhältnisse Schritt für Schritt ändern!Ich verstehe den Unwillen über alle Trägheit in der menschlichen Gesellschaft bis in die Kirchen hinein. Zeitlebens bin ich selber ein ungeduldiger Mensch gewesen. Ich bin es immer noch. Das mag übrigens der Grund dafür sein, daß ich zur Unpünktlichkeit neige und zu Verabredungen gerne zu früh komme.
In dieser meiner eigenen Ungeduld verstehe ich sogar die radikalen Gruppen der unruhigen Jugend. Aber gerade sie kann ich aus meiner eigenen Ungeduld nur zur Verstärkung derer rufen, die den langen Marsch der Reformen bereits vor ihnen angetreten haben und fortzusetzen entschlossen sind.
Als ein besonderes Mittel des Umsturzes haben sich z. B. einige Gruppen der Jugend die Verunsicherung der Bundeswehr durch Dienstverweigerungen ausgedacht. Jedermann weiß, daß ich mich in den vergangenen Jahren bis in meine Zeit als Bundesjustizminister im kirchlichen Bereich sowohl als auch hier im Bundestag für eine faire praktische Ausgestaltung des Grundrechtes der Kriegsdienstverweigerung aus religiösen oder ethischen Gewissensgründen eingesetzt habe. Deshalb beklage ich es sehr, wenn dieses Recht mißbraucht wird.
Jeden leichtfertigen Umgang mit den elementaren Freiheiten unserer Ordnung sollten sich gerade die oppositionellen Gruppen versagen, die ja selber des Schutzes dieser Freiheiten teilhaftig sein wollen und sein sollen.
In unserer Gesellschaft verfolgen vielerlei Gruppen unterschiedliche Ziele und Auffassungen, von denen jede Gruppe wünscht, daß alle Bürger sie sich zu eigen machen sollten. Diese Vielfalt kann beschwerlich sein. Im Rahmen der Wertordnung unseres Grundgesetzes darf sie gleichwohl nicht erstickt werden. Sie ist eine Bereicherung menschlicher Existenz.Unsere freiheitliche Ordnung eines weltanschaulich neutralen Staates ist ein großes Angebot. Sie regelt das Abstimmbare der praktischen Gemeinschaftsfragen durch Mehrheitsentscheidungen. Demokratischer Umgang miteinander erfordert dabei die Bereitschaft zum Kompromiß. Die Fragen des Guten, des Schönen, der Wahrheit, des Glaubens aber ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969 13667
Bundespräsident Dr. Dr. Heinemannweist unsere Ordnung als nicht abstimmbar auf den Weg des Dialogs und in die Obhut der Toleranz.
Ich habe kürzlich an ein Wort von Emerson erinnert:Gott bietet jedem die Wahl zwischen Wahrheit und Schlaf. Nimm, was Du möchtest. Beides kannst Du nicht haben.Meine Damen und Herren, anläßlich meiner Wahl sind mir aus allen Schichten und Berufen, zumal aus der jungen Generation, in großer Fülle Briefe zugegangen, die mit meinem Amtsantritt hohe, viel zu hohe Erwartungen verbinden. Ich nehme die Erwartungen ernst. Soweit sie sich auf persönliche Anliegen beziehen, sind es Hilferufe aus vielfältigen Bedrängnissen des täglichen Lebens, aus Not und Krankheit, Wohnungssorge, Strafhaft, aus Einsamkeit und Unrechtserleben. Solche Nöte sind offensichtlich größer, als unsere Wohlstandsgesellschaft gemeinhin annimmt. Aus vielen Zuschriften spricht aber auch eine Angst vor der Zukunft, Sorge um den Arbeitsplatz, die Furcht vor dem Altwerden.In den letzten 24 Jahren ist vieles erreicht und geleistet worden; doch die Leistungen von gestern werden morgen schon nicht mehr zählen. Sie haben auch gestern nicht allem Genüge getan und werden es morgen vollends nicht tun, wenn wir sie nicht steigern. Der soziale Wandel schreitet fort. Deshalb sind wir alle gerufen, die Forderungen des Grundgesetzes nach dem Ausbau der sozialen Demokratie in steigender Bemühung zu verwirklichen. Wir werden erkennen müssen, daß die Freiheit des Einzelnen nicht nur vor der Gewalt des Staates, sondern ebensosehr vor ökonomischer und gesellschaftlicher Macht geschützt werden muß. Der Einfluß der Verbände und ihrer Lobbyisten steht oft genug im Gegensatz zu unserer Ordnung, in der Privilegien von Rechts wegen abgeschafft sind, aber in der sozialen Wirklichkeit noch weiter bestehen.Wir müssen uns in einer Leistungs-, Aufstiegs- und Bildungsgesellschaft entwickeln, in der die Vision der Freiheit für alle dadurch verwirklicht wird, daß jeder seine konkrete und persönliche Chance erhält. Nicht weniger, sondern mehr Demokratie — das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten.In solchem Sinne grüße ich auch von dieser Stelle alle deutschen Bürger.
Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen.Das Wort hat der Präsident des Bundesrates, Herr Bürgermeister Professor Dr. Weichmann.Dr. Weichmann, Präsident des Bundesrates: Herr Bundespräsident! Herr Altbundespräsident! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Ereignisse von überragender Bedeutung pflegen lange vor ihrem Eintritt Phantasie und Feder unserer Nachrichtenmedien zu beflügeln. Nicht selten wird ihnen schon Wochen vorher, spätestens aber Stunden danach, historischer Rang eingeräumt.Es ist wohl nicht angemessen, auch bei der Wahl und dem Amtsantritt eines neuen Trägers des höchsten Amtes in unserer Bundesrepublik so flink mit der Verteilung einer Bürde der Geschichtsträchtigkeit oder gar mit der Austeilung von Zensuren umzugehen, wie es teilweise geschehen ist. Jeder Überschwang der Wertung, im Guten oder im Bösen, ist mit dem Stigma der Unglaubwürdigkeit behaftet. Wer vermag unter den Vorzeichen der Gegenwart insbesondere zu sagen, wie nachfolgende Generationen über Ereignisse und über Menschen befinden werden, auf deren Schultern der Lauf der Zeit Verantwortung legte?Es scheint mir gerade in dieser Stunde geziemend, an den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu erinnern, der, von Verleumdung und Haß seiner Zeitgenossen verfolgt, aus dem irdischen Leben geschieden ist und heute, 50 Jahre danach, seinen Platz als lauterer Staatsmann in der geschichtlichen Wertung gefunden hat.
Dieser Einschränkung im Wechsel der Wertungen eingedenk, erscheint mir der jetzige Augenblick dennoch durch eine Besonderheit gekennzeichnet. Für den Bürger unserer Nation brachte die Entscheidung der Bundesversammlung in Berlin einen sichtbaren Beweis einer wirksamen Demokratie, deren Wesen in der Möglichkeit des Wechsels besteht und eben darin auch ihren Sinn hat. Der Ausgang der Wahl hat gezeigt, daß dieses Amt nicht den Bedingungen politischer Erbpacht unterliegt. Freier demokratischer Wille hat, wie nach Bundespräsident Heuss, nun wiederum einen Wechsel in der politischen Herkunft des ersten Mannes im Staate herbeigeführt und damit die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Zukunft nach dem Willen der Wahlmänner wie nach der Person des Gewählten dokumentiert.
