Protokoll:
17111

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 111

  • date_rangeDatum: 26. Mai 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:00 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/111 Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deauville . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Drucksache 17/5896) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12605 A 12605 B 12609 B 12612 A 12614 B 12617 A 12618 D 12619 D 12626 B 12626 B 12628 D 12631 C 12633 C 12634 C 12636 B 12638 D Deutscher B Stenografisc 111. Si Berlin, Donnerstag I n h a Nachruf auf den ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Helmuth Becker Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ruprecht Polenz, Dr. Martina Bunge und Karl Schiewerling . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Stefan Rebmann und Harald Ebner . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Karin Maag als or- dentliches Mitglied im Kuratorium der Stif- tung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- kunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12603 A 12603 D 12604 A 12604 A 12604 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12621 A 12622 B undestag her Bericht tzung , den 26. Mai 2011 l t : Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neun- zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 17/5895) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. 12623 C 12624 B 12625 B 12626 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12640 A 12642 B II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 30: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung der Bundes- Tierärzteordnung (Drucksache 17/5804) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Einrichtung einer Interparlamen- tarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik der Europäischen Union (Drucksache 17/5903) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grund- gesetzlichen Verankerung des Aus- stiegs aus der Atomenergie) (Drucksache 17/5474) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU) Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (Ratsdok. 14496/10) zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten (Ratsdok. 14497/10) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. 14498/10) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung 12643 B 12644 D 12646 B 12647 B 12647 C 12647 C der Wirtschaftspolitiken (Ratsdok. 14520/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes (Drucksache 17/5904) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durch- setzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Un- gleichgewichte im Euro-Währungsge- biet (Ratsdok. 14512/10, KOM(2010) 525) und zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Ra- tes über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10; KOM(2010) 527) hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Ab- satz 3 des Grundgesetzes (Drucksache 17/5905) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag des Bundesministeriums der Fi- nanzen: Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2010 – Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2010 – (Drucksache 17/5648) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemes- ter 2011/12 jetzt starten (Drucksache 17/5899) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Transparenz bei Rückstellungen im Kernenergiebereich schaffen (Drucksache 17/5901) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Schnelles Internet für alle – Flächende- ckende Breitband-Grundversorgung si- 12647 C 12648 A 12648 A 12648 B 12648 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 III cherstellen und Impulse für eine dyna- mische Entwicklung setzen (Drucksache 17/5902) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Internet-Telefonie in Afghanistan (Drucksache 17/5908) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbe- völkerung und der Flüchtlinge aus Li- byen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutz- bedürftigen (Drucksache 17/5909) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Eu- ropa nutzen (Drucksache 17/5906) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augs- burg), Monika Lazar, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frauen- und Mädchenfuß- ball stärken – Fußballweltmeister- schaft der Frauen 2011 gesellschaftspo- litisch nutzen (Drucksache 17/5907) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vor- schriften über den Wertersatz bei Wi- derruf von Fernabsatzverträgen und über verbundene Verträge (Drucksachen 17/5097, 17/5819) . . . . . . . b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vor- schlag der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 für einen Be- schluss des Rates zur Festlegung eines Standpunkts der Union im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien im Hinblick auf die Beteiligung der ehema- 12648 C 12648 C 12648 D 12648 D 12649 A 12649 A ligen jugoslawischen Republik Mazedo- nien im Rahmen von Artikel 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechen- den Modalitäten einschließlich Bestim- mungen über die Mitwirkung an den von der Agentur eingeleiteten Initiati- ven, über finanzielle Beiträge und Per- sonal (Drucksachen 17/5710, 17/5954) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Arbeitsdoku- ment der Kommissionsdienststellen Öf- fentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz SEK(2011) 173 endg. (Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvC 3/11 (Drucksache 17/5952) . . . . . . . . . . . . . . . e) – k) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 262, 263, 264, 265, 266, 267 und 268 zu Petitionen (Drucksachen 17/5780, 17/5781, 17/5782, 17/5783, 17/5784, 17/5785, 17/5786) . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Pleiten von gesetzlichen Kran- kenkassen und die Folgen für Versicherte . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12649 C 12650 A 12650 A 12650 B 12651 A 12651 A 12652 A 12652 D 12654 A 12655 B 12656 C 12658 A 12659 A 12661 A 12662 D 12663 D 12664 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissions- schutzgesetzes – Privilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kin- derlärms (Drucksachen 17/5709, 17/5957) . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Privilegierung des von Kindertages- einrichtungen und Kinderspielplät- zen ausgehenden Kinderlärms (Drucksachen 17/4836, 17/5957) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kinder- lärm – Kein Grund zur Klage – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Vorrang für Kinder – Auch beim Lärmschutz (Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925, 17/5957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12665 D 12666 D 12667 A 12667 A 12667 C 12668 C 12669 C 12670 B 12671 A 12672 B Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches So- zialgesetzbuch und anderer Gesetze (RV-Altersgrenzenanpassungs-Ausset- zungsgesetz – RV-AgAG) (Drucksachen 17/3546, 17/5298) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rente ab 67 voll- ständig zurücknehmen (Drucksachen 17/2935, 17/5298) . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern – Rentenzugang flexibilisieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen (Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297) . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 12674 A 12675 B 12677 A 12678 A 12679 A 12679 B 12679 B 12679 C 12680 D 12682 A 12683 A 12684 C 12685 D 12687 B 12687 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 V Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes (Drucksachen 17/5761, 17/5960) . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleiches Ren- tenrecht in Ost und West (Drucksachen 17/5207, 17/5961) . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer 12688 A 12689 D 12690 D 12691 C 12692 A 12692 C 12693 C 12695 A 12695 B 0000 A12696 C 12698 A 12699 C 12700 C 12701 B 12702 D 12704 D 12703 A Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland (Drucksachen 17/4192, 17/5962) . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1937 (2010) vom 30. August 2010 des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen (Drucksache 17/5864) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Fraktion der SPD: Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten (Drucksache 17/5897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12703 A 0000 A12703 B 12707 A 12708 D 12709 D 12710 D 12712 A 12713 B 12714 A 12714 D 12716 C 12715 A 12715 A 12718 B 12720 B 12720 C 12721 B 12722 B 12723 B 12723 B 12725 A 12726 B 12727 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der in- ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksache 17/5706) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Alt- schuldenentlastung für Wohnungs- unternehmen in den neuen Ländern – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Altschulden der ostdeutschen Woh- nungsunternehmen streichen (Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 12728 A 12729 A 12729 D 12730 A 12731 B 12732 B 12733 A 12734 A 12735 A 12736 B GRÜNEN: Altschuldenhilfe für ostdeut- sche Wohnungsunternehmen neu aus- richten (Drucksachen 17/4698, 17/5124) . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelge- setzbuches sowie anderer Vorschriften (Drucksachen 17/4984, 17/5392, 17/5953) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lehren aus dem Dioxin- Skandal ziehen – Ursachen bekämpfen (Drucksachen 17/5377, 17/5953) . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger- Schäfer, weiterer Abgeordneter und der 12736 B 12736 C 12737 C 12739 C 12740 D 12741 D 12742 D 12743 D 12744 B 12744 C 12744 D 12745 D 12747 B 12748 B 12749 B 12750 B 12750 C 12751 B 12752 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 VII Fraktion DIE LINKE: Versorgung der privat Versicherten im Basistarif si- cherstellen (Drucksache 17/5524) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesetzliche Krankenversiche- rung für Solo-Selbstständige bezahlbar gestalten (Drucksachen 17/777, 17/5566) . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Private Kranken- und Pflege- versicherung – Existenzminimum zu- künftig auch für Hilfebedürftige (Drucksachen 17/780, 17/5630) . . . . . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versi- cherten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II (Drucksachen 17/548, 17/5629) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Um- wandlungsgesetzes (Drucksachen 17/3122, 17/5930) . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Zivile Krisenprävention ins Zen- 12753 C 12753 C 12753 C 12753 D 12754 B 12754 C 12755 B 12756 A 12756 D 12757 C trum deutscher Außenpolitik rücken (Drucksache 17/5910) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Eu- ropäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen (Drucksachen 17/4043, 17/5307) . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems- Murr), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten eu- ropäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und hu- manitärer Hilfe (KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Ab- satz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam- menarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in An- gelegenheiten der Europäischen Union Katastrophenabwehr in Europa effek- tiv gestalten 12758 A 12758 B 12758 C 12759 C 12761 A 12762 C 12763 C 12764 C 12765 D 12766 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parla- ment und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten eu- ropäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und hu- manitärer Hilfe (KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesre- gierung und Deutschem Bundes- tag in Angelegenheiten der Euro- päischen Union (Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809) . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Drucksache 17/5894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Elke Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und weite- rer Abgeordneter: Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete- Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le- bensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirt- schaften und gesellschaftlichem Fort- schritt in der sozialen Marktwirtschaft“ (Drucksache 17/5885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12766 C 12767 A 12768 C 12769 C 12770 A 12771 B 12773 A 12773 A 12774 D 12775 C 12776 B 12777 A Tagesordnungspunkt 20: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die Revision der OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtender Menschen- rechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen (Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756) . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken (Drucksachen 17/4546, 17/4954) . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: a) Antrag der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Zeitnahe Information des Deutschen 12777 B 12777 C 12779 C 12780 B 12781 A 12781 D 12782 D 12783 A 12784 A 12785 B 12786 B 12787 B 12788 B 12789 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 IX Bundestages über die Ergebnisse des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsordnung (Drucksache 17/5898) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstoffer- fassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsver- ordnung (Drucksachen 17/5484, 17/5886) . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Sy- rischen Rückübernahmeabkommens (Drucksache 17/5775) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Karin Binder (DIE LINKE) zur Beratung des Antrags: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinatio- 12790 A 12790 A 12790 B 12791 A 12791 C 12792 B 12793 A 12794 A 12794 A 12795 A 12795 C 12796 B 12796 D 12797 D 12799 A nale Unternehmen als Chance für einen stär- keren Menschenrechtsschutz nutzen (Tages- ordnungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Versorgung der privat Versicher- ten im Basistarif sicherstellen – Beschlussempfehlung und Bericht: Ge- setzliche Krankenversicherung für Solo- Selbstständige bezahlbar gestalten – Beschlussempfehlung und Bericht: Private Kranken- und Pflegeversiche- rung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebedürftige – Entwurf eines Gesetzes zur Abschaf- fung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Bezie- hern von Arbeitslosengeld II (Tagesordnungspunkt 14 a bis d) Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Än- derung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Tages- ordnungspunkt 18) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommis- sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und ge- 12799 C 12800 A 12801 A 12802 A 12803 C 12805 B 12806 B 12807 A 12808 A 12809 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 sellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ (Tagesordnungspunkt 19) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12809 C 12810 D 12811 C 12812 C 12813 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12603 (A) (C) (D)(B) 111. Si Berlin, Donnerstag Beginn: 8
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    Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plät- zen zu erheben. (Die Anwesenden erheben sich) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Am vergangenen Freitag ist unser früherer Kollege und Vizepräsident des Deutschen Bundestages Helmuth Becker gestorben. Er wurde 81 Jahre alt. Wer Helmuth Becker kennengelernt hat, traf auf eine außerordentliche Parlamentarierpersönlichkeit. Becker gehörte als Abgeordneter der SPD ein Vierteljahrhundert dem Deutschen Bundestag an, dessen Arbeit er von 1969 bis 1994 in wichtigen und herausgehobenen Ämtern mit- geprägt hat. Im Innen- und Sportausschuss sowie im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung hat er wichtige Akzente gesetzt. Insbesondere als langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer sei- ner Fraktion ist er im Gedächtnis vieler geblieben. „Münsterländische Gemütsruhe“ wurde ihm nicht nur von seiner Heimatpresse bescheinigt, und in der Tat zeichnete ihn eine wohltuend ausgleichende Art aus, wo- Rede mit er – nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners – seinen langjährigen Chef Herbert Wehner in der Frak- tionsleitung eindrucksvoll ergänzte. Von 1980 bis 1982 übernahm Helmuth Becker in der Regierung Helmut Schmidt als Parlamentarischer Staats- sekretär beim Bundesminister für das Post- und Fern- meldewesen auch Regierungsverantwortung – eine Auf- gabe, die ihn zurück zu seinen beruflichen Anfängen führte. Denn von 1951 bis zu seiner ersten Wahl in den Bundestag 1969 war er als Elektroingenieur bei der Bun- despost beschäftigt gewesen, wo er sich aktiv für die In- teressen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte. Besonders am Herzen lagen Helmuth Be ziehungen zu unserem östlichen Nachba Jahrzehnte setzte er sich in zahlreichen In bei ungezählten Reisen für die Versöhnu Deutschen und Polen ein, etwa in der Deutsch-Polni- tzung , den 26. Mai 2011 .30 Uhr schen Gesellschaft und in der Deutsch-Polnischen Parla- mentariergruppe – ein Engagement, für das er mit der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau ausgezeich- net wurde. Wir alle, die wir mit ihm zusammenarbeiten durften, kannten Helmuth Becker als einen Meister des politi- schen Pragmatismus. Er war über alle Parteigrenzen hin- weg sehr geschätzt. Ein waches Gerechtigkeitsempfin- den, verbunden mit der Fähigkeit zum Ausgleich und der Bereitschaft zum Kompromiss, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft zeichneten Helmuth Becker in beson- derer Weise aus. Der Respekt und die Anerkennung, die ihm zuteil wurden, kamen besonders 1990 zum Aus- druck: Damals wählte ihn der erste gesamtdeutsche Bun- destag nahezu einstimmig – mit 97 Prozent der abgege- benen Stimmen – zu seinem Vizepräsidenten. Die Wahl bedeutete die Krönung einer bemerkenswerten Parla- mentarierkarriere. Dem Hohen Haus blieb Helmuth Becker auch nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament eng verbunden, nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages von 1995 bis in das Jahr 2000. Mit Helmuth Becker verlieren wir einen leidenschaft- text lichen Parlamentarier, der sich bleibende Verdienste um den Deutschen Bundestag, den Parlamentarismus und die Demokratie in unserem Land erworben hat. Wir wer- den sein Andenken in Dankbarkeit und Ehren bewahren. Ich danke Ihnen. Bevor ich die Abgabe einer Regierungserklärung auf- rufe, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen. Der Kollege Ruprecht Polenz feiert heute seinen 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des gan- zen Hauses besonders herzlich. (Beifall) vergangenen Mittwoch begingen die Kol- artina Bunge und der Kollege Karl cker die Be- rland. Über itiativen und ng zwischen Bereits am legin Dr. M Schiewerling ihre 60. Geburtstage. Auch diesen beiden 12604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (C) (D)(B) Jubilaren übermittle ich auf diesem Wege noch einmal alle guten Wünsche. (Beifall) Der Kollege Peter Friedrich hat am 23. Mai 2011 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich- tet. Für ihn ist der Kollege Stefan Rebmann nachge- rückt. Für den am 25. Mai 2011ausgeschiedenen Kolle- gen Alexander Bonde hat der Kollege Harald Ebner die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neuen Kolle- gen herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit. (Beifall) Die CDU/CSU-Fraktion teilt mit, dass der Kollege Ingo Wellenreuther aus dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausschei- det. Als neues ordentliches Mitglied wird die Kollegin Karin Maag vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kol- legin gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- geführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchun- gen zu möglichen antisemitischen und israel- feindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei DIE LINKE (siehe 110. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 30 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten – Drucksache 17/5899 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz bei Rückstellungen im Kernener- giebereich schaffen – Drucksache 17/5901 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schnelles Internet für alle – Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung set- zen – Drucksache 17/5902 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internet-Telefonie in Afghanistan – Drucksache 17/5908 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men- schenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen – Drucksache 17/5909 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver- kehrspolitik in Deutschland und Europa nut- zen – Drucksache 17/5906 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg), Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12605 Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (C) (D)(B) Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß- ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell- schaftspolitisch nutzen – Drucksache 17/5907 – Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland – Drucksachen 17/4192, 17/5962 – Berichterstattung: Abgeordneter Frank Heinrich Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einverständnis feststellen? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deau- ville Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute und morgen wird im französischen Deauville der G-8-Gipfel stattfinden. Wir treffen uns dort, während uns gleichzeitig aus Nordafrika und Teilen der arabi- schen Welt aufrüttelnde Bilder und Nachrichten errei- chen. Die Region befindet sich im Umbruch. Politische und gesellschaftliche Verkrustungen werden aufgebro- chen. Wir werden Zeugen von Veränderungen in einer Dimension, die wahrscheinlich auch nachfolgende Ge- nerationen als Zeitenwende in der arabischen Welt be- werten werden. Auf den Straßen und Plätzen tunesischer und ägypti- scher Städte nehmen Männer wie Frauen ihr Schicksal in die eigene Hand. Die Menschen sind dabei, ihren Län- dern und zunehmend der ganzen Region ein neues Ge- sicht zu geben. In Tunesien und Ägypten haben die frü- heren Regierungen das Vertrauen der Bevölkerung verloren. In Libyen und in Syrien halten sich die Führun- gen nur noch durch rohe Gewalt gegen die eigene Bevöl- kerung an der Macht. In der ganzen Region ist der Wille zur Veränderung spürbar. Die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa kämpfen für Freiheit, für Menschenrechte und für bes- sere Lebensbedingungen. In solchen Zeiten – wir in Eu- ropa wissen das seit 1989 durch eigene, wenn auch in vielen Einzelheiten andersgeartete Veränderungen – werden Partner gebraucht. Es ist deshalb eine historische europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu stehen. Daher wird Deutschland beim G-8-Gipfel seinen Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Länder in dieser Region leisten. Wir wollen helfen, dass sie sich der Mehrparteiendemokratie, dem Pluralismus und der Marktwirtschaft zuwenden. Daher setze ich mich dafür ein, dass die G 8 ihre Unter- stützung mit der Einhaltung genau dieser Prinzipien ver- bindet. Wir wissen alle, dass ein Wandel dieser Dimension nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist. Mit einem einzigen vermeintlich großen Wurf heute alle Probleme lösen zu wollen, ist weder realistisch, noch ist es hilf- reich. Nein, angesichts der Größe der Herausforderung werden wir Geduld aufbringen und uns auch auf Rück- schläge in den Reformprozessen einstellen müssen. Denn es ist an den Völkern selbst, ihren Reformweg in eigener Verantwortung zu gestalten. Aber das, was wir zur Unterstützung des Wandels zu Freiheit und Selbstbestimmung leisten können, das kön- nen und das werden wir leisten. Deshalb ist es richtig, dass beim G-8-Gipfel nicht etwa nur über die Menschen in den betroffenen Ländern gesprochen wird, sondern auch mit ihnen. Ich freue mich darauf, dass in Deauville die Premierminister von Tunesien und Ägypten an den Beratungen teilnehmen werden. So gibt uns das die Ge- legenheit zum Gespräch. Ich möchte mich auch bei allen Kolleginnen und Kol- legen aus dem Deutschen Bundestag herzlich bedanken, die in diesen Tagen Kontakte suchen zu den betroffenen Menschen, beispielhaft bei Volker Kauder, dem Vorsit- zenden der CDU/CSU-Fraktion, der gerade am Wochen- ende mit einigen Kollegen in Ägypten war und sich dort ein Bild von der Lage gemacht hat. Herzlichen Dank da- für! Wir brauchen diese persönlichen Kontakte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, in diesen beiden Staaten, in Ägypten und Tunesien, hat der politische Umbruch seinen Anfang genommen. Dort ist er mit ersten Refor- 12606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (C) (D)(B) men und Entscheidungen für Wahlen am weitesten fort- geschritten. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch andere Staaten aus der Region auf unsere Unterstützung zählen können, wenn sie sich für den Weg hin zu freien Gesellschaften entscheiden. Ich möchte dem Außenminister ganz herzlich danken, der gerade in diesen Stunden im UN-Sicherheitsrat ge- meinsam mit anderen an einer Resolution gegen die Ge- walttaten in Syrien arbeitet. Syrien ist ein Riesenpro- blemfall. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die Gewalt dort ganz eindeutig zu verurteilen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland hat bereits im Rahmen der Transforma- tionspartnerschaft ganz konkrete Angebote gemacht. Die Bundesregierung wird aus bestehenden Mitteln noch in diesem Jahr über 30 Millionen Euro speziell zur Unter- stützung des demokratischen Wandels einsetzen. In den nächsten Jahren sollen insgesamt 100 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt werden. Wir müssen dazu beitragen, dass die ersten politi- schen Fortschritte nicht durch wirtschaftliche Instabilität gefährdet werden. Denn die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Perspektive gerade junger Menschen sind in diesen Ländern teilweise erschreckend hoch. Die Bevöl- kerungszusammensetzung in diesen Ländern ist eine an- dere als bei uns. Ein großer Teil der Menschen ist unter 25 Jahre alt. Diese jungen Menschen suchen Hoffnung und wirtschaftliche Perspektiven. Wir brauchen dabei das Rad nicht neu zu erfinden. Uns stehen schon heute mit den internationalen Fi- nanzinstitutionen und den multilateralen Entwicklungs- banken alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung. Mit den Spitzen von IWF und Weltbank werden wir in Deauville darüber sprechen, wie wir ein bedeutendes und wirkungsvolles Maßnahmepaket schnüren können. Ansatzpunkte gibt es in Tunesien und Ägypten auch für ein Engagement der Europäischen Bank für Wieder- aufbau und Entwicklung; denn der Privatsektor ist in beiden Ländern bereits relativ gut entwickelt. Die Bank hat den Übergangsprozess in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfolgreich unterstützt und könnte an diese Erfahrung anknüpfen und in der nord- afrikanischen Region unterstützend tätig werden. Zu den drängendsten Herausforderungen in Ägypten und Tunesien zählen die Arbeitslosigkeit und die wenig entwickelten Ausbildungsstrukturen. Die Arbeitslosig- keit in Ägypten beträgt offiziell 9 Prozent, in Tunesien sogar 14,4 Prozent. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die G 8 mit den Reformstaaten der Region eine so- genannte Partnerschaft für Beschäftigung schließt. Diese soll nach unserer Vorstellung aus Berufsbildung, be- schäftigungsfördernden Maßnahmen und Investitionen bestehen. Dabei ist mir wichtig, nicht nur die Regierun- gen, sondern auch die Unternehmen und Gewerkschaf- ten auf beiden Seiten einzubeziehen. Wir wollen vor allen Dingen das Engagement der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft – das muss gemeinsam geschehen – im Ausbildungsbereich verstärken. Hierbei können wir auf frühere Initiativen der deutschen Wirtschaft in der Region bauen. Deutsch- land verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über ein erfolgreiches und international anerkanntes Modell der beruflichen Bildung. Wir streben daher gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft an – wir werden das natür- lich mit unseren Partnern besprechen –, Ägypten bei der Schaffung von 5 000 neuen Arbeitsplätzen zu unterstüt- zen, die Ausbildungsstrukturen zu stärken mit dem Ziel, dass in Ägypten jährlich bis zu 10 000 Jugendliche zu- sätzlich ausgebildet werden können, Tunesien bei der Qualifizierung und Vermittlung von arbeitslosen Akade- mikern gezielt zu unterstützen und den Aufbau eines wettbewerbsfähigen Sektors kleiner und mittlerer Unter- nehmen durch Beratung und Finanzierung voranzubrin- gen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dies wird uns möglich, indem wir Schuldenumwand- lung in Höhe von 300 Millionen Euro auf vier Jahre ge- streckt ins Auge fassen. Dann haben wir für die Pro- gramme, die bei den Menschen ansetzen, Spielräume. Ich glaube, genau das wird jetzt in der Region gebraucht: konkrete Hilfe für Menschen, die eine Perspektive brau- chen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dafür werden Bundesminister Niebel und auch der Bun- desaußenminister gemeinsam mit der deutschen Wirt- schaft die entsprechenden Gespräche in der Region füh- ren. Wir werden dafür werben, dass diese Programme schnell in Gang kommen; denn Zeit zählt in dieser Re- gion. Die Entwicklungen sind für alle eine historische Chance, für die Menschen in Nordafrika und in der ara- bischen Welt, aber auch für uns als Nachbarn dieser Re- gion. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die Chance, eine neue Partnerschaft für Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung zu begründen, nicht ver- streichen darf. Wir sehen, dass der politische Umbruch in Nordafrika und im Nahen Osten die geopolitische Tektonik einer ganzen Region in Bewegung bringt. Bewegung ist auch für den Prozess zur Lösung des israelisch-palästinensi- schen Konflikts erforderlich, und zwar eine Bewegung in die richtige Richtung. Einseitige Maßnahmen, von welcher Seite auch immer, führen dagegen in eine Sack- gasse. Das gilt für eine Fortsetzung des Siedlungsbaus Israels genauso wie für eine einseitige und unabge- stimmte Ausrufung eines palästinensischen Staates. Ja, man muss es so sagen: Der gegenwärtige Zustand ist völlig unbefriedigend. Der Stillstand muss überwunden werden. Auch wenn es noch so mühselig ist, auch wenn es noch so viel Zeit und Geduld erfordert, am Ende führt kein Weg daran vorbei, alles dafür zu tun, dass die Ver- handlungen wieder aufgenommen werden. Das Ziel sind zwei Staaten: ein jüdischer und demo- kratischer Staat Israel und ein eigener Palästinenserstaat; Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12607 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (C) (D)(B) zwei Staaten, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite leben. Dazu muss – das gilt auch für die jetzt zu bildende neue Übergangsregierung in Ramallah – jede palästinen- sische Regierung der Gewalt abschwören und das Exis- tenzrecht Israels anerkennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb unterstützen wir den Vorschlag Präsident Obamas, ohne weiteren Zeitverlust die Friedensverhand- lungen wieder aufzunehmen, und zwar zunächst über die Schlüsselfragen Grenzen und Sicherheit. Mit der Rege- lung der Grenzfragen kann das Problem des Siedlungs- baus gelöst werden; dies ist ein wichtiges Anliegen der Palästinenser. Mit der Regelung der Sicherheitsfragen kann der Hauptsorge Israels begegnet werden. Wir kön- nen also das, worum es geht, in einem Satz zusammen- fassen – er ist auch schon von anderen gesagt worden –: Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt, insbe- sondere den Palästinensern, das ist der beste Schutz Is- raels. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die internationale Gemeinschaft – ich sage das aus- drücklich auch für Deutschland – ist bereit, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu tun, um Israel und den Paläs- tinensern auf dem Weg zur Lösung ihres Konflikts zu helfen. Dazu müssen aber die Verhandlungen beginnen und der gegenwärtige Stillstand überwunden werden. Meine Damen und Herren, dass Nordafrika und der Nahe Osten derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerk- samkeit stehen, ist richtig und nachvollziehbar. Das darf aber nicht dazu führen, dass die G 8 ihr besonderes En- gagement für Subsahara-Afrika aus den Augen verliert. Es ist daher wichtig, dass wir uns in Deauville mit afri- kanischen Staats- und Regierungschefs treffen, um über zukünftige Entwicklungen in Afrika zu sprechen. Ich halte die Partnerschaft mit Afrika für unerlässlich, um die Beteiligung und Verantwortung der afrikanischen Staaten im Hinblick auf die zahlreichen Krisen in Afrika zu stärken. Die Entwicklungspolitik gehört zu den zentralen The- men der G 8. Als bedeutendster Impulsgeber und durch wichtige finanzielle Unterstützung hat die G 8 ihren Bei- trag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Dyna- mik geleistet. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden von den weltweiten Entwicklungshilfeleistungen, den ODA- Leistungen, in Höhe von knapp 130 Milliarden US-Dol- lar allein durch die G 8 über 89 Milliarden US-Dollar aufgebracht. Ich werde mich in Deauville dafür einset- zen, dass die G 8 weiterhin eine treibende Kraft bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bleibt. Das Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich jedoch grundlegend verändert, nicht nur in den Empfängerlän- dern, sondern auch in der internationalen Geberland- schaft. Dem müssen wir Rechnung tragen, und dem trägt die Bundesregierung Rechnung. Deshalb ist es wichtig – das macht Minister Niebel ganz eindrucksvoll –, (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit – – (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber gut, dass Sie Humor haben, Frau Bundeskanzlerin!) – Ja, gut; es ist Ihnen unbenommen. Schauen Sie sich einmal die organisatorischen Neuordnungen an. Ich glaube, dass die Effizienz der Entwicklungshilfe in den vergangenen Monaten wirklich entschieden besser ge- worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Trittin, das findet übrigens auch international sehr viel Anerkennung. Ich meine zum Beispiel die Umstruk- turierung der GTZ, all das, was dort in Gang gebracht wurde. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie mal genauer hinsehen!) Ich nenne gerne die fünf Leitprinzipien: Erstens. Wir brauchen einen neuen Schwerpunkt der Förderung von Entwicklung, statt bloß Hilfe zu leisten. In der Vergangenheit haben wir uns oft zu sehr auf die Weiterentwicklung allein des Instrumentariums der Ent- wicklungshilfe konzentriert und anderen Rahmenbedin- gungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Zweitens. Die Entwicklung in Nordafrika zeigt uns, dass eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Ent- wicklung ohne Einhaltung der Menschenrechte und ohne politische Beteiligung nicht möglich sein wird. Die Ein- haltung der Menschenrechte ist deshalb eine unerlässli- che Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung der Regierungen der Entwicklungsländer. Dazu gehört für mich ausdrücklich auch die Mobilisierung eigener Ein- nahmen. Die Geber wiederum müssen ihrerseits bereit sein, mehr Raum für nationale Politiken und Programme zuzulassen und die nationalen Institutionen zu stärken; das ist ganz wichtig. Wenn man sich die Eigeneinnahme- quoten, die einige Entwicklungsländer zu verzeichnen haben, anschaut, muss man feststellen: Das ist absolut nicht befriedigend. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe sein, auch was die Tragfähigkeit staatlicher Institutionen in diesen Ländern anbelangt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Viertens. In der Vergangenheit haben wir viel zu sehr ausschließlich darüber geredet, wie viel Geld wir für Entwicklung zur Verfügung stellen, und dabei den Blick auf die Ergebnisse manchmal vernachlässigt. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja, leider!) Genau sie müssen aber im Mittelpunkt stehen. Denn für die Menschen zählen nur die Ergebnisse des Handelns. Die Finanzierung muss stärker mit den Ergebnissen ver- 12608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (D)(B) knüpft werden. Gleichzeitig wird so ein zusätzlicher An- reiz geschaffen, klare Ziele und Ergebnisse zu formulie- ren und sie tatsächlich zu erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Fünftens. Wirtschaftliches Wachstum ist die Grund- lage jedes Entwicklungsprozesses; dies hat die G 20 in Korea ausdrücklich anerkannt. Genau dieses Verständnis müssen wir stärken. Meine Damen und Herren, Deauville bietet mir auch die Gelegenheit, meinen japanischen Kollegen, den Mi- nisterpräsidenten Kan, zu treffen. Naoto Kan wird uns zum ersten Mal persönlich die Situation in Japan nach dem verheerenden Erdbeben, dem furchtbaren Tsunami und der unfassbaren Nuklearkatastrophe schildern. Die nukleare Bedrohung durch die Schäden am Kernkraft- werk Fukushima hält unvermindert an. Die Kette schlechter und besorgniserregender Nachrichten reißt nicht ab. Vom ersten Moment an haben wir gespürt: Die Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima, in einem Hochtechnologieland, stellen einen Einschnitt von glo- baler Tragweite dar. In Deutschland haben wir vor diesem Hintergrund be- schlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für drei Monate vom Netz zu nehmen und in dieser Zeit eine Si- cherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke vorzunehmen. Die ersten Ergebnisse der Reaktor-Sicher- heitskommission liegen Ihnen vor. Die Ethikkommission wird mir am 30. Mai 2011 ihren Bericht übergeben. We- nige Tage später werden wir die notwendigen Entschei- dungen in der Bundesregierung, im Deutschen Bundes- tag und Anfang Juli schließlich im Bundesrat treffen. Ich möchte hier nicht auf die derzeit laufenden Bera- tungen eingehen. Wohl aber müssen wir im Auge behal- ten, dass die Sicherheit der Nutzung der Kernenergie nicht allein mit nationalen Entscheidungen sicherzustel- len ist. Wir brauchen eine Überprüfung der Sicherheits- standards auch auf internationaler Ebene. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dazu besteht in der G 8 trotz aller Unterschiede bei der Bewertung der Kernenergie ein breiter Konsens. Die G 8 muss deshalb eine führende Rolle bei der Verbesserung der nuklearen Sicherheit einnehmen. Gerade darüber werden wir heute und morgen beraten. Dabei geht es um eine kritische Überprüfung beste- hender und in Planung befindlicher kerntechnischer An- lagen. Auf europäische Initiative hin soll auch auf inter- nationaler Ebene ein sogenannter Stresstest für kerntechnische Anlagen durchgeführt werden. Ich setze mich im Kreis der G 8 dafür ein, bei den Sicherheits- überprüfungen höchste Standards zugrunde zu legen. Gleichzeitig entwickeln wir die erneuerbaren Ener- gien zu einer tragenden Säule unserer Energieversor- gung. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Ener- gien beschleunigt erreichen. Damit leisten wir auch einen Beitrag dazu, die beschlossenen ehrgeizigen Kli- maziele umzusetzen. Alle Industrieländer haben sich auf der Klimakonferenz in Cancún im letzten Jahr verpflich- tet, Strategien für das sogenannte Low Carbon Develop- ment umzusetzen. Die Entwicklungsländer werden dazu ermutigt. Wir gehen voran, damit andere unserem Bei- spiel folgen. Die in Cancún beschlossene Vereinbarung gibt den Klimaverhandlungen neue Dynamik. Sie legt das Funda- ment für ein neues Klimaabkommen, wenngleich der Weg dahin noch weit ist. Genauso klar ist aber auch: Um das jetzt beschlossene 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen wir weit konsequenter handeln, als das bis jetzt verein- bart wurde. Auf dem Weg zur nächsten Konferenz in Durban in Südafrika sind noch viele schwierige Fragen zu beant- worten. Der südafrikanische Staatspräsident Zuma wird beim G-8-Gipfel über den Stand der Verhandlungen be- richten. Es ist klar: Deutschland ist und bleibt Vorreiter in der Klimapolitik. Wir halten an unserem Ziel fest, ein neues, umfassendes UN-Klimaabkommen zu verab- schieden. Das war schon ein wichtiges Anliegen unserer G-8-Präsidentschaft in Heiligendamm. Man muss sagen: Der Fortschritt ist hier an manchen Stellen wirklich eine Schnecke; aber es gibt nur die Möglichkeit, auf diesem Weg weiterzugehen. Meine Damen und Herren, wir werden in Deauville auch über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft beraten. Der G-8-Gipfel ist ja von Anfang immer ein Weltwirt- schaftsgipfel gewesen. Er ist dies auch unter französi- scher Präsidentschaft. Die französische Präsidentschaft hat das Thema „Internet – Chancen und Risiken“ zu ei- nem Schwerpunktthema gemacht. Sie hat dazu einen großen Vorgipfel durchgeführt, dessen Ergebnisse uns auf dem G-8-Gipfel präsentiert werden. Auf der einen Seite sehen wir die riesigen Chancen des Internets, ge- rade wenn es um Demokratie, Transparenz und Informa- tionsfreiheit geht. Auf der anderen Seite ist der Schutz von Eigentum, auch von geistigem Eigentum, und per- sönlichen Rechten natürlich ein Problem. Die Weltwirtschaft insgesamt steht besser da, als wir das noch vor einiger Zeit erwarten konnten. Der Auf- schwung festigt sich, und Deutschland leistet dazu einen spürbaren Beitrag. Das heißt, wir können sagen: Mit all dem, was wir politisch unternommen haben, haben wir einen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaftskrise schnell zu überwinden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unsere Wirtschaft wächst 2011 um mindestens 2,6 Prozent; die Zahlen gehen eigentlich nach oben. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt auf un- ter 3 Millionen sinken. Was ganz interessant ist und was ich besonders den internationalen Partnern sagen werde: Nachdem unser Aufschwung anfänglich sehr stark ex- portgetrieben war, können wir heute feststellen, dass zwei Drittel des gesamten Wachstums durch eine wach- sende Binnennachfrage zustande kommen. Das ist auch an die Weltwirtschaft eine wichtige Mitteilung. Wir haben aber natürlich von offenen Märkten und von unserer Exportkraft profitiert. Es gehört zu den un- gelösten Problemen, dass wir bei der Doha-Runde der WTO bis jetzt nicht weitergekommen sind. Wir werden (C) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12609 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (C) (D)(B) das wieder besprechen. Ich kann nur sagen: Deutschland wird sich mit aller Kraft dafür einsetzen, gemeinsam ins- besondere mit Großbritannien, dass diese Doha-Runde zum Ende gebracht wird. Freier Welthandel ist der beste Marktmotor und Wachstumsmotor, den wir uns vorstel- len können. Das ist unsere Überzeugung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden auch über Konsolidierungsstrategien sprechen. Deutschland hat mit der Schuldenbremse den richtigen Weg eingeschlagen; denn nachhaltiges Wachs- tum ohne solide Staatsfinanzen ist nicht möglich. Des- halb werden wir auch dies noch einmal deutlich machen. Meine Damen und Herren, die Verantwortung für die nationale Wirtschaftspolitik trägt jeder von uns allein. Aber die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns sind weltweit spürbar, nicht nur für uns jetzt, sondern auch für kommende Generationen. Das müssen wir stets im Blick haben, und das muss auch der Geist der Diskussio- nen in Deauville sein. In der G 8, aber genauso auch in der G 20 müssen wir alles daransetzen, gemeinsame Lösungen für die anste- henden Probleme und Krisen zu suchen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung, und dafür werde ich bei den Dis- kussionen in den nächsten beiden Tagen werben. Herzlichen Dank. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen, heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Par- lament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Re- chenschaftsbericht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie, aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der ara- bische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht, dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA. Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen ha- ben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet mehr von uns. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen ha- ben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapoli- tischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deau- ville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Poli- tik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientie- rungslosigkeit in Europa geworden. Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, res- pektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Ba- lance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer Nation geworden, die an die europäische Peripherie ge- raten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei. Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin. Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Re- spekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung. Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in ir- gendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben ha- ben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gip- fel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unter- stützen, beitragen, begrüßen – das waren die meistge- brauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in al- len Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat, dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu 12610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (C) (D)(B) den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es sehr verwundern (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da haben Sie al- len Grund, auf Amerika einzugehen!) – passen Sie auf! –, wenn in den letzten Tagen die Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzwei- felte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethar- gisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen dämmern dahin. Das ist der traurige Befund. (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das wird der Vorwärts geschrieben ha- ben, aber keine seriöse Zeitung! – Gegenruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]: Nichts gegen den Vorwärts! Der ist älter als Ihre Partei!) Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße aus- drücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin, hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Moder- nisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Rou- tine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visa- thema – das steht im Grunde genommen jeder Entwick- lung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Berei- chen entgegen – mit einer gemeinsamen Initiative aus dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutsch- land sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedens- lösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen. Da kämpft Herr Obama – Sie haben das in den letzten Tagen gesehen – mit der Autorität seines ganzen Amtes, und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikani- schen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initia- tive Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel, kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstim- mung über ein unabhängiges Palästina in der General- versammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es noch nicht gewesen sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich: Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja an- kündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejeni- gen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das falsch, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Os- ten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika er- leben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engs- ten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu geben – Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von all- gemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsi- dent die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschrei- ben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas Aufgabe gewesen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief hal- ten, man kann den Namen für falsch halten, aber natür- lich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Quali- tät eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demo- kratie braucht Demokraten – das weiß aufgrund seiner Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokra- tie dort weiter beschritten wird. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12611 Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (C) (D)(B) Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Ant- wort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartner- schaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungs- strukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht werden, aber auch – auch das darf nicht tabuisiert wer- den – die Öffnung der europäischen Märkte für Waren und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen An- kündigungen war davon nichts zu hören, und das ist ein- deutig zu wenig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer Gelegenheit reden. Reden müssen wir – zum Beispiel darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wi- der besseres Wissens schürt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- derspruch bei der CDU/CSU) Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz anderer Aspekt eine Rolle. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aus- verkauf deutscher Interessen!) – Das ist ein bisschen Ihr Problem. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Ihres!) – Ich glaube nicht. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Deswegen sind Sie jetzt auch still!) – Warten Sie es ab. Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein Land in der Außenpolitik erarbeitet – hören Sie bitte zu –, hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Per- sonal in internationalen oder europäischen Institutionen gefragt ist. (Beifall bei der SPD) In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefge- hen würde, und präsentieren damit wir als größte Volks- wirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den IWF-Posten. (Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, wir sollen nicht nationalistisch vorgehen!) Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Lan- des sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwar- ten. (Beifall bei der SPD) Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Au- genblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; da- rauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Ener- giewende. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit in diesem Land nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaub- würdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Vol- ten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen, über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rah- men der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass man dann eine glaubwürdige Initiative im internationa- len Rahmen von G 8 startet. Wir werden – das weiß auch ich, das wissen auch wir – nicht den Rest der Welt von heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir auf Atomkraft verzichten – trotz Fukushima. Aber was ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche Initiative – hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert – zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraft- werken weltweit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu we- nig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Sehr billig!) Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außen- politik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das ge- nau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit Sorge. Herzlichen Dank. 12612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (C) (D)(B) (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Mannomann!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die FDP-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege Rainer Brüderle. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Steinmeier, Sie haben heftig die Regierung kriti- siert. Aber was Sie und die SPD anders machen wollen, haben Sie nicht gesagt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Sie haben nicht zuge- hört!) Ihre größte außenpolitische Anstrengung derzeit scheint zu sein, Ihren Konkurrenten als Kanzlerkandidaten, Herrn Steinbrück, wegzuloben, (Heiterkeit bei der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wohin?) und nicht, konkrete Wege aufzuzeigen, wie anders ge- handelt werden kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der G-8-Gipfel in Deau- ville steht im Zeichen des Kampfes für die Freiheit. Die G 8 muss sich als Wertegemeinschaft, als moralische Autorität verstehen. Die Kraft der Freiheit bricht sich im Norden Afrikas und im Nahen Osten Bahn. Menschen riskieren Leib und Leben für Freiheit und Selbstbestim- mung. Wir müssen diese Freiheitsbewegung mit aller Kraft unterstützen. Deshalb ist es richtig, den alten Machthabern ihre Grundlagen zu entziehen. Die EU hat zu Recht ein Ein- reiseverbot und Vermögenssperren über den syrischen Präsidenten verhängt. Die EU hat zu Recht starke Zei- chen gesetzt und in Bengasi ein Verbindungsbüro eröff- net, wie es Außenminister Westerwelle auch für Deutschland getan hat. Die EU verschärft zu Recht die Sanktionen gegen den Iran und andere Unrechtsregime. Wir dürfen nicht zulassen, dass Staatsterrorismus Freiheiten mit Füßen tritt. Wer brutal seine eigene Be- völkerung in Geiselhaft nimmt, muss mit harten Maß- nahmen rechnen. Da muss Deutschland stehen, da muss Europa stehen, da muss die G 8 stehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In Tunesien und Ägypten können die Menschen die Kraft der Freiheit schon stärker spüren. Freiheit ohne Marktwirtschaft ist nicht denkbar. Wir müssen und kön- nen helfen, die dortigen Kommandowirtschaftsstruktu- ren auf Marktwirtschaft umzustellen. Wenn wir dies nicht schaffen, gibt es eine Abstimmung mit den Füßen. Eine ungesteuerte Migration ist nicht im Interesse der Europäischen Union. Wir müssen rasch Angebote für partnerschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg brin- gen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getan haben. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent- wicklung ist ein gutes Instrument. Sie hat beim Fall des Eisernen Vorhangs und bei der Osterweiterung geholfen; sie kann jetzt in Nordafrika helfen. Deutschland und die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben besondere Erfah- rungen mit Transformationsprozessen. Wir sollten des- halb das Wissen früherer Manager und vielleicht auch pensionierter und aktiver Beamter mit einbringen und Projektteams bilden, die diesen Prozess vor Ort konkret unterstützen können, und zwar im Interesse dieser Län- der, aber auch im Interesse von Deutschland und Europa. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Leitprojekt Desertec, das nicht nur eine Zusammen- arbeit im Energiesektor darstellt und eine Brücke zu un- seren Nachbarn in Nordafrika schlagen kann, ist ein Zei- chen, dass wir es mit der Hilfe ernst meinen, zu Marktstrukturen, zu Entwicklungsprozessen und zu Chancen der Freiheit vor Ort zu kommen. Freiheitsbewegungen brauchen eine Ergänzung durch freien Handel. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht auf den Doha-Prozess, auf die Welthandelsrunde, hingewiesen. Da müssen einige Gipfelteilnehmer auch in Kauf neh- men, dass es im Agrarsektor und in der Textilindustrie vielleicht Probleme gibt, und sich dazu durchringen, dass die Welthandelsrunde noch ein Erfolg wird. Markt- zugang und Verbesserung des Welthandels sind eine Chance, Armut zu bekämpfen. Freiheitsbewegungen brauchen Ergänzung durch freien Handel. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die G 8 sollte den Generalsekretär der WTO, der Welt- handelsorganisation, beauftragen, ein Kompromisspa- pier zu erarbeiten. Das ist die einzige Chance, den Pro- zess noch zu retten. So hat man es auch bei der Uruguay- Runde mit Erfolg gemacht. Inzwischen ist das Kraftzentrum der Weltwirtschaft die G 20; die G 8 ist das nicht mehr wie in der Vergan- genheit. Zur G 20 gehören China, Indien und Brasilien. Damit die G 8 nicht eines Tages zu einem Veteranentref- fen wird, muss Europa wieder mehr Power entfalten und mehr Kraft einbringen. Nicht Europa aufzuhübschen, sondern es aufzufrischen, ist die Aufgabe. Deshalb müs- sen wir uns für den gemeinsamen Markt, offene Grenzen und eine starke Währung in Europa einsetzen, auch wenn wir nicht für jede Maßnahme, die notwendig ist, sofort den Beifall aller Nachbarn bekommen. Es gilt jetzt, das Richtige zu tun, damit Europa den richtigen Weg geht, wieder stärker wird und mehr Gewicht ein- bringen kann. Es geht nicht darum, kurzfristig den Bei- fall von einigen zu bekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12613 Rainer Brüderle (A) (C) (D)(B) Das Aussetzen des Schengener Abkommens wäre ein Zeichen der Schwäche, kein Zeichen der Stärke. Europa muss zu seinen Werten stehen und sie verteidigen; Eu- ropa darf nicht zur Festung werden. Offene Grenzen und freier Verkehr sichern die Zukunftsfähigkeit Europas. Ein starkes Europa ist deutsche Staatsräson, und auch die Stabilität der Währung, des Euros, ist deutsche Staatsräson. Die Menschen in Deutschland haben zwei- mal Währungsschnitte erleben müssen. Deshalb sitzt das Empfinden um Geldwertstabilität quasi im Gencode un- seres Landes. Diese Stabilität ist ein tiefes Anliegen der Menschen, und sie ist auch notwendig, damit Europa sich richtig entwickeln kann. In der Marktwirtschaft steuert man Produktion und Entscheidungsprozesse über die Knappheitsgrade, die in Preisen widergespiegelt werden. Wenn die Preise nicht stimmig sind, steuern wir falsch. Deshalb ist der deut- sche Kampf um einen richtigen Rahmen beim ESM, bei der Entwicklung des Euros so entscheidend, auch wenn dies nicht sofort – ich wiederhole es – Beifall von jedem bringt. Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Stabiler Geldwert ist für die Gerechtigkeit notwendig; Inflation ist eine soziale Ungerechtigkeit. Deshalb muss Deutsch- land diesen klaren Kurs des ESM beibehalten. Der euro- päische Stabilitätsmechanismus darf kein neokeynesia- nischer Weichmacher werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich erinnere an Folgendes: Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Das möchte ich all denen ins Stammbuch schreiben, die uns Europopulismus vorwerfen. Herr Schröder hat in seiner Regierungszeit versucht, zu erreichen, dass sich seine Prophezeiung erfüllt. Es war Rot-Grün, das die Aufweichung der Maastricht-Kriterien möglich gemacht hat, und es war Rot-Grün, das Griechenland in die Euro- Zone aufgenommen hat. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die griechischen Berechnungen zur Erfüllung der Maastricht-Kriterien beruhten nicht auf Pythagoras, son- dern eher auf Alexis Sorbas. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Rot-grüne Währungspolitik fasst man am besten folgen- dermaßen zusammen: Note in Sparen: 4 bis 5; Note in Statistik: 5 bis 6. Schwarz-Gelb macht das anders. (Zuruf von der SPD: Oberlehrer!) – Oberlehrer? Sie wollen doch dem deutschen Wesen Geltung verschaffen; das haben wir doch gerade gehört. Alle Welt soll sich nach deutschen Kriterien entwickeln – das hat Herr Steinmeier doch vorgetragen –, sei es in der Energiepolitik oder in der Wirtschaftspolitik. All das soll von Deutschland bestimmt werden. Er ist der deut- sche Oberlehrer, der lehrt, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sie haben nicht zugehört!) Schwarz-Gelb macht das anders. Für uns ist Deutsch- land der Währungshüter in der Europäischen Union. Hinsichtlich Griechenlands ist mittlerweile von der sanf- ten Umschuldung die Rede. Die griechischen Wirt- schaftszahlen sprechen für sich. Da braucht man nicht Pythagoras; da genügt Adam Riese. Der Bundesfinanzminister hat Bedingungen für eine sanfte Umschuldung genannt, etwa die Beteiligung pri- vater Gläubiger. Ich sage: Der Bundesfinanzminister hat die FDP-Fraktion an seiner Seite, wenn er eine sanfte Umschuldung hart, aber fair umsetzt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, Deauville kann und muss das Signal der Freiheit sein. Man kann sie nicht unter- drücken. Man kann sie verzögern, aber nicht verhindern. Wir haben in unserer Nachbarschaft, im Nahen Osten, in der arabischen Welt, eine Entwicklung, von der wir vor kurzem nicht zu träumen gewagt hätten. Deshalb gilt es jetzt, Farbe zu bekennen, Partnerschaft auszuüben, mit dabei zu sein, klare Positionen zu beziehen, im Dialog die Möglichkeiten zu schaffen, damit die Wünsche und Vorstellungen Realität werden. Dazu muss man aber auch den Mut haben, in Europa selbst Fesseln abzulegen, indem man hier die Behinderungen der europäischen Entwicklung beseitigt, indem man auf das Beispiel setzt, dass eine Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische Union ist, erfolgreich wirtschaftliche Kraft entfalten kann und dass unser Weg, unser Modell in Europa über- zeugend ist. Die Entwicklungen in Nordafrika und ande- ren Regionen der Welt, diese Freiheitsbewegungen, wä- ren ohne das Beispiel des europäischen und auch des deutschen Weges, mit Freiheit Kraft zu entfalten und da- durch Arbeit und Zukunft zu schaffen, nicht auf den Weg gekommen. Wir haben mit unserem Beispiel die Kraft der Freiheit freigesetzt. Deshalb sind wir aus Überzeu- gung dabei, dies in die Realität umzusetzen. Herr Kollege Steinmeier, dabei sollten alle mitma- chen. Das ist ein Thema, das sich nicht für Parteitags- oder Wahlkampfreden eignet, sondern hier muss das Par- lament solidarisch hinter der Kanzlerin stehen. Sie hat einen klaren Weg aufgezeigt. Die Regierungsfraktionen unterstützen sie dabei. Ich bin sicher, sie wird auch mit guten Ergebnissen aus Deauville zurückkommen. Deauville bietet die Chance, dass wir in der Technologie, in der Freiheitsbewegung, in der wirtschaftlichen Zu- sammenarbeit vorankommen. Ohne Armutsbekämpfung wird die Freiheitsbewe- gung auf Dauer keinen Erfolg haben. Deshalb ist es not- wendig, das Richtige zu tun. Man kann nicht für jede Maßnahme jeden Tag Beifall bekommen. Entscheidend ist, dass am Schluss eines Entscheidungsprozesses das richtige Ergebnis steht, dass wir die richtige Einstellung haben, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen, dass wir für die richtigen Werte kämpfen und arbeiten. Nicht kurzfristiger Beifall, sondern klarer Kurs ist das, was wir 12614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Rainer Brüderle (A) (C) (D)(B) in Europa, was wir in der Welt brauchen. Dafür steht diese Regierung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das hat sich bei der hervorragenden Wirtschaftsent- wicklung Deutschlands gezeigt. Das ist der Markenkern der schwarz-gelben Regierung. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Ja, die ganze Welt beneidet uns um diese wirtschaftli- che Entwicklung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- derspruch bei der SPD) Die Einzigen, die lachen, sind die, die nicht ertragen können, dass eine deutsche Regierung erfolgreich ist. Das sind Sie! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- rufe von der SPD) Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, erinnere ich noch einmal an den Überbau der Regierungspolitik der schwarz-gelben Koalition: Kurs halten, durchsetzen, nicht irritieren lassen. Das setzt sich durch. Klare Orien- tierung bringt Erfolg. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wie bei der Kernenergie! – Weiterer Zuruf von der SPD: Mit dem Kopf durch die Wand!) – Ach, die SPD hat ja so viele Probleme. Schreien Sie mal nicht so laut. Sie sind ja froh, wenn Sie noch Junior- partner der Grünen sind. (Zurufe von der SPD und der LINKEN) Also: Kopf hoch! Wir halten weiter Kurs. Freuen Sie sich, dass Sie in Deutschland dabei sein dürfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak- tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen wie immer gerne zugehört. Zum Inhalt sage ich besser nichts. Ich habe aber eines festgestellt: Nur in unserer Altersgruppe kommt wirklich Leidenschaft hoch. (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD) Das war deshalb so angenehm, weil Ihre Rede, Frau Bundeskanzlerin, völlig leidenschaftslos war. Das hing übrigens auch mit dem Inhalt zusammen. Das Problem beim G-8-Gipfel besteht ja schon darin, dass Sie dort wesentliche Entscheidungen für die ganze Erde treffen wollen. Ich frage mich immer: Mit welcher Legitimation? (Beifall bei der LINKEN) Wer hat eigentlich acht Regierungschefs und Präsidenten berufen, Entscheidungen für die ganze Erde zu treffen? Sie lassen die Schwellen- und Entwicklungsländer aus. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen? Mit der Lage der Weltwirtschaft und mit den demokrati- schen Bewegungen in Tunesien, in Libyen, in Ägypten, in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Letzteres ist wirk- lich ein in jeder Hinsicht interessantes, aufwühlendes und spannendes Thema. Ich sage hier im Namen der Linken, dass wir all den demokratischen Bewegungen in diesen Ländern größte Sympathie und unsere Solidarität entgegenbringen. (Beifall bei der LINKEN) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ent- schieden, in Libyen Krieg zu führen. Die NATO-Staaten tun das. Diese Regierung hat vernünftigerweise dafür gesorgt, dass sich Deutschland der Stimme enthalten hat. Ich hätte mir gewünscht, dass sie sogar mit Nein ge- stimmt hätte. Aber immerhin, sie hat sich der Stimme enthalten und damit nicht Ja gesagt und nimmt an die- sem Krieg auch nicht teil. Ich habe festgestellt, dass jetzt zwei Länder ständig den Krieg kritisieren, nämlich China und Russland, die aber vergessen, zu erwähnen, dass sie Vetomächte sind. Wenn sie es nicht gewollt hätten, wäre der Beschluss des Sicherheitsrates überhaupt nicht zustande gekommen. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt erleben wir, dass schwerste Luftangriffe geflo- gen werden. Dabei werden auch unschuldige Menschen getötet. Die Kriegslogik dominiert. Der Krieg wird im- mer härter. Von Anfang an haben wir bei diesem Krieg wie auch bei den anderen Kriegen gesagt: Krieg löst keine Probleme; er schafft nur neue Probleme. Das wird jetzt täglich in Libyen bewiesen. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen: Die Grünen und die SPD hätten für den Krieg gestimmt. Cem Özdemir hat mir bei Hart aber fair ganz klar ge- sagt, er hätte im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt. Die fünf großen Friedensforschungsinstitute in Deutschland haben jetzt ein Friedensgutachten 2011 vor- gelegt. Darin sagen sie: Es gibt eine unkalkulierbare Es- kalation des Krieges. Sie fordern sofortige Verhandlun- gen ohne Vorbedingungen, um die Gewalt zu beenden. Ich habe eine weitere Frage. Die Regierung in Libyen hat viele unschuldige Demonstranten erschossen. Aber das macht doch auch die Regierung in Syrien, das macht auch die Regierung im Jemen, und das macht auch die Regierung in Bahrain. Warum kommen Sie eigentlich nur bei Libyen auf die Idee, Bomben zu werfen, aber bei den anderen Ländern nicht? Wenn Bomben den Demon- stranten angeblich helfen – das bezweifle ich energisch; aber das scheint Ihre Auffassung zu sein; Cem Özdemir hat klar gesagt, er sei für diesen Krieg gewesen –, warum gilt das dann nicht für die anderen Länder? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12615 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) Hier kommen mir doch üble Gedanken, und zwar der- gestalt, dass Libyen viel Öl hat. Syrien und Jemen haben kein Öl. In Bahrain liegt ein strategisch wichtiger Mili- tärstützpunkt der USA. Daraus erklärt sich die unter- schiedliche Herangehensweise. Das ist höchst unglaub- würdig. Krieg darf nie das Mittel unserer Politik werden. (Beifall bei der LINKEN) In Bahrain sind saudi-arabische Truppen einmar- schiert und schießen dort auf Demonstranten. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Frage ans Fernsehen. Ich sehe Bilder aus dem Jemen, ich sehe Bilder aus Syrien, und ich sehe viele Bilder aus Libyen, aber nie Bilder aus Bahrain. Warum eigentlich sollen unsere Fernsehzu- schauerinnen und -zuschauer nicht sehen und erfahren, was dort passiert? Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine andere Politik auch in Bezug auf Nordafrika und in Bezug auf die arabische Welt. Die Unterstellung, die es früher immer gab, arabi- sche Völker wollten keine Demokratie, ist jetzt wider- legt. Überall gibt es starke demokratische Bewegungen, die wir unterstützen müssen. Ich sage noch etwas: Wer endlich Frieden im Nahen Osten will, muss die Zwei- staatenlösung unterstützen. Wir brauchen einen lebens- fähigen Staat Palästina und einen sicheren Staat Israel. Wer das eine oder das andere nicht will, will auch keinen Frieden im Nahen Osten. (Beifall bei der LINKEN) Hier hat Herr Steinmeier völlig recht, Frau Bundes- kanzlerin: Es geht nicht, dass Sie sich bei dieser Frage – Sie haben hier nur ganz beiläufig die Rede Obamas er- wähnt – heraushalten. Nein, wir müssen sagen: Es ist richtig, der Staat Palästina muss in den Grenzen von 1967 gegründet werden. Wenn es einen Gebietsaus- tausch gibt, dann muss er zwischen Israel und Palästina vereinbart werden. Wer jetzt diesen Weg nicht gehen will, der schadet nicht nur den Palästinenserinnen und den Palästinensern, der bringt auch den Israelis keinen Frieden. Deshalb brauchen wir für beide Völker diesen Weg. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen auch unsere Rüstungsexportpolitik neu durchdenken; ich komme wieder einmal darauf zurück. Mit Genehmigung der Bundesregierung gab es Rüs- tungsexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro, an Ägypten im Wert von 144 Millionen Euro, an Bahrain im Wert von 184 Millionen Euro und an Saudi- Arabien im Wert von 441 Millionen Euro, und zwar in der Zeit von 2006 bis 2009. Der Spitzenreiter sind übri- gens die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie bekamen Rüstungsexporte im Wert von 846 Millionen Euro. Ich sage es noch einmal ganz klar: Die libysche Ar- mee hat gegen Demonstranten aus dem eigenen Volk auch mit deutschen Waffen gekämpft. Die saudische Ar- mee kämpft mit deutschen Waffen in Bahrain gegen De- monstrantinnen und Demonstranten. Wir haben jetzt einen Antrag eingebracht, die Rüs- tungsexporte in diese Länder zu verbieten. Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Fraktionen darüber entscheiden. Wir werden darüber namentlich abstimmen lassen, weil mich interessiert, ob wir immer noch keine Schlussfolgerun- gen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben und tat- sächlich noch Geschäfte mit Krieg machen wollen, an- statt endlich damit aufzuhören. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Dummes Zeug!) Nun wollen Sie weiter über die Lage der Weltwirt- schaft sprechen. Das ist übrigens ohne China sehr schwer; ich weiß gar nicht, wie Sie das machen wollen. Außerdem gehören auch Länder wie Brasilien und In- dien dazu; aber das lasse ich einmal weg. Es gibt zwei Themen, die Sie erörtern wollen, nämlich zum einen die weltweiten Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen und zum anderen die gigantische öffentliche Verschul- dung von Staaten auch infolge der Finanz- und Banken- krise. Da sind wir wieder beim Thema Griechenland. Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, kurzum: am Rande der Pleite. Nun hatten Sie doch lauter Maßnahmen beschlossen und haben gesagt, sie seien alle so genial und damit seien alle Probleme gelöst. Nun sind die Probleme aber nur verschärft worden. Wann nehmen Sie das denn einmal zur Kenntnis und korrigieren diese Politik? Was wären denn die alternativen Wege, die wir dies- bezüglich gehen könnten? Ich halte nichts davon, dass Sie immer wieder versuchen, Griechenland – genauso wie Spanien, Portugal, Irland und andere Länder – unter Druck zu setzen, indem Sie sagen: Es muss Sozialabbau betrieben werden; die Löhne müssen gesenkt werden; das ganze öffentliche Eigentum muss verkauft werden. Ich glaube, dass das nicht geht. Ich glaube auch, dass man einen Staat so gar nicht sanieren kann; denn Sie sor- gen damit dafür, dass die Steuereinnahmen ständig zu- rückgehen. Das heißt, Griechenland wird dadurch nur noch – wenn es eine Steigerung von „pleite“ gäbe – „pleiter“. (Zuruf von der FDP: Nein!) Genau diesen falschen Weg gehen Sie bei all diesen Staaten. (Zuruf von der FDP: Nochmals nein!) – Ja, was denn? Bei Griechenland ist es ganz einfach: Die sollen jetzt die Flughäfen, die Seehäfen, die Telefon- gesellschaften, die Post verkaufen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da können Sie mal Ihre veruntreuten Gelder anlegen!) Wenn man das alles privatisiert, dann gehört der öffentli- chen Hand gar nichts mehr. Glauben Sie ernsthaft, da- durch die Probleme Griechenlands lösen zu können? Ganz im Gegenteil: Sie verschärfen damit die Probleme. (Beifall bei der LINKEN) Es kommt aber etwas hinzu: Weder die Bevölkerung Griechenlands noch die Bevölkerung Spaniens ist bereit, sich das bieten zu lassen. Werfen Sie doch einmal einen Blick nach Spanien! Wer von Ihnen will mir eigentlich sagen, was dabei herauskommt? Wer von Ihnen kann 12616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) überhaupt einschätzen, welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen dort stattfinden? Wenn diese Länder aber in immer tiefere Krisen geraten, dann doch auch Deutschland. Wir müssen endlich einen anderen Weg für Europa und für unser Land finden; das will ich Ihnen gerne sagen. (Beifall bei der LINKEN) Ihr Weg ist klar. Sie sagen: Alles privatisieren, Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen runter! Sie mei- nen, dadurch würde Griechenland gesund werden. Was Sie erzählen, ist albernes Zeug; das Gegenteil ist richtig. Wir müssen folgende Wege gehen: Erstens. Es fängt damit an, dass wir einen riesigen Exportüberschuss auch im Verhältnis zu Griechenland haben; wir sind Vizeweltmeister beim Export. Warum sind wir Vizeweltmeister? Ich kann es Ihnen sagen: Weil nur in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn Jahren um 4,5 Prozent gesenkt worden sind, weil nur in Deutschland die Realrenten in den letzten zehn Jahren um 8,5 Prozent gesenkt worden sind, weil hier so viel privatisiert worden ist. Dadurch sind wir im Angebot bil- lig geworden. Das aber hat Griechenland mit ruiniert; denn es kann sich nicht mehr mit der Abwertung seiner Währung wehren, weil wir gemeinsam mit Griechenland den Euro haben. Wir müssen einmal begreifen, dass wir einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung haben. Da muss man anders miteinander umgehen, als Sie das ge- tan haben. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Wir brauchen einen Marshallplan. Ich sage Ihnen einmal, was die EU hatte: Sie hatte einen Sozial- und Strukturfonds für ärmere Regionen. Darüber bekom- men auch heute noch die ostdeutschen Bundesländer, Berlin und Bremen Geld; aber dieser Fonds läuft im Jahre 2013 aus. Frau Bundeskanzlerin, wo bleibt denn Ihre Initiative, um klarzustellen, dass wir in der Europäi- schen Union wieder einen Solidaritätsfonds benötigen, und zwar einen Fonds, der noch größer ist und auch an- deren Ländern helfen kann. Im Übrigen sind auch die ostdeutschen Länder, Berlin und Bremen nach wie vor darauf angewiesen. Es gibt aber keine Initiative dazu; da wird einfach dichtgemacht. Hier kann ich einen zweiten Schritt nennen. Die Euro- päische Zentralbank darf Kredite nur an Privatbanken vergeben, nicht an Staaten. Sie müssen sich doch einmal überlegen, welch ein Gipfel der Unverschämtheit da stattfindet: Die Deutsche Bank erhält von der Europäi- schen Zentralbank einen Kredit für 1,25 Prozent Zinsen, kauft mit diesem Geld für die Dauer von zehn Jahren Staatsanleihen bei Griechenland und erhält dann 17 Prozent Zinsen. Das ist ein Reibach, der von der Eu- ropäischen Union organisiert und von der Bundesregie- rung genehmigt wird. Warum sagen Sie denn nicht: „Gut, dann ändern wir den Vertrag; die EZB – meinet- wegen gründet man auch eine andere Bank – kann Di- rektkredite zu günstigen Zinsen an Griechenland verge- ben“? Das wäre eine Hilfe für das Land und nicht der Weg, den Sie hier beschreiten. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich bin gleich fertig. Ich sage nur noch: Im Übrigen gibt es in Griechen- land auch Milliardäre und Millionäre. Sie werden steuer- lich so herangezogen wie in Deutschland, nämlich so gut wie gar nicht. Auch das ist ein falscher Weg. Sie denken immer nur an die Beschäftigten. Die sollen zur Kasse ge- beten werden. Sie selber wollen die Schulden, die in der Finanzkrise angehäuft wurden, abbauen. Dazu wollten Sie eine Fi- nanztransaktionsteuer einführen. Die hat Herr Schäuble aber gerade beerdigt. Dann haben Sie noch gesagt: Die Brennelementesteuer ist wichtig. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist es aber gut hier!) Die haben Sie aber auch beerdigt. Ich sage Ihnen, wer das Ganze bezahlt: die Arbeitslosen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Arbeitslo- sen? Also Gregor!) Mit dieser Politik kommen Sie nicht durch. Das werden Sie auch bei den nächsten Wahlen erleben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) – Natürlich. Sie haben das Elterngeld gestrichen. Sie ha- ben Mittel für weitere Maßnahmen gestrichen. Sie haben in gigantischem Maße gekürzt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Lieber Herr Kollege Gysi. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Die Kollegen reizen mich, Herr Präsident, immer wieder zu erwidern. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist ja wahr. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Aber ich verstehe Sie, Herr Präsident. Sie wollen auf die Zeit achten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wenn die wechselseitige Begeisterung zwischen Ih- nen und Volker Kauder nur von mir zu stoppen ist, dann muss ich das jetzt halt tun. Es ist vorbei. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Sie haben recht, Herr Präsident, aber Sie müssen zu- geben: Seine Begeisterung für mich nimmt ständig zu. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12617 (A) (C) (D)(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun kann der Kollege Volker Kauder diese Begeiste- rung höchstselbst am Podium des Deutschen Bundesta- ges zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der G-8-Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat ein Schwerpunktthema, Herr Gysi. Dazu haben Sie nichts gesagt, weil Sie zu Menschenrechten und Religionsfrei- heiten kein richtiges Verhältnis haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat neben Menschenrechten ein weiteres zentrales Thema, auf das der Kollege Brüderle hingewiesen hat und zu dem Sie auch nichts sagen können, nämlich Freiheitsbewegungen von Menschen, die eine neue Perspektive wollen. Das sind die Hauptthemen, um die es bei diesem Gipfel geht. Der Fraktionschef der SPD, Herr Steinmeier, hat heute gesagt, die Bundesregierung habe keinen richtigen Plan. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich wäre da ganz vorsichtig – ich weiß nicht, wo Herr Steinmeier sitzt; da hinten sitzt er –; denn die Bundes- kanzlerin und der Bundesaußenminister haben schon sehr früh, unmittelbar nach den Ereignissen in Nord- afrika, in der EU die Transformationspartnerschaft auf die Tagesordnung gesetzt. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Noch bevor der amerikanische Präsident das Wort in den Mund genommen hat, hat diese Bundesregierung das Thema in Europa auf die Tagesordnung gesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Amt trübt zwar manchmal den Blick, Herr Steinmeier, aber trotzdem muss man fair bleiben und die Wahrheit sagen. Europa hat gleich den richtigen Weg eingeschlagen. Wenn wir diese Transformationspartner- schaft jetzt angehen, werden wir sehen, was wirklich er- forderlich ist. Der Kollege Polenz war vor einer Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Ägypten; ich war am vergangenen Wochenende zu politischen Ge- sprächen in Kairo. Dort haben wir einen ganz anderen Eindruck gewonnen als den, den Herr Steinmeier an die- sem Rednerpult zum Ausdruck gebracht hat. Die Men- schen setzen auf Europa, und sie setzen vor allem auf Deutschland. Sie haben gesagt: Das Wichtigste, was wir jetzt brauchen, ist Bildung, weil wir dadurch eine Per- spektive bekommen. Mehr als 50 Prozent der jungen Menschen in Ägypten sind Analphabeten. Die Men- schen sagen: Wir haben ohne Bildung keine Perspektive. Im Zusammenhang mit Bildung fällt ihnen vor allem ein Land ein, und das ist Deutschland mit seinem dualen Ausbildungssystem, auf das sie setzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzle- rin sagt: Das wird ein Schwerpunkt sein. Ich möchte anregen, dass wir uns innerhalb der Bun- desregierung mit der Frage beschäftigen, was wir tun können, um Auslandsschulen auszubauen und sie in die Lage zu versetzen, mehr Menschen auszubilden. Im Üb- rigen, lieber Herr Kollege Brüderle, sage ich zu dem Thema Fachkräfte, über das wir häufig diskutieren: Die jungen Leute, die in deutschen Auslandsschulen ausge- bildet worden sind, sind die besten Fachkräfte, die wir dann auch holen können. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Rainer Brüderle [FDP]: Jawohl!) Schulen und Perspektiven sind zwei Punkte, die mitei- nander verbunden werden müssen. Das brauchen wir jetzt in Nordafrika. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass sie morgen auch den ägyptischen Ministerpräsidenten trifft. Wir haben uns in Ägypten mit jungen Muslimen, mit Vertretern der Muslimbrüder und jungen koptischen Christen getroffen. Dort ist man sich grundsätzlich da- rüber einig, dass an erster Stelle nicht eine bestimmte Religionszugehörigkeit steht, sondern der Wunsch, dass Ägypter Ägypten voranbringen. Das hindert uns natürlich nicht daran, die Situation in Ägypten genauer zu betrachten – dazu muss an den bei- den Tagen in Deauville ein klares Wort gesagt werden –: Es gibt in Ägypten ein Sicherheitsvakuum. Die kopti- schen Christen machen sich zu Recht Sorgen um ihre Si- cherheit. Es hat erneut Angriffe auf koptische Christen und Kirchen gegeben. Der jetzige Ministerpräsident darf in Deauville nicht nur sagen: Wir brauchen diese oder jene Hilfe. Er muss vielmehr bereit sein, koptische Christen vor Übergriffen zu schützen. Das Sicherheits- vakuum darf nicht zulasten der Christen in Ägypten ge- hen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich nehmen wir die Entwicklung, die in Ägyp- ten stattgefunden hat, wahr. Wir sollten dennoch nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es ist völ- lig klar, dass man sich dort noch viele Jahre auf dem Weg zu einer Demokratie, wie wir sie uns vorstellen, be- findet. Deswegen sind der Rechtsstaatsdialog und der Politikdialog mit Ländern wie Ägypten von großer Be- deutung. Wir werden feststellen, dass alle Muslime, auch die moderaten, als Grundsatz formulieren: Ägypten wird ein Staat sein, in dem die Grundlagen der Scharia die Grundlagen des Rechts sind. Da sollten wir uns keiner Täuschung hingeben; das wird auch in einer neuen Ver- fassung genau so formuliert werden. Umso wichtiger ist es, dass wir sagen: Eine solche Rechtssituation darf nicht dazu führen, dass eine starke Minderheit – die Christen machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung in Ägyp- ten aus – bei einer solchen Entwicklung unter die Räder 12618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Volker Kauder (A) (C) (D)(B) kommt. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen müs- sen wir immer wieder ganz genau hinschauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Deauville wird auch die Situation im Nahen Osten ein wichtiges Thema sein. Auch hier muss ich sagen: Herr Kollege Steinmeier, Sie irren sich total, was die Zu- sammenarbeit in Europa und mit den Amerikanern anbe- langt. Aus Ihrer Zeit als Außenminister wissen Sie doch ganz genau, dass ohne Amerika eine Klärung der Situa- tion im Nahen Osten gar nicht möglich ist. Nach dem Motto zu verfahren: „Die Bundesregierung soll das Pro- blem im Nahen Osten lösen“, ist Kinderträumerei und hat mit der Realität ganz und gar nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es bleibt dabei, dass wir unseren Einfluss ausüben müssen. Eine gewisse Sorge bereitet es, wenn man die jungen Menschen in Nordafrika – Christen und Muslime – über die Situation vor Ort reden hört. Diese jungen Men- schen sagen: Das, was uns dazu gebracht hat, auf die Straße zu gehen – bessere Perspektiven im Leben zu ha- ben, für Freiheit zu streiten –, das fühlen wir auch bei den jungen Palästinensern. Deswegen erwarten wir, dass auch sie eine Perspektive erhalten. Ich kann nur sagen: Die Sorgen Israels sind groß im Hinblick auf die Situation in Nordafrika. Israel sollte da- rauf eine Antwort geben, und zwar dahin gehend, dass man nach einer Friedenslösung sucht. Sich abzuschotten, macht überhaupt keinen Sinn. Das werden die neuen jungen Bewegungen in Nordafrika nicht hinnehmen. Deswegen müssen wir als Deutsche den Transforma- tionsprozess begleiten. Nur zu sagen, wie es Netanjahu tut: „Wir machen weiter wie bisher“, wird diese junge, starke, nach Freiheit strebende Generation in Nordafrika nicht zufriedenstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weil wir die Sorgen Israels teilen, weil das Existenz- recht Israels eine feste Größe für uns in der deutschen Politik ist, müssen wir mit unseren israelischen Freun- den darüber sprechen, wie sich die Situation verändert hat und wie wir zu Lösungen kommen, die eine Befrie- dung dieser ganzen Region herbeiführen können. Eine Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn Menschen, die jungen Leute in Nordafrika, das Gefühl haben, dass sich etwas für sie in ihrem Land tut. Im Augenblick rich- ten viele, die besonders stark sind, die eine gewisse Grundausbildung haben, den Blick nach Europa. Das ist ein großes Problem in dieser Region; denn genau diese Menschen werden in ihrem Land gebraucht. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir Hilfe anbieten. Ich glaube, wir müssen über die Ausgestaltung der Strukturfonds in Europa reden. Wir haben in Griechen- land und auch in Portugal gesehen, dass es nicht immer sinnvoll ist, noch eine Autobahn und noch eine Brücke zu bauen. Vielleicht müssen diese Strukturfonds in Bil- dungsfonds umgewandelt werden, um jungen Menschen Perspektiven zu geben. Nicht nur in Brücken, sondern in die Köpfe muss investiert werden, auch durch Struktur- fonds. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben also allen Grund, die Entwicklung in Nordafrika mit Zuversicht zu betrachten, aber auch mit dem klaren Bewusstsein, dass eine Begleitung der Ent- wicklung dort noch viele Jahre notwendig sein wird. Vor allem haben wir, finde ich, die Aufgabe, deutlich zu ma- chen, dass wir darauf achten werden, dass die Christen in diesem Land ihren Glauben leben und ihre Perspektiven verwirklichen können. Wir dürfen, wenn wir die Men- schenrechte ernst nehmen, nicht zulassen, dass starke oder auch schwächere Minderheiten unter die Räder kommen; das müssen wir allen sagen. Wir akzeptieren natürlich, dass ein Land, in dem 90 Prozent der Bevölke- rung Muslime sind, dort einen Schwerpunkt seiner Poli- tik sieht, aber Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten für Christen und Muslime. Wir werden dafür streiten, und wir werden nicht schweigen, wenn Christen verfolgt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich bitte darum, dass dies an den kommenden Tagen in Deauville deutlich gemacht wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, die G-8-Treffen der letzten Jahre haben regelmäßig mit großen Zusagen für Afrika geen- det. Große Summen wurden jedes Mal versprochen. Fünf Jahre nach Gleneagles, direkt vor Beginn des nächsten Gipfels, hätte ich mir eine ehrliche Bilanz der Umsetzung gewünscht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben hier leider um das Problem der fehlenden Zahlungen herumgeredet. Die internationale Hilfsorga- nisation ONE hat vor kurzem eine Umsetzungsbilanz vorgelegt. Diese fällt nicht gut aus, für die G 8 nicht und besonders für Deutschland nicht. Deutschland hat dem- nach seine Zusagen für Subsahara-Afrika nur zu 23 Pro- zent erfüllt. Schlechter war nur noch Italien. Dass es auch in schwierigen Zeiten anders geht, das zeigen die USA, Kanada oder Japan. Diese Länder haben ihre Ziele mehr als erfüllt. Ich kann nur sagen: Wer große Verspre- chungen macht und sie dann nicht einhält, wird seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht. Dieser Ver- trauensbruch schadet dem Ansehen und der Glaubwür- digkeit Deutschlands. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Jetzt steht die Unterstützung für wichtige Länder in Nordafrika und der arabischen Welt auf der internationa- len Tagesordnung. Den mutigen Menschen dort, die für Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12619 Dr. Frithjof Schmidt (A) (C) (D)(B) die Freiheit aufgestanden sind, gehören unsere Hochach- tung und Solidarität; da sind sich hier alle einig. Gerade die Staaten der G 8 haben hier eine Bringschuld, weil wir alle die autoritären Regime dort viel zu lange ge- stützt haben, um vermeintliche Stabilität zu erreichen. Jetzt, im Vorfeld, ist zu lesen, es werde eher ein Gip- fel der Signale; das heißt auf Deutsch: ein Gipfel der nicht ganz konkreten Versprechen. Ich frage Sie: Was nützt all das Gerede über eine Art Marshallplan für Tu- nesien und Ägypten, wenn noch nicht einmal klar ist, dass der EU-Markt für diese Länder weiter geöffnet wird? Wenig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass sich die Bun- desregierung ganz konkret für eine Marktöffnung in al- len G-8-Ländern einsetzt. Wenn Sie das tun, dann haben Sie in diesem Punkt unsere volle Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch eine Änderung der Flüchtlingspolitik gegenüber Nordafrika ist notwendig. Hier regiert in Europa gerade die blanke Schäbigkeit. 850 000 Menschen sind bisher allein aus Libyen in die Nachbarländer geflohen. Nur 25 000 davon sind nach Italien, nach Europa geflohen; das sind gerade einmal 3 Prozent. Anstatt nun zu überle- gen, wie man diesen Menschen helfen kann, wird über innereuropäische Grenzkontrollen diskutiert. Das ist schlicht und einfach beschämend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deutschland sollte hier mit großzügigen Aufnahmeange- boten international voranschreiten. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Die Länder des demokratischen Aufbruchs in Nordafrika brauchen eine umfassende Unterstützung, die ihre wirt- schaftliche Situation verbessert und nicht als westliche Bevormundung daherkommt. – Dazu gehört ein freier Warenverkehr in die Europäische Union und in die ande- ren G-8-Länder; das gilt insbesondere für landwirt- schaftliche Produkte aus Nordafrika. Dazu gehören großzügige Möglichkeiten für die Menschen aus Nord- afrika, in der Europäischen Union zu lernen und, zumin- dest zeitweise, zu arbeiten. Sie müssen mit der Visaver- weigerungspolitik, die Sie in diesem Zusammenhang betreiben, aufhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Dazu gehören auch gezielte finanzielle Hilfen durch die G 8. Die USA haben Ägypten gerade einen Schul- denerlass in Höhe von 1 Milliarde Dollar zugesagt. Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Gläubiger Ägyptens. Auch Sie sollten ganz konkret einen Schul- denerlass zusagen. In eine solche Agenda gehört ebenso eine umfassende Energiepartnerschaft für erneuerbare Energien, die auch der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Ein solches Pa- ket wäre eine angemessene Reaktion auf die Umbrüche in dieser Region. Leider scheint die Bundesregierung hier als Treiber auszufallen. Ich begrüße das Engagement der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin zur Lösung des israelisch-pa- lästinensischen Konfliktes, das Eintreten für eine Zwei- Staaten-Lösung und die Forderung nach Friedensver- handlungen. Präsident Obama hat erklärt, dass eine Lö- sung in den Grenzen von 1967 in Verbindung mit einem vereinbarten Gebietsaustausch beruhen muss. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Position heute ausdrück- lich und vor allem wörtlich unterstützt hätten, gerade an- gesichts der Äußerungen von Ministerpräsident Netan- jahu in Washington. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auf der Tagesordnung des Gipfels steht auch das Thema „nukleare Sicherheit“. Drei Viertel aller Atom- kraftwerke weltweit stehen in den Staaten der G 8. Es liegt ganz wesentlich in den Händen dieser acht Staaten, endlich die Konsequenzen aus der furchtbaren Katastro- phe in Fukushima zu ziehen. Frau Merkel hat noch ein- mal die Tragweite der Katastrophe von Fukushima be- tont. Sie sollte aber auch dementsprechend handeln. Steigen Sie schnellstmöglich und endgültig aus der Atomkraft in Deutschland aus, und hören Sie auf, mit Hermesbürgschaften, also deutschen Steuergeldern, den Export von Atomtechnologie zu unterstützen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir erwarten, dass Sie in Deauville klare Worte an Ihre Kolleginnen und Kollegen richten, dass es die viel beschworene nukleare Sicherheit nicht gibt und der Aus- stieg aus der Atomkraft deswegen notwendig ist. Ihr Verhalten in Deauville in dieser Frage ist für uns auch ein Test mit Blick auf Ihre Glaubwürdigkeit hier in Deutschland. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun freuen wir uns, dass der Vorsitzende des Auswär- tigen Ausschusses seinen heutigen Geburtstag mit einer Rede im Plenum des Deutschen Bundestages für die CDU/CSU-Fraktion schmücken möchte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Zunächst herzlichen Dank für die freundlichen Glückwünsche. Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede kritisiert, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs- erklärung so oft von Zuhören, von Beitragen und von Unterstützen gesprochen hat. Ich bin gerade aus Tunis 12620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Ruprecht Polenz (A) (C) (D)(B) und Kairo zurückgekommen, wo wir in der vergangenen Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschus- ses gewesen sind. Die neuen Kräfte dort, die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz so mutig demonstriert und Kopf und Kragen riskiert haben und weiter riskieren, erwarten genau das von uns, nämlich, dass wir zuhören, dass wir beitragen und dass wir unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Revolution. Wir wol- len nicht länger bevormundet werden – weder von unse- rer Regierung noch vom Westen. Deshalb war die Kritik, es sei hier zu wenig aktiv und mit eigenen Vorschlägen vorgegangen worden, meines Erachtens völlig neben der Sache. Mit einer besserwisse- rischen Hoppla-jetzt-komme-ich-Außenpolitik würden wir den Erwartungen und Hoffnungen der arabischen Freiheitsbewegung überhaupt nicht gerecht werden. Freiheit, Würde, Arbeit: Dafür sind Jung und Alt, Männer und Frauen überall in der arabischen Welt auf die Straße gegangen, und sie tun das noch – oft, wie zum Beispiel jetzt in Syrien immer wieder, unter Einsatz ihres Lebens. Wir bewundern diesen Mut, wir teilen diese Werte, wir hoffen und wollen helfen, soweit wir können, damit diese Bewegung auch Erfolg hat. Dem arabischen Frühling müssen ein Sommer und eine Ernte folgen, es darf keine neue Eiszeit geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Freiheit, Würde, Arbeit: Die Menschen in Tunesien und in Ägypten wollen frei und in Würde leben. Sie wol- len eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit drückt hier besonders. Deshalb ist es genau der richtige Ansatz, dass jetzt auf dem G-8-Gipfel auch auf Vorschlag der Bundesregie- rung hierauf ein Schwerpunkt gesetzt wird. Alle Gesprächspartner in Tunis und Kairo haben uns gesagt, dass für den Erfolg der arabischen Revolution neben der Schaffung demokratischer Institutionen und rechtsstaatlicher Strukturen vor allen Dingen die Wirt- schaft entscheidend ist. Deshalb ist es auch gut, dass Tu- nesien und Ägypten an dem G-8-Gipfel teilnehmen. Da- mit soll zum Ausdruck gebracht werden: Wir wollen das partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander bespre- chen. Man darf aber nicht übersehen: Die beiden Minister- präsidenten stehen einer Übergangsregierung vor. Es sind eher technokratische Regierungen, wobei die Legi- timation in Tunesien sicherlich ein beträchtliches Stück höher ist als im Augenblick in Ägypten. Tunesien ist ins- gesamt auf einem guten Weg. Dort kann man die Hoff- nung haben, dass die Überleitung in demokratische Insti- tutionen gelingt. Bei Ägypten muss man leider sagen: Das ist noch nicht ganz sicher. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Mehr- parteiensystem, marktwirtschaftliche Strukturen und Rechtsstaat – davon wollen wir unsere Hilfe abhängig machen. Ich möchte nur darauf hinweisen – das muss auch auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein –: In Ägypten gilt noch immer der Ausnahmezustand. In Ägypten ur- teilen Militärgerichte über Demonstranten, und sie ver- hängen Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren. Es gibt in Ägypten – das ist hier von fast niemandem kommentiert worden – ein Parteiengesetz zur Registrie- rung neuer Parteien, wonach man nicht nur 5 000 Mit- glieder braucht – darüber lässt sich ja noch reden –, son- dern diese Mitglieder müssen sich auch notariell registrieren lassen, ihre Namen werden in den größten Tageszeitungen Ägyptens veröffentlicht, und sie müssen eine Geldsumme zahlen. Welchen Mut es erfordert, sich in einem solchen Land für eine neue Partei zu entscheiden und mit dem eigenen Namen dafür einzustehen, wenn man vielleicht noch die Sorge haben muss, dass daraus die nächste Internie- rungsliste wird, wenn die Sache nicht so gut ausgeht, wie man es sich erhofft, können diejenigen nachempfinden, die sich öfter mit Systemen beschäftigen, die noch keine Demokratien sind. All das muss, finde ich, auch auf dem Gipfel angesprochen werden. Der Militärrat hält in Ägypten nach wie vor das Heft in der Hand und lässt sich nicht in die Karten schauen. Hier ist Transparenz gefordert. Notwendig ist auch mehr Klarheit in der Frage, wie der Übergang organisiert wer- den soll. Es hat keinen Sinn, Geld in die alten ägypti- schen Strukturen zu geben. Das will ich an dieser Stelle festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Besondere an der arabischen Revolution ist Ana- lysen zufolge: Es gibt keinen Führer. Es gibt keine Par- tei. Es gibt kein Programm. – Das ist jetzt ein Problem. Man war sich einig in den Forderungen nach einem Rücktritt von Ben Ali und Mubarak und darin, künftig in Würde und Freiheit leben zu wollen. Das heißt, keine Repression, keine Korruption und kein Nepotismus mehr. Aber wie kommt man dahin? Hier setzt die Bera- tungsaufgabe ein. Dabei leisten die Stiftungen hervorra- gende Arbeit. Davon haben wir uns überzeugt. Auch das Goethe-Institut hat in beiden Ländern seine Programme so umgestellt, dass es für die Entwicklung in Richtung Demokratie und Rechtsstaat hilfreich ist. Die Frage ist nun: Was hilft wirtschaftlich? Man muss wissen, dass es in Ägypten einen gigantischen Wasser- kopf gibt: Über 45 Prozent der Beschäftigten sind im öf- fentlichen Dienst. Das bedeutet einen Wust an Bürokra- tie und jede Menge Möglichkeiten zum Handaufhalten und zur Korruption, etwa wenn es um Genehmigungen geht. Man muss mit der Regierung auch darüber spre- chen, wie man sich hier Änderungen vorstellt. Aber es gibt eine Möglichkeit, wie im Grunde jeder dazu beitragen kann, dass es in Tunesien und Ägypten wirtschaftlich wenigstens wieder etwas aufwärtsgeht, und zwar durch den Tourismus. Der Tourismus hat nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12621 Ruprecht Polenz (A) (C) (D)(B) nur den Vorteil, dass von dieser Branche ein Großteil der Wirtschaft abhängt. Selbst wenn vielleicht das eine oder andere Hotel in falschem Besitz ist, gibt es über die Be- schäftigung in der Tourismusbranche auch einen Trickle- down-Effekt, der allen Menschen in diesen Ländern zu- gute kommt. Deshalb wäre es sehr wichtig, dass wir uns auch da- rüber Gedanken machen – das richte ich auch an Ernst Hinsken –, wie wir zum Tourismus in Richtung Tunesien und Ägypten ermutigen können, damit er wieder in die Gänge kommt. Denn die Sicherheitsprobleme, die zur Zurückhaltung geführt haben, sind, glaube ich, gelöst. Hier kann jeder, dem die arabische Revolution am Herzen liegt, einen eigenen Beitrag leisten. Er hat auch einen Vorteil: Es geht in schöne Länder. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deut- schen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrü- che nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Um- brüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen brauchen wir diese Debatte. In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrü- chen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chan- cen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das muss man von einer Regierungschefin erwarten können. Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Prä- sident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren eu- ropäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rück- wirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast: Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vor- gänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre loka- len Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungs- chefin nicht tun. (Beifall bei der SPD) Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäu- gig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken. Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkri- tik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat ge- sagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. – Das nur auf die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will. Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dia- log sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt – genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen – begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regie- rungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundes- kanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht ein- gegangen. Das ist schade. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwick- lungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstratio- nen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten, was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyp- tischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf ei- nem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet wer- den und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezo- gen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf euro- päischer Ebene unterstützend tätig werden. Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu ma- chen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den ver- gangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind – ich nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus –, können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozia- lere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den Außengrenzen Europas aufgebaut werden. (Beifall bei der SPD) Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Rat- schläge, sondern Zeit und Unterstützung. Man kann über die Entscheidung der Bundesregie- rung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolu- tion 1973 zu Libyen – das geht quer durch das Haus – unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt, dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal, dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat. Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit ei- nem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt. Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Fal- ken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen. Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnis- partner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde, würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu ei- ner ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwalt- schaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht, 12622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Rolf Mützenich (A) (C) (D)(B) Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Miss- achtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um die- sen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien voll- kommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass As- sad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzun- gen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Euro- päischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien voran- gegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen ent- sprechenden Beschluss herbeizuführen. Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antwor- ten diskutiert. Ich glaube – das hat gestern der Kollege Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht –, dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern, den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten kön- nen. Gleichzeitig – auch das habe ich in der Rede der Bundeskanzlerin vermisst – brauchen wir ein klares Wort zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu, dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen, würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen in den Transformationsländern am besten unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen, welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumen- tarien „Wandel durch Annäherung“, „gemeinsame Si- cherheit“ und „Entspannungspolitik in Zeiten neuer Spannungen“ eine Menge beitragen. Ich plädiere für den Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transforma- tion setzen, sondern auch mit den Regierungen, die ver- suchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der nun bevorstehende G-8-Gipfel ist der erste seit Beginn der Unruhen in der arabischen Welt. Es tref- fen sich acht der weltweit führenden Wirtschaftsnatio- nen. Sowohl der Kommissionspräsident als auch der Ratspräsident sind dabei. Wir haben die Chance, dass von diesem Gipfel ein starkes Signal ausgeht, dass die Demokratiebewegungen, die Freiheitsbestrebungen in den Ländern der arabischen Welt nachhaltig unterstützt werden. Es ist aber bei weitem noch nicht absehbar, welche Entwicklung diese Länder nehmen werden, denn wir ha- ben es mit ganz unterschiedlichen Szenarien zu tun. In Tunesien und Ägypten sind die früheren Machtha- ber gestürzt. Es beginnt die Aufarbeitung dieser Vergan- genheit auch auf gerichtlichem Wege. Man versucht, demokratische Strukturen und rechtsstaatliche Verfah- rensweisen zu etablieren. Es werden Fahrpläne für verfas- sunggebende Versammlungen und Wahlen aufgestellt. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, aber wir müssen noch eine Menge tun, damit diese Entwicklung unumkehrbar wird. Daneben stellen wir in Ländern wie Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain fest, dass die Machthaber mit roher Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Das sind untragbare Zustände. Darüber hinaus ist es bislang in einer Reihe von Län- dern, zum Beispiel in Jordanien und Saudi-Arabien, mit politischen Zugeständnissen gelungen, Proteste zu ver- meiden; eine Strategie, die erfolgversprechend erscheint. Die dortigen Machthaber müssen wohl keinen unmittel- baren Sturz befürchten, aber der Handlungsbedarf ist gleichwohl hoch. Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass es in diesen Staaten eine sehr heterogene Entwicklung gibt, je nachdem, wie legitim die Herrschaftsformen sind, wel- che Rolle das Militär spielt und Ähnliches. Es gibt aber in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre auch übereinstimmende Aspekte, die diese Entwicklun- gen kennzeichnen: Es handelt sich um Volkswirtschaf- ten, die international kaum wettbewerbsfähig sind. Bei- spielsweise tätigt der Nahe Osten ohne die Ölexporte Geschäfte mit dem Ausland in einem Umfang, der sich in etwa auf dem Niveau der Exporte der Schweiz befin- det. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, eine junge Bevöl- kerung, der es an wirtschaftlicher Perspektive mangelt, sowie veraltete Bildungssysteme. Diese länderübergreifenden Defizite müssen für uns der Ansatzpunkt sein, Hilfe zu leisten. Die USA und auch die Europäische Union haben erste Schritte unter- nommen, die Vereinigten Staaten beispielsweise einen Schuldenerlass für Ägypten in Höhe von etwa 1 Milliar- de Euro. Bei Schulden Ägyptens in Höhe von 190 Mil- liarden Euro ist das zwar überschaubar, aber immerhin. Es handelt sich ja nicht nur um eine finanzielle Unter- stützung, sondern es ist auch eine Anerkennung für die Oppositionsbewegung, für die Jugendbewegung, die den Wandel in diesem Land eingeleitet hat. Wir als Europäische Union haben die Chance, die Eu- ropäische Nachbarschaftspolitik endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wir brauchen keine Funktionärstref- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12623 Thomas Silberhorn (A) (C) (D)(B) fen, in denen man keine Antenne für das entwickelt, was sich in den Gesellschaften vor Ort tut, sondern wir müs- sen bilateral den Kontakt so pflegen, dass wir mitbekom- men, welche Entwicklungen stattfinden, um wirklich helfen zu können. Wir brauchen maßgeschneiderte Lö- sungen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik und nicht den Instrumentenkasten, den man über jedes dieser Nachbarländer stülpt. Wir leisten enorme finanzielle Hilfe, aber das allein wird nicht reichen; wir brauchen den direkten Kontakt zur Bevölkerung. Deswegen begrüße ich, dass es nun gelingt, dass wir unter dem Stichwort „Mobilitätspartnerschaft“ Reiseerleichterungen gewähren, Zugang zum Arbeits- markt gewähren, Beschäftigungsförderung betreiben, Berufsbildung nach unseren Erfahrungen exportieren. Das alles kann dazu beitragen, dass eine selbsttragende Entwicklung stattfindet, die am Ende auch demokratische Strukturen fördert. Wir müssen sehr deutlich machen, dass wir jetzt auf der Seite der Freiheitsbewegungen stehen, dass wir De- mokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern wollen, aber wir müssen auch zu sichtbaren Ergebnissen kommen; denn Demokratie wird nach meiner Einschätzung nur dann eine Chance haben, wenn sie sich als handlungsfä- hig erweist, wenn deutlich wird, dass mit den neuen Strukturen die Probleme des Landes tatsächlich besser gelöst werden können, als das vorher der Fall war. Des- wegen müssen wir auch die Grundlage für den wirt- schaftlichen Erfolg in diesen Ländern legen. In der Nahostpolitik tut sich jetzt ein Fenster auf, das wir tunlichst nutzen sollten. Ich glaube, dass die Ent- wicklung in der arabischen Welt jetzt nicht als Vorwand für einen Stillstand im Friedensprozess genommen wer- den darf, sondern im Gegenteil jetzt ganz konkrete Er- gebnisse angestrebt werden sollten. Präsident Obama hat sich dazu bekannt, die Grenzen von 1967 als einen Aus- gangspunkt für eine Friedenslösung zu nehmen. Er über- nimmt damit den Standpunkt, den die Europäische Union seit langem vertritt. Aber es ist klar, dass Rege- lungen zum Gebietsaustausch das Ergebnis von Ver- handlungen sein müssen, wie in anderen offenen Fragen auch: Sicherheitsgarantien für Israel, Rückkehrmöglich- keit für Flüchtlinge. Wir sollten jetzt darauf dringen, dass ohne Vorbedingungen zügig Gespräche stattfinden und dass nicht durch einseitige Erklärungen mögliche Verhandlungen belastet werden. Das gilt sowohl für die Ausrufung eines palästinensischen Staates wie für den Ausbau der jüdischen Siedlungen. Ich glaube, dass es jetzt nicht klug wäre, auf Zeit zu spielen. Den Umbruch in der arabischen Welt, der Aus- wirkungen haben wird, der die Gewichte in der Region verändern wird, sollten wir nutzen, um auch zu einer ge- meinsamen Friedenslösung zwischen Israel und den Pa- lästinensern zu kommen. Die jüngste Zusammenarbeit, das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas, sollte kein Hindernis sein. Es sollte nicht als solches ver- standen werden, sondern als eine Chance; denn Israel hat bisher beklagt, dass es keinen Ansprechpartner gibt. Die Hamas sollte nicht isoliert werden, aber es muss auch klar sein, dass wir Erwartungen an sie richten. Es ist eine Bringschuld der Hamas, das Existenzrecht Israels anzu- erkennen und sich von Radikalisierung und Extremis- mus loszusagen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Silberhorn. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Wenn uns das gelingt, dann in der Tat kann eine Zwei-Staaten-Lösung auf dem Verhandlungsweg ein Hoffnungsschimmer sein. Ich wünsche, dass auch der G-8-Gipfel jetzt ein Signal setzt, bei diesem Prozess vo- ranzukommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn kurz etwas Grundsätzliches: Die G 8 ist ein Aus- laufmodell – zumindest müsste sie es sein –, weil die Musik zunehmend in der G 20 spielt. (Jörg van Essen [FDP]: Das hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion auch schon gesagt!) Doch auch die darf mit Skepsis betrachtet werden, weil es nicht ausreicht, den Klub der Reichen um die Neurei- chen zu erweitern. Auch der G 20 fehlt die Legitimation. Deshalb wünschen wir uns in der internationalen Strukturpolitik, in der Global Governance einen Reform- prozess, der auch die Rolle der Vereinten Nationen stärkt. Am Ende könnte dabei zum Beispiel eine G 25 herauskommen, eng verzahnt mit den Vereinten Natio- nen, in der es sowohl ständige als auch nichtständige Mitglieder gibt, die von verschiedenen Ländergruppen gewählt werden; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) denn auch die Repräsentanten der ärmeren Entwick- lungsländer müssen beteiligt werden, wenn es darum geht, die Weichen für die Weltwirtschaft zu stellen. Es ist unwürdig, sie nach Belieben des jeweiligen Gastge- berlandes am Katzentisch Platz nehmen zu lassen. Nach dieser Grundsatzkritik und der Zukunftsvision ein paar Worte zum bevorstehenden Gipfeltreffen: Ich wünsche mir sehr, dass die G-8-Regierungschefs bei ih- ren Beratungen zum Thema „Nordafrika und Mittel- meerraum“ die Kraft haben, mehr Selbstkritik zu üben. Man feiert jetzt die Demokratiebewegung auf dem Nachbarkontinent, hat aber allzu lange Bündnisse mit Despoten geschmiedet und ihnen sogar die Waffen gelie- fert, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt wer- den. Hat man aus den Fehlern gelernt? Wenn man sich jetzt die Gästeliste anschaut, dann darf das bezweifelt 12624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Thilo Hoppe (A) (C) (D)(B) werden. Wir haben gerade gestern im Entwicklungsaus- schuss intensiv über massive Menschenrechtsverletzun- gen und Landgrabbing in Äthiopien diskutiert. Doch Premier Meles Zenawi wird nach wie vor von der G 8 hofiert. Zu den vielen leeren Versprechungen bezüglich der Entwicklungsfinanzierung ist hier schon einiges gesagt worden. Ich will das jetzt auch nicht weiter anprangern, sondern ich halte es für besser, gemeinsam in die Zu- kunft zu schauen und die Bundesregierung und den Fi- nanzminister zu ermutigen: Haben Sie eigentlich schon wahrgenommen, wie viel Unterstützung und Rücken- wind Sie aus diesem Parlament haben könnten, wenn Sie sich einen Ruck gäben und schon für den Haushalt 2012 deutlich mehr finanzielle Mittel für Entwicklungszusam- menarbeit und humanitäre Hilfe bereitstellten? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach dem heutigen Stand haben 349 Parlamentarier aus allen fünf Bundestagsfraktionen einen Aufruf der Entwicklungspolitiker zu einem entwicklungspolitischen Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels unter- schrieben. Es gibt also eine zumindest dokumentierte klare Mehrheit hier im Parlament, den schönen Worten endlich Taten, das heißt auch ganz konkret, andere Haus- haltszahlen folgen zu lassen. Das wäre ein starkes Si- gnal, wenn es wirklich klappen könnte, noch vor der Sommerpause zu diesem fraktions- und parteiübergrei- fenden entwicklungspolitischen Konsens zu kommen, und zwar auch gegenüber Afrika, dem Nachbarkonti- nent. Das würde unsere Glaubwürdigkeit stark steigern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sibylle Pfeiffer ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der G-8-Gipfel geplant wurde, hat noch niemand ge- wusst, welche Veränderungen und gesellschaftlichen Umbrüche in Nordafrika stattfinden werden. Lieber Kol- lege Hoppe, wenn zu diesem Zeitpunkt ein G 25 oder ein G 20 oder G 7 oder was auch immer geplant worden wäre, wäre es nicht anders. Wichtig ist doch, dass wir über das Thema reden und eine Möglichkeit finden, die Menschen vor Ort zu unterstützen. Wenn es darum geht, Selbstkritik an der Zusammenarbeit mit wem auch im- mer zu üben, lieber Kollege Hoppe, dann sage ich Ihnen: Wir können uns unsere Partner manchmal nicht aussu- chen. Manchmal müssen wir über Schatten springen, die wir vielleicht auch als Schatten erkennen. Aber um den Menschen zu helfen, ist es manchmal vielleicht richtig, einfach etwas zu tun. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Geschäfte zu machen!) Wenn es um Selbstkritik geht, dann sollten wir alle einfach ein bisschen ruhig sein. Ich will gar nicht da- rüber reden, wer mit wem in der großen weiten Welt gut Freund ist, wer mit wem in einem Zelt gesessen hat und Ähnliches. Ich glaube, da geben wir uns alle nichts. Es ist jetzt der falsche Zeitpunkt, darüber lange zu diskutie- ren. Vor einiger Zeit haben wir hier schon einmal über die Entwicklung in Tunesien und Nordafrika insgesamt ge- sprochen. Wir haben damals bewundert, was dort ge- schah. Ich bin heute noch voll der Bewunderung und zolle all den jungen Menschen meinen Respekt, die diese ge- sellschaftlichen Umbrüche in Gang gesetzt haben. Aber mit einem kleinen bisschen Stolz sage ich, dass wir als großer entwicklungspolitischer Geber auch etwas dazu beigetragen haben. Wir haben rechtzeitig mit unseren Partnerländern entsprechende Strukturen vor Ort aufge- baut, sei es Verkehrsinfrastruktur, seien es Krankenhäuser oder Schulen. All dies ist schon einmal die Basis für eine freiheitliche gesellschaftliche Entwicklung. Insofern ist Entwicklungspolitik nicht nur eine vorbeugende Maß- nahme, sondern sie kann auch im Nachhinein helfen. Vor- beugend ist die Entwicklungspolitik, weil sie – ich glaube, wir Entwicklungspolitiker sollten in diesem Punkt selbst- bewusst genug sein – Frieden und Sicherheit in der Welt vielleicht nicht in vollem Umfang gewährleistet, aber zu- mindest in Gang setzt. Die deutsche Entwicklungspolitik ist hervorragend aufgestellt, zum einen durch ihre Durchführungsorgani- sationen, aber zum anderen durch ihre massive Unterstüt- zung der politischen Stiftungen und der Kirchen sowie der Vielzahl und Vielfalt der Nichtregierungsorganisatio- nen. Gerade die politischen Stiftungen, gerade die Kir- chen haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu unterrichten, sie zu informieren und sie zu stärken, gesellschaftspoliti- sche Veränderungen zu unterstützen, sofern sie da sind, oder sie vielleicht sogar in Gang zu setzen, um die Ent- wicklungszusammenarbeit zum Erfolg zu führen. Der Kampf für Freiheit verdient immer unsere Unter- stützung. Deshalb ist die Frage: Wie richten wir unsere Entwicklungszusammenarbeit aus, und wie kann die Neuausrichtung der jetzigen Bundesregierung zum Bei- spiel in den Ländern Nordafrikas wirksam sein? Ich setze sehr darauf, dass eine Erholung der gesellschaftli- chen Strukturen, eine Stabilisierung der demokratischen Bewegung nur über den wirtschaftlichen Erfolg zu errei- chen ist. Wenn wir den jungen Menschen durch Arbeits- plätze und Ausbildung Perspektiven eröffnen, dann ist das richtig und gut. Deshalb begrüße ich sehr, dass vor allen Dingen die DIHK und der BDI mit den vorhande- nen Unternehmen vor Ort Ausbildungs- und Arbeits- plätze zur Verfügung stellen wollen. Aber wir können in der Entwicklungszusammenarbeit noch mehr leisten: Wir können Unternehmensgründun- gen vor Ort unterstützen. Das gelingt uns gut mit Start- ups, wie wir es neudeutsch nennen, mit Unternehmens- und Existenzgründungsdarlehen und Ähnlichem. Das al- les können wir unterstützen. Wir Entwicklungspolitiker wissen allerdings, dass wir ohne die Mitnahme der Gesellschaft vor Ort und ohne Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12625 Sibylle Pfeiffer (A) (C) (D)(B) die Kooperation mit den entsprechenden Regierungen kein Stück weiterkommen. Deshalb ist das, was jetzt in Deauville geschieht – dabei hat die Frau Bundeskanzle- rin unsere volle Unterstützung –, ein ganz wichtiger Schritt. Ein Kommuniqué der G 8 mit den Ländern Nord- afrikas auf Augenhöhe, wobei deren Verantwortung ge- nauso eingefordert wird, wie wir unsere Verpflichtungen eingehen – seien es Zusagen, seien es die Mittelbereit- stellung und Ähnliches –, das ist der richtige Weg. Nur in Kooperation werden wir erfolgreich sein. Wir alleine können es nicht schaffen, aber sie allein auch nicht. Des- halb bieten wir unsere Unterstützung beim Aufbau von industriellen, von ökonomischen Strukturen an, die die Freiheit unterstützen, die aber auch den jungen, zurzeit perspektivlosen Menschen die Aussicht eröffnen, sich und ihre Familien ernähren zu können. Damit unterstüt- zen wir sie für die Zukunft in ihren Ländern. Das ist Aufgabe der Entwicklungspolitik. Deshalb un- terstützen wir die G 8 in ihren Bemühungen, dies auch mittels Partnerschaften umzusetzen. Ich bin sicher, dass wir erfolgreich sein werden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als letzter Redner spricht, dann ist eigentlich alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem. Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin sowie beim Kollegen Niebel, der die Zeitenwende er- kannt, sofort Gespräche geführt und Entscheidungen ge- troffen hat, gerade in Bezug auf berufliche Bildung und auf Wirtschaftspartnerschaften. Ich danke in diesem Zu- sammenhang in ganz besonderer Form den Stiftungen unserer Parteien, die sich dort vor Ort in diesen Monaten außerordentlich engagiert haben, um die Demokratie- bewegung mit zu unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe eben gesagt, es ist noch nicht alles von allen gesagt worden. Deshalb richte ich meinen Blick auf Afrika insgesamt. Der Ruf nach Freiheit und Demokra- tie, den wir in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern in der Region erleben, kann Auswirkungen auf den ge- samten Kontinent Afrika haben. Die Menschen wollen andere Lebensbedingungen. Sie wollen Teilhabe in ihren Ländern. Diese Teilhabe wird ihnen in vielen Ländern verwehrt. Wir haben die Verantwortung, dass wir Afrika als Chancenkontinent in unseren Partnerschaften begrei- fen. Chancenkontinent heißt, dass wir deutlich machen, dass es auch afrikanische Länder gibt, die seit Jahren vorbildliche Entwicklungen durchmachen. Ich erinnere nur an Botsuana, das als eines der ersten Länder seine Rohstoffe zertifiziert, damit den Haushalt in Ordnung gebracht und in Bildung, Gesundheit und Infra- struktur investiert hat und damit eigentlich kein Nehmer- land mehr ist. Ich erinnere an Ghana, wo die soziale Marktwirtschaft in Teilbereichen unter Präsident Kufuor eingeführt worden ist, wo es einen demokratischen Wech- sel durch demokratische Wahlen gegeben hat. Diese Län- der können sich andere afrikanische Länder zum Vorbild nehmen. Eine besondere Herausforderung ist, dass wir versu- chen, den Begriff der wertgebundenen Politik in unsere Verhandlungen mit den Regierungen aufzunehmen. Des- halb, lieber Kollege Hoppe, stimme ich in einem einzi- gen Punkt nicht mit Ihnen überein. Sie haben eben das Thema Äthiopien angesprochen und unseren Umgang mit Meles Zenawi erwähnt. Ich und andere aus den Ko- alitionsfraktionen und der Regierung haben ihn nicht ho- fiert. Auch Horst Köhler hat ihn nicht hofiert. Es ging einzig und allein darum, auch mit solchen Staatschefs Gespräche zu führen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber welche!) Das hat nichts mit Hofieren zu tun. Wir dürfen aber auch nicht in Sprachlosigkeit verharren; denn nur durch Dia- log schaffen wir es, auch dort neue Wege aufzuzeigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere He- rausforderung stellt die demografische Entwicklung dar. Schauen wir uns einmal die Bevölkerungszahlen an – ich berufe mich dabei auf die Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung –: In Afrika leben zurzeit 1 030 Millio- nen Menschen. Es werden bereits 2025 1 412 Millionen und im Jahr 2050 2 084 Millionen Menschen sein. Das bringt Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Er- nährung und damit der ländlichen Entwicklung sowie Energieversorgung mit sich. Lassen Sie mich bezüglich Wasser ein Beispiel heraus- greifen – hier müssen wir auch unsere Bevölkerung mit- nehmen –: Eine Stadt wie Lagos hat eine Kläranlage für 350 000 Einwohner, die 1950 gebaut wurde. Jetzt hat La- gos 16 bis 18 Millionen Einwohner. Damit geht fast alles Abwasser in die Lagunen, dann in den Atlantik und kommt irgendwann bei uns an. Wir müssen das unserer Bevölkerung deutlich machen, damit sie bereit ist, Ent- wicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit Afrika entsprechend zu unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, diese christlich-liberale Koalition und Dirk Niebel haben ganz deutlich gesagt: Schwerpunkte werden wir in den Bereichen Wasser, ländliche Entwicklung und Bildung setzen. Je gebildeter die junge Generation ist – der Anteil der jungen Genera- tion unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Afrika beträgt zurzeit 40 Prozent –, desto mehr Teilhabe will sie haben und desto eher wird sie nachhaltige Entwicklung als Chance für die eigene Heimat begreifen. Auch das ist 12626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Hartwig Fischer (Göttingen) (A) (C) (D)(B) eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stel- len müssen. Hierfür tragen wir Verantwortung. Hier müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union Schwerpunkte setzen. All dies bietet Entwicklungsmöglichkeiten für den Chancenkontinent Afrika. Ich bitte Sie einfach einmal, die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung ermittelt hat und die auch Auswirkungen auf uns hat, genauer anzusehen. Dann se- hen Sie, welche Herausforderungen sich für Afrika, aber auch für uns als Nachbarkontinent stellen. Unterstützen Sie dabei diese christlich-liberale Koalition! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5951. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent- schließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Geset- zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – Drucksache 17/5895 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts – Drucksache 17/5896 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Thomas Oppermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr vor der letzten Bundestagswahl hat das Bundesverfas- sungsgericht das Bundeswahlgesetz überprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es verfassungswidrig ist. Es hat dem Gesetzgeber eine Bearbeitungsfrist von drei Jahren eingeräumt. Diese läuft in sechs Wochen ab. Wir stellen fest: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts ist!) Am Ende dieser drei Jahre stehen wir fast genau dort, wo wir zu Beginn gestanden haben. Es gibt keine Mehrheit im Deutschen Bundestag für ein verfassungskonformes Wahlrecht. Ich finde, das ist eine grobe Missachtung der Rechtsprechung des Gerichtes durch die Mehrheit in die- sem Hause. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben eine Nachspielzeit von drei Jahren bekom- men. Aber Sie haben die Uhr einfach ablaufen lassen und haben nichts gemacht. Ich finde, das ist eine un- glaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit, die Sie an den Tag legen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der Schönheitsfehler haben mag. (Jörg van Essen [FDP]: Gravierende Schönheitsfehler!) Aber er würde uns helfen, ein verfassungskonformes Wahlrecht zu schaffen. Die SPD legt heute einen Gesetz- entwurf für ein verfassungskonformes Wahlrecht vor. Sogar die Fraktion Die Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der gefällt Ihnen?) Dass Sie sich als Regierungskoalition ausgerechnet von den Linken in Sachen Verfassung und Wahlrecht überho- len lassen, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Lesen Sie doch erst einmal den Gesetzentwurf!) spricht eindeutig gegen Sie. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimm- gewicht beanstandet. Das ist in der Tat eine paradoxe Er- scheinung in unserem Wahlrecht. Es hätte bei der Nach- wahl in Dresden dazu geführt, dass die CDU, wenn sie kräftig Zweitstimmen hinzugewonnen hätte, ein zusätz- liches Listenmandat in Sachsen gewonnen hätte. Sie hätte dann aber ein Mandat in Nordrhein-Westfalen ver- loren. Allerdings wäre dieses Mandat in Sachsen gar nicht zu Buche geschlagen; denn in Sachsen hatte die CDU sogenannte Überhangmandate. Deshalb wäre in der Konsequenz ein Überhangmandat lediglich in ein Listenmandat umgewandelt worden. Unter dem Strich hätte die Union ein Mandat, und zwar in Nordrhein- Westfalen, verloren. Das bedeutet: Ein Zuwachs an Zweitstimmen kann zum Verlust von einem Mandat führen. Das Bundesver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12627 Thomas Oppermann (A) (C) (D)(B) fassungsgericht sagt, dass das nicht sein darf. Wenn die Wählerinnen und Wähler nicht mehr sicher sein können, ob sie mit ihrer Stimmabgabe ihrer Partei nützen oder schaden, dann ist das Vertrauen in das Wahlrecht in der Tat beeinträchtigt und dann muss dieser Fehler korrigiert werden. Das negative Stimmgewicht hat aber nur eine be- grenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr. Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommuni- zierende Röhren, die das immer ausgleichen. Eine viel gravierendere Verzerrung der Wirkung von Wählerstimmen kommt durch die Überhangmandate zu- stande. Sie sind das eigentliche Problem. Wir kennen Überhangmandate seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Vor 1990 waren es allerdings nie mehr als sechs Überhangmandate. Seit der Vereinigung ist ihre Zahl gewachsen. Heute haben wir bei einem Fünf-Par- teien-System 24 Überhangmandate im Deutschen Bun- destag, so viel wie noch nie zuvor. Diese 24 Überhang- mandate entfielen ausschließlich auf die Union. Das bedeutet: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen, die man normalerweise braucht, um diese Anzahl der Mandate zu gewinnen, musste sich die Union verdienen. Sie hat sie extra obendrauf bekommen. Das Bundesverfassungsgericht – das muss man natür- lich klar einräumen – hat bisher noch nicht eindeutig die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate festge- stellt, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ganz im Gegenteil!) aber schon in seiner ersten Entscheidung klar ausgeführt, dass bei Überhangmandaten die Wähler der entsprechen- den Kandidaten ausnahmsweise ihr Stimmgewicht ver- doppeln können und dass das nur in engen Ausnahme- grenzen zulässig ist. In einer anderen Entscheidung hat es gesagt: Wenn sich der Anteil der Überhangmandate allerdings der 5-Prozent-Marke nähert, dann wird es ver- fassungsrechtlich kritisch. Genau dahin bewegen wir uns: 24 Mandate sind noch keine ganzen 5 Prozent, aber wir haben hier jetzt Überhangmandate fast in Fraktions- stärke; das ist wie eine sechste Fraktion im Deutschen Bundestag. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Überhangmandate in dieser Größenordnung aus vier Gründen verfassungswidrig sind: Erstens. Sie verleihen manchem Wähler ein doppeltes Stimmgewicht: Ein Teil der Wähler kann mehr Abgeord- nete in den Deutschen Bundestag wählen als andere Wähler. Das ist eine Wirkung, die wir schon einmal in Deutschland hatten: beim vorkonstitutionellen Wahl- recht in Preußen. Zweitens. Die Überhangmandate führen zu einer mas- siven regionalen Ungleichverteilung der Mandate und damit zu unterschiedlichem politischem Einfluss der verschiedenen Regionen. Die CDU in Baden-Württem- berg hat bei der letzten Wahl mit rund 34 Prozent der Zweitstimmen fast 50 Prozent der Mandate gewonnen, davon zehn Überhangmandate. Das politische Gewicht der zehn Überhangmandate ist fast genauso groß wie das politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württem- berg hat jetzt zwar eine gute Regierung; aber das ist noch lange kein Grund dafür, dass diese Region hier im Deut- schen Bundestag mit zehn Mandaten überrepräsentiert sein sollte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Drittens. Die Überhangmandate verletzen die Chan- cengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Die SPD braucht für ein Bundestagsmandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmen, die CDU nur 61 000 Stim- men. Es ist kein faires Wahlrecht, wenn einzelne Par- teien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen als an- dere. Der vierte Punkt ist im Hinblick auf die Verfassungs- widrigkeit der Überhangmandate am gravierendsten. Die Überhangmandate können die Mehrheiten im Deutschen Bundestag umdrehen. Das heißt, eine Minderheit der Stimmen kann zu einer Mehrheit der Mandate führen. Die Überhangmandate können hierfür den Ausschlag ge- ben. Spätestens wenn das passiert – meine Damen und Herren, da bin ich ganz sicher –, werden die Wählerin- nen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie verlieren. Das kann dann eine Staats- und Verfassungskrise auslösen, über die sich nie- mand freuen kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Deshalb müssen wir dieses Problem ernst nehmen. Alle Experten sagen, dass die Zahl der Überhangman- date im Fünf-Parteien-System weiter anwachsen wird, von 24 in Richtung 50 oder 60. Das ist eine ernstzuneh- mende Bedrohung. Wir müssen wissen: Das Wahlrecht ist nicht irgendein Recht, das beliebig gestaltet werden kann. Das Wahl- recht ist neben der Freiheit der Person und der Mei- nungsfreiheit für die Demokratie schlechthin konstituie- rend: In der Demokratie liegt die Macht beim Volk; der Wahlakt ist die Übertragung dieser Macht vom Volk auf das Parlament. Der Wahlakt muss deshalb klar, einfach und sauber sein; vor allen Dingen muss er manipula- tionsfrei gestaltet sein. Er ist verbunden mit dem glei- chen Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; dieses gleiche Wahlrecht ist im Augenblick nicht mehr gewähr- leistet. Wir sagen deshalb: Ein verfassungskonformes Wahl- recht muss nicht nur das negative Stimmgewicht beseiti- gen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren. Hier gibt es mehrere Wege. Die Grünen wollen die Über- hangmandate nach ihrem Entwurf mit Mandaten auf den Landeslisten anderer Länder verrechnen. Das ist nicht unproblematisch, weil auch das zu einer regionalen Un- gleichverteilung des politischen Einflusses führen würde. Außerdem könnte man CSU-Mandate nicht ver- rechnen, weil die CSU eine eigenständige Landesliste aufstellt. 12628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Thomas Oppermann (A) (C) (D)(B) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dafür haben wir auch eine Lösung!) Man müsste dann der CSU direkt gewählte Mandate wieder abnehmen. Auch das ist problematisch. Die Lin- ken legen einen Entwurf vor, in dem dieses Modell mit dem SPD-Modell kombiniert wird. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie können alle zustimmen!) Unser Modell sieht vor, die Überhangmandate auszu- gleichen, sodass die Proportionalität des Zweitstimmen- ergebnisses wiederhergestellt werden kann. (Beifall bei der SPD) Ausgleichsmandate gewährleisten, dass die Stimm- abgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich nützt. Die Wählerinnen und Wähler können bei der Stimmabgabe dann wieder sicher sein, dass ihre Stimme der Partei, die sie gewählt haben, im Endeffekt zugute kommt. Wir sehen natürlich ganz klar die Gefahr, dass der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate größer werden kann. Wir sehen aber nicht tatenlos zu. Dieser unerwünschte Effekt kann korrigiert werden. Deshalb sagen wir: Vor der übernächsten Bundestags- wahl kann man auswerten, wie sich die Ausgleichsman- date ausgewirkt haben. Wir wären dann bereit, durch eine maßvolle Reduzierung der Direktwahlkreise eine Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen. Auf die- sem Weg würden wir gleichzeitig einen Umstand her- stellen, der die Entstehung von Überhangmandaten ten- denziell verhindern kann. Die Koalition überlegt immer noch. Sie hat noch im- mer keine Einigung gefunden. Das liegt natürlich daran, dass sie das Wahlrecht in erster Linie als Instrument zur Machtabsicherung betrachtet. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht von sich auf andere schließen!) Die Union möchte um jeden Preis die Überhangmandate behalten. Ich rufe Ihnen zu: Letztes Mal haben Sie zwar reichlich Überhangmandate gehabt, wie das beim nächs- ten Mal sein wird, wissen wir aber nicht. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eben!) In der Vergangenheit hat auch die SPD von Überhang- mandaten profitiert. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Viel häufiger!) Immer haben aber nur CDU und SPD davon profitiert, nie die Grünen, nie die FDP und nie die Linkspartei. Deshalb sagen wir: Wenn die Überhangmandate all diese kritischen Wirkungen haben, dann wollen wir davon nicht profitieren. Wir wollen auf diese Chance verzich- ten, indem wir die Überhangmandate ausgleichen. Ich kann verstehen, dass die Union sich angesichts ei- ner laut demoskopischer Untersuchungen schrumpfen- den Zustimmung und angesichts der schlechten Land- tagswahlergebnisse an diesen Überhangmandaten festklammern will. Was ich aber nicht verstehen kann, Herr Brüderle, ist, dass die FDP in diesen Verhandlun- gen alles tut, um der Union die Überhangmandate zu si- chern. Die FDP hat zwar ein bisschen unter dem Image gelitten, eine Partei der Egoisten zu sein, dass Sie jetzt aber so altruistisch sind, dass Sie sogar zur Machtabsi- cherung der Union beitragen wollen (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Tief gesunken, die FDP!) und für ein Wahlrecht eintreten, das Ihrer Partei über- haupt nicht hilft, wundert mich sehr. Dieses Wahlrecht hilft den kleinen Parteien gar nicht. Sie bekommen zwar Ausgleichsmandate, aber keine Überhangmandate. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wer redet jetzt machtpolitisch? – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eine machtpolitische Rede hal- ten Sie!) Deshalb möchte ich Sie bitten: Kehren Sie zurück (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Zur Sache!) an den Verhandlungstisch. Sie haben mit uns zwar Ge- spräche geführt, aber wir hatten den Eindruck, dass die Gespräche nur geführt wurden, um Zeit zu schinden. Da- für stehen wir nicht zur Verfügung. Wir haben jetzt einen Entwurf auf den Tisch des Hauses gelegt. Dazu kann es jetzt eine Anhörung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie noch vor Ablauf der Frist wenigstens einen Entwurf vor- legen. Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit vor einem Al- leingang warnen. Ein Konsens im Wahlrecht ist für un- sere Demokatie wichtig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihr Modell durchbringen wollen, dann können wir nicht ausschließen, dass wir uns in Karlsruhe wiedersehen. Dann wird das Bundes- verfassungsgericht vielleicht final Gelegenheit bekom- men, ein abschließendes Wort zur Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate zu sagen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Thomas Oppermann. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Krings. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- tieren heute auf Antrag von SPD und Linken über das Wahlrecht. Ich will Ihnen, Herr Oppermann, und allen anderen Kollegen eines vorweg sagen: So weit Sie kriti- sieren, dass die Koalitionsfraktionen zu lange brauchen, um einen ausformulierten Gesetzentwurf zu diesem Thema vorzulegen, gebe ich Ihnen recht. Dieser Kritik kann und will ich nicht entgegentreten. Auch ich hätte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12629 Dr. Günter Krings (A) (C) (D)(B) mir gewünscht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt deutlich weiter wären. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Aber ich möchte Ihnen auch Folgendes sagen: Sie sollten vermeiden – zum Schluss klang es ein wenig so, als ob Sie das tun könnten –, bei diesem Thema in Oppo- sitionsreflexe zu verfallen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass man versuchen muss, mit allen Frak- tionen zu sprechen. Hierfür gab es durchaus schon An- gebote. Hier sind eben nicht nur die Regierungsfraktio- nen, sondern alle Fraktionen in diesem Hause gefragt, dieses schwierige Problem „negatives Stimmgewicht“ in den Griff zu bekommen und Lösungsvorschläge zu ma- chen. Nur: Es reicht eben nicht, irgendeinen Gesetzent- wurf vorzulegen, wie das inzwischen alle drei Fraktio- nen auf der linken Seite dieses Hauses gemacht haben, sondern es muss etwas vorgelegt werden, was verfas- sungskonform, transparent und fair ist. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir sitzen in der Mitte! Sie sind wohl einäugig, Herr Kollege!) Fair heißt: fair zwischen den verschiedenen Parteien und fair zwischen den verschiedenen Regionen in Deutsch- land. Ich kann es vorwegnehmen: Alle drei Gesetzent- würfe erfüllen diese Mindestvoraussetzungen für Wahl- rechtsanträge eindeutig nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben den Antrag nicht verstanden!) Insofern verstärkt das noch die von Ihnen geäußerte Kritik – und auch meine Selbstkritik – daran, dass wir als Regierungsfraktionen noch nicht geliefert haben: Wir hätten Ihnen allen bei den Entwürfen, die Sie vorgelegt haben, eine Blamage ersparen können. Wir hätten Sie davor bewahren müssen, solchen Unsinn vorzulegen, wie er von Ihnen kam. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, Versager! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eindeutig eine Flucht nach vorn!) Wir haben, das bekenne ich freimütig, unsere Fürsorge- pflicht Ihnen gegenüber nicht erfüllt. (Thomas Oppermann [SPD]: Nichts auf der Pfanne, aber andere heruntermachen! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schä- men Sie sich und treten ab!) Ich will Ihnen noch einmal die Probleme aufzeigen. Ich will kurz einen Entwurf nach dem anderen an- schauen, damit ich darlegen kann, warum diese drei Ent- würfe allesamt untauglich sind. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und wo ist Ihr Vorschlag?) Meine Damen und Herren, gemeinsam können wir aus diesen drei Entwürfen lernen, wie man es nicht macht. Auch das ist schon ein gewisser Fortschritt. Kommen wir zunächst zum Vorschlag der Grünen, die ihn heute nicht zur Debatte stellen, die ihn vielmehr vor einigen Wochen vorgelegt haben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon in der letzten Legislaturpe- riode! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zahlreiche!) Übrigens legen Sie Vorschläge immer nur dann vor, wenn Sie in der Opposition sind; in Regierungszeiten ha- ben Sie es nie geschafft, Ihren Koalitionspartner zu ei- nem Vorschlag zu überreden. Aber das sei dahingestellt. Sie wollen Überhangmandate auf anderen Landeslis- ten kompensieren, sie durch Verrechnungen ausgleichen. Im Klartext: Ihr Vorschlag geht dahin, dass an sich bereits auf Landeslisten gewählte Abgeordnete ihr Mandat wie- der verlieren, weil in einem anderen Bundesland Über- hangmandate eingetreten sind. Wie die anderen Fraktio- nen ignorieren Sie dabei, dass die Überhangmandate überhaupt nicht das Problem sind, das das Bundesverfas- sungsgericht uns zur Lösung aufgetragen hat. (Gabriele Fograscher [SPD]: Und Ihr Vor- schlag?) Wir sind aber sehr dafür, nur die Probleme zu lösen, die uns von Karlsruhe zur Lösung aufgetragen wurden, und nicht irgendwelche imaginären Probleme. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie entstehen aber durch Überhang- mandate!) Eine weitere Verschlimmbesserung geht dahin – der Kollege Mayer wird nachher dazu noch etwas ausführli- cher sprechen –, dass Sie dann, wenn dieser Ausgleich nicht ausreicht, sogar den direkt in Wahlkreisen gewähl- ten Abgeordneten ihr Mandat wieder abnehmen wollen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir lassen sie erst gar nicht antreten! Das ist was anderes!) Das ist ein Vorschlag, der an Demokratiefeindlichkeit nicht zu überbieten ist. Ein solches Wahlrecht hat es nicht einmal – wir haben es eben erwähnt – im Preußi- schen Landtag oder im Deutschen Reichstag gegeben. Damit gehen Sie zurück in vordemokratische Zeiten. So etwas werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber gut! Selber nichts gebacken bekommen und dann von „vordemokratisch“ reden!) Die Folgen dieser grünen Ideen sind, dass ganze Wahlkreise eventuell ohne jeden Vertreter im Bundestag bleiben. Ein Land wie Brandenburg beispielsweise, in dem 350 000 Menschen CDU wählen, stünde am Ende eventuell ganz ohne einen CDU-Abgeordneten im Deut- schen Bundestag da. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da würde nichts passieren!) 12630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Günter Krings (A) (C) (D)(B) Das ist demokratie- und proporzfeindlich. Bei Ihrem Vorschlag kann so etwas durchaus passieren. Es wäre fast schon bei der letzten Bundestagswahl passiert, wenn Ihr Wahlrecht gegolten hätte. In Wahrheit geht es Ihnen nicht um die Lösung des Problems des negativen Stimm- gewichts. Es geht Ihnen darum, das Projekt „Abschaffen der Überhangmandate“ – ein ganz anderes Projekt – zu forcieren. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das hängt zusammen!) Das ist, wenn man so will, ein Kapern der Gerichtsent- scheidung für Ihre eigennützigen Zwecke. Dass dieses Thema – Aberkennung von gewonnenen Mandaten – offenbar doch gefährlich ist und uns das durchaus drohen könnte, sieht man daran, dass eine zweite Fraktion in diesem Hause, nämlich die Linksfrak- tion, einen ähnlichen Vorschlag vorlegt. Auch dieser Vorschlag führt dazu, dass Länder doppelt bestraft wür- den, indem sie – das hat Herr Oppermann durchaus rich- tig gesagt – zusätzlich benachteiligt würden, weil sie als Steinbruch für Länder mit Überhangmandaten dienen sollen. Das ist ein föderal ungerechtes System, das wir nicht akzeptieren können. Aber die Linken wären ja nicht die Linken, wenn sie nicht diesem Unsinn noch einige absurdere Vorschläge hinzufügen würden. Sie wollen zum Beispiel das Wahl- alter auf 16 Jahre heruntersetzen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Was das nun mit der Karlsruher Entscheidung zu tun hat, mag jeder für sich beurteilen. Wir sind als Union und als Koalition der Auffassung: In unserem Land gehören Rechte und Pflichten zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist schon bemerkenswert, dass eine Fraktion, die ansonsten nicht einmal den Erwachsenen mündige Ent- scheidungen, etwa im Verbraucherrecht, zutraut, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bitte? Wie kommen Sie denn darauf?) auf einmal Jugendliche und Kinder entscheiden lassen möchte. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bravo!) Hören Sie endlich damit auf, Erwachsene wie Kinder und Kinder wie Erwachsene zu behandeln! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bil- lig!) Auch die Linken sind offensichtlich von sinkenden Umfragewerten alarmiert. Daher wollen sie sich offen- bar ein neues Wahlvolk zusammenstellen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Bei Ihnen läuft es gut?) Das hat ja in der DDR schon einmal gut funktioniert. Wenn man mit dem Volk nicht einverstanden ist, löst man das alte Volk auf und wählt sich ein neues Volk. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Er hat selber keinen Plan und fängt hier an, abzulenken! So eine Pfeife!) In diesem Zusammenhang sind wohl Ihre Vorschläge zum Ausländerwahlrecht zu sehen. Sie verlangen, dass Ausländer, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt ha- ben, ohne Weiteres das Wahlrecht erhalten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das ist verfassungswidrig und offensichtlich ein Verstoß gegen Art. 20 des Grundgesetzes. Für eine philologisch- juristische Nachhilfestunde fehlt mir die Zeit. (Zurufe von der SPD: Oh!) „Demokratie“ kommt von „Demos“, das heißt „Volk“, „Staatsvolk“. Das Staatsvolk sind die Bürger der Bun- desrepublik Deutschland. So steht es in Art. 20 unseres Grundgesetzes. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Mal einen ei- genen Vorschlag vorlegen! Ein bisschen mehr Nachdenklichkeit!) Sie sollten zumindest einmal in diesen Grundartikel un- serer Verfassung schauen. Auch ich bin sehr dafür, dass Zuwanderer bei der Bundestagswahl wählen können, aber erst, nachdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten haben. Dazu haben wir geringe Hürden. Wir haben immer noch eines der liberalsten Einbürgerungsrechte in ganz Europa. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei einem dritten Vorschlag der Linken stockt einem wirklich der Atem. Der eigentliche Schwerpunkt Ihres Gesetzentwurfs ist – das sieht man, wenn man die Zahl der zu ändernden Paragrafen betrachtet; Sie wollen über 20 Paragrafen ändern –, dass Sie ein flächendeckendes aktives und passives Wahlrecht für alle verurteilten Straftäter in Deutschland erreichen wollen. Ihr Schwer- punkt in der politischen Agenda beim Wahlrecht ist of- fenbar, verurteilte Straftäter wählen zu lassen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist eine juristische Folgeentscheidung!) Man kann jetzt darüber spekulieren, dass eine Partei, die aus einem Staat hervorgegangen ist, der zum Teil von Verbrechern geführt worden ist, es für besonders demo- kratisch hält, dass verurteilte Straftäter gewählt werden können und wählen dürfen. Dass beispielsweise ein ver- urteilter Mörder bei einer Bundestagswahl Wahlrecht hat, scheint Ihnen wichtig zu sein. Auch dass ein verur- teilter Sexualstraftäter bei der Bundestagswahl kandidie- ren darf, scheint Ihnen wichtig zu sein. Ich will diese Spekulationen gar nicht weiterführen; ich glaube, das hätten Sie auch gar nicht verdient. Ich möchte nur eines sagen: Mit dieser Fülle von Forderungen in Ihrem Ge- setzentwurf ist klar geworden, wo verurteilte Straftäter in Deutschland ihre politische Heimat finden, nämlich auf der ganz linken Seite des Hauses. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12631 Dr. Günter Krings (A) (C) (D)(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der LINKEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was ist denn dann mit den ganzen Steuerleuten? Wo ist deren Heimat?) Daher ist es fast wohltuend, sich dem Gesetzentwurf der SPD zuzuwenden. Das mache ich nur kurz, da auch der Gesetzentwurf sehr kurz ist. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes fadenscheinig; man kann, wenn man ihn ge- gen das Licht hält, fast hindurchschauen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ist das alles?) Ihr Gesetzentwurf ist sicherlich, Herr Oppermann, gut gemeint. Aber wir alle wissen: Das Gegenteil von gut gemeint ist gut. Er ist also nicht gut gemacht. Das Hauptproblem ist – das haben Sie ja am Ende des Ge- setzentwurfes etwas schamhaft erwähnt –, dass eine Um- setzung des Gesetzentwurfes zu einem massiven Aufbla- sen des Deutschen Bundestages in einer Größenordnung führen würde, die unberechenbar ist. Es können einmal 20 Abgeordnete mehr sein, es können auch leicht einmal 120 Abgeordnete mehr sein. Man kann jetzt lange da- rüber philosophieren, zu welchen zusätzlichen Kosten für Mitarbeiter, Abgeordnetenentschädigung und ande- rem das führen würde, aber vor allem tut es, glaube ich, einer Demokratie nicht gut, wenn die Größe eines Parla- ments, also des Bundestages, von Wahl zu Wahl extrem variiert. Von daher ist es aus politischen Gründen äußerst fragwürdig, einen solchen Antrag zu forcieren. (Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch schon heute so wegen der Überhangmandate!) Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie meinen, Sie könnten das Problem mit einer Reduktion der Zahl der Wahl- kreise lösen, greifen Sie zu kurz. Das würde im Zwei- felsfalle sehr viele Wahlkreise in Deutschland kosten. Vielleicht sollten Sie in Ihrer eigenen Fraktion noch ein- mal in Ruhe darüber debattieren, ob das so gewollt ist. Jedenfalls kann es leicht passieren, dass Sie damit der größten politischen Flurbereinigung in Deutschland das Wort reden, die es seit dem Reichsdeputationshaupt- schluss gegeben hat. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Größer haben Sie es nicht?) – Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Wieland. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich sehe die Guillotine schon vor mir! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das größere Problem ist allerdings, dass der Aus- gleich, den Sie vorschlagen, das Problem des negativen Stimmgewichts überhaupt nicht löst. Ich zitiere wörtlich aus Ihrer Begründung. Im jetzigen Wahlrecht ist es so, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Ver- lust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann … So steht es in Ihrem Entwurf. Das stimmt. Genau das bewirkt das geltende Wahlrecht. Sie haben das Problem des negativen Stimmgewichts vollkommen korrekt be- schrieben. Es ist der Auftrag des Bundesverfassungsge- richts, dieses Problem zu beseitigen. Genau das leistet Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle. Er reduziert nicht einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts. Sie be- seitigen nicht das negative Stimmgewicht, sondern Sie gleichen es nur aus. Vizepräsident Eduard Oswald: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz? Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Sehr gerne. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Kollege Krings, wenn wir rein fachlich diskutie- ren, ist, wie ich meine, Ihre Kritik an den Entwürfen, die vorliegen, zu respektieren. Wir vonseiten der SPD haben nicht den Anspruch, ei- nen allein selig machenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich will Ihnen freimütig sagen: Es treibt uns um – bitte nehmen Sie das ernst; ich sage das ohne jede Polemik –, dass wir kurz vor Ablauf einer Frist, einer sehr großzü- gig bemessenen Frist, stehen, die uns das Bundesverfas- sungsgericht zur Vorlage eines verfassungsfesten Wahl- rechts eingeräumt hat. Ich könnte Ihnen fast sagen – ich bin dazu jetzt allerdings nicht autorisiert –: Wir ziehen alles zurück. – Das Entscheidende ist doch, dass Sie uns endlich vor den Ohren und Augen der Öffentlichkeit ei- nen Vorschlag unterbreiten müssen. Wie geht es weiter? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Alle Fraktionen dieses Parlaments sind jederzeit, Tag und Nacht, bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Das hätten wir schon früher machen können; aber sei es drum. Es ist noch nicht zu spät. Machen Sie uns bitte einen Vor- schlag, damit alle Fraktionen ihren Job machen und ihre Aufgabe erfüllen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn wir dieses Thema gemeinsam angehen, dann werden wir innerhalb von sechs, acht Wochen, nach der Abwägung des Für und Wider, Lösungsvorschläge vor- legen können. Dabei werden Ihre Argumente und unsere Argumente eine Rolle spielen, sicherlich aber nicht die Argumente, die sich auf Verbrecher beziehen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns gelingt, was uns in dieser Frage immer gelungen ist, nämlich einen Konsens zu finden. Das Wahlrecht – Herr Krings, das muss ich Ihnen nicht sagen; da will ich Sie auch nicht belehren – ist von überragender Bedeutung. Das sind die Spielregeln unse- rer Demokratie. Dass wir die Aufgaben, die uns gestellt 12632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Dieter Wiefelspütz (A) (C) (D)(B) worden sind, nicht erfüllen, bedeutet: Wir machen unse- ren Job nicht. Sie und wir, wir alle machen unseren Job nicht, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist der Auftrag des Parlamentes, ein verfassungskonformes Wahlrecht herzustellen; dies treibt uns um. Dieses Anlie- gen ist für mich zehnmal wichtiger als der Gesetzent- wurf der SPD. Man kann natürlich auch über ihn hinaus- gehen. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Geben Sie uns die Gelegenheit, uns endlich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Das war die Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Das war eine sehr lange und mir sehr willkommene Zwischenfrage, Herr Wiefelspütz. Ich hatte schon ge- hofft, dass ich die Grundzüge unseres Modells – nicht auf Kosten meiner Redezeit – erläutern kann. Das tue ich jetzt gerne und antworte Ihnen damit auf Ihre Frage. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aha!) Wir haben schon Gespräche geführt, zum Beispiel zum Rechtsschutz, aber auch zu anderen Aspekten. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Und was war Ihr Vorschlag zum Rechtsschutz?) Diese Gespräche fanden zwischen den Fraktionen statt, auch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Ich sage Ihnen ganz klar – das habe ich hier im Plenum bereits mehrfach vorgetragen –: Die Lösung muss darin bestehen, dass wir das Problem, das das Bundesverfas- sungsgericht zur Lösung aufgegeben hat, nämlich das negative Stimmgewicht, erst einmal in der Sache ernst nehmen. (Zurufe von der LINKEN: Oh! – Christine Lambrecht [SPD]: Dafür hatten Sie aber schon ein bisschen Zeit! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist kurz vor Toresschluss! – Thomas Oppermann [SPD]: Das war drei Jahre nicht zu erkennen!) Wir müssen es begreifen und erkennen. (Beifall bei der LINKEN) Das negative Stimmgewicht entsteht durch die Ver- bindung von Landeslisten. Wie kann ein Problem, das durch die Verbindung von Landeslisten entsteht, gelöst werden? Durch die Trennung von Landeslisten. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Krings, wann verhandeln wir?) – Jetzt rede ich. Sie haben gerade geredet. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja! Wann ver- handeln wir?) Deshalb befürworten wir ein Modell zur Trennung von Landeslisten; das wissen Sie. Es ist erstaunlich, dass kei- ner der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen auf dieses Modell eingeht. Wir alle wissen, dass es im Hin- blick auf Gesetzesbegründungen Rationalisierungsanfor- derungen gibt; das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach festgestellt. Sie müssen sich in Ihren Gesetzent- würfen aber zumindest mit diesem Thema beschäftigen. Dieses Lösungskonzept, das einfachste und sicherste, wird aber in keinem der Gesetzentwürfe der Oppositions- fraktionen erwähnt. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das bringt doch noch mehr negatives Stimmgewicht!) Dieses Konzept ist allerdings das richtige. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösung besteht im We- sentlichen in der Streichung eines einzelnen Paragrafen. Ich sage Ihnen aber auch – das ist ein Grund für das langsame Verfahren –: Es gibt in diesem Bereich Unter- varianten. Man könnte die Mandate beispielsweise nach der aktuellen Wahlbeteiligung Landeslisten zuordnen; das ist ein wunderbares Instrument, um echte Erfolgs- wertgleichheit herzustellen. Wenn man auch die dann vielleicht immer noch vorhandenen inversen Effekte und Restwirkungen des negativen Stimmgewichts ausglei- chen will, müsste man die Mandate nach Bevölkerungs- anteilen verteilen. Beide Varianten wären möglich. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist dem Wähler nicht zu er- klären!) Darüber hinaus gibt es ein, zwei weitere Untervarianten. Das Konzept bzw. der Weg ist vorgezeichnet. Darüber können wir sofort in Gespräche eintreten; (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Aha! Und was ist mit der FDP? – Gabriele Fograscher [SPD]: Sie müs- sen sich mit der FDP einigen!) auch über dieses Thema haben wir schon gesprochen, auch mit Ihrer Fraktion. Wir müssen überlegen, welche Untervarianten wir anwenden. Ich sage Ihnen: Die Lö- sung muss mit dem Problem zu tun haben. Ihre Lösun- gen haben nichts mit dem Problem zu tun. Das Problem ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten beste- hen. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, noch zwei Sätze zum SPD-Modell. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Auf die Frage haben Sie bis jetzt aber noch nicht geantwortet!) Wir jedenfalls nehmen das Bundesverfassungsgericht sehr ernst und lösen das Problem des negativen Stimm- gewichts. Bei der SPD bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie das Problem nicht lösen wollen oder es einfach igno- rieren. Ausgleich von Überhangmandaten heißt nicht Beseitigung des negativen Stimmgewichts. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12633 Dr. Günter Krings (A) (C) (D)(B) Ich will zum Schluss noch einige grundsätzliche Er- wägungen machen. Bei aller berechtigten Kritik an der Dauer der Erörte- rungen, auch innerhalb der Regierungsfraktionen – das habe ich am Anfang gesagt und sage ich jetzt noch ein- mal; diese Kritik nehme ich an –, ist es wichtiger für uns alle, dass wir ein gründlich durchdachtes und verfas- sungskonformes Wahlrecht vorlegen und nicht eines, das mit heißer Nadel gestrickt ist, untauglich ist oder unfaire Elemente enthält. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Interessanterweise werfen Sie sich diese Punkte ja auch gegenseitig vor. Herr Oppermann, in Ihrem Vortrag haben Sie ganz deutlich gesagt, dass ein internes Kom- pensationsmodell, wie es die Grünen und Linken vor- schlagen, offenbar nicht tauglich ist und die Ungerech- tigkeiten föderal noch vergrößern würde. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gefällt Ihnen nicht!) Der eigentliche Skandal ist deshalb auch nicht, dass wir diese Frist des Bundesverfassungsgerichts eventuell versäumen werden – das ist ärgerlich genug –, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Eventuell“!) der eigentliche Skandal ist hier, dass alle Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens miss- brauchen, um nicht das Problem zu lösen, sondern ihre alte politische Agenda nach vorne zu bringen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ist ja unglaublich! Sie tun gar nichts und beschimpfen die Opposition!) Sie kümmern sich um Straftäter und darum, Überhang- mandate zu beseitigen. Das hat im Kern nichts mit dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu tun und ist meines Erachtens auch eine Form von Missachtung des Bundesverfassungsgerichts. (Gabriele Fograscher [SPD]: Wir?) Es ist schön, dass die Opposition mit ihren Vorlagen in diesem Bereich die Messlatte für unseren Vorschlag nicht so hoch legt, aber wir versichern Ihnen: Wir wer- den nicht an diesen schwachen Gesetzentwürfen Maß nehmen, sondern wir werden einen Gesetzentwurf vorle- gen, der transparent, gerecht und vor allem verfassungs- konform ist. (Christine Lambrecht [SPD]: Wann? Wann? Wann?) Das kann und muss dann eine solide Basis sein. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Thomas Oppermann? Dadurch würde sich auch Ihre Redezeit verlängern. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein! Er hat lange genug geredet!) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Das war eigentlich schon mein Schlusssatz, aber bitte schön, Herr Oppermann. Thomas Oppermann (SPD): Herr Kollege, Sie sagen, die Opposition missachte das Bundesverfassungsgericht. Das macht mich fast sprachlos. Wir legen hier Gesetzentwürfe vor, über die man inhaltlich in der Tat immer streiten kann, um Kon- sequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsge- richts zu ziehen. Sie haben überhaupt keinen Entwurf vorgelegt. Deshalb entlarvt sich das, was Sie hier sagen, als eine blanke, dreiste Vorwärtsverteidigung. Sie wollen von dem eigenen Versagen ablenken und beschimpfen deshalb die Opposition. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn Sie meinen, dass das die Verantwortung einer Re- gierungsmehrheit ist, dann mögen Sie ein solches Ver- ständnis von Verantwortung haben. Ich teile es nicht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe eine Frage. Sie meinen, dass Ausgleichs- mandate verfassungsrechtlich nicht vernünftig begründ- bar sind. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be- kannt ist, dass unter anderem die CDU in Schleswig- Holstein gerade Ausgleichsmandate für Überhangman- date ins schleswig-holsteinische Landeswahlrecht ein- gefügt hat, und zwar aus dem Grund, um das vom Bun- desverfassungsgericht beanstandete Wahlrecht zu reparieren. Ist Ihnen das bekannt, und wie bewerten Sie es, dass in fast allen Landeswahlgesetzen Ausgleichs- mandate vorgesehen sind? Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ihre Wortmeldung wundert mich in mehrfacher Hin- sicht, Herr Oppermann. Zunächst einmal hätte ich zu- mindest erwartet, dass Sie meiner Rede zugehört hätten. Ich habe am Anfang und gegen Ende meiner Rede deut- lich gesagt, dass ich die Kritik an dem langsamen Ver- fahren ernst nehme und auch annehme. Ich habe auch gesagt, dass es nicht reicht, irgendeinen Vorschlag vor- zulegen, also irgendein Papier mit irgendwelchen Buch- staben zu bedrucken, und zu meinen, dass sei jetzt ein Beitrag zur Lösung des Problems. (Brigitte Zypries [SPD]: Das ist doch unver- schämt!) Ich habe Ihnen dargelegt und bewiesen, dass Ihr An- satz in Bezug auf die Ausgleichsmandate nichts mit der Lösung des Problems „negatives Stimmgewicht“ zu tun hat. Es ist auch eine Missachtung des Bundesverfas- sungsgerichts, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, der nichts mit dem Problem und seiner Lösung zu tun hat, sondern nur mit der alten politischen Agenda, auf der die Überhangmandate stehen. 12634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Günter Krings (A) (C) (D)(B) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfug! Abtreten! Langsam reicht es! Also ehrlich!) Ihr damaliger Kanzler Gerhard Schröder hat in die- sem Hause nur deshalb Vertrauensfragen gewonnen, weil es Überhangmandate gab. Sie in persona und Ihre ganze Fraktion haben diese Überhangmandate massiv verteidigt. Jetzt, auf einmal, da es Ihnen nicht mehr in den Kram passt, sagen Sie: Das alles wollen wir nicht mehr. Das ist eben nicht der Auftrag des Bundesverfas- sungsgerichts. Dabei geht es nur um das negative Stimmgewicht. Dieses Problem wollen wir lösen, zuge- gebenermaßen zu langsam, aber wir beschäftigen uns wenigstens mit dem Problem. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Man merkt es! – Abg. Thomas Oppermann [SPD] nimmt Platz) – Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage, ansonsten dürfte ich ja auch gar nicht mehr reden. Eine weitere Anmerkung, und zwar zu Ihrer Frage zum Problem in Schleswig-Holstein. Das Bundesverfas- sungsgericht hat in einer Entscheidung, auch zum hessi- schen Wahlrecht, sehr deutlich gesagt, dass wir in Deutschland von sogenannten getrennten Wahlrechts- räumen ausgehen. Schauen Sie sich Art. 28 des Grund- gesetzes der Bundesrepublik Deutschland an. Alle ande- ren Artikel sagen nichts über das Wahlrecht der Länder aus. Wir müssen hier also von komplett und grundsätzlich getrennten Maßstäben ausgehen. Dies sagte das Bundes- verfassungsgericht in seiner Entscheidung von vor weni- gen Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen zum Kummer aufgegeben – ich glaube, in diesem Kum- mer waren wir alle uns damals einig –, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Wir haben damals in Karls- ruhe dagegengehalten. Diese Aufgabe ist auf Bundes- ebene zu lösen. Sie ist nur dem Deutschen Bundestag ge- stellt. Was Sie aus Schleswig-Holstein und anderen Ländern beschreiben, ist ein Phänomen, das damit nichts zu tun hat. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen: Wir sind als Regierungsfraktionen gefordert. Die Oppo- sition ist offenbar in diesen Fragen ratlos. (Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja unver- schämt!) Sie haben zwar Papier bedruckt, aber keine Lösungsvor- schläge vorgelegt. Wir werden eine Lösung bieten als Grundlage für solide gemeinsame Gespräche. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Günter Krings. – Nun für die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte schön, Kollege Jan Korte. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu dis- kutieren. Das ist die Wahrheit. Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden, nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen, geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man sel- ber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und die Vorschläge sachlich zu diskutieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf ei- nige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ih- nen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstel- len, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demo- kratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Men- schen an Partizipationsprozessen zu beteiligen. Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stim- men bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder ver- stehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben. Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht, daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch, liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So sind wir!) Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf. Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebro- chen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Aus- gleich erfolgen. So viel zum Thema „negatives Stimm- gewicht“. Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen Demo- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12635 Jan Korte (A) (C) (D)(B) kratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen. Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So weit, so gut. Interessant ist dabei – an dieser Stelle sehen wir Handlungsbedarf –, dass im Bundeswahlausschuss die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird oder nicht. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über „Die Partei“, deren Nichtzulassung seinerzeit die Me- dienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter ande- rem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen. Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch an- dere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dage- gen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die be- troffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfas- sungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entschei- dung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert. Wir wollen – der Kollege Krings hat es angesprochen – noch weiter gehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf 16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und über- nehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahl- alter senken, analog zu den Kommunen, in denen über- wiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jäh- rige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch 16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir fordern des Weiteren – darauf wurde bereits hin- gewiesen –, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahl- recht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbeson- dere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen, von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weiter- geht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbe- kommen. (Beifall bei der LINKEN) Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde – das ist ein altes Thema – abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine Partei fast 1 Million Stimmen bekommt, verfallen nach geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das freut vor allem die FDP!) – Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegen- kommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland. Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird im- mer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent be- kämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einfüh- ren? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Pro- zent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen wir vor, sie zu streichen. (Beifall bei der LINKEN) Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbar- keit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Com- putern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem her- kömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor. (Beifall bei der LINKEN) Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage, mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren, auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube, dass das Vertrauen in die Demokratie – das besagen alle empirischen Befunde – schwindet. Das darf einen nicht kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebe- schleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht. Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der Ausschluss von Lobbyisten aus Ministerien und die Be- antwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage, sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzu- bringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn wir über Demokratie diskutieren. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hartz IV muss weg!) – Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt. Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das wäre ein schöner Erkenntnisgewinn. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt ei- nen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind – ich hoffe, dass das alle tun –, dann hören Sie oft: Es ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. – Wir sollten daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsre- 12636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Jan Korte (A) (C) (D)(B) form endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzufüh- ren, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehr- heit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Straftätern?) eine Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität. Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin ge- spannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind. Schönen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Jan Korte. – Jetzt für die Frak- tion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Stefan Ruppert. (Beifall bei der FDP) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Das Wahlrecht ist eine Angelegenheit, die dieses Haus jenseits der Beteiligung von Ministerien in eigener Verantwortung und im Dialog der Fraktionen miteinan- der diskutieren sollte. Insofern freue ich mich über die Diskussion am heutigen Vormittag an so prominenter Stelle. Leider verengt sich die Debatte ein wenig auf die Frage des eigentlichen Wahlvorgangs. Lediglich der Kollege Korte hat dankenswerterweise auch an andere Aspekte gedacht. Beispielsweise müssen wir das Problem der Ber- liner Zweitstimme beseitigen, für subjektiven Rechts- schutz vor und nach der Wahl sorgen, Probleme bei der Zulassung durch den Bundeswahlausschuss beseitigen und Ähnliches mehr. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie müssen etwas leisten, Herr Ruppert!) – Regen Sie sich nicht künstlich auf, Herr Wiefelspütz; das tut Ihnen nicht gut. Es liegen drei Vorschläge vor, die ernsthaft diskutiert werden können, nämlich der Vorschlag der Linken, der Vorschlag der Grünen und der Vorschlag der Koalition. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der von der FDP?) – Ich habe gesagt: der Vorschlag der Koalition. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wo ist er denn?) – Hören Sie doch einfach zu! Ich beginne mit der Begründung, warum die SPD kei- nen ernstzunehmenden Vorschlag unterbreitet hat. Stel- len Sie sich vor, wir würden heute den Gesetzentwurf, den uns die SPD nahelegt, beschließen (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, machen! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: So etwas würden Sie machen?) und bezüglich der Frage, wie zukünftig gewählt wird, zu 100 Prozent nach den Vorstellungen der SPD verfahren. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Oh Gott! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sofort abstimmen!) Meine naturwissenschaftliche Vorbildung sagt mir, dass man beim Versuchsaufbau den gleichen Ablauf, den man hatte, noch einmal abbilden lassen sollte. (Thomas Oppermann [SPD]: Simulieren!) Das Verfassungsgericht hat uns gesagt: Lieber Deutscher Bundestag, schaffen Sie das negative Stimmgewicht ab, das bei der Bundestagswahl im Jahre 2005 durch die Nachwahl in Dresden aufgetreten ist. – Lassen Sie uns folgendes Gedankenexperiment einmal gemeinsam durchspielen: Wir veranstalten die Bundestagswahl 2005 nach dem Wahlgesetz, das Sie uns heute vorschlagen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005?) – Weil 2005 die Entscheidung des Bundesverfassungs- gerichts zu den Wahlen ergangen ist. – Wir veranstalten also nach dem Wahlvorschlag der SPD die Wahl von 2005 und fragen uns: Wäre es zu dem negativen Stimm- gewicht, das 2005 durch das Bundesverfassungsgericht moniert wurde, nicht gekommen? Wäre eine Stimme ei- nes CDU-Wählers in Dresden für die CDU negativ ge- wesen, wenn er nach dem SPD-Wahlrecht abgestimmt hätte? – Die Antwort ist leider: Ja. Es ist so, als würden Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Schei- benwischer am Fahrzeug anzubringen. Wenn wir die Wahl 2005 nach dem Wahlrecht der SPD durchgeführt hätten, wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls er- folgreich gewesen, (Thomas Oppermann [SPD]: Nein, Irrtum!) weil nach wie vor ein CDU-Wähler seiner eigenen Partei geschadet hätte – und das verkaufen Sie uns als ernsthaf- ten Beitrag. Das ist doch lachhaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Einen solchen Anspruch können Sie hier nicht erhe- ben. Sie werfen ein in der Tat zu diskutierendes verfas- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12637 Dr. Stefan Ruppert (A) (C) (D)(B) sungsrechtliches Problem, nämlich das der Überhang- mandate, in den Raum und sagen, dass wir uns aus politischem Kalkül, aber auch aus einer gewissen verfas- sungsrechtlichen Überlegung heraus diesem Problem widmen müssen. Das, was Sie zur Lösung dieses Pro- blems vorschlagen, ist jedoch, um es als Jurist zu sagen, keine Minus- oder Pluslösung des vorliegenden Pro- blems, sondern ein Aliud, also etwas gänzlich anderes. Das heißt, Sie kurieren hier etwas, was in dieser Form nicht kuriert werden kann. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie dem Grünen- Vorschlag zustimmen!) – Damit komme ich zu Ihnen, Herr Ströbele. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da freuen wir uns!) In der Tat ist Ihr Vorschlag tauglich, um das Problem des negativen Stimmgewichts zu lösen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch gut!) Insofern sind Sie meiner Meinung nach einen Schritt weiter als die Kollegen von der SPD. Sie zeigen uns auf, wie man das Problem des negativen Stimmgewichts lö- sen kann. Sie kaufen sich dabei allerdings gravierende verfassungsrechtliche Nachteile ein. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ach was! – Rainer Brüderle [FDP]: Jetzt kommt es!) Es geht um den gleichen Erfolgswert der Stimme. In Brandenburg wählen 362 000 Menschen die CDU – ich kann ihnen immer noch empfehlen: Wählt lieber FDP! – (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Noch gibt es sie!) und erringen damit kein Mandat. In Baden-Württemberg wählen 61 000 Menschen die CDU und erringen damit ein Mandat. Das sei jedem Baden-Württemberger Kolle- gen von der CDU wirklich gegönnt; aber Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, dass bei 360 000:60 000 – in Brandenburg braucht man also praktisch das Sechs- fache an Stimmen, um ein einziges Mandat zu erringen – der gleiche Erfolgswert der Stimme – verfassungsrecht- lich geboten – auch nur annähernd gegeben ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Skandal!) Ihr Entwurf beinhaltet einen weiteren verfassungs- rechtlichen Kollateralschaden. Sie legen fest, dass ein- zelne Wahlkreise in Zukunft keine direkt gewählten Ab- geordneten mehr haben. Sie behaupten einfach: Das tut den Leuten in Bayern eh nicht gut; deswegen nehmen wir ihnen die Mandate von drei direkt gewählten Kandi- daten schlicht ab. – Man stelle sich vor: In München wird ein attraktiver Wahlkampf zwischen dem Grünen-, dem FDP-, dem CSU- und dem SPD-Bewerber geführt, und der CSU-Bewerber setzt sich aufgrund eines hervor- ragenden Wahlkampfs gerade so durch, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, der Grüne!) ein Mann, den die Leute wirklich wollen. Dann sagen Sie den Leuten: Der bleibt zu Hause, und in München gibt es in Zukunft keinen direkt gewählten Abgeordne- ten mehr für den Deutschen Bundestag. – Ich glaube, solche Reformvorschläge können Sie hier nicht ernsthaft vertreten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich war kurzzeitig etwas eifersüchtig, als sich die neuen Freunde der CSU in Konkurrenz zu einem alten Freund der CSU, nämlich mir, begeben wollten. (Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU] – Jan Korte [DIE LINKE]: So war das nicht gemeint!) Sie lösen dieses Problem, indem Sie festlegen: Wir glei- chen das aus. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!) Das ist nun wirklich eine etwas merkwürdige Misch- form. Alle anderen Überhangmandate in Deutschland werden verrechnet, aber die eines einzelnen Bundeslan- des werden ausgeglichen. Das ist ein systematischer Bruch, den man aus meiner Sicht niemandem erklären kann. Abgesehen davon, dass Sie gern eine Lösung hät- ten – diesen Wunsch kann ich verstehen –, kann ich kei- nerlei Grund dafür erkennen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das hat aber nichts mit Freundschaft zu tun! Ich wollte das nur noch mal klarstellen!) – Ich habe die Kollegen von der CSU auch schon vor ih- ren neuen, falschen Freunden gewarnt. Aber, ich glaube, sie wussten es selbst. Jetzt komme ich, weil das immer wieder moniert wird, zu der Frage, was wir denn wollen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das haben Sie geahnt!) Vor dieser Frage will ich mich explizit nicht drücken. Wir haben in vielen Gesprächen mit Ihnen, mit der SPD, mit den Grünen, immer wieder gesagt, was wir wollen, und das war auch in der Presse zu lesen. Wir wollen das Problem dort angehen, wo es entsteht, nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten. Wenn wir Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem des negativen Stimmgewichts direkt – anders als die SPD. Die SPD löst das Problem überhaupt nicht, ver- schärft es gegebenenfalls noch. Jetzt gibt es drei Möglichkeiten für die Wahl in ge- trennten Wahlgebieten, die ich ernsthaft diskutieren würde. Wir können 16 Wahlgebiete in Deutschland fest- legen und ihnen Mandate nach ihrer Einwohnerzahl zu- teilen: (Thomas Oppermann [SPD]: Das geht nicht!) Bremen hat soundso viele Einwohner, also bekommt es soundso viele Mandate. – Dann führen wir eine Bundes- 12638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Stefan Ruppert (A) (C) (D)(B) tagswahl durch. In Bremen werden die Stimmverhält- nisse entsprechend umgelegt und man sieht, wer welche Mandatszahl erringt. Das ist das absolut puristische Modell, um dem Pro- blem des negativen Stimmgewichts zu begegnen. Damit wird das Problem nämlich komplett beseitigt. Es ist das einzige Modell, das zu diesem Ergebnis führt. Wir kau- fen uns dabei allerdings wiederum erhebliche Kollate- ralschäden ein, die wir dann gewichten müssen. Es ist plötzlich irrelevant, wie viele Menschen in Bremen wäh- len gehen. Die Bremer können sich sicher sein, immer ihre vier oder fünf Mandate zu bekommen, selbst wenn fast niemand wählen geht. Wenn sozusagen keiner zur Wahl geht, ist der einzelne Bremer Bürger viel besser vertreten, was seine Stimme angeht, als jemand in Nie- dersachsen, wo sehr viele Menschen zur Wahl gehen. Wir konterkarieren also eigentlich unser gemeinsames Interesse, die Wahlbeteiligung zu steigern und die Men- schen dadurch zu motivieren, zur Wahl zu gehen, dass sie mehr Mandate erringen können, wie es im geltenden Wahlrecht heute zum Glück auch der Fall ist. Aber wir lösen das Problem des negativen Stimmengewichts. Das zweite Modell bei der Trennung wäre, die Wahl- beteiligung einzupreisen. Das heißt, wir wählen in den 16 Wahlgebieten, stellen fest, wie viele Zweitstimmen dort abgegeben wurden, teilen nach der Zahl der abgege- benen Zweitstimmen die Mandate zu und verteilen da- nach wieder die entsprechenden Sitze. Dadurch bleibt ein kleines Restrisiko für das negative Stimmgewicht; aber wir erzielen auf der anderen Seite einen erheblichen verfassungsrechtlichen Vorteil, indem wir einpreisen, dass die Menschen dort zur Wahl gegangen sind. (Thomas Oppermann [SPD]: Für die FDP ent- fallen alle Stimmen!) Wir haben einen weiteren Nachteil: dass nämlich die Stimmen, die auf Parteien abgegeben wurden, die kein Mandat erringen, oder die Stimmen, die oberhalb der Stimmen für ein Mandat liegen, schlicht wegfallen. Das ist ein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem, weil es eine faktische Erhöhung der 5-Prozent-Hürde dar- stellt. Es kann plötzlich sein, dass 13, 14 Prozent der Bremer die Grünen gewählt haben – – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, 22!) – Sie sind natürlich auf dem permanenten Steigflug. – Aber angenommen, es wählen Sie 13 Prozent der Bre- mer, und wir stellen dann fest, dass dies nicht für ein Mandat reicht, dann kann man den Wählern der Grünen in Bremen vorwerfen: Eure Stimmen sind verfallen; es war jenseits aller politischen Fragen sinnlos, die Grünen zu wählen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Niemals! Wenn eine Partei nur 2,5 Prozent bekommt, dann ist es sinnlos!) Die dritte Lösung wäre, nur die überhängenden Listen aus dem Wahlverbund herauszulösen, also nur in Sach- sen oder in Baden-Württemberg. Dort, wo Überhang- mandate entstehen, trennen wir die Listen der Parteien, die die Überhangmandate erreichen, heraus. Auch das wird von einigen Verfassungsrechtlern vertreten und im- mer wieder gefordert. Damit haben wir den minimal- invasiven Eingriff; allerdings haben wir auch ein Restri- siko für das negative Stimmgewicht. Mein Anliegen wäre jetzt, diese drei Vorschläge, die das Problem ernsthaft angehen, ohne große verfassungs- rechtliche Kollateralschäden zu erzeugen, im Dialog mit der Opposition sorgsam gegeneinander abzuwägen, viel- leicht auch zu sehen, ob man mit einem Teilausgleich an dieser Stelle der SPD etwas entgegenkommen kann, wenn das ihr Anliegen ist, und auf dieser Grundlage dann ein Wahlrecht in Deutschland mit subjektivem Wahlrechtsschutz, mit Lösung der Berliner Zweitstimme und einem ordentlichen, verfassungsrechtlich abgewo- genen Verfahren durch dieses Haus zu bringen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann lassen wir aber die CSU drau- ßen!) Machen Sie mit, und diskutieren Sie fachlich und nicht polemisch! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. – Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren, ich muss es Ihnen noch einmal vorhalten: Im Ur- teil vom 3. Juli 2008 (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Schön, dass Sie es gelesen haben!) steht der schöne Satz: Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das hat Herr Beck von dem Urteil verstanden!) Sie haben leider nicht gesagt, wann Sie Ihren Gesetzent- wurf vorlegen und wie Sie dieser Vorgabe des Bundes- verfassungsgerichts noch nachkommen wollen. Was ist denn, wenn die Kanzlerin im September die Vertrauens- frage stellt, und Ihr Laden in seine Bestandteile zerfällt? So, wie Sie auftreten, ist das ja kein rein theoretisches Szenario. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dann stehen wir vor Neuwahlen und haben kein gelten- des Bundeswahlgesetz, weil das Verfassungsgericht uns nur für die letzte Bundestagswahl noch einmal die Er- laubnis gegeben hat, nach diesem Recht zu wählen, nicht aber ein zweites Mal. Dann wären wir in einer richtigen demokratischen Staatskrise und benähmen uns wie Län- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12639 Volker Beck (Köln) (A) (C) (D)(B) der, die keine richtigen Demokratien sind, weil wir ver- fassungswidriges Wahlrecht anwenden müssten. Das wäre eine Katastrophe und würde das Vertrauen in dieses Parlament draußen im Lande erheblich erschüttern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Herr Krings, wenn man keinen eigenen Vorschlag hat, sollte man nicht ganz so arrogant über die Vorschläge der anderen, die alle ihre Pros und Kontras haben, her- ziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unsinn muss man Unsinn nennen dürfen, Herr Beck!) Wenn Sie schon Lösungen kritisieren und behaupten – übrigens habe jetzt überwiegend ich das Wort; das ist die Regel hier im Parlament –, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Versuchen Sie es doch mal! Reden Sie doch!) man verfehle mit hier vorgelegten Entwürfen das Thema, dann lese ich Ihnen einmal aus dem Urteil des Bundesver- fassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht vor. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Es ist ja gut, dass Sie es wenigstens gelesen haben!) Darin heißt es: Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben. Es geht weiter: Je nachdem, für welche Alternative sich der Ge- setzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen auf das gesamte Wahlsystem. Dann folgt ein Satz, der unseren Vorschlag beschreibt, den das Gericht ausdrücklich für zulässig und erwägens- wert hält, dessen Nachteile es aber auch benennt: Eine landeslistenübergreifende Verrechnung von Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten würde beispielsweise Überhangmandate und damit den Effekt des negativen Stimmgewichts weitestgehend vermeiden, gleichzeitig aber dazu führen, – das bestreiten wir auch gar nicht – dass für den Ausgleich fehlender Listenmandate auf einer Landesliste auf Mandate einer anderen Lan- desliste zurückgegriffen werden müsste. So beschreibt das Gericht einen der Lösungswege. Wir haben ihn als Gesetzentwurf formuliert. Er ist zweifels- frei verfassungskonform. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!) Er hat Nachteile politischer Art, die man nicht mögen mag, aber er löst das Problem des negativen Stimmge- wichts und das Problem der Überhangmandate. Nun kann man sagen: „Wir sind weniger radikal“, und Elemente des Vorschlags der SPD übernehmen, wie es die Linke macht. Das ist ebenfalls ein gangbarer Weg. Bei dem Vorschlag der SPD, der mir im Grundsatz poli- tisch gefällt, habe ich noch die Frage, ob das negative Stimmgewicht dadurch wirklich restlos beseitigt würde. Das können wir in der Ausschussanhörung klären. Aber dieser Vorschlag ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag zur Lösung des Problems. Außerdem möchte ich Ihnen noch etwas anderes vor- tragen – auch zum Schutz der SPD –, weil Sie behauptet haben, hier habe die SPD das Thema verfehlt. In seiner Entscheidung vom 26. Februar 2009 sagte das Bundes- verfassungsgericht, dass es eine Wahlprüfungsbeschwerde wegen der Überhangmandate deshalb nicht prüfe, weil diese Problematik sich so nicht mehr stellen werde, wenn der Gesetzgeber das Problem des negativen Stimmge- wichts beseitigt habe. Damit geht das Bundesverfas- sungsgericht selbst davon aus, dass das entscheidende Problem bei dem negativen Stimmgewicht die unausge- glichenen Überhangmandate sind. Angesichts dessen können Sie doch der SPD nicht vorhalten, sie habe das Thema verfehlt und, statt den Motor zu reparieren, Schei- benwischer angebracht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir müssen schauen, ob damit alle Probleme im Detail gelöst sind; aber das Hauptproblem in den meisten Fäl- len löst dies, und das hängt nach den Worten des Bun- desverfassungsgerichts entscheidend mit dem Thema des negativen Stimmgewichts zusammen. Nebenbei: Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht herausgestellt, entschei- dendes Problem bei knappen Mehrheitsverhältnissen sei, dass durch diesen Effekt, durch den Wechsel eines Sitzes auf die andere Seite des Hauses, eine Verschiebung der Mehrheit erfolgen könne, und dies ein Problem der Stim- menwertgleichheit und somit ein Problem in der Demo- kratie sei. Wenn das ein Problem in der Demokratie ist, dann wäre aber eine Überhangmandatsfraktion von 30 bis 60 Abgeordneten, wie sie nach einer Studie des Wissen- schaftlichen Dienstes aufgrund der aktuellen Umfragen möglich wäre, ein noch entscheidenderes Problem, weil dann die Gefahr bestünde, dass die Bevölkerung Parteien wählt, von denen sie denkt, sie würden gemeinsam die Regierung bilden. Damit erhielten diese zwei, drei oder vier Parteien die Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen, während andere Parteien zusammen die Mehrheit bei den Mandaten erhielten. Dann sind wir in einer konstitutio- nellen Krise. Dann wird sich jeder Bürger sagen: Es ist wirklich egal, was ich wähle. Es kommt aufgrund wun- derbarer Regelungen im Wahlrecht ja trotzdem etwas an- deres heraus. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es gibt hier keine Mandatsträger erster und zweiter Klasse!) Das zu verhindern, sind wir unseren Wählerinnen und Wählern schuldig; denn in unserer Verfassung steht, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Von Tricks im 12640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Volker Beck (Köln) (A) (C) (D)(B) Wahlgesetz steht da nichts drin. Deshalb sollten wir uns jetzt auf den Hosenboden setzen und zusehen, dass wir die Arbeit noch vor der Sommerpause so weit vorantrei- ben, dass wir uns vor dem Bundesverfassungsgericht und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht blamieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht die Referenten schlechtmachen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Volker Beck. – Nun für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- nen! Sehr verehrte Kollegen! Wir debattieren heute nicht über irgendein Rechtsgebiet, nicht über irgendeinen Politikbereich. Wir debattieren heute über den zentralen konstitutiven Bestandteil unserer freiheitlich-demokrati- schen Grundordnung, über das Wahlrecht. (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Wir sollten uns alle davor hüten, dass wir diese Diskus- sion nur durch die Brille aktueller Umfragewerte oder vor dem Hintergrund betrachten, wem was vermeintlich wann wie nützen könnte. Das Wahlrecht ist die Leitplanke unseres Staatswe- sens. Das Wahlrecht legt, wie Kollege Wiefelspütz schon ausgeführt hat, die Spielregeln fest, unter denen unser Staatswesen funktioniert. Wir sollten uns, wie ich glaube, davor hüten, diese Spielregeln allzu oft und allzu weitgehend zur Disposition zu stellen. Dies ist wichtig, damit Verlässlichkeit waltet. Dies ist aus meiner Sicht aber auch wichtig, um entsprechende Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden. Wir alle haben, wie ich glaube, die Aufgabe, das Wahlrecht zu hegen und zu pflegen und es vor allem so transparent und verständlich zu gestalten bzw. zu halten, dass es die Bevölkerung nachvollziehen kann. Wir können durchaus stolz sein auf unser Wahlrecht. Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht ist Deutsch- land in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Das sieht man meines Erachtens auch daran, dass andere Län- der unser Wahlrecht kopieren, zum Beispiel Neuseeland. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. Juli 2008 ist die Ursache für die heutige Debatte, und die Aufgabe, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat – auch das ist kein Geheimnis –, ist alles andere als ein- fach. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit festhalten, dass das Verfassungsgericht explizit nicht geurteilt hat, dass Überhangmandate verfassungswidrig sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein Problem!) Ich sage dies auch, sehr geehrter Kollege Oppermann, an Ihre Adresse, weil Sie formuliert haben: Überhangman- date sind unverdient. – Ich sage hier ohne Schaum vor dem Mund und ganz nüchtern: Sie diskreditieren mit die- ser Aussage meines Erachtens das Wählervotum in einem Wahlkreis. Direkt gewählte Abgeordnete haben in unse- rem personalisierten Verhältniswahlrecht eine enorme Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Überhang- mandate sind keine unverdienten Mandate, sie sind ver- diente Mandate. Der Wahlkreisbewerber, der direkt ge- wählt wird, wird nicht ohne Grund gewählt. Ich möchte durchaus zum Ausdruck bringen, dass ich die drei Gesetzentwürfe der Opposition respektiere. Sie sind mit Sicherheit eine Grundlage für die weitere De- batte. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da sind Sie der Erste von der Koali- tion!) Ich persönlich habe allerdings den Eindruck, dass sie in- soweit keine taugliche Grundlage darstellen, da allen drei Gesetzentwürfen aus meiner Sicht die Verfassungs- widrigkeit quasi auf die Stirn geschrieben steht. Zunächst einmal zum Gesetzentwurf der Grünen: Die Grünen favorisieren das Kompensationsmodell, benach- teiligen damit aber in eklatanter Weise die Länder, in de- nen keine Überhangmandate anfallen, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist aber nicht verfassungswidrig, sondern genau so vom Verfassungsgericht als Lösungsweg beschrieben!) sprich: Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundeslän- dern, in denen erfahrungsgemäß und auch in Zukunft keine Überhangmandate anfallen, werden im Deutschen Bundestag schlechter, also durch eine geringere Anzahl an Abgeordneten, vertreten als die Bürgerinnen und Bür- ger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß viele Überhangmandate anfallen. Das stellt aus meiner Sicht einen eklatanten Verstoß gegen die Bundestreue dar. Des Weiteren verletzen Sie in eklatanter Weise den Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes der Stimme. Daraus konstruiere ich die von mir behauptete Verfas- sungswidrigkeit Ihres Gesetzentwurfes. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grü- nen, Sie meinen es ja besonders gut mit der CSU. Ich finde es ja immer wieder schön, dass Sie der CSU beson- dere Aufmerksamkeit zuwenden. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja! Das ist ein wirkliches Problem für uns!) Besonders auffällig war für mich da schon die Formulie- rung im Begründungsteil Ihres Gesetzentwurfes. Sie be- haupten darin, die Unabhängigkeit der CSU werde nur vorgespielt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schön wär’s!) Es gibt durchaus den einen oder anderen CDU-Kollegen, dem es vielleicht ganz recht wäre, wenn die Unabhän- gigkeit der CSU tatsächlich nicht gegeben wäre. Ich kann Ihnen aber an dieser Stelle wirklich glaubhaft und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12641 Stephan Mayer (Altötting) (A) (C) (D)(B) nachdrücklich versichern: Die CSU ist eine vollkommen unabhängige Partei und wird dies auch bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nur nicht hier im Hause! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- rum sind Sie dann keine Fraktion?) Was aber schon absurd ist, ist, dass Sie sagen: Wenn in Bayern für die CSU Überhangmandate anfallen – das war bei der letzten Wahl im Jahr 2009 der Fall; es wird hoffentlich nie mehr vorkommen –, dann verliert derje- nige direkt gewählte Abgeordnete sein Mandat, der den geringsten Anteil an Erststimmen bekommen hat. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Ich stehe nicht in der Gefahr, von der Regelung, die Sie favorisieren, betroffen zu sein. Bei der letzten Wahl habe ich über 60 Prozent der Erststimmen bekommen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wo ist dann das Problem? Aber der Kollege Ruppert ist kein gestandener CSU- Mann!) Aber es gibt durchaus Kollegen – das sage ich ganz ernsthaft –, die davon betroffen sein könnten. Mit dieser Regelung missachten Sie aus meiner Sicht das Wählervotum in eklatanter Weise. Man spricht bei mir in der Gegend respektvoll vom sogenannten Heimat- abgeordneten. Wir dürfen nicht den besonderen Wert un- terschätzen, wenn ein Kandidat in einer direkten Wahl die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigen kann. Das bedeutet, dass abseits von der Parteizugehörigkeit dieser Person besonderes Vertrauen entgegengebracht wird und ihr besondere Kompetenz und besondere Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Ich finde es – mit Verlaub – schäbig, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Schäbig?) dass Sie einem solchen Kandidaten, der direkt in den Deutschen Bundestag gewählt wird, die Möglichkeit verweigern wollen, sein Mandat anzutreten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie missachten mit dieser Regelung nicht nur die Bedeu- tung des direkt gewählten Abgeordneten, sondern in ek- latanter Weise auch das Wählervotum. Zum Gesetzentwurf der SPD. Herr Kollege Oppermann, Ihr Entwurf beinhaltet meines Erachtens nicht nur, wie Sie es behauptet haben, Schönheitsfehler; das wäre etwas zu euphemistisch ausgedrückt. Er ist aus meiner Sicht auch verfassungswidrig – das muss ich Ih- nen so deutlich sagen –, weil er, wie Sie selbst im Be- gründungsteil einräumen, den Fall des negativen Stimm- gewichts nicht gänzlich ausschließt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gar nicht ausschließt!) Er würde natürlich auch dazu führen, dass das Parlament unnötig aufgebläht werden würde, weil Überhangman- date ausgeglichen würden. Es sollte in der Zukunft schon eine der Grundlinien unserer Debatte sein, dass wir dafür Sorge tragen, dass unser Parlament, in dem jetzt 621 Abgeordnete vertreten sind, nicht übermäßig mit zusätzlichen Mandaten aufgebläht wird. Man kommt sehr schnell an eine Grenze, an der die Funktionsfähig- keit des Parlaments nicht mehr gegeben ist. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie beim Chinesischen Volkskon- gress zum Beispiel!) Ich glaube, Gegenstand unserer weiteren Diskussionen sollte sein, wie wir verhindern können, dass das Parla- ment aufgrund von Ausgleichsmandaten übermäßig ver- größert wird. Wenn Ihr Vorschlag umgesetzt werden würde, würden Sie auch die Bedeutung des direkt gewählten Abgeord- neten minimieren; denn Ihr Vorschlag beinhaltet eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise und damit na- türlich auch eine Reduzierung der Zahl der direkt ge- wählten Abgeordneten, um ein exorbitantes Aufblähen des Parlaments zu verhindern. Als direkt gewählter Ab- geordneter sage ich ganz offen: Es ist schon wichtig, dass der Kreis der Wählerinnen und Wähler, für die man verantwortlich ist, nicht übermäßig wächst. Die Nähe zum Bürger, aber auch zu den Kommunen und Gemein- den würde abnehmen, wenn der Wahlkreis immer größer würde und damit die Zahl der darin lebenden Bürgerin- nen und Bürger immer weiter anstiege. Wir müssen peinlichst genau darauf achten, dass das Band zwischen dem direkt gewählten Abgeordneten und den Bürgern nicht zu locker wird. (Thomas Oppermann [SPD]: Aber kümmern sich Ihre Listenabgeordneten nicht um die Bürger?) Bei vielen Gelegenheiten diskutieren wir hier im Plenum über die zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevöl- kerung. Man würde dieser Verdrossenheit Vorschub leis- ten, wenn man die Anzahl der direkt gewählten Abge- ordneten und die Anzahl der Wahlkreise reduzieren würde. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ich komme in aller Kürze noch zum Gesetzentwurf der Linksfraktion. Es ist schon angedeutet worden, dass die Linke hinsichtlich der CSU mehr Milde walten lässt als hinsichtlich der Grünen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Darüber sollten Sie nachdenken!) Ich bin aber für die Klarstellung des Kollegen Korte dankbar, dass wir beileibe keine Freunde sind. Man kann sich zwar nicht seine Verwandtschaft aussuchen, aber seine Freunde schon. Deswegen möchte ich auf die Fest- stellung Wert legen, dass uns hier noch sehr viel trennt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich auch!) Ich sage ganz offen: Die Reduzierung des Wahlalters auf 16 Jahre wäre ein großer Fehler. Die Landtagswahl in 12642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Stephan Mayer (Altötting) (A) (C) (D)(B) Bremen hat gezeigt, dass man damit die Jungwähler nicht an die Urne bringt. Ganz im Gegenteil: Die Wahl- beteiligung in Bremen war so niedrig wie nie zuvor. (Jan Korte [DIE LINKE]: Aber das kann ja kein Grund sein!) In diesem Sinne sollten wir die Diskussionen in Zu- kunft konstruktiv fortsetzen. Ich glaube, es sollte, egal welcher Fraktion man angehört, unser Bestreben sein, beim künftigen Wahlrecht einen möglichst großen Kon- sens in diesem Haus zu finden. Wie gesagt: Es ist die Leitplanke unseres Staatswesens. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Nun spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. (Beifall bei der SPD) Gabriele Fograscher (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was muss das Wahlrecht leisten? Es muss den Wähler- willen so genau wie möglich in der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages abbilden. Das Wahlrecht ist somit der Grundpfeiler unserer repräsentativen Demo- kratie. Verzerrungen – das haben wir schon gehört – können durch das sogenannte negative Stimmgewicht auftreten. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgefordert, das zu ändern. Sie können aber auch durch die Überhang- mandate auftreten. Obwohl Sie von den Koalitionsfrak- tionen und der Bundesregierung wissen, dass die Frist des Bundesverfassungsgerichts in fünf Wochen abläuft, gibt es von Ihnen keine beratungsfähige Vorlage. Auch wenn Sie von den Koalitionsfraktionen – Herr Ruppert, Herr Krings, Herr Mayer – schon in der Debatte im März, als wir den Vorschlag der Grünen diskutiert ha- ben, und auch heute die Vorschläge der Opposition in der Luft zerreißen: Sie kritisieren zwar, sagen aber nicht, was Sie wollen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Haben wir doch gesagt! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das habe ich doch gesagt!) – Na ja. Herr Krings, Sie haben bereits im März erklärt, dass die Reform des Wahlrechts eine komplizierte Sache sei. Da gebe ich Ihnen recht. Herr Ruppert, Sie haben das eindrucksvoll dargelegt. Deshalb hat das Bundesverfas- sungsgericht uns als Gesetzgeber drei Jahre Zeit gege- ben, um eine Neuregelung zu finden. Jedoch ist die Zeit nun fast um, und es gibt nichts von Ihnen, weil Sie sich nicht einmal innerhalb der Koalition einigen können. Es kursierte bereits ein Entwurf. Herr Krings, Sie ha- ben ihn heute nochmals skizziert. Aber Sie scheinen bei diesem Modell nicht einmal mit der FDP Einigkeit erzie- len zu können. Sie wollen die Listenverbindungen zwi- schen den Bundesländern abschaffen; die 16 Bundeslän- der sollen zu 16 getrennten Wahlgebieten werden. Das würde die kleinen Parteien benachteiligen. Deshalb kommen Sie hier auch nicht zu einer Lösung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Im Übrigen löst es auch nicht das Problem: Wie das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes feststellt, kann das negative Stimmgewicht bei Ihrem Modell – Länder als getrennte Wahlgebiete, in der Variante mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung – weiterhin auftreten. Damit ist die Auflage des Bundes- verfassungsgerichts nicht erfüllt. Nach diesem Gutach- ten wären bei der letzten Bundestagswahl 16 hypotheti- sche Fälle des negativen Stimmgewichts aufgetreten. Ihr Modell ist deshalb nicht geeignet, die bestehenden Pro- bleme zu lösen. Deshalb ist es nicht mehrheitsfähig. Sie wollten unter Hochdruck arbeiten. Aber wo bleibt das Ergebnis? Wir warten. Sie wollten mit uns reden; auch da hat sich nichts getan. Herr Kollege Uhl hat in der Debatte im März erklärt, wir sollten uns zusammen- setzen; denn Sie hielten knappe Mehrheitsentscheidun- gen beim Wahlrecht für schädlich. Das sehen wir auch so. Bisher war es gute Tradition, dass wir bei Fragen des Wahlrechts immer auf eine breite Zustimmung gesetzt haben. Wir warten aber immer noch auf ein konkretes Gesprächsangebot. Ich hatte Ihnen in der entsprechenden Debatte ange- boten, noch einmal Gespräche zu führen und externen Sachverstand hinzuzuziehen. Auch darauf haben Sie sich nicht eingelassen. Das ist bedauerlich und ärgerlich. Ich glaube, dass wir jetzt nicht mehr fristgerecht zu einer Lösung kommen werden. Für uns, für die SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Wir wollen das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl nicht verletzen. Wir wollen keine 16 Länderwahlen; (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wollen wir auch nicht!) aber dazu würde es kommen, wenn die Landeslisten nicht mehr miteinander verbunden wären. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nein, kommt es nicht!) Wir wollen die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems erhalten, aber die aufgetretenen Schwächen beseitigen. Wir wollen dabei beachten, dass es für die Bürgerinnen und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist. Durch Überhangmandate und das sich daraus mögli- cherweise ergebende negative Stimmgewicht werden das Wahlergebnis und der Wählerwille verzerrt und die Stimmengleichheit verletzt, die Mehrheit der Zweitstim- men ist nicht mehr gleichzeitig die Mehrheit der Man- date. Weil Überhangmandate nicht ersetzt werden, kann sich innerhalb einer Legislaturperiode das Mehrheitsver- hältnis ändern. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, in einem ersten Schritt die Überhangmandate durch Ausgleichs- mandate zu egalisieren, um die Mehrheitsverhältnisse nach Zweitstimmen im Bundestag richtig abzubilden. Falls die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundes- tages in nicht vertretbarer Weise ansteigen sollte, ist in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12643 Gabriele Fograscher (A) (C) (D)(B) einem zweiten Schritt, nach der Wahl 2013, zu prüfen, ob der Bundestag durch die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise wieder verkleinert werden sollte. Mir ist be- wusst, dass die dann vorzunehmende Neuzuschneidung der Bundestagswahlkreise eine große Aufgabe und He- rausforderung ist. Ich betreue dieses Thema seit vielen Jahren und meine, dass ein verfassungskonformes und transparentes Wahlrecht der Mühe wert ist. Unser Vor- schlag lautet: Lassen wir Ausgleichsmandate zu, und entscheiden wir über Veränderungen bei der Zahl der Wahlkreise nach der nächsten Bundestagswahl. Noch ein Satz zum Gesetzentwurf der Linken. Er ist ein Sammelsurium von Wahlrechtsänderungen – es sind auch Grundgesetzänderungen dabei –, die mit dem Ur- teil des Bundesverfassungsgerichts nur wenig zu tun ha- ben. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gar nicht!) Unter anderem fordern Sie die Abschaffung der 5-Pro- zent-Hürde. Ich meine, die 5-Prozent-Hürde hat sich be- währt. Sie hat bislang verhindert, dass Splitterparteien und rechtsextremistische Parteien in den Bundestag ein- gezogen sind. Die 5-Prozent-Regelung hat andererseits aber nicht verhindert, dass neue Parteien den Weg in die- ses Parlament gefunden haben. (Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie- rungsfraktionen, Sie haben viel Zeit verstreichen lassen. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernsthaft auf, kehren Sie an den Verhandlungstisch zurück, und lassen Sie uns die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen! Danke sehr. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. – Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Patrick Sensburg für die Fraktion der CDU/CSU. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht – das wurde durch die Ausfüh- rungen meiner Vorredner deutlich – ist eine staatsrechtli- che und verfassungsrechtliche Feinarbeit, bei der leider oft auch machtpolitische Erwägungen angesprochen werden. Das haben wir in der Rede des Kollegen Oppermann direkt am Anfang der Debatte gesehen. Erst hieß es, dass Machtpolitik nicht betrieben werde, doch dann spielten machtpolitische Erwägungen in den Aus- führungen eine zentrale Rolle. Ich versuche, das bei der Bewertung der vorliegenden Vorschläge zu vermeiden. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Klappt nicht!) – Ich gebe mir Mühe, Herr Kollege Wieland. Das deutsche Wahlrecht hat beide Extreme erlebt, so- wohl das Mehrheitswahlrecht als auch das Verhältnis- wahlrecht. Die Kombination im personalisierten Verhält- niswahlrecht – darüber sind wir uns, glaube ich, in diesem Hause einig – ist ein guter und richtiger Weg. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht in der bereits zitierten Entscheidung vom 3. Juli 2008 beschei- nigt, indem es sagt – ich zitiere –: Der Gesetzgeber „darf auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, etwa indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältnis- wahlprinzip zulässt“. Trotzdem hat des Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen führen kann, die über die Landesliste vergeben werden – das hat der Kollege Oppermann zu Anfang am Bei- spiel NRW ausgeführt –, oder weil ein Verlust an Zweit- stimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führen kann, die über die Landesliste vergeben werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns denkbare Lö- sungswege aufgezeigt. Zum einen könnte man demzu- folge beim Entstehen – ich betone: Entstehen – der Überhangmandate ansetzen. Zum anderen wurde expli- zit der Verzicht auf Listenverbindungen genannt. Zu- gleich wurden aber auch die möglichen Auswirkungen beider Denkansätze angedeutet, und es wurde nach- drücklich auf die hohe Komplexität der möglichen Rege- lungen hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns damit deutlich gemacht, dass eine Lösung in Rein- form vielleicht gar nicht möglich ist, sondern wir mög- lichst nah an die Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts herankommen müssen. Wenn Sie Ent- würfe vorlegen, dann müssen Sie auch erlauben, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das wollen wir sogar! Wir würden es gern auch andersrum machen!) – Das mache ich dann auch. Ich fange aber mit den Kol- legen der SPD an und nicht mit Ihnen, Herr Kollege Wieland. Der Vorschlag der SPD – das haben meine Vorredner, besonders Herr Dr. Krings, deutlich gemacht – setzt nicht am entscheidenden Problem an, sondern findet ei- nen Ausgleich für Überhangmandate. Er sattelt also drauf. Ich kann das verstehen: Wenn man die Besorgnis hat, keine direkten Wahlkreise zu holen, dann will man Überhangmandate ausgleichen. Im Jahre 2002 hatten Sie diese Überlegungen übrigens nicht, als Sie nämlich selbst von Überhangmandaten profitiert haben. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir sind geläutert!) Es ist schon interessant, dass dieser Vorschlag gerade jetzt kommt. Schauen wir uns einmal an, Herr Kollege Oppermann, zu welchen Auswirkungen das Ganze füh- ren würde! Legen wir die Wahl 2009 zugrunde, würde es dazu führen, dass es 60 Mandate mehr in diesem Bun- destag gäbe. Wenn wir – das haben wir eben angespro- chen – diese Idee weiterverfolgen, dann würde Ihr Entwurf dazu führen, dass sich der Bundestag gegebe- nenfalls um über 100 Mandate aufblähen kann. Wir hät- ten dann eine große Schwankung zwischen der Grund- 12644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Patrick Sensburg (A) (C) (D)(B) mandatszahl und der möglichen Mandatszahl durch Überhangmandate und Ausgleichsmandate; denn beide müssen nämlich berücksichtigt werden. Ich glaube, das ist ein großes Problem und schafft keine Sicherheit. Sie sollten noch einmal darüber nach- denken, ob damit das System des negativen Stimmge- wichts beseitigt wird oder ob wir nicht vielmehr eine hohe Ungleichgewichtigkeit schaffen. Das ist vorhin be- reits angesprochen worden. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Was wollen Sie?) Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen macht mir wirklich Sorgen, vor allem – der Kollege Mayer hat es vorhin angesprochen – als direkt gewählter Abgeordne- ter. Wenn man die Nähe zu seinem Wahlkreis hat und er- kennt, dass nach Ihrem Entwurf über die Listenverbin- dungen einige direkt gewählte Abgeordnete herausfallen können, dann bereitet das Sorgen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Wähler, die gesagt haben: „Ich wähle diesen Abgeordneten“, wenn dann aufgrund des Länderproporzes dieser Abgeordnete herausfallen muss. Ich weiß nicht, was der Kollege Ströbele dazu sagt; mo- mentan sagt er gar nichts. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich falle da nicht drunter!) Im Hinblick auf diese Problematik kann ich Ihren Vor- schlag nicht gutheißen. Er beseitigt das Problem des ne- gativen Stimmgewichts sowieso nicht; er lässt Direkt- mandate hinten herunterfallen. Ich glaube, auch dieser Ansatz ist im Ergebnis nicht gut. Zum Gesetzentwurf der Linken ist schon einiges ge- sagt worden. Er ist ein Sammelsurium, das weit über das Bundesverfassungsgerichtsurteil hinausgeht – (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!) das ist bereits angesprochen worden –: das Auslän- derwahlrecht, das Wahlrecht mit 16 Jahren, aber auch die 5-Prozent-Klausel. Ich frage mich manchmal, welche Sorgen Sie eigentlich haben, dass Sie gerade die 5-Pro- zent-Klausel abschaffen wollen. Das zeigt, wo Sie Ihre Zukunft sehen. Es kann doch nicht der richtige Ansatz sein, bei einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts alles Mögliche machen zu wollen, nur nicht, dem Auf- trag Rechnung zu tragen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Legen Sie doch sel- ber einmal etwas vor! Nichts vorlegen, aber hier den Dicken machen!) Auch Sie schwächen übrigens den direkt gewählten Ab- geordneten. Herr Kollege Korte, Sie haben eben von mehr Demokratie gesprochen. Warum schwächen Sie dann die direkt gewählten Abgeordneten mit den Über- hangmandaten? Das ist doch nicht mehr Demokratie, das ist weniger Demokratie. Das würden Sie erkennen, wenn Sie es einmal bis zum Schluss durchdenken würden. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Jetzt Ihr Vorschlag!) Herr Kollege Korte, der Entwurf hat übrigens auch sprachliche Mängel. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ihre Rede auch!) Lesen Sie sich einmal den von Ihnen vorgeschlagenen § 7 a Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes durch! Wenn Sie den verstehen, alle Achtung! – Nicht die Rede, Herr Kol- lege Korte, die kann man, glaube ich, verstehen. – (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Jetzt Ihr Vorschlag!) Die Vorschläge sind von den Kollegen Dr. Krings und Dr. Ruppert gekommen. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich würde mir in diesem Haus wünschen, dass wir das Thema Wahlrecht – ich hatte es zu Anfang gesagt – frak- tionsübergreifend debattieren und diskutieren, (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Bis Ende Juni!) dann aber auch fraktionsübergreifend eine Lösung fin- den. Es ist ausreichend Zeit, das gemeinsam zu tun. Wir müssen allerdings die Thematik seriös angehen. Sie ha- ben mit Ihren drei Vorschlägen gezeigt, dass Sie nicht zur Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts beitragen. Sie haben Vorschläge vorgelegt, die uns im Kern nicht weiterbringen. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sie haben gar nichts vorgelegt!) Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, sodass wir es schaffen, gemeinsam über die Fraktionen Lösun- gen zu finden und das Wahlrecht auf eine breite Basis zu stellen! Der Kollege Krings hat hierzu Vorschläge ge- macht. (Zuruf von der SPD: Wann?) Setzen Sie sich mit uns gemeinsam an einen Tisch. Dis- kutieren Sie diese Vorschläge. Die Einladungen sind er- folgt, anders als Sie es vorhin gesagt haben. Ich würde mir wünschen, dass wir dann ein Wahlrecht bekommen, das von einer breiten Mehrheit hier im Deutschen Bun- destag getragen ist. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Patrick Sensburg. – Nun hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege Wolfgang Wieland. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Sensburg, man muss sich vorher ehrlich machen. In der Frage der Wahlgesetzgebung haben wir als Parteien alle Eigeninteressen. Ich habe schon das letzte Mal, als wir zu Ende der vergangenen Legislaturperiode hier über unseren Entwurf debattiert haben, gesagt: Wir sind eine Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12645 Wolfgang Wieland (A) (C) (D)(B) kleine Partei und von Überhangmandaten relativ weit entfernt. Daraufhin erntete ich wütenden Protest von Claudia Roth, meiner Parteivorsitzenden. Deswegen wiederhole ich dies heute nicht, auch weil das mit der kleinen Partei möglicherweise nicht mehr richtig ist. Aber wir bleiben bei unseren Überzeugungen. Unsere Überzeugungen entsprechen dem Arbeitsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, das negative Stimmge- wicht zu beschneiden und dafür zu sorgen, dass es keine Verfälschung des Wählerinnen- und Wählerwillens durch Überhangmandate geben darf. Das ist zu erledi- gen, und nicht das Risibisi der Linksfraktion oder die mündlichen Vorschläge, die Sie hier nun vorgelegt ha- ben, Herr Kollege Krings. Durch diese Vorschläge würde genau das Gegenteil erreicht. Sie würden dazu führen, dass es sogar mehr negative Gewichtung und mehr Überhangmandate geben könnte. Sie glauben doch wohl nicht, dass wir da mitmachen werden. Es ist nachgerade merkwürdig, dass ausgerechnet die CSU, die Partei von „Kopf-ab-Jaeger“ und Franz Josef Strauß, nun sagt: Bitte, Grüne, mehr Milde mit der CSU. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Res- pekt vor dem Wähler!) – Den haben wir immer. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Of- fensichtlich nicht!) – Selbstverständlich. – Wir hatten das letzte Mal als Einzige einen Vorschlag gemacht. Selbst Ihr Parla- mentspräsident Lammert hat vor der letzten Bundes- tagswahl gesagt: Es wäre gut, wenn wir schon ein ver- fassungsgemäßes Wahlrecht hätten. Da war Ihr Hauptargument: Ihr habt das Problem der CSU nicht ge- löst. – Wir haben zugegeben, dass wir das Problem der CSU nicht gelöst hatten. Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, durch den das Problem der CSU klar und eindeutig gelöst wird. Dazu sagen Sie nun wieder: So geht das aber ganz und gar nicht. – Sie sind nicht nur eine Dagegen-Partei, son- dern auch – Sie sind beides in Kombination – eine Tu- nix-Partei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Daher sollten Sie hier den Mund nicht so voll nehmen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie mar- schieren in eine Sackgasse!) Professor Meyer hat schon damals in der letzten Le- gislaturperiode (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Stephan, Du bist Professor geworden? Herzlichen Glück- wunsch!) – nicht dieser Herr Mayer; hören Sie einmal zu – in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, über den im Übri- gen alle Sachverständigen sagten, das wäre ein Weg, den man gehen könnte, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!) wütend gesagt: Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht da- rum, was man machen kann, sondern darum, dass man verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht mehr ist. – Er sagte weiter: Da sitzen Sie ein ganzes Jahr herum und tun nichts. – Jetzt haben Sie weitere zwei Jahre herumgesessen und nichts getan. Das ist ein Ar- mutszeugnis. Das muss hier gesagt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Noch ein Wort zur Rechtsstaatspartei FDP. Kollege Burgbacher hat, als er noch Parlamentarischer Ge- schäftsführer war und nicht unentwegt Akten studieren musste, am Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe ge- sagt: Jetzt muss der Gesetzgeber handeln. Es besteht dringender Handlungsbedarf. – Daraus wurden bei Frau Leutheusser-Schnarrenberger eine Warnung vor Aktio- nismus und eine Forderung nach Augenmaß und Ruhe. Inzwischen sind Sie offenbar eingeschlafen, meine Da- men und Herren von der FDP; denn von Ihnen kommt nichts mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Vor allem die SPD, aber auch die Linkspartei haben hier brauchbare Vorschläge zu der Frage, wie man das negative Stimmgewicht verhindern und wie man zu ei- nem korrekten Umgang mit Überhangmandaten kom- men kann, vorgelegt. Das ist eine Diskussionsgrundlage. Es gibt natürlich auch hier Haken; da sind wir uns doch einig. Das negative Stimmgewicht wird nicht ganz aus- geschlossen, und über die Frage, wie groß der Bundestag werden soll, muss debattiert werden. Darüber kann auch debattiert werden. Aber wir müssen doch zu einem Er- gebnis kommen. Sie sagen hier so schön: Wir wollen den Konsens. Kollege Mayer sagt, er habe Respekt vor allen Vorschlägen, um sie im nächsten Satz als schäbig und vordemokratisch zu bezeichnen. Respekt stelle ich mir anders vor. Wir haben die Sonderrolle der CSU immer respektiert. Nur, wir sagen: Eine Partei, die eine solche Sonderrolle beansprucht, kann sich nicht immer wie ein Rosinenpicker das Beste aussuchen: hier nach der Ge- schäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Frak- tionsgemeinschaft bilden, aber dann, wenn es einmal, wie sie glaubt, zu ihrem Nachteil ist, aber immer noch gerecht und dem Wählerwillen entsprechend, die belei- digte Leberwurst spielen und sich als Opfer darstellen. Das geht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben immer gesagt: Das Problem der Berliner Zweitstimmen ist für uns ein geringes. Die SPD will es jetzt lösen. Für uns ist klar: Der Linksparteiwähler aus Lichtenberg oder Marzahn wählt seine Partei, wie auch immer sie gerade heißt, wo auch immer er sie auf dem Stimmzettel findet. Er wählt sie, ob die Vorsitzenden nun Karl und Rosa oder Klaus und Gesine heißen. 12646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Wolfgang Wieland (A) (C) (D)(B) (Heiterkeit und Beifall des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass gerade dieser Wähler seine Stimme splittet, ist am unwahrscheinlichsten. Das ist ein Scheinproblem. Aber, bitte schön, von mir aus können wir auch Scheinpro- bleme lösen. (Beifall des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Schließlich und endlich meine letzte Bemerkung. Es wurde gesagt: Wir debattieren hier nicht unsere Rechte als Parteien und Fraktionen. Wir debattieren das Recht des Souveräns. Wir diskutieren über das Recht der Bür- gerinnen und Bürger, dass ihre Stimmen bei Wahlen wirksam werden. – Das muss mit Ernst geschehen, das muss im vorgegebenen Zeitrahmen geschehen, und das müsste endlich auch ergebnisorientiert geschehen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. – Nun spricht für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas Strobl. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Er ist der letzte Redner in dieser Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als das Bundesverfassungs- gericht in Karlsruhe am 3. Juli 2008 das negative Stimm- gewicht für verfassungswidrig erklärt hat, war allen Be- teiligten klar, dass dem Gesetzgeber damit eine harte Nuss aufgegeben wird. Deswegen hat das Bundesverfas- sungsgericht eine lange Frist, bis zum 30. Juni dieses Jahres, gesetzt. Klar ist in Karlsruhe bereits in der mündlichen Ver- handlung geworden, dass es beim Wahlrecht keinen Kö- nigsweg gibt. Die komplizierte Verschränkung von Ver- hältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht, wie wir sie in unserem deutschen Wahlrecht kennen, bringt immer Brüche und Schwierigkeiten mit sich. Die Tatsache, dass jede der Oppositionsfraktionen – Linke, Grüne, SPD – einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, dass also un- terschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen, bestätigt, dass es den Königsweg offensichtlich nicht gibt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Wahlrecht gibt es keinen Kö- nig!) Ich räume ein, dass es kein Ruhmesblatt für die Koali- tionsfraktionen ist, bisher keinen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben. (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber auch dies zeigt, dass die Materie eine außerordent- lich schwierige ist. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Sie ganz offensichtlich!) Der Vorschlag der Sozialdemokraten – das muss man klar sagen – beseitigt das negative Stimmgewicht nicht, erfüllt also den verfassungsrechtlichen Auftrag jeden- falls nicht vollständig. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Überhaupt nicht!) Außerdem bläht er den Deutschen Bundestag auf. Hinter die Lösung, letztlich einfach die Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages zu vergrößern, sodass es also mehr Abgeordnete gibt, ist ein Fragezeichen zu setzen. Bei Grünen und Linken wird offenkundig, dass sie ein Problem mit den Überhangmandaten haben. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Das ist aber kein verfassungsrechtliches Problem, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Doch!) sondern ein politisches, Ihr politisches Problem. (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das verfälscht den Wähler- willen! Also ist es auch ein verfassungsrecht- liches Problem!) – Nein. Die Überhangmandate sind die Ursache des ne- gativen Stimmgewichts. Sie selbst sind aber nicht ver- fassungswidrig. Es gibt durchaus Möglichkeiten und Wege, die Überhangmandate beizubehalten und trotz- dem zu einer verfassungsmäßigen Lösung zu kommen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Selbst ein Mehrheitswahlrecht wäre verfas- sungsgemäß!) Sie verkennen, dass Überhangmandate immer direkt gewählten Abgeordneten zufallen. Diese Abgeordneten haben die höchste demokratische Legitimation, die es überhaupt gibt. Wir wollen dieses Element des Mehr- heitswahlrechtes in unserem Wahlrecht nicht aufgeben, sondern es im Zweifel eher etwas stärken. Außerdem ist der Vorschlag der Grünen ein Vorschlag, der dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht in dem Maße gerecht wird, wie es nach dem jetzigen Wahlrecht der Fall ist. Der Vorschlag wird auch unter föderalen Ge- sichtspunkten – das ist keine Verfassungsvorgabe – dem, was wir uns in einem föderalen Bundesstaat vorstellen, eben nicht gerecht, und das möchten wir nicht akzeptie- ren. Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Noch ein- mal: Karlsruhe hat nicht die Überhangmandate als sol- che für verfassungswidrig erklärt, sondern es geht um ei- nen Mangel namens negatives Stimmgewicht, der für verfassungswidrig erklärt worden ist und den wir zwei- fellos zu beseitigen haben. Ein Mangel! Diesen Mangel zu beseitigen, heißt aber nicht, dass wir jetzt zu einer Ge- neralüberholung unseres Wahlrechts kommen müssen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12647 Thomas Strobl (Heilbronn) (A) (C) (D)(B) (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das wäre aber ein guter Anlass!) – Nein, das wollen Sie. Sie wollen dies jetzt zum Anlass nehmen, um das ganze Wahlrecht sozusagen wegzuspü- len. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Demokra- tisch zu machen!) Wir haben hier eine etwas andere Vorstellung. Wir glauben und sind ganz überzeugt, dass wir mit dem Wahlrecht, welches wir haben, einer Symbiose zwi- schen dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrheitswahl- recht, in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland gut gefahren sind. Wir glauben im Übrigen auch, dass eine ganz große Mehrheit in der Bevölkerung das Wahlrecht, das wir haben, für gut und richtig hält. Deswegen müs- sen wir einen Mangel beseitigen, den uns Karlsruhe zu beseitigen aufgegeben hat. Es ist wirklich mein Wunsch, dass wir das gemeinsam tun, auch gemeinsam mit der Opposition, also fraktions- übergreifend. Beim Wahlrecht haben wir im Deutschen Bundestag eine lange Tradition, über die Parteigrenzen hinweg die Kraft zu entwickeln, zu gemeinsamen Lö- sungen zu kommen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich aber auch einmal bewegen! Wir kommen nicht einfach zu Ihnen ins Boot!) Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir diese Kraft erneut entwickeln und dass sich jeder auch einen Ruck gibt. Noch einmal: Den Königsweg beim Wahlrecht gibt es nicht. Es wird immer nur einen Kompromiss geben. Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir alle an ei- nem solchen Kompromiss mitwirken. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen herzlichen Dank, Kollege Thomas Strobl. – Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/5895 und 17/5896 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. – Das ist somit so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzteordnung – Drucksache 17/5804 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si- cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der Europäi- schen Union – Drucksache 17/5903 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus der Atomenergie) – Drucksache 17/5474 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU) Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord- nung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleuni- gung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (Ratsdok. 14496/10) zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Anforderungen an die haushaltspoli- tischen Rahmen der Mitgliedstaaten (Ratsdok. 14497/10) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates über die wirksame Durchsetzung der haushaltspoliti- schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. 14498/10) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates zur Än- derung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Über- wachung und der Überwachung und Koordi- nierung der Wirtschaftspolitiken (Ratsdok. 14520/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Drucksache 17/5904 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 12648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- päischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleich- gewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. 14512/10, KOM[2010] 525) und zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- päischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomi- scher Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10; KOM[2010] 527) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Drucksache 17/5905 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2010 – Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2010 – – Drucksache 17/5648 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten – Drucksache 17/5899 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz bei Rückstellungen im Kernener- giebereich schaffen – Drucksache 17/5901 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schnelles Internet für alle – Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung set- zen – Drucksache 17/5902 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internet-Telefonie in Afghanistan – Drucksache 17/5908 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men- schenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen – Drucksache 17/5909 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver- kehrspolitik in Deutschland und Europa nut- zen – Drucksache 17/5906 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12649 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß- ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell- schaftspolitisch nutzen – Drucksache 17/5907 – Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/5474 – Ta- gesordnungspunkt 30 c – soll federführend beim Innen- ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 k auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften über den Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzver- trägen und über verbundene Verträge – Drucksache 17/5097 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/5819 – Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Sonja Steffen Stephan Thomae Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5819, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5097 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Das Stimmverhalten der Grünen war hier oben nicht sichtbar. Wir geben der Fraktion die Möglichkeit, dies zu korrigieren. – Wie ist Ihr Abstim- mungsverhalten? – Die Mehrheitsverhältnisse sind aber auch so klar geworden. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Der Kollege Volker Beck gibt noch einen Hinweis. Wie war das Stimmverhalten? (Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zustimmung! Wir stimmen mit Ja! – Beifall bei der FDP) – Zustimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zugestimmt. – Damit ist das protokollarisch erledigt. Jetzt atmen wir kurz durch. Dann sind Sie in der Lage, die dritte Bera- tung und Schlussabstimmung durchzuführen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü- nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimmenthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäi- schen Kommission vom 14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Standpunkts der Union im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien im Hinblick auf die Be- teiligung der ehemaligen jugoslawischen Re- publik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grund- rechte und die entsprechenden Modalitäten einschließlich Bestimmungen über die Mitwir- kung an den von der Agentur eingeleiteten Ini- tiativen, über finanzielle Beiträge und Perso- nal – Drucksache 17/5710 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) – Drucksache 17/5954 – Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Michael Roth (Heringen) Oliver Luksic Thomas Nord Manuel Sarrazin Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5954, den Gesetzentwurf der Bun- desregierung auf Drucksache 17/5710 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Keine Gegen- stimmen. Enthaltungen? – Enthaltungen der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. 12650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) Tagesordnungspunkt 31 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Arbeitsdokument der Kommissions- dienststellen Öffentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohä- renten europäischen Ansatz SEK(2011) 173 endg. – Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Eva Högl Burkhard Lischka Marco Buschmann Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Die Linksfrak- tion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvC 3/11 – Drucksache 17/5952 – Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Wahlprü- fungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungs- gericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsi- denten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Das sind alle. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch nicht. Die Beschlussempfehlung ist somit einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 262 zu Petitionen – Drucksache 17/5780 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun- gen? – Auch niemand. Damit ist die Sammelüber- sicht 262 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 263 zu Petitionen – Drucksache 17/5781 – Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bünd- nis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 263 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 264 zu Petitionen – Drucksache 17/5782 – Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da- gegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. So- mit ist die Sammelübersicht 264 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 265 zu Petitionen – Drucksache 17/5783 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Stimment- haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 265 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 266 zu Petitionen – Drucksache 17/5784 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Links- fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ent- haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 266 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 267 zu Petitionen – Drucksache 17/5785 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltun- gen? – Niemand. Sammelübersicht 267 ist somit ange- nommen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12651 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 268 zu Petitionen – Drucksache 17/5786 – Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen so- wie die Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 268 angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte Die erste Rednerin dieser Aktuellen Stunde kommt aus der Fraktion Die Linke und ist unsere Kollegin Frau Diana Golze. Ich gebe ihr das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Diana Golze. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Tatort Berlin-Weißensee, 12. Mai 2011, Charlottenburger Straße, 10 Uhr: Frau K., 76 Jahre alt, und ihr Mann, 78 Jahre, stehen in einer Schlange von etwa 120 Menschen. Sie tun dies nicht, um Konzertkar- ten für eine Schlagerrevue zu ergattern oder um mit Nachbarn zu plaudern. Nein, sie stehen hier vor der Ge- schäftsstelle der AOK, weil die Krankenkasse, bei der sie seit Jahren versichert waren und für die sie sogar seit einigen Monaten einen Zusatzbeitrag gezahlt haben, In- solvenz angemeldet hat. Aus, Ende. Zwar hat man Fami- lie K. gesagt, sie habe nun das Recht, sich eine neue Krankenkasse zu suchen, und diese habe die Pflicht, sie aufzunehmen. Doch das, was das Ehepaar K. in den letz- ten Tagen erlebt hat, war ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Bei anderen Kassen sind sie abgewimmelt worden mit Aussagen wie „Dann gibt es aber keine Zusatzleistungen mehr“ oder einfach nur „Wir sind voll“. Familie K. ist deshalb verunsichert und in großer Sorge. Wird die ge- plante Hüft-OP für Frau K. noch stattfinden? Wird Herr K. seine teuren Medikamente weiter verschrieben be- kommen? Die FDP sagt nun – ich zitiere –: Die demografische Entwicklung … hat Auswirkun- gen auf die gesamte Gesellschaft und kann nur im Miteinander von Jung und Alt gelöst werden. Dies ist die Definition der FDP von Generationengerech- tigkeit, die ganz offenkundig dann nicht gelten soll, wenn es um die Gesundheitsversorgung von alten oder chronisch kranken Menschen geht. Sicher, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben 2007 gegen die Gesundheitsreform der schwarz-roten Regie- rung gestimmt. Aber das haben Sie wohl nicht getan, weil Sie die Sorge um die Finanzstärke der gesetzlichen Krankenkassen umtrieb oder Ihnen die Aufkündigung der paritätischen Finanzierung durch die Arbeitgeber den Schlaf geraubt hat. Nein, vielmehr hieß es in einer Mitteilung des heutigen Gesundheitsministers bereits 2007 – ich zitiere –: Die FDP bemängelt, dass die Reform an der Umla- gefinanzierung des Gesundheitssystems festhält. Aber genau in der schleichenden Aushebelung der pari- tätischen Finanzierung liegt eines der Probleme, das den gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen macht und nun die erste in die Insolvenz getrieben hat. Zur Erinnerung: Die Aushöhlung der paritätischen Fi- nanzierung hat schon 2003 begonnen. Bereits damals wurde die Arbeitgeberseite in großem Stil entlastet. Für die Verschiebung der Last auf die Schultern oder, besser gesagt, die Geldbörsen der Versicherten durch die Pra- xisgebühr, Zuzahlungserhöhungen und Leistungskür- zungen ist – auch wenn Sie es jetzt nicht mehr hören wollen – Rot-Grün verantwortlich. Schwarz-Rot hat über die Zusatzbeiträge genau diese Politik fortgesetzt. Das zeigt: Es ging nicht um die heilige Kuh Beitrags- satzstabilität, sondern von vornherein darum, den Bei- trag der Arbeitgeber zu senken. Die Linke sagt: Das ist ungerecht und unsolidarisch und gehört geändert. (Beifall bei der LINKEN) Das erklärte Ziel der vorangegangenen Bundesregie- rungen war eine Beschleunigung des Wettbewerbs der Krankenkassen. Es ging aber nicht etwa um einen Wett- bewerb um bessere Leistungen oder mehr Vorsorgepro- gramme; es ging um einen Wettbewerb um junge, ge- sunde und zahlungskräftige Versicherte. Der Zusammenbruch der City BKK zeigt, dass die Gesundheitsreformen vor allem zu einem geführt haben: Versicherte werden zu Verunsicherten. Denn trotz ge- setzlichem Anspruch auf Aufnahme in eine Kranken- kasse ihrer Wahl gab es für viele Versicherte der City BKK erst einmal nur Chaos. Das ist für die Betroffenen entwürdigend, aber es war vorhersehbar. Denn alle Krankenkassen mit hohem Bestand an alten und chro- nisch kranken Menschen sind gezwungen, auf Teufel komm raus zu sparen, selbst bei gesetzlich garantierten Ansprüchen, zum Beispiel Eltern-Kind-Kuren. Durch eine solche Politik werden Versicherte, die jahrelang ih- ren Beitrag plus Zusatzbeiträge zahlen, zu Bittstellern gemacht. Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen in der Krankenversicherung nicht mehr Wettbewerb nach dem Motto „Wer es länger schafft, Zu- satzbeiträge zu verhindern, hat gewonnen“, sondern mehr Solidarität. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen die Wiederherstellung der paritätischen Fi- nanzierung. Wer von einem Solidarsystem spricht, muss die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite gleicherma- ßen zur Finanzierung heranziehen. Es ist doch klar im 12652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Diana Golze (A) (C) (D)(B) Interesse der Arbeitgeber, gesunde und motivierte Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter zu haben. Abschließend gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich gehöre im Deutschen Bundestag zur Gruppe derer, die freiwillig gesetzlich versichert sind und damit die Sozialkassen stärken. Die Einbeziehung der Selbstständigen, Beamten und auch Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist deshalb für mich ein Baustein für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürger- versicherung. Dafür steht die Linke ohne Wenn und Aber! Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Diana Golze. – Jetzt hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes Singhammer das Wort. Bitte schön, Kollege Johannes Singhammer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Wir lassen die Versicherten der City Betriebskran- kenkasse nicht allein. Die christlich-liberale Koalition verhilft den 170 000 Versicherten der City BKK zu ih- rem guten Recht. Vorstände von gesetzlichen Kranken- kassen, welche Versicherte der City BKK abwimmeln oder unanständig behandeln, werden nicht ungeschoren davonkommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Rechtslage ist klar wie selten, und wir brauchen keinerlei Nachhilfe der Linken, was zu tun ist. Die Ver- antwortlichen werden die Konsequenzen zu ziehen ha- ben. Was gesetzlich notwendig ist, werden wir tun, und zwar schnell, klar und konsequent. „Schnell, klar und konsequent“ heißt, dass noch im Zusammenhang mit dem geplanten Versorgungsgesetz die notwendigen wei- teren gesetzlichen Maßnahmen beschlossen werden. Denjenigen Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse, die meinen, es sei besonders clever, plötzlich die Geschäftsstelle ihrer Krankenkasse zu reno- vieren, wodurch der Publikumsverkehr verhindert wird, oder die meinen, es sei besonders klug, Rentner oder gehbehinderte Versicherte, die von der City BKK in eine neue Krankenkasse ihrer Wahl wechseln wollen, von ei- nem Teil Berlins in einen ganz anderen Stadtteil, der nur schwer zu erreichen ist, zu schicken, werden wir klarma- chen, dass diese Art des Verhaltens nicht belohnt wird, sondern dass sie Konsequenzen haben wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ihr habt das doch eingebrockt!) Nicht die Mitarbeiter einer solchen gesetzlichen Kran- kenkasse, sondern die Vorstände werden wir in Haftung nehmen. Wir werden nicht zulassen, dass bestehende Gesetze vor aller Augen in der Öffentlichkeit nicht be- achtet, umgangen oder gar gebrochen werden. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Gesetze, die Sie gemacht haben!) Die Gesetze sind eindeutig wie selten in einer solchen Situation: Erstens. Jeder Versicherte der GKV hat die freie Wahl, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will, wenn seine Krankenkasse – aktuell ist es die City BKK – pleitegeht. Zweitens. Jeder Versicherte der GKV muss von der Krankenkasse aufgenommen werden, bei der er sich be- wirbt. Drittens. Kein Versicherter der GKV ist ohne Versi- cherungsschutz, wenn seine Kasse insolvent wird. Viertens. Wenn ein Versicherter sein Wahlrecht nicht ausübt oder keine Kasse findet, die ihn aufnimmt, so fällt er nicht in ein Versicherungsloch, sondern er wird durch den Arbeitgeber, die Rentenversicherung oder die Ar- beitsagentur einer Kasse zugewiesen. Dabei muss man darauf achten, dass die Kassen, die sich diesen Versicherten gegenüber jetzt vorbildlich ver- halten, entsprechend bewertet werden und dass die Kas- sen, die sich in den letzten Tagen alles andere als vor- bildlich verhalten haben, da sie wenige Versicherte oder gar keine Versicherten aufgenommen haben, bei den Zu- weisungen entsprechend behandelt werden. Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der So- lidarität aller Beteiligten, von der Solidarität der Gesun- den mit den Kranken, der Besserverdienenden mit den weniger gut Verdienenden, von der Solidarität der Kran- kenkassen mit günstiger Versichertenstruktur mit den Krankenkassen mit etwas ungünstigerer Versicherten- struktur. Damit die Solidarität nicht zum Nachteil für einzelne Kassen wird, haben wir im Gesetz Ausgleichs- und Sicherungssysteme vorgesehen, zum Beispiel den Risikostrukturausgleich und die Haftungsverbünde der Krankenkassen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer als Vorstand einer gesetzlichen Krankenkasse das Solidaritätsgebot in schlimmer und unangenehmer Weise verletzt, muss künftig im schlimmsten Fall damit rechnen, dass er ab- gesetzt wird. Ich danke der Bundesregierung und insbe- sondere dem neuen Minister, dass sie hier so schnell und so konsequent handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Er hat bis jetzt nur angedroht!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. – Nun für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Karl Lauterbach. Bitte schön, Kollege Dr. Karl Lauterbach. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Der Wettbewerb, den wir derzeit bei den gesetzli- chen Krankenkassen beobachten, dreht sich nur noch um Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12653 Dr. Karl Lauterbach (A) (C) (D)(B) drei Punkte: die Vermeidung eines Zusatzbeitrags, die Vermeidung eines Zusatzbeitrags und die Vermeidung eines Zusatzbeitrags. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Tätä, tätä!) Alles andere spielt keine Rolle mehr. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sehr richtig! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Es war doch Ihre Ministerin!) – Ich komme gleich dazu, Herr Spahn. – Eine Kranken- kasse, die gute Qualität aufweist und einen Zusatzbeitrag nehmen muss, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die um- fangreiche Kosten für Vorbeugemedizin trägt, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die einen guten Service bietet, verliert Mitglieder. Diejenigen, die gehen, sind die jun- gen und die gesunden Mitglieder. Es sind diejenigen, die einkommensstark sind. Es sind diejenigen, die keine Bindung zur Kasse haben – außer der, dass sie Beitrags- zahler sind. Es gehen also die, die die Kasse braucht, um die anderen – diejenigen, die alt und krank sind – mitzu- bezahlen. Das ist, wenn man so will, ein kranker Wettbe- werb. Jetzt ist das System selbst krank. Das System läuft da- rauf hinaus, dass jede Krankenkasse versuchen muss, den Zusatzbeitrag zu vermeiden, egal was es kostet. Da kann man nicht überrascht sein, wenn die Kassen versu- chen, die Mitgliedschaft derjenigen abzuwenden, die Träger schlechter Risiken sind. Von der FDP wird das derzeit kritisiert. Aber man muss in Erinnerung rufen: Die FDP hatte in ihrem Wahl- programm für die letzte Bundestagswahl noch den Vor- schlag, die gesamte gesetzliche Krankenversicherung zu privatisieren. Das wäre dann das System für alle gewe- sen. Was wir erleben, ist also im Prinzip nur ein Teil des- sen, was die FDP und auch Herr Bahr damals in Rein- kultur wollten. Im Ernst: Was wir derzeit sehen, ist doch nichts anderes, als dass die FDP mit Krokodilstränen vor den Folgen ihrer eigenen Reform warnt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Bahr hat selbst Gesundheitsökonomie studiert, ein Stück weit. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Der Herr Professor vergibt wieder Noten!) – Es geht hier nicht um Noten. Ich versuche, etwas zu er- klären. Vielleicht ist das gerade auch für Sie interessant, Herr Spahn. – Dann müssen Sie doch Folgendes wissen, Herr Bahr: Die Krankenkassen unterscheiden sich im Angebot so gut wie nicht. Sie werden sich demnächst noch weniger unterscheiden, weil sie die paar Leistun- gen, mit denen sie sich noch unterscheiden, abstoßen müssen, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das ist doch kein Wettbewerb. Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Einheitsangebot, alle Kassen böten immer das Gleiche an, aber die Mit- glieder der Kassen wechselten im monatlichen Rhyth- mus. Das wären hektische Wechselbewegungen, ein ständiges Wechseln. Dann hätten wir nur Bürokratie; aber die Versorgung liefe im Prinzip auf die Einheits- kasse hinaus. Somit schafft die FDP hier einen Wettbe- werb, der die Einheitskasse durch die Hintertür einführt. Mehr ist dabei nicht herausgekommen. Im Wesentlichen ist es so: Die Reform ist eine mor- bide Reform. Ich bin übrigens nicht dagegen, dass wir weniger Kassen haben werden. Herr Rösler sagte, es sollten Kassen in die Insolvenz gehen. Damit habe ich kein Problem. Ein Problem tritt aber auf, wenn diejeni- gen Kassen in die Insolvenz gehen, die alte und kranke Mitglieder haben oder deren Versicherte in der falschen Stadt wohnen, beispielsweise in München, Hamburg oder Berlin. Was ist das für ein Wettbewerb? Bei dieser Art von Wettbewerb geht es nur darum, wo eine Kasse zufällig ihren Sitz hat und welche Mitglieder sie hat. Es geht überhaupt nicht mehr um die Qualität. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir ein verheeren- des Signal an ältere und kranke Menschen geben: dass sie selbst in der gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr willkommen sind. Ein solches Signal müssen wir mit al- len Kräften vermeiden. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist das Signal, das in der privaten Krankenversiche- rung übrigens zu jeder Zeit gegeben wird. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, umso schlim- mer!) Die private Krankenversicherung könnten Sie jeder- zeit abschaffen, was Sie aber nicht wünschen. Das Sys- tem der privaten Krankenversicherung ist ja das Ideal- bild der FDP: Privatversicherung für alle. In der privaten Krankenversicherung können sich behinderte und ältere Menschen gar nicht versichern. Jetzt haben Sie die ge- setzlichen Krankenkassen dementsprechend ein wenig umgestaltet. Wir werden Leistungskürzungen erleben. Wir werden sehen, dass im Jahr 2012/13 die Kranken- kassenzusatzbeiträge – das sind die einzigen Beiträge, auf die es ankommt – zwischen 0 und 30 Euro liegen werden. Die Zeit der Fusionen der Krankenkassen ist vorbei. Dann wird es massenhaft Krankenkassenpleiten geben. Herr Bahr, meine Empfehlung an Sie – Sie werden auf absehbare Zeit wahrscheinlich einer der letzten Bun- desminister der FDP sein –: Bleiben Sie nicht mit einer Reform in Erinnerung, die das Vertrauen in die gesetzli- che Krankenkasse komplett ausgehöhlt hat. Der Wieder- einstieg der FDP in Bundeskabinette darf nicht durch ein solches Signal belastet sein. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Schön, dass Sie sich Sorgen um die anderen machen!) Sie arbeiten jetzt an der Nebenwirkung der Reform von Herrn Rösler. Aber gehen Sie weiter und bekämpfen Sie die Ursache dieses falschen Wettbewerbs: Nehmen Sie die Zusatzbeiträge zurück, dehnen Sie den Risikostruk- turausgleich weiter aus, damit auch alte und kranke Menschen wieder eine Chance haben, sich zu versichern, und damit sich der Wettbewerb wieder um Vorbeugung und Qualität dreht, nicht aber um Risikoselektion und um das Einkommen der Versicherten. (Beifall bei der SPD) 12654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Karl Lauterbach. – Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Heinz Lanfermann. (Beifall bei der FDP) Heinz Lanfermann (FDP): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich versuche, zum Thema zurückzukommen. An Ihrer Stelle, Herr Kollege Lauterbach, würde ich mir mehr Gedanken darüber ma- chen, wie Ihre Reden im Bewusstsein der Menschen hängen bleiben. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Haben Sie nicht zugehört? – Mechthild Rawert [SPD]: Vorsich- tig! Sollen wir Ihnen einen Spiegel holen, Herr Lanfermann? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Für 3 Prozent Wählerstim- men ist das ein bisschen arrogant!) Der Minister hat in der kurzen Zeit, die er im Amte ist, schon einen sehr guten Eindruck gemacht. Die Linksfraktion hat hier eine Aktuelle Stunde bean- tragt, die nicht wirklich aktuell ist, sondern sich auf das Fehlverhalten einiger Kassen in den vergangenen Wo- chen bezieht, das nach dem energischen Eingreifen des neuen Ministers Daniel Bahr bereits in der letzten Wo- che – das war eine seiner ersten Amtshandlungen – ab- gestellt wurde. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Ergebnis wirken Sie wie jemand, der auf dem Bahn- hof steht und hinter dem Zug herschaut. (Diana Golze [DIE LINKE]: Sie leiden nicht an den Ursachen! Darüber habe ich schon ge- sprochen!) Aber Sie wollten ja auch gar nicht über diesen Fall sprechen, sondern Sie wollten uns eigentlich einige abs- truse Vorstellungen über Ihre Ideen zur Gesundheitspoli- tik nahebringen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das müssen Sie ja sagen mit Ihren abstrusen Ideen!) Der Titel dieser Aktuellen Stunde „Pleiten von gesetzli- chen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte“ suggeriert, dass eine Reihe von Kassen betroffen sei. Na- türlich gibt es nur eine. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Im Moment!) Im Augenblick haben wir es nur mit der City BKK zu tun. Was die Folgen für die Versicherten angeht, die Sie auch noch angesprochen haben, haben wir hier den Ein- druck gewinnen müssen, dort passierten fürchterliche Dinge. Natürlich ist das nicht der Fall; das Gesetz hat da vorgesorgt. Allen Menschen wird geholfen, selbst wenn sie sich nicht rechtzeitig eine neue Kasse suchen. Inso- fern bestehen da überhaupt keine Probleme. Alle in diesem Hause waren sich einig, dass das, was einige Kassen gemacht haben, nämlich Menschen abzu- wimmeln und sie nicht richtig oder nicht vollständig zu beraten, völlig falsch war und neben der Sache lag. Inso- fern brauchen wir uns über diesen Fall gar nicht zu strei- ten. Vielmehr soll ganz anderes nach vorn gebracht wer- den. Zu der eindeutigen Rechtslage hat der Kollege Singhammer hier bereits alles vorgetragen. Selbstver- ständlich ist das Wichtigste das Wahlrecht der Versicher- ten. Es darf über die Köpfe der Versicherten hinweg keine Maßnahmen geben, auch keine gemeinsamen Maßnahmen von Kassen. Ebenso darf es keine Zuwei- sungen statt des Wahlrechts geben. Erst dann, wenn je- mand die Fristen selber nicht nutzt, wird er zugewiesen, damit er nicht ohne Versicherungsschutz bleibt. In Wirklichkeit ging es um etwas anderes. Das Wort „Einheitskasse“ ist gefallen. In der Tat gibt es Menschen, die die Einheitskasse anstreben; aber das tut gewiss nicht diese Koalition. (Diana Golze [DIE LINKE]: Bisher haben nur Sie davon gesprochen!) – Ja, Sie haben daran andere Erinnerungen, Frau Golze, vielleicht solche an frühere Zeiten. Sie haben einmal auf einer Wahlkampfveranstaltung auf die Frage, woran Sie denken, wenn von der DDR die Rede ist, geantwortet: Eigentlich denke ich nur an eine glückliche Kindheit. (Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, weil ich zur Wende 14 Jahre alt war! Ich bin ja nicht 70!) Diese unpolitische Linie haben Sie sich bis auf den heu- tigen Tag aufrechterhalten, wie ich an Ihrer Rede hier gehört habe. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer Krankenversicherung wirklich etwas Großartiges ge- schaffen. Natürlich, Herr Kollege Lauterbach, können Sie hier erzählen, was Sie wollen; da schützt Sie ja das Grundgesetz. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber Sie sollten nichts Falsches behaupten. Wenn Sie die Wahlprogramme der FDP schon nicht lesen, dann sollten Sie sie auch nicht falsch zitieren. Selbstverständ- lich haben wir niemals die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung gefordert. Wir meinen allerdings, dass es in einem freiheitlichen System sehr wohl einen Wettbewerb geben kann, etwa einen Wettbewerb um den Preis, weil die Signalwirkung des Preises – was be- komme ich für das, was ich zahle? – immer ein wichti- ges Element ist, und ebenfalls einen Wettbewerb um die Leistungen. Auch dazu gibt es im Übrigen gesetzliche Bestimmungen. Wir werden sie sogar noch verbessern; darüber beraten wir in diesen Tagen in der Koalition. Ebenso gibt es einen Wettbewerb um Qualität, um Ser- vice usw. (Beifall bei der FDP) Ich will Sie nur daran erinnern, dass es gewiss nicht die FDP war, die die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12655 Heinz Lanfermann (A) (C) (D)(B) haben nicht einmal den Gesundheitsfonds eingeführt. Aber wir gehen als gute Demokraten von dem aus, was uns überlassen worden ist, auch wenn es im Wesentli- chen unter der Ägide Ihrer früheren Gesundheitsministe- rin – sie hieß Ulla Schmidt – geschehen ist. Wir bauen das, was wir vorfinden, entweder weiter aus, wenn es gut ist, oder wir bauen es um, wenn es ver- besserungswürdig ist, und zur Not schaffen wir etwas auch wieder ab. (Mechthild Rawert [SPD]: Nach welcher Fas- sung? FDP, CDU oder CSU?) – Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wir tun dies un- ter dem Gesichtspunkt: Der Bürger und seine Möglich- keiten, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwäh- len, stehen im Mittelpunkt. Auch die Krankenkassen sind frei darin, unterschied- liche Angebote zu machen. Nicht alle Leistungen sind gleich. Der Zusatzbeitrag ist nicht das einzige Argument. Viele Bürger haben ihre Kasse verlassen, nachdem sie einen Zusatzbeitrag erhoben haben. Aber noch viel mehr Bürger sind bei ihrer Kasse geblieben. Nun tun Sie doch nicht so, als hätten diese Bürger nicht bemerkt, dass sie einen Zusatzbeitrag zahlen. Dafür gibt es Argumente; mit denen geworben wird, und das dürfen die Kassen schließlich auch. Lassen Sie das Ganze da, wo es hingehört: in der Ei- genverantwortung, in der Entscheidungsfreiheit, in der Wahlfreiheit der Bürger, und versuchen Sie nicht dau- ernd, dieses ohnehin schon bürokratische und überregu- lierte System irgendwie noch mehr zu bürokratisieren. Versuchen Sie nicht, noch mehr über die Köpfe der Men- schen hinweg zu bestimmen. In diesem Sinne wollen wir jedenfalls nicht arbeiten. Wir werden die Verantwortung der Bürger auf diesem Gebiet stärken. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Heinz Lanfermann. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Fritz Kuhn. Bitte schön, Kollege Fritz Kuhn. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass eine Bundesregierung die Rechtslage umsetzt, in- dem sie den Versicherten der City BKK die Möglichkeit gibt, sich woanders zu versichern, ist ja wohl das Min- deste. Darüber braucht man sich eigentlich nicht lange zu unterhalten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) Wir erwarten von der Regierung, dass sie dies umsetzt. Wenn sich die Kassen sperren, ist es an der Exekutive, dem entgegenzuwirken. Ich war ein bisschen erstaunt, Herr Singhammer, mit welcher Freude, mit welchem Eifer und mit welcher Drastik Sie hier etwas betont haben, was selbstverständ- lich ist. Dahinter steckt wohl, dass Sie gern über die Fol- gen, aber nicht so gern über die Ursachen reden. Wir müssen jetzt aber auch über die Ursachen reden. Ist denn die City BKK pleitegegangen, weil sie so schlecht wirt- schaftete? (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!) Oder ist sie nicht in erster Linie deswegen pleitegegan- gen, weil in den Städten Hamburg und Berlin, in denen sie hauptsächlich tätig war, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer ist denn Gesundheitssenator in Berlin?) die Struktur von medizinischer Überversorgung und ei- nem besonderen Altersaufbau geprägt ist? War nicht der Grund dafür, dass sie mit Kassen, die auch in anderen Regionen des Landes tätig sind, nicht mehr konkurrenz- fähig war und zwangsläufig verlieren musste, der, dass der Wettbewerb hauptsächlich über den Zusatzbeitrag geht? Diese Frage müssen wir klären. Ich bin der Meinung, dass dieses System mit dem Ge- sundheitsfonds, das ursprünglich nur die Möglichkeit zur Erhebung eines begrenzten Zusatzbeitrags vorsah und dann durch die Entgrenzung des Zusatzbeitrags un- ter Schwarz-Gelb und das Einfrieren der Arbeitgeberbei- träge völlig verschärft wurde, eine solche Tendenz verschärft und auch dazu führen wird, dass noch mehr Kassen pleitegehen werden mit den entsprechenden Fol- gen, über die wir hier heute diskutieren. Im Vordergrund steht nicht ein Leistungswettbewerb, sondern ein Preiswettbewerb. Dieser Preiswettbewerb, den es seit Mitte der 90er-Jahre unter den Kassen über die Prozentsätze, die in voller Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tragen waren, gab, war ein ande- rer Preiswettbewerb als der, der sich nun in den Euro- Beträgen der Zusatzbeiträge manifestiert. Diese Form des Wettbewerbs führt natürlich schneller zum Verlassen der Kassen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, weil er mehr Transparenz hat!) Darauf waren Sie noch stolz. Aber es findet eben kein Wettbewerb um die tatsächliche Leistung der Kranken- versicherungen statt. Da wäre Wettbewerb angebracht; diesen Wettbewerb wollen wir. Derzeit ist es vielmehr ein Wettbewerb, der allein über den Euro-Betrag des Zu- satzbeitrags läuft. (Heinz Lanfermann [FDP]: Im Verhältnis zum Angebot!) Deswegen hat Karl Lauterbach recht. Es geht bei diesem Wettbewerb kaum noch darum, wer den besten medizini- schen Service bietet, sondern hauptsächlich um die Frage, ob ein Zusatzbeitrag erhoben wird und, wenn ja, wie hoch dieser ist. (Heinz Lanfermann [FDP]: Preis im Verhältnis zum Angebot!) Herr Lanfermann, Sie kommen um eines nicht herum: Die Veränderungen, die Schwarz-Gelb vorgenommen 12656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Fritz Kuhn (A) (C) (D)(B) hat, ausgehend vom Gesundheitsfonds der Großen Ko- alition, führen dazu, dass wir keinen solidarischen Wett- bewerb in einer sozialen Marktwirtschaft haben, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Mehr Transparenz!) sondern einen sehr einseitigen Wettbewerb um Preise, aber leider nicht in dem Sinne, dass die Preise wohl- fahrtsorientierte, gesundheitspolitisch vernünftige Wahr- heiten abbilden. Deswegen handelt es sich an der Stelle auch nicht um vernünftige Marktwirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Aus dieser Geschichte kommen Sie nicht heraus. Sie müssen über die entscheidenden Punkte reden. Wir hal- ten es für falsch, dass Sie aus dem Zusatzbeitrag eine kleine Kopfpauschale gemacht haben. Sie müssen uns auch einmal beantworten, was eigentlich passiert, wenn die Zusatzbeiträge noch weiter steigen werden. Es sagen viele Gutachten, dass der nicht auf dem jetzigen Niveau gehalten werden kann, (Mechthild Rawert [SPD]: Stimmt!) und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Kostenstei- gerungen in Zukunft allein von den Versicherten über die Zusatzbeiträge aufgefangen werden müssen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, stimmt doch nicht!) Es ist jedenfalls so, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag ein- gefroren haben. Darüber können Sie nicht hinwegtäu- schen. (Zurufe von der CDU/CSU) – Haben Sie ihn eingefroren, oder haben Sie ihn nicht eingefroren? (Jens Spahn [CDU/CSU]: Steuerausgleich! – Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]: Wo denn?) Wie kommt es denn, dass der Kollege Max Straubinger von der CSU, wenn ich richtig informiert bin, vorschlägt – das habe ich gelesen –, den Gesund- heitsfonds wieder abzuschaffen? Darüber müssen Sie doch in der CDU/CSU einmal ernsthaft diskutieren. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er immer dage- gen war! – Heinz Lanfermann [FDP]: Warum sollte er es besser verstehen als Sie, Herr Kol- lege?) – Wenn Sie laut werden, dann bin ich beim richtigen Punkt. Da bin ich mir absolut sicher. Wir stellen fest, dass die systematischen Fehler, die Sie mit der Privatisierung und der Entsolidarisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gemacht haben, jetzt zur ersten Pleite geführt haben. Ich sage Ihnen voraus: Es wird weitere geben, weil das System insgesamt falsch ist. Sie müssten neben einer Reaktion auf die Unterver- sorgung im ländlichen Raum – darauf geben Sie im Ver- sorgungsgesetz jetzt hoffentlich eine Antwort – auch einmal eine Antwort auf die Überversorgung in den städ- tischen Ballungsgebieten geben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Machen wir! – Heinz Lanfermann [FDP]: Machen wir!) Wenn es im Land Berlin und in der Stadt München mehr Röntgenpraxen als in Italien gibt, dann ist Voraussetzung für einen vernünftigen Wettbewerb, dass zunächst ein- mal diese Überversorgung abgebaut wird. Wir sind da- rauf gespannt, welche Antworten Sie geben. Ich nehme an, dass Herr Bahr dazu nachher noch etwas sagen wird. Fazit: Reden Sie nicht nur über die Folgen und da- rüber, was jetzt mit den Versicherten der pleitegegange- nen Krankenversicherung geschieht! Reden Sie auch über die Ursachen und darüber, wie Sie so etwas in Zu- kunft verhindern wollen! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak- tion. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Klär ihn mal auf!) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon etwas verwundert darüber, dass die Debatte schon einige Zeit läuft, ohne dass insbesondere von den Rednern der Opposition der eigentliche Skandal, der ei- gentliche Anlass dieser Debatte erwähnt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier wird rechtswidrig, böswillig und – ich behaupte so- gar – gefährlich für das Ganze gehandelt. Ich komme gleich noch darauf zurück. Es ist erstens rechtswidrig, weil die Rechtslage ein- deutig ist. Jeder Versicherte hat unabhängig von Alter, Einkommen und anderen Merkmalen das Recht auf freie Kassenwahl. Für Leistungserbringer wie Ärzte und Krankenhäuser ist die Sache auch geklärt: Wenn eine Krankenkasse in Insolvenz geht, haften die anderen Kas- sen für die offenstehenden Kosten. Die Rechtslage ist also eindeutig. Es ist zweitens böswillig, weil es Krankenkassen gibt, die in Kenntnis dieser Rechtslage Menschen einmal quer durch die Stadt jagen. Die AOK Berlin beispielsweise suggerierte den betroffenen Menschen, sie müssten quer durch die Stadt zu einer bestimmten Geschäftsstelle in Weißensee, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat, fahren, um sich bei dieser Krankenkasse anmelden zu können. Das ist unwürdig. Es ist eine Schande, wie die AOK Berlin hier gehandelt hat. Und Sie haben dazu in dieser Debatte kein einziges Wort gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12657 Jens Spahn (A) (C) (D)(B) Es ist drittens gefährlich, weil die Krankenkassen, die so gehandelt haben – auf diesen Punkt haben Sie nur mit einem Satz hingewiesen –, einen immensen Imagescha- den für das solidarische System der gesetzlichen Kran- kenversicherung verursacht haben. Wir kennen die Bil- der von verunsicherten Menschen – es handelte sich vor allen Dingen um Rentner und kranke Menschen –, die in einer Schlange stehen und nicht wissen, was mit ihnen geschehen soll. Eine Kasse, die sich in Sonntagsreden immer „Patient der Anwälte“ nennt (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umgekehrt!) und es zulässt, dass es zu solchen Bildern kommt, han- delt fahrlässig und stellt eine Gefahr für die Akzeptanz unseres Solidarsystems dar. Manche Kasse wird sich noch über die Folgen ihres Handelns wundern. (Mechthild Rawert [SPD]: Was ist ein „Patient der Anwälte“?) Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie kochen hier Ihr Süppchen und versuchen, aus dieser Angelegenheit politisches Kapital zu schlagen. Es ist ein Skandal, dass Sie davon ablenken, dass hier rechtswidrig, böswillig und gegen das Interesse des Ganzen auf gefährliche Weise gehandelt worden ist. Dazu hätten Sie ein paar Sätze sagen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden insofern reagieren, als wir gesetzlich klar regeln werden, wie diejenigen, die Mitglied in einer Kasse waren, die geschlossen wurde, besser informiert werden können. Idealerweise muss es ein Formular ge- ben, in dem man ankreuzen kann, in welche Kranken- kasse man eintreten will. Solche Informationen, wie man eine Kasse wechseln kann, sind wohl ohne eine gesetzli- che Regelung nicht zu bekommen. Zum Zweiten braucht es offensichtlich auch Sanktionen. Der Fisch stinkt am meisten vom Kopf her. (Mechthild Rawert [SPD]: Das haben wir bei der Euro-Krise erlebt!) Nicht die Geschäftsstellenmitarbeiter in Weißensee tref- fen die Entscheidungen, sondern sie werden weiter oben getroffen. Deswegen werden wir entsprechende Sanktio- nen gegen Vorstände einführen. Sie reichen von Zwangs- geldern bis hin zur Absetzung. Herr Kollege Kuhn, ich will noch einige grundsätzli- che Bemerkungen machen. Die City BKK ist nicht we- gen des Gesundheitsfonds oder wegen der Zusatzbei- träge in Schwierigkeiten gekommen. Sie hat seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, Probleme. Aus dem öffent- lichen Dienst kommend und mit einer entsprechenden Versichertenstruktur ausgestattet, war sie vor allem in Hamburg und Berlin tätig. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie vergessen Stuttgart!) Wir können einmal die Frage stellen, wie sehr sich die Gesundheitssenatorin in Berlin darum bemüht hat, die angespannte Kostensituation aufgrund der vielen Kran- kenhausbetten in Berlin zu entschärfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie trauen sich nicht, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Deswegen ist die ärztliche Versorgung in Berlin besonders teuer. Anschließend beschweren Sie sich aber darüber, dass die Berliner Krankenkassen Probleme ha- ben. Das zeugt von Doppelmoral. (Mechthild Rawert [SPD]: Wie man von Ahaus nach Münster fährt, fährt man von Brandenburg nach Berlin!) Dann die Frage des Wettbewerbs. Wir haben uns in den 90er-Jahren – damals war ich noch nicht dabei, aber viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen – in großer Einigkeit für den Wettbewerb entschieden. Es wurde die freie Kassenwahl eingeführt, die ein hohes Gut ist. Zum Wettbewerb gehört – dieses Konzept haben wir in der Großen Koalition weiterentwickelt –, dass Kassen, die aufgrund ihrer Kostenstruktur, ihrer Verwal- tungskosten und falscher Angebote im Markt keinen Er- folg haben, vom Markt verschwinden können. Es gibt im Moment über 150 Kassen. Da kann es also einmal sein, dass eine Kasse geschlossen werden muss, wenn sie kei- nen Fusionspartner findet. Wenn das zum Wettbewerb gehört, muss klar geregelt sein, was im Fall einer Insolvenz passieren muss. Das haben wir gemeinsam festgestellt. Man kann aber nicht sagen, dass es bei dem Wettbewerb nur um Kosten, um Geld und um die Höhe des Zusatzbeitrages geht. Der Zu- satzbeitrag ist natürlich ein wesentlich konkreteres Si- gnal als das, was wir vorher hatten. Preisunterschiede zwischen den Krankenkassen gab es schon vorher. Sie betrugen zum Teil zwischen 60 und 70 Euro im Monat. Weil der Beitrag aber vom Lohn abgezogen wurde und dann auch noch ein Dreisatz nötig war, um den Unter- schied zu einer anderen Kasse nachvollziehen zu kön- nen, war kein Bewusstsein dafür vorhanden. Wer aber 8 Euro selber zahlen muss, merkt das sofort. So können sich die Kassen heute differenzieren. Sie können sich aber nicht nur bei den Kosten differenzieren: Man kann mit dem Zusatzbeitrag ein besonderes Angebot finanzie- ren, zum Beispiel besonders gute Versorgungsstrukturen, die man über Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken erreicht. Es geht um ein besonders gutes An- gebot für die Versicherten, (Mechthild Rawert [SPD]: Für die Kranken oder für die Gesunden?) sodass Krankenkassen sagen können: „Bei uns kostet es zwar 10 Euro mehr als bei den anderen, aber dafür bieten wir dir etwas Besonderes.“ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist die Idee des Wettbewerbs: Es geht darum, bei der Qualität zu konkurrieren. Abschließend sage ich es noch einmal: Es ist ein Skandal, was öffentlich-rechtliche Körperschaften bei eindeutiger Rechtslage auf dem Rücken der Patienten machen. Zweitens ist es zumindest ein kleiner Skandal, dass die Oppositionsredner hier nicht einen einzigen Satz darauf verschwenden, was da eigentlich passiert ist, sondern nur versuchen, ihr Süppchen zu kochen, die 12658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Jens Spahn (A) (C) (B) Menschen zu verunsichern und vom eigentlichen Skan- dal abzulenken. Das ist das eigentliche Problem dieser Debatte. Vielleicht wird der eine oder andere Kollege darauf noch zu sprechen kommen; denn das ist das ei- gentliche Thema. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Mechthild Rawert (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauende und Zuhörende! Herr Spahn, der eigentliche Skandal liegt darin, dass Sie in den Medien haben verlautbaren lassen, es sei ein Skandal, dass sich die Politik überhaupt um diesen Zu- stand kümmern müsse. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er klar geregelt ist!) Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, wie Sie das Wesen von Politik begreifen. Für uns ist dieser Umgang mit Tau- senden Versicherten – ich will nicht vom „Tatort Weißen- see“ sprechen, weil ich die Sendung Tatort durchaus liebe – selbstverständlich ein empörender Skandal. Es ist auch ein Skandal, dass Sie das Wesen von Politik so diskredi- tieren. Sie sollten in den Spiegel schauen, bevor Sie in dieser Sache weitere Bemerkungen vornehmen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist halt die Tut-nix-Partei!) Zum nächsten Punkt. Hier geht es um eine Fachfrage. Vielleicht haben Sie sich versprochen. Was auch immer! Wen meinten Sie eigentlich in Ihren Ausführungen mit den „Patienten der Anwälte“? (Jens Spahn [CDU/CSU]: Andersherum: Anwalt der Patienten!) Ich denke, dass Ihre Freud’sche Fehlleistung wirklich deutlich gemacht hat, dass auf jeden Fall nicht Sie der Anwalt der Patientinnen und Patienten sind, sondern die von Ihnen gescholtene Opposition, die Sozialdemokra- ten und Sozialdemokratinnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Oh, Frau Rawert!) Zum Thema AOK. Die AOK in Berlin – Frau Vogelsang wird vielleicht darauf eingehen – hat fusio- niert. Die AOK Nordost gehört zu denen, die sich öffent- lich entschuldigt haben. Zu Recht! Es ist empörend, wie sich Kassen im Hinblick auf die Versicherten der City BKK verhalten haben; das geht weit über die Rechtsansprüche hinaus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN) Es ist aber auch empörend, dass die Bundesregierung und das Bundesversicherungsamt im Vorfeld offenbar keine Sorgsamkeit haben walten lassen; denn eine Pleite, eine Insolvenz passiert nicht von heute auf morgen. Die Mitglieder waren vollkommen überrascht; ihnen wurde die Insolvenz Anfang Mai schriftlich in einem Brief mit- geteilt. Anderen – nicht nur den Fachleuten, sondern auch der Exekutive, der Regierung – war bekannt, dass hier möglicherweise eine Insolvenz ansteht. (Zuruf von der CDU/CSU: In Berlin, Frau Kollegin, in Berlin! Was hat denn Ihre Regie- rung gemacht?) Infolgedessen hätten hier schon längst Vorbereitungen getroffen werden können. Sie sollten sich also nicht so viel einbilden und nicht sagen, dass nur andere schuld sind; auch Ihre Regierung hat versagt. (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Wer ist denn die Aufsichtsbehörde bei der AOK in Berlin?) – Das Land Berlin hat keine eigene Kassenaufsicht mehr, weil es keine eigenen Kassen mehr hat. Das soll- ten Sie einmal überprüfen. Gleich wird aber noch eine Berlinerin sprechen, die sich dazu äußern kann. Sie kön- nen es selbstverständlich auch kollegial untereinander klären. Zum Thema Fusionen. Ja, wir wollen, dass es weniger Kassen gibt. Das muss aber geregelt ablaufen, damit sol- che Zustände nicht mehr auftreten. Zum Thema Kassenbeiträge und vor allen Dingen Zu- satzbeiträge. Der Wettbewerb über den Preis, den Sie einführen, wird auf den Schultern von Kranken, Älteren und Behinderten stattfinden. Diese Form von Wettbe- werb über den Preis wollen Sie durch ihr neues Versor- gungsgesetz sogar noch ausbauen. Das, was jetzt pas- siert, ist demnach nur der Vorbote eines Flächenbrandes, den Sie in der Bundesrepublik Deutschland im Sommer verursachen werden. Wir werden sehen, ob Sie am Ende, wenn die Zusatzbeiträge 50 oder 70 Euro betragen, wo- von viele Experten und Expertinnen längst ausgehen, immer noch zu Ihren Zusatzbeiträgen stehen. Die SPD Berlin war die einzige politische Institution in Berlin, die ganz konkrete Hilfs- und Unterstützungs- angebote für die Versicherten der City BKK unterbreitet hat. Das gilt insbesondere für den Kollegen Thomas Isenberg, den gesundheitspolitischen Sprecher der SPD- Fraktion im Abgeordnetenhaus, der ein Beschwerdetele- fon, eine Hotline eingerichtet hat, die rege genutzt wor- den ist. (Lars Lindemann [FDP]: Er hätte nur die Nummer Ihrer Sozialsenatorin aufschreiben müssen!) Somit hat er individuelle Unterstützung geboten. Das hat sonst niemand gemacht. Wir haben also nicht nur dem Recht auf die Sprünge geholfen, sondern auch tatsächli- che Unterstützung geleistet. Das danken uns die Bürger und die Bürgerinnen. Zu den Kassenvorständen: Ja, es ist gut, dass öffentli- che Entschuldigungen erfolgt sind. Entschuldigen allein reicht aber nicht. Wir wachen mit Argusaugen darüber, ob den Worten jetzt auch Taten folgen. Das sei hier ein- mal ganz deutlich gesagt. (D) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12659 Mechthild Rawert (A) (C) (D)(B) Zum Ende meiner Rede möchte ich auf die Beschäf- tigten der Kassen eingehen. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter hatten es schwer, auch wenn ihre Kasse die Versicherten in eine missliche Lage gebracht hat. Ich bitte aber, zu bedenken, dass die Beschäftigten der Kassen, die sich in Insolvenz befinden, nicht einfach entlassen und zu Schuldigen erklärt werden dürfen. Es ist auch unsere Aufgabe, aufseiten der Beschäftigten zu stehen. Infolgedessen sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der Anwalt der Patienten und Patien- tinnen, der Anwalt der Versicherten und der Anwalt der Beschäftigten. (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Wenn Sie die Anwälte sind, dann tun Sie doch etwas!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Wer den Eindruck erweckt, dass der Grund für die Schließung der City BKK allein in der Entwicklung der letzten Monaten liegt, der verkennt die Geschichte der City BKK. (Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich gesagt! Das hat einen Vorspann!) Die City BKK hat schon meinen Vorvorgängern im Amt des Gesundheitsministers viele Sorgen bereitet. Die City BKK gäbe es heute schon längst nicht mehr, wenn diese Koalition im Rahmen der Finanzierungsreform nicht eine Entscheidung getroffen hätte, die der City BKK eine zweite Chance eröffnete. Erinnern wir uns doch einmal an die Situation zu Be- ginn dieser Legislaturperiode – es wurde ja der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge etwas Neues sind; es wurde der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge die Ursache für das Problem sind –: Zu Beginn dieser Legis- laturperiode drohte für das Jahr 2010 ein Milliardendefi- zit. Der Gesundheitsfonds mit gedeckelten Zusatzbeiträ- gen wurde von SPD und Union eingeführt. Meine Vorvorgängerin, Frau Schmidt, hat mich gleich in meiner ersten Woche im Amt scharf kritisiert, wie ich der Presse entnehmen konnte. Sie hat gesagt, die SPD habe damals ein viel klügeres Konzept auf den Weg gebracht, indem sie gedeckelte Zusatzbeiträge beschlossen habe. Hätten wir an diesem Finanzierungskonzept festgehal- ten – für das Jahr 2010 drohte ein Defizit von etwa 8 Milliarden Euro –, dann würden wir heute nicht über die Schließung der City BKK diskutieren. Dann hätten wir massenweise Kasseninsolvenzen erlebt. Daher sage ich: Von Ihnen, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, brauche ich keine Ratschläge, wie wir mit der Situation der Krankenkassen umzugehen haben. Das, was Sie uns hinterlassen haben, hätte zu einer massiven Ver- unsicherung der Versicherten geführt. Das hätte zu Kas- seninsolvenzen ohnegleichen geführt. Deswegen sage ich Ihnen: Diese Koalition hat für ein stabiles, nachhaltiges und sicheres Finanzierungskonzept der gesetzlichen Krankenversicherungen gesorgt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlechter Scherz!) Schauen wir uns doch einmal die City BKK an. Die City BKK hatte in der Zeit, in der es noch keinen Ge- sundheitsfonds und keinen einheitlichen Krankenkassen- beitrag gab – dieser war gewollt –, den höchsten Bei- tragssatz aller gesetzlichen Krankenkassen. Er betrug 17,4 Prozent, als der Beitragssatz durchschnittlich 14 Prozent betrug. Da gab es für die Versicherten übri- gens weniger Transparenz im Wettbewerb. Herr Kollege Kuhn, Sie haben die prozentualen Beitragssätze so ge- lobt. Hierzu sage ich Ihnen: Wir stellen fest, dass die Zu- satzbeiträge für die Versicherten eine viel größere Trans- parenz bedeuten, um ihre Krankenkasse in Euro und Cent mit einer anderen vergleichen zu können. Das führt zu einem Wettbewerb, bei dem sich die Versicherten für eine Krankenkasse ihrer Wahl entscheiden. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie höhlen die Solidarität aus!) Deswegen ist für die Versicherten der Zusatzbeitrag das überlegene Finanzierungsinstrument gegenüber dem al- ten, intransparenten System von Rot-Grün. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zur Wahrheit gehört aber auch – das ist bereits ange- sprochen worden –, dass die City BKK schon einige Male kurz vor der möglichen Schließung stand. Die Große Koalition hat die gesetzgeberischen Vorausset- zungen zur Schließung von Kassen auf den Weg ge- bracht. Die christlich-liberale Koalition hat das Ganze umgesetzt, sodass im Fall der City BKK die Schließung möglich war. Man darf aber bei aller Verunsicherung, die unter den Versicherten herrschte und die mir als Gesundheitsmi- nister Sorgen gemacht hat, nicht unberücksichtigt lassen, dass die Versicherten zu keinem Zeitpunkt ihren Versi- cherungsschutz verlieren. Die Versicherten erhielten ein Schreiben, in dem steht: Sie verlieren Ihren Versiche- rungsschutz nicht. Bis zur Schließung der City BKK am 30. Juni haben Sie weiterhin den vollen Versicherungs- schutz bei Ihrer Krankenkasse. Wenn Sie sich bis zu die- sem Zeitpunkt nicht für eine andere Krankenkasse ent- scheiden, werden Sie automatisch überführt und nahtlos einer anderen Krankenkasse zugeordnet. Aufgrund der anfänglichen Unsicherheit mussten wir natürlich öffentlich reagieren. Wir sind über Bürgerhot- lines, Öffentlichkeitsarbeit, Anzeigenschaltungen und weitere exekutive Maßnahmen tätig geworden, um den Versicherten die Unsicherheit zu nehmen. Sie behalten ihren Versicherungsschutz. Sie können die Zeit nutzen, um sich frei nach einer anderen Krankenkasse ihrer Wahl umzusehen. (Beifall bei der FDP) 12660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Bundesminister Daniel Bahr (A) (C) (D)(B) Einzelne Leistungserbringer in Berlin und in Ham- burg haben sich entschieden, Versicherte nicht zu behan- deln. Dieses Verhalten ist ganz klar nicht in Ordnung. Es gibt ganz klare gesetzliche Regelungen. An diese Rege- lungen halten wir uns auch. Mit unserem aktiven Ein- greifen haben wir dazu beigetragen, die Verunsicherung der Versicherten und Patienten abzubauen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Werfen wir einen Blick auf die Debatten zu diesem Thema. Ein Vorschlag sieht vor, die Versicherten bei der Schließung einer Krankenkasse sofort allen anderen Krankenkassen zuzuordnen. Ich sage Ihnen: Das wäre der falsche Weg; denn die freie Wahl der Krankenversi- cherung ist ein hohes Gut, um das uns im Übrigen an- dere Länder beneiden. Dieses hohe Gut, nämlich dass die Versicherten ihre Krankenkasse selbst wählen kön- nen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, son- dern wir müssen es unbedingt erhalten. Wir wollen nicht, dass Patienten und Versicherte zu Bittstellern einer Krankenkasse werden oder möglicher- weise sogar gar keine Wahl mehr haben und einer Ein- heitskasse beitreten müssen. Für uns ist die Kassenvielfalt und die freie Wahl der gesetzlichen Krankenversicherung ein so hohes Gut, dass wir alles daransetzen werden, die- ses zu erhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Damit ist aber auch klar: Das Abwimmeln und das Verhalten, das wir erlebt haben, ist nicht nur rechtswid- rig, sondern auch unanständig gewesen. Wir wollen den Wettbewerb erhalten, und wir wollen, dass der Versi- cherte Recht und Anspruch darauf hat, von einer Kran- kenkasse genommen zu werden. Wenn aber gerade ältere Versicherte, die häufig nicht mobil sind, zu einer Kran- kenkasse geschickt werden, die am anderen Ende der Stadt Berlin liegt, wenn ältere Versicherte am Telefon abgewimmelt werden, weil alle Leitungen besetzt sind, und Geschäftsstellen geschlossen werden, weil angeb- lich wichtige Sitzungen der Mitarbeiter stattfinden, dann ist das ein Verhalten – da können wir, glaube ich, für das ganze Haus sprechen –, das wir als Abgeordnete auf- grund der Gesetzeslage nicht akzeptieren können und auch nicht akzeptieren wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb müssen wir gemeinsam dagegen angehen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie dieses Pro- blem gelöst werden kann. Die Linke hat vorgeschlagen, einfach darauf zu verzichten, dass Kassen geschlossen werden. Ich habe in der Presse gelesen, dass die Insol- venz einer Krankenkasse nicht möglich sein soll. Ich glaube, dass das nicht im Interesse der Versicherten ist. Was ist das denn für ein Anreiz für die Krankenkassen, die solide wirtschaften und ihre Hausaufgaben machen? Wir als Versicherte wollen doch, dass die Krankenversi- cherungen mit den Pflichtbeiträgen ihrer Beitragszahler sorgsam umgehen. Wenn eine Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben macht, Verwaltungskosten reduziert, ih- ren Service verbessert, ihre Leistungen verbessert und die Arbeit für ihre Versicherten besser erledigt, dann soll sie doch bitte schön davon profitieren können. Eine Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt und die ihre Verwaltungskosten nicht reduziert, soll nicht noch die Unterstützung der anderen bekommen. Wir sind für einen leistungsorientierten und fairen Wettbewerb, sodass sich das Sparen und der sorgsame Umgang mit dem Geld der Versicherten auch für die Versicherten der eigenen Krankenversicherung lohnt. Deshalb braucht es diesen Ansatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die SPD hat vorgeschlagen, man solle einfach die Zu- satzbeiträge abschaffen. Das ist ja ein schöner Vor- schlag, lieber Herr Lauterbach. Sie haben auch nichts an- deres vorgeschlagen. Wenn wir die Zusatzbeiträge heute abschaffen würden, dann würden wir nicht nur über die Insolvenz der City BKK sprechen, sondern auch über die der DAK, der KKH und vieler anderer. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber nicht nur! – Mechthild Rawert [SPD]: Arbeitgeber weiter einbeziehen!) – Sie haben hier vorgetragen, dass dies Ihr Vorschlag ist. – Andere Krankenkassen, die Millionen von Versi- cherten haben und im Moment einen Zusatzbeitrag ver- langen müssen, wären dann auch von einer Insolvenz be- droht. Sie könnten die Versorgung ihrer Versicherten nicht finanzieren, wenn sie keinen Zusatzbeitrag mehr verlangen dürften. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürgerversicherung!) Deswegen löst dieser Vorschlag der SPD das Problem, vor dem wir stehen, nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- ruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Sie haben vorgeschlagen – das ist typisch; das ma- chen Sie jedes Jahr –, den Ausgleich auszuweiten. Das haben wir gemacht. Es war Ihr Vorschlag, den Kranken- kassenausgleich auf die Krankheitsbilder auszuweiten. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Genau!) Bisher waren es nur Alter, Geschlecht und einige wenige andere Kriterien. Sie haben durchgesetzt, es auf 80 Krank- heitsbilder auszuweiten. Das heißt, schon heute werden schlechte Risiken, Versicherte mit Krankheiten, stärker berücksichtigt als früher. Aber das scheint das Problem immer noch nicht zu lösen. Ich sage Ihnen: Sie werden nie einen Ausgleich erreichen, der die unterschiedlichen Risiken zu 100 Prozent abdecken kann. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um dieses Pro- blem komplett zu lösen, und das, lieber Herr Lauterbach – in Wahrheit wollen Sie von der SPD dies wohl –, ist eine staatliche, zentralistisch gelenkte Einheitskasse. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nein! Wir wollen Wettbewerb und Qualität!) Aber dann wären die Patienten Bittsteller bei einer Ein- heitskasse. Sie hätten dann nicht mehr die Möglichkeit, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12661 Bundesminister Daniel Bahr (A) (C) (D)(B) die Krankenversicherung selbst zu wählen. Dann hätten wir keinen Wettbewerb mehr. Dann würde mit den Bei- tragsgeldern nicht mehr sorgsam umgegangen werden. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie halten die Bür- ger wirklich für dumm!) Deswegen sage ich Ihnen, dass das keine Lösung ist. Wir haben die Lösung auf den Weg gebracht. Wir ha- ben die Sanktionsmöglichkeiten für die Aufsichten ver- schärft. Das war notwendig, damit die Aufsichten besser durchgreifen können. Wir haben einen unbürokratischen Weg gefunden, damit die Versicherten eine freie Wahl der Kassen haben und unbürokratisch durch das Ankreu- zen auf einem Formular selbst und schnell die Kranken- kasse ihrer Wahl aussuchen können. Das ist notwendig, damit das hohe Gut der freien Wahl der Kassen und der sorgsame Umgang mit Beitragsgeldern weiterhin ge- währleistet bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen die Soli- darität!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Harald Weinberg (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bahr, die Re- duzierung der Lösungsvorschläge der Oppositionspar- teien auf Details, um dann draufzuschlagen, ist kein gu- ter politischer Stil. (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Sie wissen ganz genau, dass unser Konzept beispiels- weise die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversiche- rung beinhaltet und nicht einfach nur die Zusatzbeiträge. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was hat das mit der City BKK zu tun?) Insofern ist Ihr Verhalten, denke ich, politisch nicht ganz korrekt. (Beifall bei der LINKEN) Erst einmal zu den Fakten. Wir haben erlebt, wie eine Betriebskrankenkasse, die City BKK, pleitegegangen ist. Wir haben große Verunsicherung bei den Versicherten er- lebt. Wir haben die Bilder gesehen, die Schlangen vor den Geschäftsstellen anderer Kassen gezeigt haben. Wir ha- ben erfahren, dass Versicherte von Pontius zu Pilatus ge- schickt wurden. Wir haben das Einteilen der Versicherten in gute Risiken und schlechte Risiken erlebt, also in Junge und Gesunde sowie in Ältere und Kranke. Dieses Denken kannten wir bisher nur aus der privaten Versicherungs- wirtschaft. Es wurden einige Fälle bekannt, bei denen Ärzte die medizinische Versorgung von City-BKK-Versi- cherten verweigert haben. Herr Lanfermann, bei dieser Gelegenheit: Das Wichtigste für die Versicherten ist eine sichere Versorgung und nicht die freie Wahl zwischen den Kassen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD] – Heinz Lanfermann [FDP]: Das hängt davon ab!) All dies hat zu einer weiteren großen Verunsicherung ge- führt, zu einem großen Imageschaden. All dies ist – das sage ich in aller Deutlichkeit – rechtswidrig. Jetzt drohen Sie mit Sanktionen gegen die Kassen und deren Vorstände. Aber ist es nicht auch ein enormer Imageschaden für die Gesundheitspolitik als Ganzes, eine Gesundheitspolitik, die seit Jahren das Solidarprin- zip schwächt und auf Wettbewerb setzt? Wir erleben die Nebenwirkungen eines Denkens, das Jens Spahn kurz nach dem Schließungsbeschluss in aller Klarheit auf den Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Wir wollen den Wett- bewerb zwischen den Krankenkassen. Dazu gehört auch, dass erfolglose Kassen vom Markt verschwinden.“ Nur damit keine Unklarheit aufkommt: Auch wir sind nicht für einen unbegrenzten Bestandsschutz für jede Kasse, wenn sie schlecht wirtschaftet. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) Aber es stünde auch der Weg der Fusion zur Verfügung. Bei der Insolvenz sind die Folgen, zum Beispiel die große Verunsicherung, die sie ausgelöst hat, wohl nicht richtig bedacht worden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Also Zwangsfusio- nen?) Dass viele relativ gleichzeitig bei anderen Kassen anfra- gen, was organisatorisch zu bewältigen ist, dass rund 50 000 City-BKK-Versicherte noch überhaupt nicht rea- giert haben und dass sich die Frage stellt, in welche Kasse sie jetzt kommen, ist doch beim Beschluss der In- solvenz absehbar gewesen. Wenn Herr Montgomery mit dem einfachen Vorschlag punkten kann – der Vorschlag ist hier schon ein paar Mal genannt worden –, man möge den Versicherten ein Formular zuschicken, auf dem sie die Kasse ihrer Wahl ankreuzen könnten, dann fragt man sich, warum vorher niemand im Bundesministerium auf diese Idee gekommen ist. (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Weil wir die Kassen für intelligent ge- nug gehalten haben!) Stattdessen gefällt sich Gesundheitsminister Bahr in der Pose des Rächers der Entrechteten und droht den Kassen mit Sanktionen. (Mechthild Rawert [SPD]: Ach, der macht nichts!) Das ist ein wenig wie ein Einbrecher, der laut „Haltet den Dieb!“ ruft. (Heiterkeit und Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Die Wurzeln dieser Vorkommnisse liegen in der ver- fehlten Gesundheitspolitik. Ist das Verhalten der Kran- 12662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Harald Weinberg (A) (C) (D)(B) kenkassen wirklich überraschend? Wettbewerb fördert immer eigennütziges Verhalten. Wer gesetzliche Kran- kenkassen wie Unternehmen behandelt und behandeln will, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten handeln, sondern der Marktlogik folgen. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das ist bei Behörden nicht anders!) Menschen, die sich für die Kassen nicht rentieren, bleiben nach dieser Logik auf der Strecke. Betroffen sind vor allen Dingen alte und kranke Bürgerinnen und Bür- ger. Der Druck auf die Krankenkassen ist durch Ihre Politik inzwischen so groß geworden, dass sie offenbar auch Rechtsverstöße – skandalöse Rechtsverstöße – in Kauf nehmen, um nicht selbst in den Abwärtsstrudel aus Finanznot, Zusatzbeiträgen und Verlust von Versicherten zu geraten. Noch einmal – damit das klar ist –: Dieses Verhalten ist rechtswidrig und durch nichts zu entschul- digen. Es ist eindeutig ein Produkt von falschen Anrei- zen und einer fatalen Marktgläubigkeit. (Beifall bei der LINKEN) Das Ganze hat eine lange Geschichte. Seit Jahren wird das Solidaritätsprinzip systematisch aus der gesetz- lichen Krankenversicherung verdrängt. Der Wettbewerb zwischen Krankenkassen wurde von der schwarz-gelben Bundesregierung unter Kohl im Rahmen des Gesund- heitsstrukturgesetzes 1992 eingeführt. Rot-Grün hat die Wettbewerbslogik beibehalten und den Finanzdruck auf die Kassen noch erhöht. Gleichzeitig wurde durch einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, den die Versicherten leisten müssen, und die Einführung und Er- höhung von Zuzahlungen die paritätische Finanzierung aufgekündigt. Die Möglichkeiten für Kasseninsolvenzen wurden 2007 unter Schwarz-Rot, also von der Großen Koalition, im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen. Im selben Gesetz wurden auch die allgemeinen Beitrags- sätze vereinheitlicht und dafür gedeckelte Zusatzbeiträge eingeführt. Schwarz-Gelb hat den Wettbewerb als we- sentlichen Ordnungsfaktor für das Gesundheitswesen in den Koalitionsvertrag geschrieben und mit ungedeckel- ten Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale, ein Instrument geschaffen, das den Preiswettbewerb zwischen den Kas- sen weiter anfacht, und das, obwohl klar ist, dass dies eine Politik gegen die Interessen der Menschen ist. (Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!) Das Sinus-Institut hat jüngst eine Studie durchge- führt, in der die Einstellung der deutschen Bürgerinnen und Bürger zur medizinischen Versorgung untersucht wurde, im Übrigen im Auftrag einer der Nähe zu uns mit Sicherheit völlig unverdächtigen Stiftung, nämlich der Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Studie hat zwei we- sentliche Ergebnisse hervorgebracht. Erstens. Das Vertrauen in das deutsche Gesundheits- system schwindet schon jetzt; die Menschen sind verun- sichert. Diese Verunsicherung wird in einen Zusammen- hang mit einer radikalen Wettbewerbsrhetorik gebracht, die leider nicht nur Wettbewerbsrhetorik, sondern in der Tat auch Wettbewerbspolitik ist. Zweitens. Die Mehrheit, 80 Prozent, und zwar unab- hängig vom Einkommen – hohe Einkommen und nied- rige Einkommen – und unabhängig vom Alter – Junge und Alte –, gab an, dass die Solidarität als Kerngedanke der Krankenversicherung erhalten bleiben müsse. Da- nach müssen wir unsere Politik in Zukunft ausrichten. (Beifall bei der LINKEN) Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass die Ver- unsicherung aus der Wettbewerbsorientierung resultiert und die Menschen eine andere, solidarisch ausgerichtete Gesundheitspolitik wünschen. Dies haben auch einige Unionspolitiker bereits ka- piert. Max Straubinger zum Beispiel, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach, der war doch schon immer gegen den Fonds!) der heute bezeichnenderweise nicht hier ist, hat dies, wie ich denke, schon ein Stück weit gespürt. Er ist nämlich ein bisschen näher bei den Menschen als beispielsweise Sie, Herr Lanfermann. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Max Straubinger war früher schon dagegen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Harald Weinberg (DIE LINKE): Ja. – Mein letzter Satz: Von dieser Bundesregierung und einem FDP-dominierten Gesundheitsministerium ist keine Wende zum Besseren zu erwarten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es wird Zeit für einen Politikwechsel. Es wird Zeit, die- ser Regierung die Rote Karte zu zeigen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zu die- sem Debattenpunkt ist alles Wesentliche gesagt. (Mechthild Rawert [SPD]: Dann wird es ja eine kurze Rede!) Ich möchte die beiden wesentlichen Facetten dieser Diskussion aus meiner Sicht zusammenfassen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir mit dieser Diskus- sion an die Menschen vor dem Bildschirm folgendes Si- gnal senden: Kein einziger der Menschen, die, wie wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12663 Stefanie Vogelsang (A) (C) (D)(B) im Fernsehen oder auf Fotos gesehen haben, bei der AOK-Außenstelle in Berlin-Weißensee Schlange gestan- den haben, ist ein Bittsteller. Nicht ein einziger der Men- schen, die von der City BKK zu einer anderen Kranken- kasse wechseln müssen, muss darum bitten, in eine andere Kasse wechseln zu dürfen, sondern die Menschen haben darauf einen Rechtsanspruch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erwin Lotter [FDP]) Die gewählte Krankenkasse darf ihren Antrag auf Mit- gliedschaft nicht abweisen. Ihr Alter, ihr Geschlecht und ihr Gesundheitszustand dürfen dabei keine Rolle spielen. Außerdem können sich die Menschen ganz sicher sein, dass keine angefangene Behandlung in irgendeiner Art und Weise abgebrochen werden darf, sondern sie ha- ben einen Rechtsanspruch darauf, dass die gesamte Be- handlung zu Ende geführt wird und die Kosten dafür von der neuen Kasse übernommen werden. Es gibt aber eine weitere Facette dieser Bilder aus Berlin-Weißensee: Die Menschen in unserer Republik werden zunehmend verunsichert, und man hat das Ge- fühl, sie würden zu Bittstellern. Deswegen finde ich es ganz besonders wichtig, dass auch die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition, Frau Rawert, hier klar und deutlich sagen, was Sache ist, und nicht für einen ver- meintlichen Vorteil im Wahlkampf hier in Berlin eine Hotline der Fraktion schalten und das als anwaltliche Leistung verstehen. (Mechthild Rawert [SPD]: Gesundheit ist ein existenzielles Gut, und wir haben den Leuten geholfen!) – Selbstverständlich, aber Sie sind nicht die Einzigen, die eine Hotline geschaltet haben; (Mechthild Rawert [SPD]: Haben Sie es getan?) denn zum Beispiel auch die Kassenaufsicht in Branden- burg, an die man hier in Berlin die Aufsicht abgetreten hat, hat sofort eine Hotline geschaltet und versucht, die Menschen zu informieren. (Diana Golze [DIE LINKE]: Rot-rote Landes- regierung in Brandenburg!) Wesentlicher Punkt ist aber: Wenn Sie sich die Versi- chertenstruktur der City BKK anschauen, (Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich!) dann sehen Sie – das haben Sie vielleicht auch –, dass von den Versicherten hier in Berlin über die Hälfte Rent- nerinnen und Rentner sind und dass von der anderen Hälfte 15 000 Menschen Leistungen nach dem SGB II oder Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Sie sehen also, dass diese Menschen wahrscheinlich einer größe- ren Hilfe bedürfen. (Mechthild Rawert [SPD]: Wir haben geholfen!) Ich finde es schon ein Stück skandalös, wie die ge- setzlichen Krankenkassen im Land Berlin, aber auch in Hamburg und anderen Regionen, die immer mit diesem hehren Bild der Solidarität aufgetreten sind – wir halten zusammen –, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit rot-roter Aussicht!) mit diesen Menschen umgegangen sind, dass sie sich weggeduckt haben, Außenstellen am Stadtrand eröffnet haben oder nicht ansprechbar waren. Ich glaube, dass dieser Imageschaden für die gesetz- lichen Krankenkassen ganz wesentlich ist und dass mitt- lerweile alle erkannt haben – auch die Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung –, dass es einen sol- chen Vorfall nie wieder geben darf. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich entschuldigt!) – Sie haben sich entschuldigt. Ich möchte hier sagen – vielleicht auch für alle Ver- treterinnen und Vertreter dieses Hauses –, dass ich nach der Schließung einer Krankenkasse nicht noch ein einzi- ges Mal solche Bilder in unseren Zeitungen sehen möchte. Ich gehe fest davon aus, dass es einen solchen Vorgang wie den nach der Insolvenz der City BKK in Zukunft nicht mehr geben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der einen Seite gibt es unsere gesetzlichen Rege- lungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass es Tricksereien hin und her gegeben hat, um Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken – dass man so über Menschen reden kann, ist auch fragwürdig – hin und her schieben zu können. Wir müssen den Finger in die Wunde legen und gemeinsam darauf achten, dass wir die Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken gut in- formieren, dass wir ihnen eine besondere Hilfestellung geben und dass diejenigen in den Vorständen, die hier tricksen, dafür auch bestraft werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Frak- tion. (Beifall bei der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Ich denke, in einem Punkt sind wir uns alle hier im Hause einig: Das Verhalten einiger Krankenkassen nach der Pleite der City BKK ist inakzeptabel und skandalös. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Umfang und auch die Dreistigkeit, mit der gerade ältere Menschen verunsichert und letztlich abgewimmelt worden sind, sind erschreckend. Deshalb ist es auch richtig und angemessen, dass dieses Verhalten im Deut- schen Bundestag mit deutlichen Worten verurteilt wird. 12664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Carola Reimann (A) (C) (D)(B) Ebenso richtig und nachvollziehbar ist der Ruf nach Sanktionen und auch nach Maßnahmen, die den Kassen- wechsel im Falle einer Kassenschließung weiter verein- fachen. Herr Minister Bahr, das reicht aber nicht. (Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!) Ganz in der Tradition Ihres Vorgängers kündigen Sie jetzt mit markigen Worten große Taten an. Doch an die Grundprobleme des Systems wagen auch Sie sich nicht. Dass an den gegenwärtigen Problemen nicht nur die ge- setzlichen Kassen schuld sind, haben inzwischen auch Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfrak- tionen gemerkt. Der CSU-Kollege Straubinger, der heute nicht anwesend ist, scheint – das ist schon erwähnt wor- den – bei Fonds, Spitzenverband und Zusatzbeiträgen ei- niges durcheinandergebracht zu haben. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Er war schon gegen den Fonds, als ihr noch dafür ward!) Aber zumindest hat er gemerkt, dass das Problem tiefer liegt. Denn unabhängig von dem skandalösen Fehlver- halten muss man sich fragen, wieso es nach wie vor für einige Kassen erstrebenswert ist, ältere und kranke Ver- sicherte gar nicht erst zu versichern. Offensichtlich herrscht im System kein wohlverstan- dener Wettbewerb, sondern ein schädlicher Wettbewerb (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] und Harald Weinberg [DIE LINKE]) um die jungen, gesunden Versicherten, während die Al- ten und Kranken Steine in den Weg gelegt bekommen. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke, der Wettbewerb herrscht zwischen Städtern und Landleuten!) Gerade deshalb haben wir unter Ministerin Schmidt den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einge- führt. Gesunden Wettbewerb im System der gesetzlichen Krankenversicherung erreichen wir nämlich nur, wenn Kassen mit vielen kranken und älteren Versicherten kei- nen finanziellen Nachteil daraus haben. Die seinerzeit von der Union durchgesetzte Beschrän- kung des Risikostrukturausgleichs auf 80 Erkrankungen belässt aber weiterhin Anreize zur Risikoselektion auf- seiten der Krankenkassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Genau das haben wir im Fall der City BKK noch einmal deutlich vor Augen geführt bekommen. Wir fordern des- halb die Abschaffung der Begrenzung auf 80 Erkrankun- gen; denn nur so können wir die falschen Anreize für die Kassen unterbinden und für einen fairen Wettbewerb sorgen, von dem auch alle Versicherten profitieren kön- nen. (Beifall bei der SPD) Der Fall City BKK zeigt, dass es höchste Zeit ist, mit falschen Anreizen im System Schluss zu machen und da- für zu sorgen, dass der Risikostrukturausgleich weiter ausgebaut wird. Dazu habe ich weder vom Minister noch von den Koalitionsfraktionen etwas gehört. Ihr Koali- tionsvertrag fordert sogar, den Risikostrukturausgleich zurückzufahren. Auch Minister Bahr zieht seit Jahren gegen den Risi- kostrukturausgleich zu Felde. Es ist geradezu absurd: Sie beklagen auf der einen Seite medienwirksam die Ableh- nung Kranker und Alter, tun auf der anderen Seite aber rein gar nichts dafür, die Anreize zu dieser Ablehnung zu beseitigen. Auch heute haben wir nichts dazu gehört. Schlimmer noch: Sie verfolgen eine Gesundheitspolitik, die diese Anreize sogar noch verstärkt. Herr Minister, Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, der Kollaps der City BKK und das Chaos als Folge daraus sind ein ernstzunehmender Warnschuss. Das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und die Abwälzung aller künftigen Kostensteigerungen auf die Versicherten in Form unbegrenzter Zusatzbeiträge, verbunden mit einem unzureichenden Risikostrukturaus- gleich, werden zu einem verschärften schädlichen Wett- bewerb führen. (Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das fürchte ich auch!) Junge, gesunde und flexible Versicherte werden bei steigenden Zusatzbeiträgen flüchten. Die Alten und Kranken bleiben zurück, weil sie sich mit einem Kassen- wechsel aus verschiedenen Gründen schwerer tun. In der Folge geraten die betroffenen Kassen immer mehr in eine finanzielle Schieflage bis hin zur Insolvenz mit den Auswirkungen, die wir gerade bei der City BKK erlebt haben. Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie diesen Warn- schuss ernst! Es ist der Hinweis auf eine Fehlentwick- lung, die Sie nicht mit Strafen und Sanktionen für gesetzliche Kassen in den Griff bekommen werden, son- dern nur, indem Sie die gesundheitspolitischen Fehlent- scheidungen Ihres Vorgängers zurücknehmen. Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Lars Lindemann für die FDP-Frak- tion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lars Lindemann (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde von den Vorrednern heute schon viel gesagt. Wir alle haben die Bilder gesehen. Wir alle haben das Vorgehen einhellig verurteilt. Es ist die originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, Versicherungsschutz anzubieten. Deren originäre Aufgabe ist es auch, im Fall einer Insol- venz die Versicherten der insolventen Krankenkasse auf- zunehmen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12665 Lars Lindemann (A) (C) (D)(B) Es geht aber nicht nur um die Vorgehensweisen be- stimmter Krankenkassen und ihrer Vorstände, die wir schlicht als rechtswidrig bezeichnen müssen. Zur Wahr- heit gehört auch: Die Pleite der City BKK hat sich lange angedeutet. Alle Beteiligten – ich betone: alle Beteilig- ten – konnten sich darauf vorbereiten, sowohl die Kran- kenkassen als auch die Politik. Wir als politisch Verant- wortliche auf Bundesebene durften darauf vertrauen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Regeln einhal- ten werden, die wir ihnen gegeben haben. Interessant ist aber, dass gesetzliche Krankenkassen, die bekannt dafür sind, dass sie hohe moralische Ansprüche an alle Betei- ligten im System haben, hier die Ersten sind, die dies für sich nicht mehr gelten lassen wollen. Insoweit stellt sich die Frage: Wie moralisch und wie solidarisch ist dieses Vorgehen in genau diesem Moment? (Mechthild Rawert [SPD]: Die PKV macht es uns schon die ganze Zeit vor!) – Liebe Kollegin Rawert, es geht um den Moment. Wir von der Koalition jedenfalls werden das so nicht hinnehmen. Dieses Verhalten wird zu Konsequenzen führen, die wir gesetzlich implementieren werden. Wir werden dabei auch darauf achten, dass die Konsequen- zen diejenigen treffen werden, auf die es dabei an- kommt, nämlich die Vorstände der Krankenkassen und deren Verbände. Es soll sich niemand falsche Hoffnun- gen machen: Die Koalition wird diese Sache ganz unauf- geregt besprechen. Es geht darum, dass sich die Men- schen in diesem Land auf die Wirkung der vom Gesetzgeber für den Fall einer Insolvenz geschaffenen Regelungen verlassen können, gerade vor dem Hinter- grund, dass diese auch wirken müssen, wenn in Zukunft andere Krankenkassen von einer Insolvenz betroffen sind, unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große Krankenkassen handelt. Es geht darum, einen Mechanis- mus, der zu einem funktionierenden System gehört – nach unserer Auffassung auch der Marktaustritt –, funktionsfähig zu halten. Der Marktaustritt von Kran- kenkassen und auch – das füge ich hinzu – von Leis- tungserbringern (Mechthild Rawert [SPD]: Was ist denn Marktaustritt?) muss zur positiv erlebbaren Realität in diesem Land ge- hören. Es kann nicht sein, dass die Beteiligten dann, wenn gesetzlich vorgesehene Fälle eintreten, versuchen, Konflikte auszutragen, die nicht dorthin gehören. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kann schon! Darf nicht!) Dazu gehört ganz ohne Zweifel, dass diejenigen, die nicht in der Lage sind, unter Beachtung der gegebenen Regeln einen Beitrag zu leisten, ausscheiden müssen. (Mechthild Rawert [SPD]: Marktaustritt ist In- solvenz!) Nun sprechen Sie, liebe Kollegen von der SPD, von einem perversen Wettbewerb – so hat es Herr Kollege Lauterbach bezeichnet –, der durch die Erhebung oder die bewusste Vermeidung von Zusatzbeiträgen entsteht. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, die Zu- satzbeiträge eingeführt haben, und zwar – im Gegensatz zu uns – ohne Sozialausgleich für die Versicherten. (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Wo ist denn der Sozialausgleich?) Wir haben den Sozialausgleich – dazu stehen wir weiter- hin – mit der Überlegung gekoppelt, dass der Wettbe- werb darum, ob eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt oder nicht, zu einer Veränderung der Krankenkas- senlandschaft führen kann. Wenn Sie, liebe Kollegen von der SPD, erklären, das sei nicht Ihr Ziel – das dürfen Sie –, dann hält uns das nicht davon ab, das zu tun. Aber es lässt sich eines festhalten: Der Zusatzbeitrag, den Sie eingeführt haben, war nichts anderes als der schlichte Griff in die Tasche der Versicherten ohne Sozialaus- gleich (Zuruf von der LINKEN: Wo bleibt denn der Sozialausgleich?) und ohne Elemente, die die Erhaltung der Leistungsfä- higkeit des Gesamtsystems im Blick haben. Dies aber ist unser Ansatz. Insoweit kann ich Ihren Stellungnahmen etwas abgewinnen, wenn es um die Zielsetzungen geht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Der ist zu den Grünen gegangen, bei der Kra- watte!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Krawattenfarbe entscheidend ist, dürfte ich nie eine rote tragen. Das tue ich aber gelegentlich. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich trage auch schon mal eine lilafarbene Krawatte. Die meisten meiner Krawatten sind gemustert. Die Krawatte, die ich gerade trage, weist auch etwas Blau auf. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber der Anzug sitzt nicht!) Da es für die Versicherten, die gerade zuschauen, ein bisschen durcheinandergeht: Das Formular, mit dem man seinen Beitritt zu einer neuen Krankenkasse erklärt, ist supersimpel. Dort steht: „An die Krankenkasse“, und dann muss die Adresse eingetragen werden. Es heißt dort: Antrag auf Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse. Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beantrage ich die Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse ab – in diesem konkreten Fall – 1. Juli 2011. 12666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Rudolf Henke (A) (C) (D)(B) Dann muss man seine Daten angeben: Name, Vorname, Geburtsdatum, Straße, Postleitzahl und Ort. Man trägt ein Datum ein, unterschreibt das Formular und schickt es an die Krankenkasse. Wenn man glaubt, dass man dafür einen Beweis braucht, muss man es per Einschreiben schicken oder es persönlich dort einwerfen. Der ent- scheidende Punkt ist: Mehr Aufwand bedarf es dazu nicht. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, denjeni- gen in diese Krankenkasse aufzunehmen. Sie, die Kran- kenkasse, hat kein Wahlrecht, sich den Versicherten aus- zusuchen, sondern der Versicherte hat das Wahlrecht, sich die Krankenkasse auszusuchen. So einfach ist das. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe den Eindruck, dass die Krankenkassen die Philosophie, die dahintersteckt, dann, wenn es um an- dere geht, gerne vor sich hertragen. Vor ein paar Tagen wurde der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung „Krankenhaus Rating Report 2011“ vorgelegt, wonach sich 12 Prozent der Kranken- häuser im Insolvenzrisiko befinden. Das haben die Kran- kenkassen natürlich kommentiert. Und wie haben sie es kommentiert? Ich zitiere Herrn von Stackelberg, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spit- zenverbandes: Verluste von Krankenhäusern sind kein Indiz für eine unzureichende Finanzierungsausstattung, son- dern oft ein Zeichen von strukturellen Problemen. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Darüber hinaus hat er gesagt: Verkrustete Strukturen dürfen nicht länger konser- viert, sondern müssen aufgebrochen werden. Wir mahnen dringend eine strukturelle Bereinigung der Krankenhauslandschaft an. So Herr von Stackelberg. Wer so über andere redet, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, der hat keine Ausreden mehr, wenn sich Krankenkassen so verhalten, wie sie es getan haben, indem sie Versicherte abgewimmelt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Was sind jetzt Ihre Vorschläge?) Ich bin sehr dafür, dass auch die Leistungserbringer daran festhalten und wissen müssen, dass sie selbstver- ständlich nach Recht und Gesetz und Fachlichkeit ge- bunden sind, jeden Versicherten zu versorgen. Die Kran- kenkassen haben ja in der Verteidigung dieses Rechts eine Rolle gespielt. Genau an dieser Stelle schießen sie sich selbst ins Knie, wenn sie sich so verhalten, wie sie es jetzt getan haben, weil sie damit ihrer eigenen Glaub- würdigkeit schweren Schaden zufügen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere, achten aber nicht darauf, dass man sich auch selber daran halten muss. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich ent- schuldigt!) Es ist unentschuldbar, wenn Krankenkassen Versi- cherte abwimmeln, weil ihnen diese zu alt oder zu krank sind. Für ein solches Verhalten habe ich keinerlei Ver- ständnis. Es ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch inakzeptabel. Wir erwarten von jeder gesetzlichen Kran- kenkasse, dass sie grundsätzlich jeden mit offenen Ar- men empfängt. Kleine Korrektur zu der Ausrede, die da vagabundiert hat, also zu der Aussage der AOK Berlin-Brandenburg, man habe ja hier so viele Krankenhausbetten: In Berlin hatten wir Ende 2009 573 Betten auf 100 000 Einwoh- ner, im Bund waren es 615 Betten und in dem Bundes- land Nordrhein-Westfalen beispielsweise, aus dem ich stamme, 682 Betten. Es ist aber trotzdem so, dass die City BKK hier in Berlin in Probleme geraten ist. Auch da wird zum Teil die Verantwortung auf andere Bereiche umgelenkt. Ein zentraler Punkt in der politischen Debatte scheint mir zu sein, dass wir in der Behandlung des Zusatzbei- trages – die ganze Diskussion zeigt das wieder einmal – geradezu eine Neurotisierung in der Bevölkerung för- dern, und zwar an allererster Stelle Sie, Herr Kollege Lauterbach. Sie erklären zum einzigen Kriterium des Krankenkassenwettbewerbs: Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden. Da- mit sorgen Sie für eine Haltung, die zum Beispiel der Verbraucherzentrale Bundesverband ablehnt, (Zuruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) weil er seinen Verbrauchern und den Versicherten zuruft, dass man nicht alleine auf den Zusatzbeitrag achten darf, sondern dass man auf das Verhältnis von Leistung und Preis achten muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Konzeption, die Sie hier vertreten, ist eine Kon- zeption, bei der so getan wird, als wären die Versicherten so dumm, (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie stellen sich dumm!) dass sie nicht in der Lage sind, das Verhältnis von Preis und Leistung zu erkennen. Die wichtigste Leistung einer Krankenkasse ist, dass sie in der Lage ist, das Leistungs- versprechen, das sie gegeben hat, einzuhalten. Wenn sie dafür einen etwas höheren Beitrag erheben muss, (Mechthild Rawert [SPD]: Aber nur einseitig von den Versicherten!) dann ist dieses Geld richtig bezahlt und der Versicherte gut beraten, bei dieser Kasse zu bleiben. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bun- des-Immissionsschutzgesetzes – Privilegie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12667 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) (C) (D)(B) rung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinder- lärms – Drucksache 17/5709 – – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Ände- rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Privilegierung des von Kindertageseinrich- tungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms – Drucksache 17/4836 – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit (16. Ausschuss) – Drucksache 17/5957 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Ute Vogt Judith Skudelny Ralph Lenkert Dorothea Steiner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderlärm – Kein Grund zur Klage – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine immissions- und baurechtliche Pri- vilegierung von Sportanlagen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorrang für Kinder – Auch beim Lärm- schutz – Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925, 17/5957 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Ute Vogt Judith Skudelny Ralph Lenkert Dorothea Steiner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- minister Norbert Röttgen das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr – ich hoffe und glaube, dass das für sehr viele hier im Hohen Hause gilt –, dass wir heute die zweite und dritte Lesung des Gesetzes zur Privilegierung von Kinderlärm beraten und dann im Bundestag auch beschließen werden. Ich glaube, dass dieses Gesetzesvorhaben eine grundsätzli- che gesellschaftspolitische Bedeutung, aber auch ganz praktische Folgen hat. Zur grundsätzlichen Bedeutung möchte ich erstens Folgendes hervorheben: Dieses Gesetz trägt dazu bei, dass sich im einfachen Recht, in den einfachen Gesetzen, die Wertordnung des Grundgesetzes verwirklicht. Ge- setze müssen sich orientieren an den Werten einer Ge- sellschaft und insbesondere an der Wertordnung, wie sie in unserer Verfassung, im Grundgesetz, festgelegt ist. Darum möchte ich hier ganz ausdrücklich aussprechen, dass die bisherige Rechtslage, nach der das Toben, Spie- len, ja natürlich auch das Lärmen von Kindern als schäd- liche Umwelteinwirkung aufgefasst werden kann, inak- zeptabel ist, gerade auch aus der Perspektive der Wertordnung des Grundgesetzes. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Kinder haben das Recht, in ihrem Kindsein akzeptiert und toleriert zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt keine geräuschfreien Kinder. Wir wollen auch keine geräuschfreien Kinder, sondern wir wollen Kinder so, wie sie sind: spielend, Lust am Leben und Freude ha- bend, auch tobend und lärmend. Das mag manchmal für Erwachsene anstrengend sein – das will ich als Vater von drei Kindern gern einräumen; diese Erfahrung machen wir alle –, aber es geht darum, Kinder in ihrem Kindsein zu tolerieren, zu respektieren, ja zu mögen, zu lieben, zu wollen. Das muss sich in Gesetz und Recht ausdrücken; sonst sind wir nicht ehrlich. (Beifall bei der CDU/CSU – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Er wäre ein guter Familienminis- ter, oder?) Darum ist diese Änderung auch im rechtspolitischen Sinne eine wirklich überfällige Korrektur. Ich glaube zweitens, dass dieses Gesetz ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal ist, ein Signal für eine kin- derfreundliche Gesellschaft. Was sind die Trends in unse- rer Gesellschaft, über die Konsens besteht? Wir sind eine Gesellschaft, in der wir weniger werden. Wir sind eine Gesellschaft, die älter wird. Ich glaube, wir sind eine Ge- sellschaft, in der viele Menschen einsamer werden, nicht nur individueller; der Trend zur Vereinsamung hat inzwi- schen eingesetzt. In unserer Gesellschaft werden wir we- 12668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) (C) (D)(B) niger, älter und einsamer. Das sind drei große Trends in unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach tatenlos hin- nehmen dürfen. Mit einer gezielten und entschlossenen Familienpolitik müssen wir Akzente dagegen setzen; denn die Familie ist immer noch die wichtigste Lebens- form, die sozialen Zusammenhalt bietet, ihn erzeugt. Da- rum wollen wir alles tun, was Kinder und Familien stärkt. Es ist ein Signal für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft, das wir heute in Gesetzesform an die Ge- sellschaft aussenden, ein Signal für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens regeln wir ganz praktische Sachverhalte; denn mit der Neuregelung im Bundes-Immissions- schutzgesetz wie auch im Baurecht, im Bauplanungs- recht sorgen wir dafür, dass der gerichtliche Streit um die Zulässigkeit von Kinderlärm weniger wird, weil der Gesetzgeber die Normentscheidung trifft, dass Kinder- lärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt. Indem der Gesetzgeber Klarheit schafft, sorgen wir dafür, dass im Einzelfall weniger Streit vor den Ge- richten ausgetragen wird und auch weniger Nachbar- schaftsstreitigkeiten entstehen. (Gerd Bollmann [SPD]: Das Baurecht fehlt ja noch!) – Das Baurecht fehlt nicht – aber es ist richtig, dass Sie es anmerken –, da wir im Bauplanungsrecht eine Ände- rung vornehmen, die vorsieht, dass nun auch in reinen Wohngebieten Kindertageseinrichtungen generell zuläs- sig sind. Das ist eine ganz wichtige Flankierung dieser Gesetzesinitiative im Planungsrecht. Wir wollen Kinder- tageseinrichtungen dort, wo auch andere Menschen sind, in reinen Wohngebieten, und sie nicht zu Exklaven unse- rer Städte und Gesellschaften machen. Auch das ist ein wichtiges Signal, eine wichtige Entscheidung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich betone ausdrücklich, dass dies ein gesellschafts- politisch wichtiges Anliegen ist. So klein es zu sein scheint, so wichtig ist es mit Blick auf die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit, aber auch das Bemühen von Poli- tik und Gesetzgeber, Maßnahmen zu ergreifen, die un- sere Gesellschaft freundlich machen, Zusammenhalt stiften, Kindern ganz real in Kindertageseinrichtungen, aber auch zur Entfaltung ihres Kindseins Lebensraum geben. Obwohl es um wenige Veränderungen geht, hat dies eine beachtliche Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung. Es geht auch darum, eine tolerante Gesellschaft zu be- fördern. Toleranz wird ganz sicherlich – das ist auch wichtig bei einem Gesetz zugunsten von Kindern und ih- rer Entfaltung – wechselseitig geschuldet. Es geht hier um die Toleranz älterer Erwachsener gegenüber Kin- dern, weil wir sie so haben möchten, wie sie sind. In gleicher Weise ist dies dann auch eine gute Grundlage, dass Kinder, junge Menschen Toleranz und Respekt ge- genüber älteren Menschen, gegenüber der älteren Gene- ration zeigen. Insofern versucht dieses Gesetz einen klei- nen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, die Toleranz und die Freude am Zusammenleben zunehmen. Unsere Gesellschaft braucht dies, und darum bitte ich Sie sehr um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Vogt von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ute Vogt (SPD): Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Dies ist sicherlich ein dankbares Thema für den Minister; denn wir sind uns bei diesem Gesetzentwurf durchaus in den wichtigen Teilen, die uns heute vorliegen, parteiübergreifend einig. Ich beginne mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem Zitat von Frank Patalong in Spiegel Online aus dem April dieses Jahres: Eigentlich sollte uns dieses Gesetz zutiefst beschämen. Er führt aus, man könne sich durch- aus Gedanken darüber machen, dass es bedauerlich ist, dass man ein solches Gesetz überhaupt braucht, und man treffe diese Regelung in einem Gesetz, das eigentlich für Immissionen von Abgasanlagen und Industrieanlagen zuständig ist. Daran ist durchaus etwas, wenn man die gesellschaftliche Situation betrachtet: Man kann bedau- ern, dass wir dies überhaupt regeln müssen, weil sich zu viele Menschen beklagen und sogar gerichtlich gegen Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten vorgehen. Aber entscheidend ist für uns, dass wir nicht darüber trauern, dass es solche Zustände gibt, sondern dass wir den Kindern mit diesem Gesetz Freiräume schaffen und dass wir dies parteiübergreifend tun. Vor allem sorgen wir dafür, dass für Kinderlärm eine Privilegierung gilt und er daher dem Spielen und Sich-Entfalten nicht im Wege steht. Ausdrücklich bedanke ich mich bei der Landesregie- rung von Rheinland-Pfalz, die mit ihrer Bundesratsini- tiative im November 2009, also schon vor anderthalb Jahren, die Grundlage dafür geschaffen hat, dem Ganzen zusammen mit Anträgen der Opposition etwas Nach- druck zu verleihen. Daher kommen wir heute wenigstens in diesem einen Feld, was die Kinder betrifft, zu einer Sicherheit, wenngleich die Rechtssicherheit, wie Sie ja selbst gesagt haben, Herr Minister, erst dann gegeben sein wird, wenn, wie im SPD-Antrag vermerkt, auch das Baurecht und andere damit zusammenhängende Rechts- vorschriften geändert werden. Trotzdem möchte ich mein Bedauern darüber ausdrü- cken, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf doch ein gan- zes Stück hinter dem zurückbleiben, was die Realität heute erfordert. In unserer Anhörung vom 14. März 2011 hat der Sachverständige Rainer Grund vom Bau- rechtsamt Stuttgart dazu etwas Treffendes gesagt. Er be- schreibt, wie er es nennt, die offene Flanke, die dieser Gesetzentwurf bietet. Ich zitiere aus dem Protokoll der Anhörung: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12669 Ute Vogt (A) (C) (D)(B) Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, beschäftigt sich eigentlich nur … mit dem Kinderlärm durch Kindertagesstätten oder durch klassische Spiel- plätze. Im praktischen Vollzug ist das der Bereich, der am wenigsten Probleme aufwirft. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für zu- tiefst bedauerlich. Auch Sie, Herr Minister, haben mit keinem Wort erwähnt, dass die Kindheit eben nicht en- det, wenn man den Kinderspielplatz verlässt. Sie endet auch nicht mit 14 Jahren; das ist meistens das Höchstal- ter, bis zu dem man einen Kinderspielplatz nutzen darf. Vielmehr haben auch die Jugendlichen ein Recht darauf und hätten es verdient, dass Sie als Bundesregierung ihr Anliegen aufnehmen und sich zur Lobby auch von jun- gen Menschen machen, nicht nur zu der für Kinder bis zu 14 Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn wir einerseits die Erkenntnisse aus den Anhö- rungen – es war nicht nur der eine Sachverständige, der solche Ausführungen gemacht hat – zugrunde legen und andererseits sehen, was uns zum Beispiel eine FDP-Kol- legin im Ausschuss erläutert hat, tut sich ein Wider- spruch auf. Sie sagte nämlich, der Kinderlärm bedürfe einer Regelung, denn man könne den Kindern nicht so gut sagen, dass sie still sein sollen, sie verstünden das noch nicht; Jugendlichen hingegen könnte man solche Hinweise durchaus geben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Die Kollegin Skudelny rennt in Stuttgart von Bolzplatz zu Bolzplatz und sagt den Jugendlichen, sie sollen aber bitte ein biss- chen leiser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist weltfremd, und es ist auch ganz schön albern, welche Vorstellungen Sie haben. Sie drücken sich davor, eine Lösung für ein Thema zu finden, das den eigentlichen Konflikt vor Ort schafft. (Patrick Döring [FDP]: Sie haben alle Anträge, die wir in der letzten Wahlperiode gestellt ha- ben, abgelehnt!) Denn wenn Jugendliche ihrer Spielfreude Ausdruck ver- leihen wollen, macht dies viel mehr Probleme, aber für sie ist viel weniger Lobby vorhanden. Es wäre mutig und richtig gewesen, wenn Sie auch bei diesem Gesetzent- wurf nicht bei den Kindern geendet hätten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Wo war Ihr Mut?) Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie die vorliegen- den Anträge der Opposition nicht in gewohnter Art und Weise beiseitelegen und nicht einfach sagen: Wir haben die Mehrheit, hurra, jetzt setzen wir uns einmal allein mit dem durch, was wir für richtig halten. Wir haben uns als Opposition parteiübergreifend ent- schieden, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Man könnte jetzt auch im Sinne einer guten demokratischen Kultur sagen: Im Gegenzug stimmen Sie den Anliegen der Opposition zu. Dazu zählt das Anliegen, eben auch Bolzplätze, Baseballanlagen, Skateranlagen und auch wohnortnahe Sportplätze einzubeziehen und vor allem gleichzustellen. Das alles ist in den Anträgen der Oppo- sition enthalten. Ich kann Sie nur bitten: Schieben Sie das Ganze nicht auf die lange Bank. Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP aus dem Sportausschuss – vielleicht sind diese manchmal ein bis- schen näher an der Realität – haben einen eigenen An- trag eingebracht, in dem Sie ausdrücklich aufgefordert werden, auch Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Lärm der Jugendeinrichtungen zu schaffen. In diesem Sinne bitte ich Sie ganz dringend: Stimmen Sie auch den Oppositionsanträgen zu. Damit würden wir ein Gesetz verabschieden, das im Grunde genommen al- len gerecht wird, Kindern und Jugendlichen. Wir hätten auch ein Stück Geschichte geschrieben, weil wir einmal nicht nur hinsichtlich des Gesetzes einig sind, sondern auch bei den dazugehörenden Anträgen. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Hamburger Landgericht hat 2005 per Gerichtsurteil die Schließung eines Kindergartens wegen Lärmbelästi- gung der Nachbarn angeordnet. Das Urteil empfand ich damals genauso wie heute als Skandal. Wie kann man den ganzen Tag den Lärm einer vierspurigen Straße er- tragen, aber nicht für ein paar Stunden das Lachen und Toben von Kindern? Rasenmäher machen Krach, wer- den aber toleriert, Kindergeschrei nicht. Das Gerichtsurteil von Hamburg hat dennoch ein Gu- tes: Es hat eine Diskussion in Gang gebracht. Es han- delte sich um einen Konflikt, der schwer nach Genera- tionenkampf aussah. Lärm sei Lärm, egal, ob er von Kindern oder Maschinen herrührt. Für zumutbaren Lärm gebe es Obergrenzen und die müssten eingehalten wer- den, sagen mache. Geräusche von Kindern waren immer wieder Gegenstand von nachbarschaftlichen Streitigkei- ten. Tobende Kinder mit Maschinen zu vergleichen, ist absurd. (Beifall bei der FDP) Als Regierungskoalition haben wir versprochen, eine Änderung auf den Weg zu bringen. Dieses Versprechen lösen wir nun ein. Miriam Gruß von der FDP-Fraktion hat dieses in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht. Jetzt wird es Gesetz. Außerdem ist es ein Signal an Fa- milien. Es schließt nahtlos an den Ausbau der Kinderbe- treuung durch die Bundesregierung an. Welchen Sinn würden neue Kitas in Wohngebieten machen, wenn die 12670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Nicole Bracht-Bendt (A) (C) (D)(B) Kinder nicht auch draußen spielen dürften? Kinderge- räusche stellen im Regelfall keine schädliche Umwelt- einwirkung dar. Während des Gesetzgebungsverfahrens ist klar ge- worden, dass auch in Bezug auf Jugendliche auf Bolz- plätzen Handlungsbedarf besteht. Bolzplätze und Sport- stätten sind für Jugendliche Alternativen zum Computer, eine Gelegenheit, draußen zu sein und Freunde zu tref- fen. Jugendliche treffen sich allerdings zu anderen Zei- ten. Deshalb können wir dies nicht genauso behandeln wie die durch Kinder entstehende Geräuschkulisse. (Katrin Kunert [DIE LINKE]: So ein Blödsinn!) Die Koalition wird eine Lösung entwickeln, die die Si- tuation Jugendlicher angemessen berücksichtigt. (Beifall bei der FDP) Ich bin auch Sprecherin für Senioren in meiner Frak- tion. Deshalb habe ich natürlich auch die Interessen der Älteren vor Augen. Die neuen Regeln sollen ein Gewinn für alle sein. Daher brauchen wir einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen von Anwohnern und denen von Kindern und Jugendlichen. Deshalb legen wir Wert auf die Formulierung, dass der von Kindergärten und Kin- derspielplätzen ausgehende Kinderlärm bei der Festle- gung des zumutbaren Geräuschpegels privilegiert sind und er im Regelfall – ich wiederhole: im Regelfall – nicht als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf. Ausnahmen kann es also geben. Wir wollen wie Sie alle eine kinderfreundlichere Ge- sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder möglichst wohnort- nah draußen spielen und toben können. Das brauchen sie, körperlich wie seelisch. Noch ein Gedanke zum Begriff Lärm. Lärm wird de- finiert als lästig empfundener Schall. Das Lachen und Toben von Kindern ist dagegen vielmehr Ausdruck kind- licher Lebensfreude, also kein Grund zur Klage. Im Ge- genteil: Kinderlärm ist Zukunftsmusik. Danke. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich schon, was Gerichte auch beim Lärmschutz manchmal aus Gesetzen machen. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) Den Lärm von Fröschen müssen Anwohner dulden, aber Kinderlärm wurde verboten. Mit der nun von der Bun- desregierung geplanten Änderung der Lärmgesetzge- bung dürfen nicht nur Frösche quaken, sondern auch Kinder laut spielen. Gegen Spielplätze und Kindertages- stätten sind Lärmklagen zukünftig unzulässig. Das fin- den wir gut. (Beifall bei der LINKEN) Aber leider gibt es ein Problem; denn nur bis zum 14. Geburtstag dürfen Kinder lärmen, weil nach dem Gesetz da die Kindheit endet. Pech für die Jugendlichen, Pech auch für Freizeitsportler: Sie müssen leise sein, die Frösche dürfen quaken. Dass Sportfeste zwischen 13 und 15 Uhr untersagt werden, dass Jugend- und Frei- zeitsport in enge Zeitfenster gezwungen wird, das lehnen wir ab. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb beantragt die Linke, dass für den Jugend- und Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte um 5 Dezi- bel angehoben werden. Diesen Antrag haben Sie von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen jedoch im Ausschuss abgelehnt – mit der Begründung, Jugendliche und Sport- ler seien nicht wie Kinder, die für ihr Verhalten nichts können. Sie fördern Sportler, die nicht hörbar sind. (Ute Vogt [SPD]: Bei der SPD war es eine andere Begründung!) Prinzipiell unterstützt die Linke den Schutz vor Lärm. Aber erklären Sie mir und allen Bürgern: Weshalb lassen Sie per Gesetz einen Straßenlärm von 59 Dezibel in Wohngebieten zu, und warum darf ein Militärflugzeug nach Gesetz mit mehr als 90 Dezibel über ein Haus hin- wegdonnern, wenn Sie gleichzeitig Sportgeräusche von nur 54 Dezibel verbieten? Nach Ihrem Gesetz ist Folgendes zu erwarten: Auf ei- nem Bolzplatz spielen Kinder im Alter von 13 Jahren; gegen diese Geräusche kann man nicht klagen. Wenn aber ein 15-Jähriger mitspielt, könnte man dagegen kla- gen. Spielt das 8-jährige Mädchen mit ihrer Freundin Basketball, dann ist das Scheppern erlaubt. Spielt Papa mit, ist das Scheppern untersagt. Was für ein Schwach- sinn! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie sollen die Kommunen da mit Beschwerden von An- wohnern umgehen? Sollen sie Schilder aufhängen mit der Aufschrift „Spielen an Wochenenden für Kinder er- laubt! Für Jugendliche, Eltern und Großeltern verbo- ten!“? Ehrlich: Was soll das? Die von uns geforderte Änderung der 18. Bundesim- missionsschutzverordnung mit um 5 Dezibel höheren Grenzwerten hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und Freizeit zu organisieren. So könnten Opa, Paul und Lisa auch sonntags gemeinsam Fußball spielen, und die 15-Jäh- rigen werfen den Basketball aus Freude statt Flaschen aus Frust. (Beifall bei der LINKEN) Um Ihnen die Angst zu nehmen: Auch mit der Ände- rung darf der Sportler noch immer nicht so viel Lärm verursachen wie der Autofahrer. Deshalb fordere ich Sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12671 Ralph Lenkert (A) (C) (D)(B) auf: Stimmen Sie hier im Plenum neben dem Gesetzent- wurf auch unserem Antrag zu! Zeigen Sie endlich Herz – nicht nur für Kinder und Frösche, sondern auch für Ju- gendliche und Sportler! Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Michael Paul [CDU/ CSU]: Ein Herz für Linke!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner von den Grü- nen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute gemein- sam ein wichtiges Etappenziel erreichen und den Kin- derlärm endlich privilegieren. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch schon mal ein guter Einstieg!) Das ist nicht nur ein wichtiges Signal für mehr Kinder- freundlichkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch ein Meilenstein für die Kinderrechte in unserem Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- geordneten der SPD) Fakt ist aber auch – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Die Bundesregierung hat fast zwei Jahre gebraucht, um zwei kleine Sätze, konkret: 31 kleine Wörter, ins Bun- des-Immissionsschutzgesetz aufzunehmen. (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Sie arbeitet eben gründlich!) Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Zwei Jahre sind auch deswegen unbegreiflich, (Markus Grübel [CDU/CSU]: Sonst beschwert ihr euch immer, dass es zu schnell geht!) weil es seit vielen Jahren ein gemeinsames Anliegen al- ler im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, Klagen ge- gen Kinderlärm entgegenzuwirken. Der erste Beschluss dazu – nicht etwa die erste parlamentarische Initiative – erfolgte im Deutschen Bundestag schon im Juli 2009. So lange ist es schon her. Ich bin mir sicher: Wenn wir von der Opposition mit Anträgen und mit der Anhörung im Umweltausschuss nicht so viel Druck gemacht hätten, würden wir heute keine Änderungen im Bundes-Immis- sionsschutzgesetz beschließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das steht schon alles im Koalitionsvertrag!) Statt sich mit Gesetzentwürfen zu beschäftigen, musste die Union offensichtlich Parteifreunde wie den Vorsitzenden der Senioren-Union in Nordrhein-Westfa- len wieder einfangen, für den Kinderlärm gerade keine Zukunftsmusik ist. Stattdessen sah Herr Kuckart gleich einen Generationenkonflikt ausbrechen, wenn die An- siedlung von Kitas in Wohngebieten erleichtert würde und die lieben Kleinen dann die Senioren stören. Mit derartigen Äußerungen – das muss man einfach sagen – war er in der Union nicht alleine. Ich bin froh – auch das möchte ich hier sagen –, dass sich diese Haltung in der Union nicht durchgesetzt hat. Gerade mit Blick auf den Ausbau der Kindertages- stätten – auch Frau Bracht-Bendt hat diesen Punkt ange- sprochen –, der dringend notwendig ist, um bis 2013 den Rechtsanspruch auf einen Platz erfüllen zu können, wurde in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit verplem- pert. Die Berichte darüber, dass die Errichtung von Kin- dertagesstätten verhindert oder zumindest massiv behin- dert wurde, liegen uns allen vor. Nun würde ich gerne sagen: Was lange währt, ist end- lich gut. Richtig ist: Die Einrichtungen für Kinder wer- den endlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz privile- giert. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen. Denn ein wichtiges Etappenziel – ich habe es schon gesagt – wurde damit erreicht. Aber die notwendige Klarstellung in der Baunutzungsverordnung, die auch schon vor zwei Jahren im Parlament beschlossen worden ist, steht im- mer noch aus. Auch dafür gibt es eigentlich keinen nach- vollziehbaren Grund. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Judith Skudelny [FDP]: Doch! Bei meiner letzten Rede habe ich es Ihnen erklärt!) Die Koalition hat zudem eine große Chance verpasst. Sie hat die Gelegenheit nicht genutzt, eine Klarstellung auch für Bolzplätze, Skateranlagen und ähnliche Flächen vorzunehmen. Die Anhörung im Umweltausschuss hat deutlich gemacht, dass es nicht nur um Kinderlärm ge- hen darf, sondern dass auch immer wieder Konflikte auf- grund von Jugendlärm aufbrechen. Auch hierfür müssen wir dringend eine Regelung finden. (Beifall der Abg. Ute Vogt [SPD]) Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass man den Lärm, den Jugendliche machen, pauschal ebenso wie die Geräusche, die von kleinen Kindern bzw. Kindertagesstätten ausgehen, privilegieren sollte. Es gibt aber auch keinerlei Grund, die Jugendlichen komplett zu vergessen, wie die Regierung und die Regierungsfraktio- nen das hier tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest die Union ein bisschen weiter ist. Ich habe das Protokoll vom letzten März gelesen und darf zitieren, was Herr Paul in seiner Rede ausgeführt hat: Natürlich muss … den besonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird. Wir haben im Umweltausschuss und anderen betei- ligten Ausschüssen einen Vorschlag gemacht, wie man konkret auf Bolzplätze und Skaterbahnen bezogen Ver- 12672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Katja Dörner (A) (C) (D)(B) besserungen für die Jugendlichen und auch mehr Rechts- sicherheit für die Kommunen erreichen kann. Der An- trag ist, aus meiner Sicht völlig unbegründet, abgelehnt worden. Wo bleibt der von der CDU/CSU eingeforderte höhere Toleranzmaßstab für die Jugendlichen? Ich möchte es mit den Worten der FDP ausdrücken: Da müsste bald „geliefert“ werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Für Jugendliche gibt es wohnortnah, gerade inner- städtisch, viel zu wenig Aufenthaltsorte und zu wenig Flächen wie Bolzplätze für die Freizeitgestaltung oder auch den Freizeitsport. Hieran müssen wir dringend ar- beiten; denn es ist wichtig, dass Jugendliche nicht an die Stadtränder verdrängt werden. Kinder und Jugendliche gehören in die Mitte der Städte und Gemeinden. Wir brauchen dringend gerade für Jugendliche mehr Mög- lichkeiten der Beteiligung in den Planungsprozessen; denn die Beteiligung von Jugendlichen wie auch der An- wohner im Bereich der Planung, also konkret: in den Planungsprozessen, ist letztlich der beste Lärmschutz und die beste Grundlage, Prozesse wegen Lärmbelästi- gung wirklich vermeiden zu können. Die heutige Änderung des Bundes-Immissionsschutz- gesetzes ist ein wichtiger Anfang. Die Baustelle Kinder- und Jugendlärm ist damit aber nicht erledigt, weder was das Umdenken in unseren Köpfen noch was die kom- menden Gesetzgebungsverfahren angeht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit die- sem Medienecho haben die Richter in Hamburg sicher- lich nicht gerechnet, als sie vor sechs Jahren, also im Jahre 2005, der Klage eines Nachbarn recht gegeben ha- ben, der gegen den Lärm aus dem Kindergarten „Ma- rienkäfer“ geklagt hat. Es gab bundesweit und über alle Parteigrenzen hinweg einen Sturm der Entrüstung. Auch heute haben wir gesehen, dass wir uns einig sind: Kinder sind nicht nur leise, Kinder machen auch Lärm, und Kin- derlärm gehört zu unserer Gesellschaft, er gehört zu un- serem Alltag. Gerade wenn wir eine kinderfreundliche Gesellschaft sein wollen, müssen wir Kinderlärm hin- nehmen; denn schließlich garantieren Kinder den Fort- bestand unserer Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Deshalb müssen der Lärm bzw. die Geräusche, die von Kindern verursacht werden, anders behandelt werden als die Geräusche von Maschinen oder Autos. Zur Vollständigkeit gehört aber auch, festzuhalten, dass Gerichtsentscheidungen gegen Kinder – wenn man die Rechtsprechung in Deutschland betrachtet – die Aus- nahme bilden. Selbst in einer Stadt wie Köln, aus der ich komme, wo es auf engem Raum viele Einrichtungen gibt, hat es bisher keine einzige Gerichtsentscheidung gegeben, die gegen Kinder ausgefallen ist. Auch in ande- ren Bundesländern können wir eine solche Entwicklung nicht beobachten. Trotzdem haben wir als Koalition von CDU/CSU und FDP Handlungsbedarf gesehen; denn unsere Gesell- schaft wird zunehmend älter. Der Lärm von spielenden Kindern gehört leider nicht mehr so zum Alltag, wie es vielleicht vor einigen Jahren der Fall war. Dementspre- chend sinkt die Bereitschaft, Kinderlärm zu tolerieren. Deshalb werden Konflikte – Kinder auf der einen Seite, Ruhesuchende auf der anderen Seite – in Zukunft ten- denziell zunehmen, wenn wir unser Ziel verwirklichen, dass Kinder in der Nähe ihrer Wohnung spielen dürfen bzw. einen Kindergarten besuchen. Schließlich wollen wir Familie und Beruf miteinander vereinbar machen. Deshalb haben wir ein sehr umfangreiches und ehrgeizi- ges Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg gebracht: Bis zum Jahre 2013 werden allein für die unter Dreijährigen 750 000 Plätze eingerichtet sein. Weil wir eine wohnortnahe Betreuung auch in Wohngebieten wollen, wird sich die Zahl der Konflikte tendenziell er- höhen. Deshalb handelt die Koalition. Wir haben im Ko- alitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rechtslage ändern werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen der Ko- alitionsfraktionen und der Bundesregierung werden wir im Lärmschutzrecht, im Bundes-Immissionsschutzge- setz, ein Toleranzgebot festschreiben, mit dem klarge- stellt wird, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädli- che Umwelteinwirkung ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Meine Damen und Herren, zur Lebenswirklichkeit gehört allerdings auch, dass man den Kindern nicht in je- dem Fall den Vorrang geben kann. Denn es ist völlig klar: In Einzelfällen kann der gewählte Standort für eine Kindertagesstätte schlicht und ergreifend falsch sein, zum Beispiel in der Nähe eines Krankenhauses. Deshalb haben wir uns dagegen entschieden, rigoros alle Klage- möglichkeiten abzuschneiden, wie es zum Teil hier vor- getragen und vorgeschlagen wurde. Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat, in dem auch der Rechtsschutz ein hohes Gut ist. Es gehört aber auch zur Lebenswirklichkeit, dass es sich hier – anders, als es die Diskussion der letzten Mo- nate vielleicht vermuten lässt – gar nicht um einen Kon- flikt „Alt gegen Jung“ handelt. Ich habe beim Besuch ei- ner Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis erlebt, dass die Kinder und die Senioren des benachbarten Senioren- heims seit vielen Jahren friedlich miteinander auskom- men. Es hat dort sogar gegenseitige Besuche gegeben. Das sind Projekte, die wir brauchen. Es geht hier nicht um „Alt gegen Jung“, sondern darum, einen fairen Inte- ressenausgleich zu schaffen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12673 Dr. Michael Paul (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Meine Damen und Herren, es wurde die Frage ge- stellt, warum wir nicht früher gehandelt haben. Ich darf diese Frage gerne an die Kolleginnen und Kollegen der SPD zurückgeben. Wer war denn der für den Umwelt- schutz und damit auch für den Lärmschutz verantwortli- che Minister, als die Entscheidung zum Kindergarten „Marienkäfer“ im Jahr 2005 fiel? Das war Sigmar Gabriel. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Er hatte vier lange Jahre Zeit, um einzuschreiten. Ich sage es Ihnen: Es wäre seine Pflicht, seine Aufgabe ge- wesen, hier einzuschreiten, und er hat es nicht getan. Bitte sagen Sie mir nicht, die Union hätte ihn in der Gro- ßen Koalition daran gehindert, hier tätig zu werden. Nein, hier hat der Umweltminister seine Hausaufgaben schlicht und ergreifend nicht gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir werden unser Ziel, dass Kinder sowohl zu Hause und in der Nähe der Wohnung als auch in einer Kinderta- gesstätte, die in der Nähe gelegen ist, spielen dürfen, mit der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, mit der Einführung des Toleranzgebotes, festschreiben. Wir werden auch regeln, dass Kindertagesstätten in rei- nen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sein werden. Wir kehren damit den Grundsatz um: Bisher ist es im Bauplanungsrecht so, dass Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten grundsätzlich nicht zugelassen sind. Wir werden das mit der Bauplanungsrechtsnovelle, die noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ändern, um damit den Bau von Kindertagesstätten auch in reinen Wohngebieten zu ermöglichen. Wir wollen diese Rege- lung auf bestehende Bebauungspläne, in denen reine Wohngebiete festgelegt sind, ausdehnen. Die nächste Frage ist: Müssen wir das Nachbar- schaftsrecht ändern, müssen wir an das Bürgerliche Ge- setzbuch heran? Dazu ist zu sagen: Es gibt den Grund- satz der Einheit der Rechtsordnung. Wenn der Gesetzgeber das Toleranzgebot an einer Stelle – nämlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz – prominent regelt, dann strahlt das auch auf die anderen Rechtsgebiete aus. Wir müssen an dieser Stelle aufmerksam verfolgen, was passiert. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zivilge- richte dem Anliegen der Kinder Rechnung tragen wer- den. Wir sind nicht blind und wissen, dass die Probleme nicht mit dem Alter von 14 Jahren aufhören: Natürlich müssen wir etwas für Jugendliche und Heranwachsende tun. Die Koalitionsfraktionen haben gestern einen An- trag in den Sport- und in den Verkehrsausschuss einge- bracht: Wir werden prüfen, ob wir die 18. BImSchV, also die Sportanlagenlärmschutzverordnung, ändern müssen, um Bolzplätze besser zu berücksichtigen. Ergebnis der Sachverständigenanhörung war aber auch, dass es einen Unterschied macht, ob es sich um Lärm von Kindern oder Lärm von Jugendlichen handelt. Er findet zum Bei- spiel zu anderen Zeiten statt; auch das wurde hier schon gesagt. Außerdem kann ich einem über 14-Jährigen si- cherlich zumuten, eine gewisse Strecke zurückzulegen, um einen Bolzplatz zu erreichen. Das ist bei einem Kleinkind anders. Diese Tatsachen muss man berück- sichtigen. Ich möchte noch kurz auf die Stellungnahme des Bundesrates und die Anträge der anderen Fraktionen, die uns vorliegen, eingehen. Der Bundesrat sagt aus meiner Sicht zu Recht, dass man auch die Kindertagespflege be- rücksichtigen muss. Das sehen wir auch so. Allerdings muss man berücksichtigen, dass infolge der Föderalis- musreform der Bund diesen verhaltensbedingten Lärm, wenn er in der eigenen Wohnung der Tagesmutter statt- findet, nicht regeln kann. Wir müssen schauen, ob die Dinge über die Ausstrahlungswirkung zum Besseren ge- wendet werden können. Zum SPD-Antrag. Er hat sich zum Teil erledigt. Die schädlichen Umwelteinwirkungen haben wir ausdrück- lich ausgenommen. Ein weiterer Teil erledigt sich durch die Bauplanungsrechtsnovelle. Er ist unnötig, soweit es um die BGB-Änderungen geht. Die vorgeschlagene Re- gelung der städtebaulichen Planung ist zwar wünschens- wert, aber das ist eine ureigene Aufgabe der Kommunen. Zu dem Antrag der Linken nur eine Bemerkung: Sie fordern, dass auf Sportanlagen grundsätzlich 5 Dezibel mehr Lärm gemacht werden darf. Das hört sich erst ein- mal nach wenig an. Wenn Sie aber genau hinschauen, stellen Sie fest, dass die Erhöhung von 50 auf 55 Dezibel – Sie wollen ja, dass diese höheren Werte nicht nur tags- über, sondern auch nachts und am Wochenende, also in Ruhezeiten, gelten – im Ohr desjenigen, der neben einer solchen Anlage wohnt, wie eine Verdoppelung des Lärms wirkt. Dieser Vorschlag löst keine Konflikte, nein, er würde massive neue Konflikte in dieser Gesell- schaft verursachen. Das wollen wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu guter Letzt zum Vorschlag der Grünen: Auf ihn trifft vieles zu, was ich zu dem Antrag der SPD gesagt habe. Teilweise ist er erledigt, teilweise wird er noch er- ledigt, oder es ist nicht Aufgabe des Bundes, das zu re- geln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss. Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. Wir wollen unseren Kindern eine unbeschwerte Entwicklung ermöglichen. Dazu ge- hört, dass sie zu Hause und in einer Kindertagesstätte in der Nähe der Wohnung spielen können. Der Gesetzent- wurf der Koalitionsfraktionen und der Gesetzentwurf der Bundesregierung leisten dazu einen wichtigen Beitrag, gerade in einer älter werdenden Gesellschaft. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) 12674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Protokolle der Kinderkommission einmal he- rausgesucht. Ich bin bis 2006 zurückgegangen, um zu schauen, wann wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen. Mir war dabei egal, wer den Vorsitz innehatte und wer Mitglied war. Im Jahr 2006 beschäftigte sich die Kinderkommission mit diesem Thema. Im Jahr 2007 beschäftigte sie sich mehrmals da- mit wie auch in den Jahren 2008 und 2009. Wir haben eine große Anhörung dazu durchgeführt und auch das Ministerium immer wieder eingeladen. Gerade ist gefragt worden: Warum habt ihr nichts ge- macht? Meine Kolleginnen aus der Kinderkommission werden bestätigen, dass uns vom Ministerium immer ge- sagt wurde: Eigentlich steht alles schon im Gesetz. Es gab auch entsprechende Urteile. Das Gericht in Bayreuth zum Beispiel hat eindeutig gesagt, dass Kinderlärm Le- bensäußerung ist und nicht unter die TA Lärm fällt. Manchmal haben wir in der Kinderkommission uns gefragt – Frau Golze und die anderen Kolleginnen wer- den das bestätigen –: Wenn es so eindeutig ist, warum funktioniert es dann nicht? Ich würde das darauf zurück- führen, dass wir in der Bundesrepublik einen relativ ho- hen Anteil an funktionalem Analphabetismus haben, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) das heißt, viele können das Gesetz einfach nicht lesen. Sie formulieren das Gesetz jetzt so, dass auch diejeni- gen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das Gesetz verstehen können. (Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) Ich bin immer dafür, dass Gesetze so formuliert werden, dass jeder sie versteht und keine Möglichkeit der Inter- pretation besteht, damit sie nicht so oder so ausgelegt werden können. Wir hatten gedacht, Juristen seien gut ausgebildet und könnten lesen. Dem war leider nicht so. Jetzt ist es endlich so weit, und das begrüße ich. Als ich von der Presse danach gefragt wurde, habe ich gesagt: Wunderbar, jetzt wird es klar, und zwar in jedem Bun- desland und vor jedem Gericht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir nun auch an die Umsetzung denken. Die UN-Kinderrechts- konvention regelt in Art. 31 das Recht des Kindes auf Freizeit. Festgeschrieben ist das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Er- holung. Diese Konvention haben wir unterzeichnet und ratifiziert; damit gilt sie auch für uns. Der Begriff des Kindes umfasst nach der UN-Kinder- rechtskonvention das Alter von 0 bis 18 Jahren. Der Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr muss also geregelt werden. In Deutschland unterscheiden wir: Der Begriff des Kindes gilt bis zum 14. Lebensjahr und der des Ju- gendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Nach der Konven- tion müssen wir aber für die gesamte Gruppe Vorkehrun- gen treffen. Ich kann gut damit leben, dass Sie noch etwas Zeit benötigen, um diese Regelungen umzusetzen. Ich hoffe, Sie schaffen das. (Zuruf von der LINKEN: Na ja!) – Doch, Sie schaffen das. Ich bin ja Pädagogin von Be- ruf, von daher habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Wir werden doch noch etwas zustande bringen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass das klappt. Wichtig ist folgender Punkt: Wir haben bereits ein Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin steht, dass wir Ju- gendhilfeplanung machen müssen. Einer der Punkte der Jugendhilfeplanung – das ist eine kommunale Aufgabe – lautet, die Lebenswelt so zu gestalten, dass alle dort le- benden Menschen ihrem Ruhebedürfnis und ihrem Akti- vitätsbedürfnis nachkommen können. Leider wird weder die Planung noch die Umsetzung so vorgenommen, wie wir es uns wünschen. Das gilt auch noch 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getre- ten ist. Es gibt immer noch viele Gemeinden, die nach wie vor nicht so planen, dass alle Menschen gemäß ihren Bedürfnissen leben können. Ich will es einmal deutlich machen. Ich bin Kinderbeauftragte, und ich kämpfe für Kinder. Wenn aber jemand, der in einer Wohnung wohnt, die genau zur Garagengasse hin liegt, von der Nacht- schicht kommt und schlafen möchte und dann ständig ein Fußball gegen die Blechtore geschossen wird, dann ist derjenige nicht mehr davon überzeugt, dass es sich bei dem Lärm um Zukunftsmusik handelt, sondern er ist furchtbar genervt, weil er nicht schlafen kann. Man muss daher die Stadt- und Siedlungsplanung so vornehmen, dass sich Kinder austoben und Menschen ihrem Ruhebedürfnis nachgehen können. Das gilt so- wohl für Ältere als auch für Jüngere. Auch Kinder haben manchmal ein Ruhebedürfnis, sie wollen schlafen und ihre Ruhe haben. Ich glaube, dass wir zu wenig darauf achten, wie unsere Lebenswelt gestaltet wird. Hierzu brauchen wir aber nicht schon wieder ein neues Gesetz. Wichtig ist, dass die Gesetze, die bereits seit 20 Jahren in Kraft sind, endlich umgesetzt werden. Katja Dörner hat vorhin gesagt – und das finde ich wunderbar –: Diejeni- gen, die es betrifft, müssen beteiligt werden. Kinder sind nämlich nicht per se rücksichtlos, und ältere Menschen sind nicht per se kinderfeindlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Wir sind vielmehr kinderentwöhnt. Wir brauchen aber das Zusammenwirken beider Gruppen. Künftige Stadt- planung und Siedlungsplanung müssen so aussehen, dass die Interessen aller Gruppen gleichermaßen aufgenom- men werden. Bisher – das sage ich als jemand, der lange hierfür zu- ständig war – sah Siedlungsplanung so aus: Wie komme ich schnell aus meinem Viertel hin zur Arbeit? Das ist pendler- und nicht familienorientiert gedacht. Wir brau- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12675 Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) (C) (D)(B) chen Fußläufigkeit, Freiräume, Räume der Begegnung, Räume für kleinere Kinder. Ein kleineres Kind geht nicht auf den Bolzplatz; denn dort wird es vom Ball um- geschossen. Daher wird ein kleines Kind einen anderen Spielbereich brauchen als ein großes. Wenn wir nicht von vornherein einplanen, hierfür Grundstücke freizuhalten, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn es zu Gerichtsverfahren und entspre- chenden Urteilen kommt. Diese vermeiden wir jetzt zwar, ich glaube aber, viel besser wäre es, direkt bei der Planung die Belange aller zu berücksichtigen. Das heißt, in den kommunalen Gremien müssen Männer und Frauen sitzen, die Familien haben, weil die an solche Be- lange denken. Sie müssen diejenigen, die es betrifft, die dort leben und wohnen, mit einbeziehen. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine gut funktionierende Ge- sellschaft. Das sehe ich aber leider noch nicht. Der Bun- destag macht oft hervorragende Gesetze. Manchmal frage ich aber: Warum haben wir diese Gesetze nur ge- macht? Draußen interessiert sich doch keiner für diese Gesetze. Gelegentlich erklären mir Beamte vor Ort: Frau Rupprecht, was Sie in Berlin entscheiden, das interes- siert mich gar nicht. – Ich kann Ihnen sagen, wer das war. Es war ein Beamter, der eigentlich in die Wüste ge- schickt gehört. Wir müssen darauf drängen, dass unsere Gesetze wie Kinder behandelt werden. Die meisten sind keine Nest- flüchter, sondern Nesthocker. Wir müssen auf sie aufpas- sen, bis sie allein wirken können. Wir müssen auf die Wirkung auch dieses Gesetzes achten. Das heißt, wir müssen überprüfen, ob es Anwendung findet. Dazu brauchen wir eine Schulung derer, die das Gesetz umset- zen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck: Es gibt viele Bildungs- und Fortbildungswillige, aber in diesem Bereich besteht immer noch Nachholbedarf. Vielleicht schaffen wir es, dass das, was in diesem Gesetzentwurf steht, wirklich umgesetzt wird. In diesem Sinne bin ich dankbar, dass er vorgelegt wurde und dass die Situation jetzt klar ist. Ich hoffe, dass Sie die Vor- schläge der Oppositionsfraktionen mit aufnehmen und dass diese zu vernünftigen gemeinsamen Anträgen ent- wickelt werden. Das ist mein Anliegen an dieser Stelle. Die Kraft, die wir für Auseinandersetzungen aufbringen, brauchen wir dringender für die Lösung der Konflikte und Probleme, die anstehen. In diesem Sinne: Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Judith Skudelny von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Judith Skudelny (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch- mal ist es richtig schön, wenn man Arbeit leistet und diese am Ende auch gewürdigt wird. So hat Frau Vogt vorhin erwähnt, dass das, was im Gesetzentwurf zu den Bolzplätzen geschrieben wurde, richtig gut ist. Frau Vogt, vielen Dank, das habe ich dort hineingeschrieben. (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah! – Ute Vogt [SPD]: Ich schmelze dahin!) Die Frage ist: Ist dieser Konflikt neu, oder schwillt ein bereits bestehender Konflikt gerade an? Wir müssen nach den Ursachen suchen. Wir haben auf der einen Seite den demografischen Wandel. Mehr ältere Men- schen sind in Rente und somit zu Hause; die Rentenzeit verlängert sich, da wir alle älter werden. Wir haben auf der anderen Seite einen Wandel in den Familien. Frauen bzw. beide Elternteile sind oft berufstätig. Daher müssen die Kinderbetreuungszeiten ausgebaut werden. Der Re- gelkindergarten, den es vor 15, 20 Jahren gab, war von 9 bis 12 Uhr und von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Betreu- ung in den Regelkindergärten heute fängt in den aller- meisten Städten schon morgens um 7 Uhr an, geht bis abends um 17, 18 Uhr und macht keine Mittagspause. Das heißt, die Konfliktfelder nehmen zu. Zudem haben wir ein anderes Umweltbewusstsein be- züglich des Flächenverbrauchs. Wir wollen unsere Städte nicht mehr nach außen wachsen lassen, sondern machen eine Verdichtung nach innen. Das heißt, Wohn- gebiete rücken immer näher an Sportanlagen, an Kinder- spielplätze und an Kindertageseinrichtungen. Die Span- nungsfelder werden schlicht und ergreifend mehr. Genau dieses Mehr an Spannungsfeldern haben wir in den letz- ten Jahren an der Zahl der Klagen bemerkt. Das kommt nicht von irgendwo. Ich glaube auch nicht, dass wir prin- zipiell kinderfeindlicher geworden sind. Ich glaube ein- fach, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist. Weil wir sehen, dass die Zahl der Reibungspunkte ge- wachsen ist und dass der gesellschaftliche Wandel nicht aufhört, sondern weitergeht, sagen wir in der Koalition: Kinder sind in der Gesellschaft erwünscht. Wir sehen die Probleme. Wir positionieren uns hier eindeutig, und wir möchten ein Zeichen für Kinder und für Eltern setzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es gibt einen Unterschied zwischen Kinder- und Ju- gendlärm. Diesen kann ich, glaube ich, an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Ich fahre viel mit meinen bei- den Kindern Zug – beide sind unter fünf Jahre alt –, zum Beispiel von Berlin nach Stuttgart. Als ich einmal nach fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit meinen beiden kleinen Kindern in Stuttgart zur Hauptbetriebszeit während einer Stuttgart-21-Demo ausgestiegen bin, kam mir der Lärm am Bahnhof vergleichsweise leise vor. Das lag wohl da- ran, dass meine Tochter, wenn ich ihr zum Beispiel sage, dass sie die gewünschte Schokolade nicht bekommt, nicht anfängt, mit mir zu diskutieren, sondern mich an- brüllt. Mein Sohn hat einmal versucht, den Passagieren in einem vorbeifahrenden Zug etwas zuzurufen. Natürlich versuche ich, in so einer Situation zu inter- venieren, aber ganz im Ernst: Die Kinder kommen schneller auf die Schnapsideen, als ich intervenieren kann. Genau das ist der Unterschied zwischen Kinder- 12676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Judith Skudelny (A) (C) (D)(B) und Jugendlärm. Mit Jugendlichen kann ich diskutieren. Kinder kennen die Regeln nicht und können viele Re- geln nicht einhalten. (Iris Gleicke [SPD]: Das wächst sich aus, Frau Kollegin!) Durch die Erziehung wollen wir die Kinder so weit brin- gen, dass sie die Regeln zumindest kennen. Jugendliche wiederum suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Ich glaube, dass jeder Jugendliche weiß, was man darf und was man nicht darf, aber ob er sich, ähnlich wie Erwach- sene, daran hält, ist eine komplett andere Sache. (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Sie müssen sich von den Erwachsenen ein Stück weit ab- grenzen. Insofern ist es richtig, wenn sie sich zum Teil anders verhalten. Die Gleichsetzung von Kinder- und Jugendlärm halte ich für falsch. Wir müssen überlegen, wie wir mit dem Jugendlärm umgehen. Jugendliche brauchen einen ange- messenen Platz in der Gesellschaft; dieser kann nicht am Rand sein. Über Bolzplätze, Skate- und Basketballanla- gen haben wir schon gesprochen; aber auch Jugendhäu- ser können nicht am Rande der Gemeinden stehen. Auf diese Idee kommen leider viele Städte und Gemeinden. Meine eigene Kommune hat ein Jugendhaus gebaut, das außerhalb eines Gewerbegebiets lag. Man kann sich vor- stellen, wie viele Jugendliche dort hingegangen sind. Am Ende musste es „eingestampft“ werden. Wir müssen überlegen: Wie sorgen wir für ein ange- messenes Verhältnis? Da es immer wieder heißt: „Das ist kein Problem“, möchte ich an dieser Stelle intervenieren. Doch, das ist ein Problem. Der Umstand, dass es Ganz- tagsschulen gibt, führt dazu, dass sich die Freiräume der Jugendlichen in die Abendstunden verlagern. Dann, wenn die Erwachsenen nach ihrem Arbeitstag nach Hause kommen und die Füße hochlegen wollen, fangen die Jugendlichen an, ihre Freizeit zu gestalten. Ich sage nicht, dass dieses Problem nur zulasten der Jugendlichen gelöst werden kann. Ich sage nur, dass es sich um ein Spannungsverhältnis handelt. Hier müssen wir gemein- sam nach Lösungen suchen. Diese Lösungen dürfen keine generelle Privilegierung sein. Sie müssen von Fall zu Fall – je nachdem, ob es um eine Sportanlage, ein Ju- gendhaus, eine Abendveranstaltung oder eine Musikver- anstaltung geht – unterschiedlich ausgestaltet werden. Es ist unsere Aufgabe, diese unterschiedlichen Regelungen unter einen Hut zu bringen. Das wird nicht leicht werden, übrigens auch deshalb, weil die Länder an dieser Stelle ein Mitspracherecht ha- ben. Ich möchte die Opposition ganz herzlich einladen, sich hier einzubringen. Wenn die Länder ein Mitsprache- recht haben, bedeutet dies, dass wir mit den Ländern eine einvernehmliche Regelung treffen müssen. Nach al- lem, was ich vonseiten der Länder gehört habe, wird das nicht einfach so zu machen sein. Auch dies wird Diskus- sionen erfordern. Ich freue mich, dass Sie aufseiten der Länder sicherlich gut mitarbeiten werden, damit wir zü- gig zu einer Lösung kommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich!) Das wünsche ich uns und den Jugendlichen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frau Dörner, Sie haben die BauNVO angesprochen. Ich habe schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema deutlich gemacht, warum wir dieses Vorhaben 2012 in Angriff nehmen: weil jede Änderung in diesem Gesetz aufbewahrt werden muss. Wenn, wie Sie so schön gesagt haben, jedes Mal, wenn wir einzelne Sätze ändern, die komplette Auflage aufbewahrt werden muss, führt dies zu einem unglaublichen Bürokratieaufwand, und das für einen Bereich, der, ehrlich gesagt, nicht das größte Pro- blem ist, wenn es um Kinderlärm geht. Wir werden die- ses Thema im Rahmen der großen Novellierung 2012 mit behandeln. Das ist dafür der richtige Platz. Sie kön- nen darauf warten. Das wird auf jeden Fall geschehen. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das Problem ist, dass man immer war- ten muss! Man wartet und wartet und wartet!) Man sollte nicht denken, dass das Problem, das wir im Moment haben, mit Gesetzen zu lösen ist. Ganz im Ernst: Kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn es weiß, dass die Nachbarn eines Jugendhauses, eines Kindergar- tens oder eines Kinderspielplatzes, auch wenn sie nicht mehr klagen können, die Einrichtung eigentlich nicht mehr wollen. Wir sind in einer funktionierenden Gesell- schaft darauf angewiesen, Toleranz zu üben. Die wichtigste Grundlage ist ein respektvoller Umgang mit- einander. „Respektvoll“ heißt, wir müssen erst einmal anerkennen, dass auch der andere Bedürfnisse hat. Wir müssen verstehen, dass Kinder auch kreischen. Wir müssen verstehen, dass zum Kinderlärm nicht nur das Juchzen von Kindern, sondern auch der An- und Ab- fahrtsverkehr der Eltern, die ihre Kinder zum Kindergar- ten bringen, gehört – wenig romantisch, aber genauso zwingend. Wir müssen verstehen, dass Kinder und Ju- gendliche nicht nur akzeptiert werden müssen, wenn sie klein und niedlich sind, sondern auch dann, wenn sie Punkmusik hören, rotgefärbte Haare haben und viel- leicht sogar noch Ohrringe tragen und tätowiert sind. Wir müssen aber auch verstehen, dass manche Leute ein erhöhtes Ruhebedürfnis haben. Erst mit diesem Ver- ständnis können wir ein Niveau der Toleranz erreichen, das es uns auch dann, wenn die Gesetze nicht mehr grei- fen, ermöglicht, gelassen mit einer Situation umzugehen (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) und etwas zu tun, was in letzter Zeit vielleicht etwas au- ßer Mode gekommen ist, nämlich miteinander reden. Wenn wir das schaffen, meine Damen und Herren, dann befindet sich nicht nur die Koalition mit den Opposi- tionsparteien, sondern auch die ganze Gesellschaft auf einem guten Weg. Das würde ich uns allen für die Zu- kunft wünschen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak- tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12677 (A) (C) (D)(B) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt worden: Über Jahre hinweg galt es in Teilen der Öffentlichkeit als völ- lig normal, dass Geräusche spielender Kinder als Lärm im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes behan- delt wurden. In Hamburg und anderen Städten bedeutete dies, dass Kindertagesstätten aufgrund von Anwohner- klagen geschlossen werden konnten. In Wohngebieten ist es keine Seltenheit, dass das Spielen auf den Grünflä- chen vor Häusern für Kinder verboten ist. Unsere Städte bieten Kindern immer weniger Platz und Möglichkeiten zum freien Spielen. Deshalb unterstützt meine Fraktion den Entwurf eines Gesetzes zur Veränderung des Bun- des-Immissionsschutzgesetzes. Künftig wird also klar- gestellt sein, dass Geräusche von Kindern nicht mit Maschinenlärm gleichzusetzen sind. Das ist nur zu be- grüßen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Das kann aber eben nur ein erster Schritt sein. Für mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin steht fest: Auch das Fußballspiel oder das Inlineskaten von Ju- gendlichen sollte und dürfte nicht mit Maschinen- oder Fluglärm gleichgestellt werden. Dass die Privilegierung durch den vorliegenden Gesetzestext nur für Kinder bis 14 Jahre gelten soll, verstößt ein weiteres Mal – Frau Rupprecht hat es gesagt – gegen die UN-Kinderrechts- konvention, die ausdrücklich bei Menschen bis zu 18 Jahren von Kindern spricht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Demzufolge dürfte eine solche Unterscheidung gar nicht gemacht werden; denn auch für 15-, 16- und 17-Jährige gilt das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieses offenkundige Ausklammern der Bedürfnisse von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren passt aber zum Handlungsmuster der verschiedenen Ministe- rien – leider auch dem des Familienministeriums. Das Hauptaugenmerk liegt seit Jahren auf den kleinen Kin- dern, egal ob beim Kinderschutzgesetz, das wir hier ja bald behandeln werden, bei familienfördernden Leistun- gen wie dem Elterngeld, das auch an kleine Kinder ge- knüpft ist, oder beim dringend notwendigen Ausbau der Kindertagesbetreuung. Aber Jugendpolitik? Ich frage Sie: Was passiert denn hier noch? Jugendpolitik ist für Union und FDP nur noch ein Bereich für minimale Projektförderung, aber noch eher genau die Stelle, wo der Rotstift am stärksten ange- setzt wird, und das darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Auch die Kinder, für deren Recht auf Spiel Sie heute werben, werden in einigen Jahren als Jugendliche voll- kommen zu Recht ihr Recht auf Sport und Spiel und ei- nen Platz dafür einfordern; denn auch zu ihrer Entfaltung gehört, dass sie Orte und Plätze für sich haben. Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert darum zu Recht – ich zitiere –: Mit der Bereitstellung von pädagogischen Orten wie Spielplätzen oder Schulhöfen ist es allein nicht getan. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung der Städte und Gemeinden, in denen sich Kinder und Jugendliche wohl fühlen und in denen genera- tionenübergreifendes Leben stattfindet. Für mich bedeutet das, dass es dringend gesellschaftli- cher und rechtlicher Veränderungen im Status von Kin- dern und Jugendlichen bedarf. Der Umweg über das Bundes-Immissionsschutzge- setz hat nicht zuletzt deshalb so lange gedauert, weil sich die derzeitige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen weiterhin massiv dagegen wehren, die Kin- derrechte im Grundgesetz zu verankern. Durch das Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die Verpflichtung zur Schaffung von kindgerechten Lebens- bedingungen im Grundgesetz wäre diese Debatte deut- lich vereinfacht und verkürzt worden. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich fordere Sie deshalb auf, auch in diesem Punkt end- lich einen Schritt nach vorne zu gehen und Mut zu be- weisen. Frau Skudelny, Sie haben es ja angesprochen: Auch mir ist durchaus bewusst, dass die Länderkompetenzen beim Lärmschutz und bei der Umsetzung von Bau- nutzungsverordnungen berücksichtigt werden müssen. Umso erfreulicher ist es, einmal ein gutes Beispiel nen- nen zu können. In Berlin gilt seit dem Jahr 2010: Geräu- sche, die von Kindern verursacht werden, sind auch ju- ristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu beurteilen. Berlin war damit das erste Bundesland, in dem eine solche Privilegierung auch gesetzlich verankert wurde. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Berlin auch Kinderrechte in der Verfassung stehen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich komme zum Schluss. Das OVG Münster sagt – ich zitiere noch einmal –: Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine falsche Einstellung zu Kindern … Ich finde, dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir gehen ei- nen ersten Schritt in die richtige Richtung – immerhin. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Josef Göppel von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. 12678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Josef Göppel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- legin Golze, die Opposition würde glaubwürdiger, wenn sie dort angreifen würde, wo wirkliche Schwachpunkte vorliegen. Nach dem ersten Urteil von vor sechs Jahren, aus dem Jahr 2005, hat die schwarz-gelbe Koalition die Sache jetzt geregelt. Ich fände es gut und auch angemes- sen, wenn Sie hier sagten: Das ist jetzt ein echter Fort- schritt. (Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich doch gesagt!) – Das habe ich am Schluss leider nicht mehr gehört. (Zuruf von der LINKEN: Das hat sie auch am Anfang gesagt!) – Gut, dann stimmen Sie doch sicher mit. (Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, natürlich!) – Wunderbar. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]) Frau Rupprecht, Ihre Rede hat mir gefallen, weil sie auf Gemeinsamkeit angelegt war. Übrigens habe ich mich gefragt, Frau Rupprecht, was mich dazu befähigt, hier zum Thema Kinderlärm zu reden. Dann ist mir ein- gefallen, dass ich vier Töchter und eine Enkeltochter habe und in froher Erwartung weiterer Enkelkinder bin. (Iris Gleicke [SPD]: Guter Hoffnung!) – Genau. – Es ist wichtig, diese Dinge aus der Praxis he- raus zu beurteilen. Es hat zwar lange genug gedauert, aber inzwischen haben Minister Röttgen und das Ministerium für Umwelt gehandelt und das Bundes-Immissionsschutzgesetz jetzt so deutlich gefasst, dass kein Richter in Deutschland es mehr falsch lesen und auslegen kann. Das ist der ent- scheidende Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deswegen denke ich, dass wir für die Kinder einen ech- ten Fortschritt bewirken. Die Beschränkung auf unter 14-Jährige ist eine juris- tische Grenze, und Grenzen bergen immer Probleme. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass zum Bei- spiel ein 17-jähriger Jugendlicher, der mit einem Moped mit aufgebohrtem Auspuff herumfährt, von diesen neuen Vorschriften nicht Gebrauch machen kann, was sicher- lich auch in Ihrem Interesse ist. Deswegen ist eine be- stimmte Differenzierung sehr wohl sachgerecht und richtig. Ich denke, dass dieses Gesetz insgesamt für die Kinder und Familien in Deutschland einen echten Fort- schritt bringen wird. Ich möchte noch einmal auf meine vier Töchter zu sprechen kommen und im Hinblick auf Ihre nachden- kenswerte Rede, Frau Kollegin Rupprecht sagen: Der Mobilitätsdruck, der mit unserem Wirtschaftssystem verbunden ist, erschwert den tüchtigen jungen Leute in vielen Fällen die Familiengründung und das Kinderkrie- gen. Damit sind Fragen verbunden, die weit über die Tolerierung von Lärm und die Planung von Kindertages- einrichtungen und Kinderspielplätzen hinausgehen. Es ist eine bleibende Aufgabe, die Gesellschaft und Ar- beitswelt so zu gestalten, dass Kinderwunsch und Fami- liengründung weiter möglich sind. Diese Aufgabe sehe ich als weit wichtiger an als die bestehende gesetzliche Regelung. Wir sind aber auf einem guten Weg. Ich bedanke mich schon jetzt für die Zustimmung der Opposition zu die- sem Gesetzentwurf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun- desregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwürfe eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Pri- vilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kin- derspielplätzen ausgehenden Kinderlärms. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5957, die ge- nannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf Drucksache 17/5709 sowie der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 17/4836 zusammenzu- führen und unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- nommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- nommen. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5957 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der SPD auf Drucksache 17/881 mit dem Titel „Kin- derlärm – Kein Grund zur Klage“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen ge- gen die Stimmen der SPD und der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12679 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) sache 17/1742 mit dem Titel „Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- che 17/2925 mit dem Titel „Vorrang für Kinder – Auch beim Lärmschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- gesetzbuch und anderer Gesetze (RV-Altersgrenzenanpassungs-Aussetzungsge- setz – RV-AgAG) – Drucksache 17/3546 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/5298 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rente ab 67 vollständig zurücknehmen – Drucksachen 17/2935, 17/5298 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern – Rentenzugang flexibilisieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaf- fen – Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider- spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- schlossen. Ich eröffnet die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Karl Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die umlagefinanzierte Rente in Deutschland ist für Millionen Menschen eine zuver- lässige Alterssicherung. Die umlagefinanzierte Rente wurde von vielen Seiten angegriffen. Sie wurde totgere- det und als überflüssig angesehen. Man glaubte, sie durch andere Modelle ersetzen zu können. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir – das hat hoffentlich auch der Letzte begriffen –, dass die um- lagefinanzierte Rente ein Stabilitätsfaktor in Deutsch- land ist und Millionen Menschen ein geregeltes Einkom- men zum richtigen Zeitpunkt gewährt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb muss man sie stärken und nicht schwächen!) Das System der umlagefinanzierten Rente wird nur funktionieren, wenn wir keinen der Partner, die daran beteiligt sind, überfordern: die junge Generation nicht, die in Zukunft auf die gesetzliche Rente angewiesen ist und in die Rentenkasse einzahlt, die jetzige Generation nicht, die die Rente erwirtschaften muss, und die Gene- ration der Rentnerinnen und Rentner nicht, die heute auf die Rente angewiesen sind. Es ist deswegen notwendig, die Rente stabil zu halten. Innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es aber relativ wenige Stell- schrauben, die wir nutzen können, um dies zu gewähr- leisten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen – und zwar freudig –, dass sich seit 1960 die Rentenlaufzeit von 9,9 Jahren auf nun 19 Jahre verlängert hat. Das heißt, Menschen, die damals in Rente gingen, hatten gerade neun Jahre bzw. maximal zehn Jahre etwas von ihrer Rente, während Menschen, die heute in Rente gehen, 19 Jahre etwas von ihrer Rente haben. Die Rente ist nicht geringer gewor- den; sie wird über einen längeren Zeitraum gezahlt. Es ist aber notwendig, die gute Entwicklung der höheren Lebenserwartung so zu berücksichtigen, dass sicherge- stellt ist, dass man im Alter zuverlässig eine Rente be- kommt. (Beifall bei der CDU/CSU) 12680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Karl Schiewerling (A) (C) (D)(B) Wir haben nur wenige Möglichkeiten. Die erste Mög- lichkeit ist, den Rentenbeitrag zu erhöhen. Das heißt, die Lohnnebenkosten steigen, und die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer werden belastet. Die zweite Möglichkeit ist, das Rentenniveau abzusenken. Das lässt sich nicht beliebig machen; denn es darf nicht passieren, dass man am 30. eines jeden Monats so wenig Rente überwiesen bekommt, dass man davon noch nicht einmal seine Miete bezahlen kann. Die dritte Möglichkeit ist, die Ren- tenlaufzeit zu verkürzen. Das heißt, dass die Menschen – weil sie länger leben – länger arbeiten und auch länger in die Rentenkasse einzahlen müssen. Die vierte Mög- lichkeit ist, den Bundeszuschuss zu erhöhen. Dieser be- trägt heute schon 80 Milliarden Euro und ist der größte Posten im Etat der Bundesarbeitsministerin. Ich glaube nicht, dass das alles weiterhin beliebig nach oben dehnbar ist. Deswegen gibt es aus unserer Sicht zu der Verkürzung der Rentenlaufzeit bzw. der Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine Alternative. Die Entscheidung, die wir in der Großen Koalition ge- meinsam getroffen haben, war richtig. Wir sollten dazu stehen und keine Zweifel daran aufkommen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich muss dann auch jemand bis 67 Jahre arbei- ten können. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen in der Wirtschaft und dort, wo die Menschen tätig sind, entsprechend gestaltet werden. Es ist nicht so, als hätte der Staat in dieser Frage keine Initiativen ergriffen und die Wirtschaft noch nicht begriffen, dass sie selbst vor diesen Fragen steht und diese selbst beantworten muss. Deswegen ist es gut, dass mittlerweile innerhalb der Wirtschaft ein Entwicklungsprozess eingetreten ist. Die- ser hat in vielen großen Betrieben begonnen, und auch die kleinen und mittleren Betriebe sind dabei, sich da- rauf einzustellen. Vor dem Hintergrund der demografi- schen Entwicklung wissen sie, dass die Menschen länger arbeiten müssen und dass sie als Betriebe immer mehr auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sind. Wir müssen ihnen helfen, dass das auch möglich ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Bundesregierung hat hierzu zahlreiche Initiativen er- griffen. Ich bin sicher, dass diese Initiativen greifen wer- den. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Das, was vor kurzem der Rat der Wirtschaftsweisen auf den Tisch gelegt hat, nämlich dass man ab 2060 bis 69 Jahre arbeiten soll, halte ich schlechterdings für Kaffeesatzleserei und in der jetzigen Situation für völlig kontraproduktiv und für überhaupt nicht hilfreich; denn die Rente mit 67 Jahren hat ja noch gar nicht begonnen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal dem Bundeswirtschaftsminister!) Der erste Jahrgang hat damit noch gar nicht angefangen. 2012 werden die ersten Rentenjahrgänge einen Monat über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssen. Sie wer- den also mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen. Erst 2029 wird der erste Jahrgang bis 67 Jahre arbeiten müssen. Ich finde es notwendig, dies in dieser Klarheit der Bevölkerung zu sagen und daran auch nicht zu deu- teln; denn Rentenpolitik ist kein Bereich, in dem man sich parteipolitische Auseinandersetzungen beliebig lang erlauben kann, weil die Menschen wissen müssen, wo- rauf sie sich einlassen, (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist ganz wichtig!) weil es um ihre Zukunft im Alter geht, weil es um ihre Sicherheiten geht. Sie müssen Klarheit in dieser Angele- genheit haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dass wir in dieser Frage nicht auf dem falschen Weg sind, stellt nicht zuletzt das Gutachten des Sozialbeirates fest, in dem sowohl die Arbeitgeber als auch die Ge- werkschaftsvertreter und andere aus der Sozialwissen- schaft kommende Persönlichkeiten deutlich sagen, dass dieser Weg gangbar, sinnvoll und notwendig ist, um den Menschen Sicherheit und für die Rente Planbarkeit zu geben und um die umlagefinanzierte Rente als genera- tionsübergreifendes Solidarprinzip in unserer Gesell- schaft zu erhalten. Unsere Aufgabe besteht darin, den Menschen zu sagen, dass es sich lohnt, sich dafür einzu- setzen, weil wir über diesen Weg Alterseinkünfte und Alterssicherung organisieren können. Das ist die Position unserer Fraktion. Daran lassen wir nicht deuteln. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch vonseiten des früheren Koalitionspartners, der SPD, an dieser Frage nicht gedeutelt würde. Wir haben dies zusammen beschlossen, und das war der richtige Weg. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Anton Schaaf (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Karl Schiewerling, in der Tat können im nächsten Jahr die Menschen erst mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen, aber nur diejenigen, die es bis 65 Jahre schaffen. Diejenigen, die es nicht bis 65 Jahre schaffen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!) werden auch nicht einen Monat länger arbeiten, weil sie arbeitslos sind, weil sie aus den Betrieben herausge- drängt worden sind, weil sie keine Beschäftigungschan- cen haben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Nicht diejenigen, die mit 65 Jahren Arbeit haben, son- dern diejenigen, die mit 65 Jahren keine Arbeit haben, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12681 Anton Schaaf (A) (C) (D)(B) sind das Problem. Das ist der entscheidende Punkt, der von dieser Koalition immer ignoriert wird. Karl Schiewerling, wir stehen zu diesem Gesetz, aber in seiner Gänze. In dem Gesetz steht, dass die Regierung im Jahre 2010 verpflichtet ist, zu überprüfen, wie die ar- beitsmarkt- und sozialpolitische Situation der Älteren ist und ob es vor dem Hintergrund geboten ist, die Rente mit 67 Jahren ab 2012 einzuführen. In Anbetracht der Realitäten kommen wir zu einem anderen Schluss als Sie: 27 Prozent der über 60-Jährigen sind in Beschäfti- gung. Das heißt im Klartext: Die übergroße Mehrheit der Menschen über 60 Jahre ist nicht in Beschäftigung, und sie kommt auch nicht bis 65 Jahre und einen Monat in Beschäftigung. Das ist die Realität. Die Realität ist, Karl Schiewerling, dass das Ifo-Insti- tut eine Untersuchung bei 1 000 Betrieben gemacht und gefragt hat: Wie ist das denn mit der längeren Bindung der Älteren an euer Unternehmen? – 72 Prozent der Un- ternehmen haben gesagt, dass sie grundsätzlich keine längere Bindung der Älteren an ihr Unternehmen haben wollen. 72 Prozent! Gestern hat der, wie ich fand, bemerkenswerterweise sehr offen debattierende Chef der Bundesagentur uns von einer Reise erzählt, die er zu Unternehmen in Ba- den-Württemberg gemacht hat. Jetzt reden wir über ein Land, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. In den Unternehmen hat er die Unternehmer auf die Einstellung von über 60-Jährigen angesprochen. Fast alle Unter- nehmen haben ihm geantwortet: Wir stellen keine über 60-Jährigen ein. – Das ist die Realität in diesem Land. Sie wollen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen, die Menschen länger zu beschäftigen, und die Realität ist: Der Druck wird schlicht an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergegeben. Sie werden Renten- kürzungen hinnehmen müssen. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!) Das ist das, was Sie völlig ignorieren. Wenn jemand, weil er in den sozialen Sicherungssys- temen ist, zum Beispiel im Arbeitslosengeld-II-Bezug, vorzeitig die Rente beantragen muss – das muss er oder sie mit 63 –, dann hat er oder sie im nächsten Jahr 0,3 Prozent Rentenabschläge zusätzlich hinzunehmen, und zwar dauerhaft, für immer. Das nehmen Sie schlicht- weg in Kauf. Das hat nichts damit zu tun, ob man grundsätzlich der Meinung ist, man müsse ein höheres Renteneintrittsalter einführen. Wir sagen: Die Voraussetzungen dafür, es jetzt einzuführen, sind schlichtweg gesellschaftlich nicht gegeben. – Das ist genau das, was Sie ignorieren. Deswegen sagen wir auch nicht: „Wir machen die Rente mit 67 gar nicht“, sondern wir sagen: Die Einfüh- rung muss verschoben werden, weil die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Situation – das zu überprüfen, ist ja ein Teil dessen, was im Gesetz verankert ist – es zurzeit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlicht- weg nicht hergibt. (Beifall bei der SPD – Johannes Vogel [Lüden- scheid] [FDP]: Das ist unfassbar!) Wenn wir die Einführung der Rente mit 67 verschie- ben würden, wäre das sozusagen beitragsneutral, weil wir maximal Vorfinanzierungskosten hätten. Aber was machen Sie? Sie halten einfach stur daran fest – das ist übrigens auch ein Problem bei dem Grünen-Antrag –, zu sagen: Wir machen es ab 2012. – Tatsächlich aber haben die, die in Zwangsrente gehen müssen, keine Chance. Sie werden mehr Abschläge hinnehmen müssen. Das nehmen Sie mit Ihrem Antrag in Kauf. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das ist leider so!) Wir sagen: Wir müssen das verschieben, um die Re- alitäten im Land auch tatsächlich zu verändern. Wir brauchen eine höhere Beschäftigungsquote. Wir brau- chen mehr Chancen. Wir brauchen vor allen Dingen end- lich auch Ihrerseits eine Antwort darauf, was wir denn mit denen machen, die schon heute nicht bis 65 arbeiten können und später auch nicht bis 67, weil sie aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind. Was machen wir mit diesen Menschen? Sie muten ihnen einfach mehr Rentenab- schläge zu. Zur Erwerbsminderungsrente haben Sie überhaupt keine Antwort und lassen die Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind, schlichtweg im Stich. Das ist die Realität dieser Regierung und dieser Regie- rungskoalition. Meine Damen und Herren, Sie haben angekündigt, das Thema Altersarmut großartig in einer Regierungs- kommission zu bearbeiten. Mittlerweile soll es keine Re- gierungskommission mehr sein, sondern jetzt soll es eine Expertenrunde werden. Ich hoffe, Sie sind noch dabei, wenn die Ministerin Experten zusammenruft, um zu un- tersuchen, was man denn gegen Altersarmut machen kann. Wenn Sie so, wie es jetzt vorgesehen ist, an der Rente mit 67 festhalten, werden Sie – das garantiere ich Ihnen – das Problem der Altersarmut für einen ganz großen Teil der Beschäftigten in diesem Land noch verschärfen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das ist so! Richtig!) vor allen Dingen für diejenigen, die erwerbsgemindert sind. Liefern Sie an der Stelle endlich Antworten! Wo sind Ihre Initiativen, tatsächlich die Beschäftigungsquote Älterer dauerhaft zu erhöhen? Wo sind sie? Sie halten stur am höheren Renteneintrittsalter fest. Ich sage Ihnen: Sie verlagern den Druck, den Sie eigentlich auf die Unternehmen ausüben wollten, auf die, die ihre Le- benssituation nicht ändern können, und das sind die über 60-Jährigen, die in diesem Land keine Arbeit haben. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 12682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit November des letzten Jahres liegt der Bericht der Bundesregierung nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhe- bung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vor. Mir ist nicht bekannt, Herr Kollege Schaaf, dass die darin auf- geführten Fakten – ich betone zunächst einmal: die Fak- ten – zur demografischen Entwicklung, zur Entwicklung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer von ir- gendwem ernsthaft infrage gestellt würden. Was mir auf- fällt, ist, dass die Fakten unterschiedlich interpretiert und, wenn ich mir die Linke anschaue, teilweise sogar ignoriert werden. (Lachen bei der LINKEN) – Sie sagen, Herr Kollege Birkwald, in Ihrem Antrag, die Lage am Arbeitsmarkt sei für ältere Arbeitnehmer katastrophal. Das kann ich so nicht feststellen. Ich wi- derspreche dem sogar nachdrücklich und sage für unsere Fraktion – ich denke, auch für die Koalition –: Die Ar- beitsmarktsituation hat sich für ältere Menschen in den letzten Jahren spürbar verbessert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine relative Bestimmung! Wir reden von einer absoluten Bestimmung!) Das ist ein Faktum, und das wird natürlich auch von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung getragen, die sich an 3,7 Prozent Wachstum im letzten Jahr und an 2,5 bis 3,x Prozent auch in diesem Jahr ablesen lässt. Dies trägt insgesamt dazu bei, dass auch für ältere Menschen Be- schäftigungschancen gehalten werden oder neu entstehen und Perspektiven für diese Menschen begründet werden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Der BA-Chef hat ein positiveres Bild gezeichnet!) Was ich immer feststelle, wenn ich Ihre Anträge lese, Herr Kollege Schaaf, Herr Kollege Birkwald, also von SPD und Linken, ist: Diese Anträge beruhen aus unserer Sicht auf einer falschen Sichtweise. Sie sind von der Vorstellung geleitet, dass ein möglichst früher Renten- eintritt erstrebenswert und sinnvoll sei. Ich sage: Wir brauchen da einen Mentalitätswandel. Hier müssen Sie sich in eine andere Richtung drehen und feststellen, dass es auch noch andere Wahrheiten gibt. Ich empfehle Ih- nen die Lektüre der Zeit von heute, in der Elisabeth Nie- jahr einen, wie ich finde, sehr lesenswerten Artikel mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten“ geschrieben hat. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das kann sie ja!) Darin beschreibt sie Beispiele von Arbeitnehmern, die an der Regelaltersgrenze stehen. Jeder fragt für sich indi- viduell: Warum eigentlich müssen wir aufhören zu arbei- ten? Sie sagen: Wir definieren uns über unsere Arbeit, die Altersgrenze bevormundet uns, wir wollen das nicht. – Das ist die andere Möglichkeit, auf den gleichen Sach- verhalt zu schauen. Diese Perspektive sollte nach unse- rer Auffassung in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir ha- ben die Perspektive der Beschäftigten!) Ich gönne jedem seinen Ruhestand; das ist gar nicht der Punkt. Aber mir fällt ein Widerspruch auf: Wir So- zialpolitiker reden häufig von Teilhabe. Menschen mit Behinderung sollen teilhaben, arme Menschen sollen teilhaben, junge Menschen, Migranten, all diese Grup- pen sollen mehr teilhaben. Aber bei der Diskussion über ältere Menschen geht es meistens nur um die Finanzie- rung von Nichtteilhabe oder Nicht-mehr-Teilhabe, also darum, wie man einen Ausstieg organisiert, wie man die Menschen aus den Betrieben herausdrängt. Das ist ja oft mit der Altersteilzeit passiert; verschließen wir doch nicht davor die Augen, was in den Betrieben die Realität war. Dies müssen wir überwinden, und deswegen brau- chen wir den Perspektivwechsel. Ich sage noch einmal: Viele Menschen wollen länger arbeiten. Aber sie wollen – das ist aus unserer Sicht der entscheidende Knack- punkt – flexibel den Zeitpunkt ihres Ausstiegs selbst be- stimmen, gegebenenfalls auch schrittweise über Teilren- tenlösungen. Viele Arbeitgeber – das ist die andere Seite des Ar- beitsmarktes – erkennen zunehmend, dass ältere Arbeit- nehmer wichtig sind. Aber mich hat gestern genauso wie Sie, Herr Schaaf, der Bericht berührt und schockiert, den Herr Weise über seine Betriebsbesuche abgegeben hat, wonach sich Unternehmer beklagen, sie fänden keine Facharbeiter, aber niemand im Kopf den Schalter umlegt und darüber nachdenkt, einen 55-jährigen oder 60-jähri- gen Arbeitnehmer noch einmal zu beschäftigen. Das müssen wir erreichen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Machen Sie das mal erst!) Das ist in vielen Fällen – ich habe gestern die Bundes- arbeitsministerin auch in der Regierungsbefragung da- nach befragt – gar nicht einmal eine Frage des Geldes, das man dafür in die Hand nehmen muss, sondern hier ist wirklich ein Mentalitätswechsel in den Köpfen, ein Paradigmenwechsel gefordert. In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren viele Unternehmer und leitende An- gestellte in den Unternehmen stolz darauf, wenn sie eine möglichst junge Belegschaft hatten. Wir müssen dahin kommen, dass es eine Auszeichnung für einen Betrieb ist, wenn sich in der Belegschaft auch noch viele ältere Arbeitnehmer finden. Die Mischung aus Jungen und Al- ten, aus Erfahrung und Neugier und neuen Bestrebungen im Arbeitsmarkt kann ein Erfolgsmodell für Unterneh- men sein. Ich wünsche mir, dass es Schule macht. In diesem Sinne empfinde ich Ihre Anträge als rück- wärtsgewandt. Denken Sie mit uns nach vorne! Flexible Übergänge und eigene Entscheidungen der Arbeitneh- mer müssen das Gebot der Stunde sein. Dafür kämpfen und arbeiten wir. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12683 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Perspektive der Linken ist die der Beschäf- tigten und der Betroffenen. Deswegen sage ich: Die Rente erst ab 67 muss weg, ohne Wenn und Aber. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Die Linke muss weg!) Das ist der Kern unseres Antrags, über den wir hier heute diskutieren, und das ist auch das Ziel des Gesetz- entwurfs, den die Linke vorgelegt hat. Seit vergangener Woche redet die Bundesregierung nicht mehr nur über die Rente erst ab 67; (Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Bundesre- gierung redet überhaupt nicht davon!) vielmehr diskutiert Schwarz-Gelb ernsthaft den völlig unsäglichen Vorschlag der sogenannten Wirtschaftswei- sen, die Rente erst ab 68 oder gar ab 69 einzuführen. Doch ein höheres gesetzliches Rentenalter bedeutet für die Friseurin oder den Gerüstbauer und die meisten Be- schäftigten nicht mehr Lebensarbeitszeit oder gar mehr Rente. Die Rente erst ab 67, von der Rente erst ab 69 ganz zu schweigen, bedeutet für die Menschen deutlich weniger Rente. Das ist die bittere Konsequenz, und ge- nau das will die Linke verhindern. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzlerin Merkel hat auf der Pressekonferenz zum Demografiegut- achten des Sachverständigenrates die Frage aufgeworfen – ich zitiere –, wie wir die reale Arbeitszeit dem gesetzli- chen Renteneintrittsalter besser annähern und Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaf- fen können. Zitat Ende. Das ist doch vollkommen ver- quer. Erst basteln Sie wirklichkeitsfremde Gesetze, und dann verlangen Sie unter Androhung drastischer Renten- kürzungen von den Menschen, dass sie sich diesen welt- fremden Gesetzen anpassen müssen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Gesetze müssen realitätstauglich sein. Aber genau das ist die Rente erst mit 67 ganz und gar nicht. Deswegen muss sie weg! (Beifall bei der LINKEN) Denn bereits heute klafft eine riesige Lücke zwischen dem tatsächlichen Rentenbeginn und dem gesetzlich vorgeschriebenen Rentenalter. Heute halten sich die Menschen im Durchschnitt bis gut 63 am Arbeitsmarkt. Sie schaffen es gar nicht bis zu ihrem 65. Geburtstag, wie vom Gesetz vorgesehen. Kollege Schaaf ist darauf bereits eingegangen. Die Wirklichkeit am Arbeitsmarkt sieht so aus: Wenn Sie 55 sind, Herr Kolb, haben Sie es ausgesprochen schwer (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) – ja, ich weiß das –, einen neuen Job zu finden. Mit über 60 ist das nahezu unmöglich. Die Fakten: 1 Million Arbeitslose sind älter als 50. Das hat der Bundesagenturchef gestern noch einmal ge- sagt. Bei den Erwerbslosen über 55 hat es keinen Rück- gang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vorigen Jahr gegeben; dies zum Stichwort „Mentalitätswechsel“. Nur jeder Fünfte zwischen 60 und 65 schafft den Sprung aus der Arbeitslosigkeit in einen Job. Bei den 64-Jährigen schaffen es nur 10 Prozent, und nur 9 Prozent der 64-jäh- rigen Männer haben überhaupt noch einen sozialversi- cherten Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es nicht einmal magere 4 Prozent. Gestern hat der Vorstandsvorsitzende der Bundes- agentur für Arbeit, Herr Weise – das ist schon ein paar Mal gesagt worden –, im Ausschuss für Arbeit und So- ziales wörtlich gesagt: Niemand stellt 60-Jährige ein. Das ist leider die traurige Wahrheit, und darum ist die Rente erst ab 67 eine riesige soziale Schweinerei sonder- gleichen. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, die Bundesarbeitsministe- rin Frau von der Leyen behauptet immer, dass den Be- schäftigten ohne die Rente erst ab 67 eine drastische Bei- tragserhöhung drohe. Das ist komplett falsch. Von drastischen Beitragserhöhungen kann überhaupt nicht die Rede sein. Frau von der Leyen will durch die Rente erst ab 67 verhindern, dass der Beitrag bis 2030 um ei- nen halben Prozentpunkt steigt. Das sind bei einem Durchschnittsverdienst nicht einmal 7 Euro. Drastisch ist etwas ganz anderes, dass nämlich den Menschen die Rente gekürzt wird, weil sie sich nicht bis 65, geschweige denn bis 67 am Arbeitsmarkt halten kön- nen, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie eben keine bezahlte Arbeit mehr haben. Jeder Monat, den sie vor dem gesetzlichen Rentenalter in Rente ge- hen, führt zu Rentenkürzungen. So sieht es aus. Diese Kürzungen allerdings sind drastisch, und das ist der ab- solut falsche Weg. (Beifall bei der LINKEN) Von den Beschäftigten, die 2009 neu in Rente gingen, müssen mehr als 55 Prozent Abschläge in Kauf nehmen, im Schnitt 102 Euro, und dies bis zum Lebensende. Für über 70 Prozent der Chemiearbeiterinnen, der Bergleute und der Elektriker bedeutet das, dass ihnen die Rente ge- kürzt wird, nur weil sie es nicht schaffen, bis 65 zu arbei- ten. Hier werden also Leute für etwas bestraft, was sie nicht verschuldet haben und was sie auch ganz und gar nicht selbst ändern können. Und dann soll die Rente erst ab 67 kommen? Nein! (Beifall bei der LINKEN) Das wird von den meisten als eine Riesensauerei emp- funden, zu Recht. Meine Damen und Herren, immer weniger Menschen produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr. Das 12684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Matthias W. Birkwald (A) (C) (D)(B) wissen wir alle. Als Bismarck die Rentenversicherung einführte, brauchte es 13 Menschen im erwerbsfähigen Alter, um eine Rentnerin oder einen Rentner zu finanzie- ren. Heute reichen gut drei, und in 20 Jahren werden es etwas mehr als zwei sein. Also: Die steigende Arbeits- produktivität und das Wirtschaftswachstum sind viel wichtiger für die Finanzierbarkeit der Renten als der de- mografische Wandel. (Otto Fricke [FDP]: Wie war denn der Unter- schied beim Zuschuss?) Ich sage Ihnen: Auch deshalb ist es möglich, auf die Rente erst ab 67 zu verzichten. (Beifall bei der LINKEN) Wer jedoch den Niedriglohnsektor fördert und for- dert, wer einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn blockiert und wer demografische Entwicklungen als Drohkulisse sät – das wird ja häufig gemacht –, wird vor allem eines ernten, nämlich weitere Rentenkürzungen, und er wird die Altersarmut für Millionen zur sozialen Realität machen. Wer das nicht will, muss heute gegen die Rente erst ab 67 stimmen. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist ohne Wenn und Aber gegen die Rente erst ab 67. Deswegen fordern wir mit unserem Antrag, die Rente erst ab 67 vollständig zurückzunehmen. Hier im Parlament stehen wir mit dieser Haltung allein da. In der Gesellschaft ge- hören wir jedoch zur großen Mehrheit all derer, die die Rente erst ab 67 ablehnen. (Beifall bei der LINKEN) Alle Gewerkschaften, Herr Schiewerling, und alle wich- tigen Sozialverbände sind ebenso gegen die Rente erst ab 67 wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es wird Zeit, dass diese demokratische Mehrheit auch hier in diesem Hause endlich Gehör findet. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- mendingen] [CDU/CSU]: Mehrheiten bilden sich nicht durch Umfragen, sondern durch Wahlen!) Ich komme zum Schluss: CDU, CSU, FDP, SPD und die Grünen kämpfen – mit Abweichungen – für die Rente erst ab 67. Aber auch aus Ihren Reihen, liebe Kol- leginnen und Kollegen, hat es die eine oder andere nach- denkliche Stimme gegeben, ohne jedoch völlig von dem Ziel der Rente erst ab 67 abrücken zu wollen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kritik und Ihre Be- denken tatsächlich ernst meinen, dann nutzen Sie die Chance, die Ihnen unser Gesetzentwurf bietet, und ver- schieben Sie wenigstens die Einführung um vier Jahre. In dieser Denkpause könnten Ihre Bedenken dann – ganz im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung – ernsthaft dis- kutiert werden. Ich bitte Sie eindringlich, nachdrücklich und höflich: Nutzen Sie diese Chance! (Beifall bei der LINKEN) Denn dann ginge der Kelch des Kürzungsprogramms na- mens Rente erst ab 67 zumindest an den 1947, 1948, 1949 und 1950 Geborenen vorbei. Die sollen nämlich schon bald und nicht erst 2029 länger arbeiten oder we- niger Rente erhalten. Wenn Sie einmal dabei sind: Nehmen Sie die Beden- ken der arbeitenden Menschen, der Sozialverbände und aller Gewerkschaften ernst. Stimmen Sie auch unserem Antrag zu! Sagen Sie Nein zur Rente erst ab 67! Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei wichtige Vorbemerkungen: Erstens. Die Rente ab 67 wird es erst im Jahr 2031 ge- ben. Wir fangen nächstes Jahr langsam damit an. Das zu bedenken, ist wichtig. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Zweite wichtige Vorbemerkung. Die Rente mit 67 stellt keine Rentenkürzung dar. Das Gegenteil ist der Fall. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Es ist nämlich so, dass durch die Rente mit 67 nicht nur die Beiträge sinken, sondern – das hat die Rentenversi- cherung vorgerechnet – auch der Rentenwert wird in- folge der Rente mit 67 steigen. Das heißt, die Rente mit 67 stellt keine Rentenkürzung dar, sondern eine Renten- erhöhung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diejenigen, die sich gegen die Rente mit 67 wehren und sie wieder abschaffen wollen, sind die eigentlichen Rentenkürzer. Sie sitzen insbesondere in der Fraktion Die Linke. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das, Herr Birkwald! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Völlig verquer!) Sie wollen eine Rentenkürzung, Sie wollen geringere Renten im Jahr 2030 als die anderen Fraktionen hier im Bundestag. Das ist die Wahrheit. Wenn Sie das richtig rechnen – ich habe das beim letzten Mal schon anhand des Kuchenbeispiels erklärt, das ja auch Sie immer gerne heranziehen –, kommen Sie zu dem Ergebnis: Es ist insgesamt mehr Rente zur Verfü- gung. Wenn mehr Leute länger arbeiten und es weniger Rentner gibt, dann sind nämlich die Kuchenstücke im Durchschnitt größer. Das heißt, es profitieren insbeson- dere die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von der Rente mit 67; sie werden eine höhere Rente haben, wenn wir die Rente mit 67 einführen. Das fängt nächstes Jahr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12685 Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (C) (D)(B) an und steigt dann langsam bis 2031 an. So ist die Situa- tion. Alle Erwerbstätigen, die nach der vollständigen Ein- führung der Rente ab 67 im Jahr 2031 zwei Jahre länger arbeiten können, profitieren gleich doppelt, und zwar von dem höheren Rentenwert und den zusätzlichen Ren- tenansprüchen, die sie durch ihre längere Erwerbstätig- keit erwerben. Bei am Ende zwei Jahre längerer Er- werbstätigkeit sind dies nach heutiger Rechnung 55 Euro mehr Rente im Monat. Selbst manche Arbeitslose, näm- lich die, die Arbeitslosengeld I bekommen, erhalten eine höhere Rente, weil auch im Rahmen des Bezuges von Arbeitslosengeld I Rentenbeiträge gezahlt werden und man damit entsprechend höhere Rentenansprüche erwirbt. Trotzdem ist nicht alles rosig. Es liegen noch viele Aufgaben vor uns. Wir sehen vor allen Dingen drei Großbaustellen. Es gibt durch die Rente mit 67 zwar ins- gesamt eine Verbesserung, aber in der Tat gibt es auch Menschen, die dadurch schlechter gestellt werden. Der Kollege Schaaf hat dies vorhin schon erwähnt. Die Ar- beitslosengeld-II-Empfänger, die zwangsverrentet wer- den, werden einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müs- sen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Erwerbsmin- derung, für die sich die Altersgrenze für die abschlags- freie Rente im Rahmen der Einführung der Rente mit 67 erhöhen wird. Für diese Gruppen kann man vor 2012 noch etwas tun. Handeln Sie von den Koalitionsfraktio- nen, und verhindern Sie, dass es im nächsten Jahr für diese Personenkreise eine Rentenkürzung gibt. Wir fordern, dass die Altersgrenze für die abschlags- freie Erwerbsminderungsrente nicht angehoben wird; denn niemand bezieht freiwillig eine Erwerbsminde- rungsrente. Auch die Zwangsverrentung haben wir schon immer kritisiert. Wir wollen, dass sie rückgängig gemacht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft durch die Rente mit 67 Nachteile haben. Deswegen ist es für uns besonders wichtig, dass wir mithilfe von flankieren- den Maßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinem höhe- ren Grundsicherungsbezug durch die Rente mit 67 kommt. Dies erreichen wir, indem wir die Menschen durch eine Garantierente vor Altersarmut schützen. Da- durch ist sichergestellt, dass derjenige, der lange versi- chert war, eine Rente über dem Grundsicherungsniveau erhält. Sie haben die Einrichtung einer Altersarmutskommis- sion versprochen. Das ist wieder verschoben worden. Es gibt zum Thema „Bekämpfung der Altersarmut“ immer noch keine Vorschläge von Ihnen. Wir schlagen, wie ge- sagt, eine Garantierente vor. Sie ist für uns ein wichtiges Instrument, um Altersarmut zu verhindern. Durch die Rente mit 67 würde die Altersarmut, wenn man nichts unternehmen würde, für bestimmte Personengruppen steigen. Die Garantierente ist also eine erste wichtige Forderung von uns. Zweiter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Auch wenn es so ist, wie ich gesagt habe, dass auch Menschen im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine höhere Rente bekom- men, ist es natürlich nicht in unserem Sinne, durch die Anhebung der Regelaltersgrenze die Dauer der Lebens- arbeitslosigkeit zu verlängern. Wir wollen vielmehr die Dauer der Lebenserwerbstätigkeit verlängern. Da reicht es übrigens nicht aus, wenn man nur alternsgerechte und altersgerechte Arbeitsplätze schafft. Man muss schon bei den Jungen anfangen und dafür sorgen, dass ihre Ar- beitsplätze so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich län- ger am Erwerbsleben teilhaben können. Auch das ist eine wichtige Forderung von uns. Dritter Punkt. Beteiligung am Erwerbsleben ist auch Teilhabe. Da gebe ich Herrn Kolb ausnahmsweise ein- mal recht. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sollten Sie viel öfter tun!) Wir wollen es ermöglichen, dass die Menschen länger am Erwerbsleben teilhaben können, ohne sich gesund- heitlich kaputtzumachen. Wir wollen außerdem, dass es einen fließenden Übergang in den Ruhestand gibt, und zwar möglichst selbstbestimmt und sozial abgesichert, damit sich den Ruhestand auch diejenigen leisten kön- nen, die nur wenig verdient haben. Diese drei Punkte, also besserer Schutz gegen Alters- armut durch eine Garantierente, bessere Arbeitsmarktbe- dingungen sowie die Ermöglichung eines fließenden Übergangs in den Ruhestand, sind wichtige flankierende Maßnahmen, die wir alle gemeinsam auf den Weg brin- gen müssen. 2014 gibt es den nächsten Bericht zur Rente mit 67. Wir müssen dann schauen, wie die tatsächliche Entwick- lung verläuft, wer von der Rente mit 67 profitiert hat und wer benachteiligt worden ist. Gegebenenfalls müssen wir an den Stellschrauben drehen und nachbessern, um Benachteiligungen zu beseitigen. Wir nehmen diese Be- richtspflicht ernst und werden nach dem Vorliegen des Berichts schauen, wie es weitergeht. Wir sind aber dage- gen, die Rente mit 67 abzuschaffen; denn insgesamt ge- sehen wird damit die Rente auf eine sicherere Basis ge- stellt, und sie bleibt nachhaltig finanzierbar. Wir müssen aber dafür sorgen, dass diejenigen, die durch die Rente mit 67 benachteiligt werden, davor geschützt werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Ich habe nachgeschaut, was in den letzten Tagen und Wochen an Zeitungsüberschriften zu finden war. Ich 12686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Peter Weiß (Emmendingen) (A) (C) (D)(B) habe folgende gefunden: „Fachkräftemangel schon heute“, „Globaler Arbeitsmarkt fast leergefegt“, „Uns gehen die Arbeitskräfte aus“ oder „Fachkräfte verzwei- felt gesucht“. Irgendwie passen die Anträge der Opposi- tion nicht zu diesen Überschriften. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das meinte ich! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Mil- lion Arbeitslose über 50!) Der wesentliche Punkt ist: Anton Schaaf und auch Herr Birkwald halten Reden, die man angesichts der Entwick- lung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren hätte halten können bzw. halten müssen. Sie passen aber nicht zu dem, was in den nächsten 20 Jahren passieren wird. Derzeit gibt es in Deutschland 44 Millionen Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Man muss sich fragen: Was machen wir dann? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zuwanderung fällt mir da spontan ein!) Wie halten wir unseren Wohlstand? Wie erhalten wir die Produktion in Deutschland aufrecht? Natürlich gibt es die Möglichkeit, Menschen aus allen Ländern der Welt nach Deutschland einzuladen, um hier zu arbeiten, und unsere eigenen Arbeitnehmer mit 55 Jahren in den Vor- ruhestand zu schicken. Aber das ist doch keine Lösung. Das ist volkswirtschaftlich unverantwortlich, und das ist, wie ich finde, auch menschlich unverantwortlich. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, dann muss das zual- lererst heißen: Für die Arbeitslosen und die Älteren in Deutschland muss es Chancen auf dem Arbeitsmarkt ge- ben. Sie sind unser eigentliches Fachkräftepotenzial. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt es aber nicht! Deswegen muss man den Un- sinn jetzt lassen!) Für die Wirtschaft bedeutet das, dass sie umlernen muss. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein Unter- nehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 60 nicht mehr beschäftigt und gleichzeitig bei der Politik anklopft und fordert, wir sollten die Türen öffnen, um Fachkräfte von außen hereinzulassen. (Anton Schaaf [SPD]: Das ist aber die Reali- tät!) Nein, die Sache muss anders laufen. Es muss in deut- schen Betrieben möglich sein, bis 65 bzw. 67 Jahre zu arbeiten, bevor Fachkräfte von außen hereingeholt wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf [SPD]: So ist es aber doch nicht! Planlos an der Realität vorbeigequasselt!) In den nächsten 20 Jahren geht es nicht um die Rente mit 65 oder mit 67. Vielmehr geht es um die Frage: Wird es die deutsche Wirtschaft verstehen, die Arbeitsbedingun- gen so zu gestalten, dass das Arbeiten bis 67 möglich ist, und zwar so, dass es einem Freude macht? Darum muss es gehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überwiegend je- denfalls! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da klatscht nicht einmal mehr die eigene Par- tei!) Ein weiterer Punkt. Erfreulicherweise steigt die Le- benserwartung der Deutschen. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Schnitt noch 20 Jahre vor sich, fünf Jahre mehr als die 60-Jährigen im Jahr 1960. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Machen wir doch die Rente ab 80!) Bei den Frauen sind es sogar sechs Jahre mehr. Alle Pro- gnosen besagen: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ich möchte Sie Folgendes fragen: Bei der Rente geht es um ein Solidarsystem; es geht um Solidarität zwischen Jun- gen und Alten. Was ist daran zu kritisieren, wenn die künftigen Rentnerinnen und Rentner, die die Chance ha- ben, deutlich länger Rente zu beziehen als die früheren und heutigen Rentnerinnen und Rentner, länger in die Rentenversicherung einzahlen? Das derzeit geltende Ge- setz sieht eine Regelaltersgrenze ab 67 ab dem Jahr 2029 vor. Das heißt, dass diejenigen, die im Jahr 2029 und 2030 in Rente gehen und zwei Jahre länger gearbeitet haben als die heutigen Rentnerinnen und Rentner, trotz- dem noch länger Rente beziehen werden als die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Das System der gesetzlichen Rentenversicherung beruht auf Solidarität, und es ist so- lidarisch, dass man länger einzahlt, wenn man länger Rente beziehen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das längere Arbeiten bleibt nicht ohne Effekt. Herr Strengmann-Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen: Länger in die Rentenkasse einzuzahlen, bedeutet auch, dass man höhere Rentenleistungen erhält; es handelt sich nicht um eine Rentenkürzung. Noch einmal: Die Rente mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein Rentenerhöhungsprogramm. Das ist die richtige Darstel- lung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Für alle, die keinen Job haben, stimmt das nicht! Fragen Sie mal den Sozialverband! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Gehen Sie mal in die Unterneh- men!) Kürzlich haben uns die Wirtschaftsweisen in einem Sondergutachten angesichts der Veränderungen im Al- tersaufbau der Gesellschaft, die zwangsläufig auf uns zukommen, dringend dazu geraten, an der Erhöhung der Regelaltersgrenze bei der Rente festzuhalten. Sie haben gesagt, ohne die schrittweise Anhebung des Rentenein- trittsalters drohe ein dramatischer Anstieg der Staats- schulden mit massiven Lasten für künftige Generatio- nen. Um es also klar und deutlich zu sagen: Die Rechnung, die zwei Oppositionsfraktionen hier aufma- chen, wird letztendlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland teurer und schmerzhafter als all die Aspekte der Erhöhung der Regelaltersgrenze, zu denen man Bedenken vortragen kann. Das ist die Wahrheit, die Sie leider verschweigen und die uns die Wirtschaftsweisen ins Stammbuch geschrieben haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12687 Peter Weiß (Emmendingen) (A) (C) (D)(B) Allerdings haben die Wirtschaftsweisen noch etwas anderes gemacht: Sie haben versucht, eine Prognose für die weitere Zukunft aufzustellen, und in diesem Zusam- menhang eine weitere Erhöhung des Rentenalters vorge- schlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, zu solider Politik gehört, dass wir mit den Zah- len rechnen, die uns vorliegen: mit den Zahlen der be- reits geborenen Kinder. Wir sollten keine Berechnungen mit Zahlen zu Menschen durchführen, die es noch nicht gibt, die noch gar nicht leben und in Zukunft geboren werden könnten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da wa- ren die Weisen wohl doch nicht so weise!) Deswegen muss ich klar und deutlich sagen: Es ist gut, dass uns die Wirtschaftsweisen sagen, dass die Erhöhung der Regelarbeitsgrenze notwendig und wichtig ist, um in Zukunft den Wohlstand zu erhalten und die Kosten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch hö- her zu treiben; aber sie sollten die Finger von Weissa- gungen lassen, die man – wenn man Weissagungen mag – vielleicht von Damen mit einer Glaskugel bekommt. So etwas sollte nicht in einem Gutachten der Wirtschafts- weisen stehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Weiß, Sie wären dann zum Ende ge- kommen? Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Jawohl, das tue ich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist gut. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe kei- nerlei Ansatzpunkte dafür, dass wir von der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abgehen sollten. Vielmehr glaube ich, dass wir in 20 Jahren feststellen werden, dass wir das Richtige für mehr Wohlstand und mehr Rente der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gemacht haben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema ist, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze ab 2012 vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerechtfer- tigt ist; das ist der Kern der Auseinandersetzung. Ich will zunächst einmal auf ein paar Vorredner einge- hen. – Herr Kolb, Sie schauen so neugierig. Sie kommen mit Sicherheit noch dran. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich erwartet! Sonst hätte ich die falsche Rede gehalten!) Zunächst einmal zu Herrn Schiewerling. Sie haben die verschiedenen Stellschrauben bei der Rente genannt. Das war alles schön und gut; man könnte Ihre Beschrei- bung der Stellschrauben unterschreiben. Dann haben Sie gefragt: Wer wäre denn für Beitragssatzerhöhungen? – Es ist völlig unstreitig, dass der Beitragssatz ohne die Rente mit 67 in der Endphase maximal 0,5 Prozent- punkte höher wäre; das wird von niemandem bestritten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 7 Euro pro Arbeitnehmer!) Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Bevölkerung abstimmen ließen, ob sie bereit wäre, einen geringfügig höheren Beitrag zu zahlen, oder sie für die Rente mit 67 ist, dann könnte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen, wie die Abstimmung ausgeht. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wieso hat es die SPD dann gemacht? – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischen- frage) – Herr Kolb, jetzt machen Sie den ersten Fehler in der Debatte. (Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb zulassen, Herr Schreiner? – Sie möchten das? Verstehe ich Sie da richtig? Ottmar Schreiner (SPD): Ja, bitte. Er muss zwar nicht, aber er soll. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Danke, Herr Kollege Schreiner, für die Zulassung der Zwischenfrage. – Warum hat Franz Müntefering über- haupt den Vorschlag gemacht, dass die Regelalters- grenze auf 67 erhöht werden soll, wenn das alles so easy ist? Ottmar Schreiner (SPD): Ich schlage vor, ihn das selbst zu fragen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich nehme an, es war ein Ergebnis der Koalitionsver- handlungen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das war es nicht!) Ich war nicht dabei. Deshalb kann ich Ihnen da nicht mit Details dienen. Wenn Sie an Einzelheiten interessiert 12688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Ottmar Schreiner (A) (C) (D)(B) sind, würde ich Ihnen vorschlagen, sich an den Betref- fenden selbst zu wenden. Ich glaube, das wäre sinnvoll. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Außer- dem ist Dazulernen immer erlaubt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich frage noch, ob eine Zwischenfrage von Herrn Straubinger zugelassen wird. Ottmar Schreiner (SPD): Auf eine Frage von Herrn Straubinger habe ich schon gewartet. Er wird schon ganz unruhig. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Danach können wir fortfahren. Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Beitragssatzer- höhung um 0,5 Prozentpunkte als unproblematisch be- trachten und sagen, dass das jeder hinnehmen würde, frage ich mich, warum die SPD-Fraktion das mit der vorgezogenen Abführung der Sozialversicherungsbei- träge zu rot-grüner Zeit anders gehandhabt hat. Das ist schließlich nur zustande gekommen, weil der Rentenver- sicherungsbeitragssatz ansonsten um 0,5 Prozentpunkte hätte angehoben werden müssen. Warum hat die SPD- Fraktion seinerzeit nicht für eine Anhebung um 0,5 Pro- zentpunkte gestimmt? (Anton Schaaf [SPD]: Das belastet aber nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern die Unternehmen! Deswegen war das gerechtfertigt!) Ottmar Schreiner (SPD): Das war gerechtfertigt, weil es eine unterschiedliche Handhabung bei Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmer- beitrag gab. (Beifall bei der SPD – Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) Im Übrigen war der Kern des Ganzen die Absenkung der Lohnnebenkosten. Das ist ein Thema, über das wir lange diskutieren können. Zurück zu den Stellschrauben, die Herr Schiewerling angesprochen hat. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Dazu hätte man noch mehr sagen können!) – Man kann eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte mich aber auf die Kernpunkte konzentrieren. – Herr Schiewerling, Sie haben eine zentrale Stellschraube ver- schwiegen: Was müssten wir unternehmen, um denjeni- gen, die heute mit 63 Lebensjahren aus dem Erwerbsle- ben ausscheiden – das ist der Durchschnitt –, eine Erwerbsarbeit bis zum 65. Lebensjahr zu ermöglichen? (Anette Kramme [SPD]: Genau!) Das ist die entscheidende Stellschraube, um die es ei- gentlich geht. In diesem Zusammenhang müssten wir nicht nur über die Arbeitgeber reden und sagen, dass wir die Wirtschaftskapitäne in die Pflicht nehmen wollen – auch das wäre erforderlich –, sondern wir müssten dann auch darüber reden, welche politischen Maßnah- men in den nächsten Jahren notwendig oder sogar zwin- gend sind, um dieses Problem zu lösen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Da gibt es ja viele Maßnahmen!) Wenn alle Beschäftigten in Deutschland aufgrund der Arbeitsbedingungen das 65. Lebensjahr gesund im Beruf erreichen könnten, können Sie, glaube ich, mit jedem in diesem Haus über die Sinnhaftigkeit einer Arbeitszeit- verlängerung reden. Solange wir diese Situation aber nicht haben und Millionen von Beschäftigten Angst vor einer Arbeitszeitverlängerung haben, geht das nicht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Herr Kolb hat Frau Niejahr zitiert, die einen Artikel in der Zeit mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten!“ ge- schrieben hat. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Artikel!) Sie schreibt im Übrigen viele Artikel in der Zeit. Bei ei- ner Redakteurin der Zeit kann ich mir vorstellen, dass sie länger arbeiten könnte. Das ist gut möglich. Ich kann mir das auch bei Hochschulprofessoren vorstellen. Ich nehme Sie einmal mit in meinen Wahlkreis. Fragen Sie dort einmal Krankenschwestern, die Nacht- und Schicht- arbeit machen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist es! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Erziehe- rinnen!) oder Arbeiter in der Stahl-, der Automobil- oder der Chemieindustrie, die Wechselschicht machen, ob sie die- ser Idee etwas abgewinnen können. Fragen Sie die ein- mal! (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einverstanden! Da muss man eine Lösung finden!) Die Menschen haben, je nach beruflichem Hintergrund, völlig verschiedene Sichtweisen. Wir haben eine Reihe von Berufen in Deutschland, bei denen ohne jedes Pro- blem eine Arbeitszeitverlängerung möglich wäre. Im Übrigen ist das auf freiwilliger Basis schon jetzt mög- lich. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! Mit Zuschlägen!) Es gibt sogar Zuschläge. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 0,5 Pro- zent Zuschlag kriegt man dann!) Ein weiterer Punkt von Herrn Schiewerling war, dass eine lange parteipolitische Auseinandersetzung über das Thema Rente nicht wünschenswert ist. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Die Frage ist aber, warum die Koalitionsfraktionen den Gesetzesvorbehalt, die soge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12689 Ottmar Schreiner (A) (C) (D)(B) nannte Bestandsprüfungsklausel, nicht ernst nehmen. Das ist die entscheidende Frage. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: Genau das ist die Frage!) Sie nehmen sie nicht ernst. Diese Vorbehaltsklausel be- sagt nichts anderes, als dass die Bundesregierung von 2010 an alle vier Jahre darüber zu berichten hat, ob die Beschäftigungsentwicklung und die Situation älterer Ar- beitnehmer am Arbeitsmarkt ein Festhalten an der Rente mit 67 erlauben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er wurde heute vorgelegt!) – Der Bericht ist so eindeutig und in Teilen manipulativ. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na! Die Fak- ten sind unstrittig!) Das will ich Ihnen an zwei Punkten kurz belegen, Herr Kolb, weil Sie von Fakten gesprochen haben. Sie können hier über die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation Äl- terer reden, wie Sie wollen. Richtig ist, dass es teilweise eine geringfügige Verbesserung der Arbeitsmarktsitua- tion gibt. Das ist nicht zu bestreiten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin! Das geben Sie zu!) Das hängt mit der demografischen Entwicklung und dem verschärften Druck, Arbeit anzunehmen, zusammen. Da- für gibt es also verschiedene Gründe. Der entscheidende Punkt ist aber, dass sich die Situation der älteren Beschäf- tigten in puncto Arbeitslosigkeit im Großen und Ganzen nicht verbessert hat. (Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Dafür will ich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Bei den 63-Jährigen beträgt die Quote der sozialversiche- rungspflichtig Beschäftigten 12 Prozent und bei den 64-Jährigen ganze 5,7 Prozent. Die Frage lautet: Was passiert mit den anderen? Wo landen die eigentlich? Heute ist mehrfach Präsident Weise von der Bundes- agentur für Arbeit zitiert worden. Dieses Zitat will ich ausdrücklich wiederholen, weil ich mir das mitgeschrie- ben habe. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ich auch! – Zuruf von der FDP: Guter Mann!) – Das ist ein guter Mann, das unterschreiben wir. Er ist jedweder Parteinahme unverdächtig. – Gestern hat Präsi- dent Weise ausgeführt – (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Er ist aber nicht Präsident, Herr Schreiner!) – das ist egal; für mich ist er Präsident –: Ich bin viel in Betrieben unterwegs. Niemand stellt einen 60-Jährigen ein. Das ist ausgeschlossen. – Wenn der Präsident der Bundesagentur für Arbeit sagt, niemand in Deutschland stelle einen 60-Jährigen ein, wie stellt sich denn dann die Arbeitsmarktlage der älteren Menschen in Deutschland dar? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Er hat auch gesagt: Die einzige Altersgruppe, bei der die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht gesunken ist, ist die der 55-Jährigen und Älteren. – Was wollen Sie ei- gentlich noch mehr? Die Beschäftigungslage der älteren Männer und Frauen