Das Echo jenseits der Grenzen zeigt, daß auch die repräsentative Mehrheit unserer ausländischen Freunde wie Kritiker gerade diesen Punkt sehr genau registriert hat.Das Amt des Bundespräsidenten ist ein bemerkenswertes Amt. Es ist das höchste Amt, das die Bundesrepublik vergibt, aber es ist auch das einsamste. Anders als zu Zeiten Weimars begrenzt es die Aktivität seines Inhabers im Entscheidungsbereich der politischen Gewalt auf die reine moralische Macht seines Menschentunis und die geistige Kraft seiner Gedanken. Keine potestas der politischen Machtausübung, keine auctoritas im Sinne einer hierarchischen Befehlsgewalt gibt dem Amtsträger seine Stärke, sondern nur eben eine dignitas, die Würde, die ihm kraft seiner Persönlichkeit zu
Metadaten/Kopzeile:
13668 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969
Bundesratspräsident Prof. Dr. Weichmanneigen ist. So steht er eben einsam im politischen Getriebe, mit sich allein ringend, wie Jacob mit Gott an der Furt des Jabbok rang. In ihm allein muß reifen, was er zu sagen hat, und doch sollen seine Gedanken wiederum von allgemein verbindlicher Bedeutung sein. Das ist eine Würde, die wahrlich eine Bürde ist. Ihm ist im Sinne Platos auferlegt, als Staatsmann Philosoph und als Philosoph Staatsmann zu sein.In solchem Sinne verlangt das Amt des Bundespräsidenten von seinem Inhaber womöglich noch mehr als das Amt des früheren Reichspräsidenten. Es fordert den leidenschaftslosen Abstand vom politischen Tagesgeschäft. Es verlangt den Verzicht auf die eigentliche Herausforderung an den Staatsmann, eben am Steuer des Staatsschiffes mitzudrehen und seinen Kurs mitzubestimmen. Es gebietet das Verständnis und die Bewertung der Aufgaben von Gegenwart und Zukunft und beschränkt gleichwohl seine Tätigkeit auf an sich im Exekutivbereich unverbindliche Emanationen einer kontemplativen Weisheit.Unter diesen Gesichtspunkten kann sehr wohl die Frage entstehen, ob mit solchen Forderungen nicht eine Überforderung an den Amtsinhaber als Mensch gestellt ist, der eben auch nur ein Mensch ist. Wird als Forderung hier nicht eine Idealvorstellung in den politischen Raum gestellt, die unerfüllbar ist? Wiederholt sich hier nicht der Fehler der Lesebücher schlechthin, der Demokratie und in ihr den Politikern und Staatsmännern ein Verhalten und ein Erscheinungsbild aufzubürden, das zwar ideal konzipiert, in der Wirklichkeit aber nahezu unerreichbar ist? Trägt damit nicht jedes Abweichen von der Idealvorstellung die Gefahr in sich, Enttäuschung an der Demokratie, an ihren Institutionen und Willensträgern zu erzeugen und jenen Messiasglauben hervorzurufen, dem wir heute stellenweise in einer aufbegehrenden Jugend begegnen, mit der Wirkung, möglicherweise den Weg in eine Diktatur geistig — oder ungeistig — vorzubereiten?Hier liegt in der Tat eine Gefahr, der wir selbst durch weise Beschränkung unserer Anforderungen entgegenwirken müssen. Hier liegt aber eben auch eine fruchtbare Herausforderung an den kontemplativen Geist.Mir scheint, die wichtigste Ursache für die gegenwärtige Unsicherheit ist der Verlust der einzelmenschlichen wie gesamtgesellschaftlichen Zielorientierung. Früher geltende Wertvorstellungen haben sich gegenüber den Anforderungen der neuen Welt als unglaubwürdig erwiesen. Das geht heute bei einzelnen bis hin zur Infragestellung des Wertes der menschlichen Existenzberechtigung überhaupt.In die Leere fehlender verbindlicher zwischenmenschlicher Normen und gesamtmenschlicher Zielsetzung strömt die Flut der materiellen Ersatzziele auf der einen Seite und ein revolutionäres Begehren nach Gesellschaftsumbildung auf der anderen Seite. Beides, der neue Materialismus und die revolutionäre Aggressivität, beruht im Grunde auf einem und demselben, auf dem Horror vacui, auf der Angst vor der Leere. Sie sind eine Flucht nach vorn aus einer unbefriedigten und unbefriedeten Welt in dasBemühen um Sicherheit oder in die Welt der Utopie.Es ist dies die plebiszitäre Herausforderung an Politiker und Staatsmänner.Gewiß, es ist uns im materiellen Sinne nie besser als heute gegangen. Gleichwohl, der materielle Wohlstand ist ungleichmäßig verteilt und noch immer dem Mißbrauch offen.Gewiß, unsere demokratische Regierungsform ist im ganzen unbestritten. Gleichwohl fehlt es nach dem Zusammenbruch alter Wertvorstellungen an neuen moralischen gesellschaftspolitischen Bindungen und Normen. Staatsmänner und Politiker sind zur Definition neuer gesellschaftlicher Wertinhalte aufgerufen. Sie müssen — das sei zum Thema der so vergötterten Futurologie gesagt — den Menschen wieder zum Maß, aber nicht zur Funktion der Dinge machen.
Wir brauchen wieder Gewissenspostulate, die freilich in der ratio und nicht in der Mystik ihre Grundlage haben, und sie sind meines Erachtens nicht einmal so schwer zu formulieren. Sie sind letztlich in unserer Verfassung niedergelegt. Wir brauchen die Freiheit als Voraussetzung der Menschenwürde und die Bindungen, welche die Freiheit schützen. Wir brauchen Toleranz gegenüber Toleranten, den Anstand, der den Trieben Grenzen setzt, die soziale Gebundenheit in der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen und aller Menschen miteinander und schließlich die gerechte Anteilnahme der Menschen an den Gütern dieser Welt, ohne die Verantwortung des einzelnen auch für sich selbst auszuschließen. Es ist kein Anlaß, an dieser Welt zu verzweifeln, wenn wir uns zu diesen Werten bekennen. Es ist eine sittliche Herausforderung, die unserem Leben Sinn gibt, wenn wir sie in rechtem demokratischem Selbstverständnis und Augenmaß zu realisieren trachten.In solchem Sinne wirksam zu sein, unverwirrt von der Parteien Haß und Gunst, verpflichtet nur dem Gewissen, das ist die große, die schwere, aber auch die schöne Aufgabe des Amtes, das nun in andere Hände übergeht.Wir danken auch im Namen des Bundesrates mit Respekt dem scheidenden Bundespräsidenten für sein lauteres Wollen und seine unbeirrbare Ehrlichkeit.
Ich habe Ihnen und Ihrer Gattin in Hamburg soeben mit mehr Worten, als mir hier zur Verfügung stehen, sagen dürfen, wie sehr wir Sie auch als geschichtliche und amtsprägende Persönlichkeit zu schätzen wissen.Wir bezeugen gleichzeitig Respekt dem neuen Bundespräsidenten. Wir sind im Begriff, einen dem Recht und dem christlichen Denken besonders verpflichteten Bürger über unsere Bürger zu setzen. Wir kennen seine Vita, und wir wissen um seine Unerschrockenheit, denn er hat sie vielfach bewiesen. Wir haben vernommen, was er mehrfach nach seiner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969 13669
Bundesratspräsident Prof. Dr. WeichmannWahl sagte, nämlich er wolle besorgt sein um die Sorgen seiner Mitbürger.Ich bin sicher — und seine erste Rede vor diesem Hause war auch sogleich sein erster Beweis —, der neue Bundespräsident wird den Steuerleuten unseres Staatsschiffes — den Gouverneuren und Kybernetikern jeder gesellschaftlichen Zuständigkeit — unzweideutige moralische Sichtzeichen setzen für eine menschenwürdige Fahrt zwischen der Scylla entfallener oder utopischer Wertvorstellungen und der Charybdis künftiger seelenloser Technotronik in eine immer menschenwürdige Gegenwart und lebenswerte Zukunft.Wir alle wünschen ihm die Kraft und die Einsicht, dieses schwere Amt zu unser aller Wohl zu verwalten.
Ich danke dem Herrn Präsidenten des Bundesrates.
Die Sitzung ist geschlossen.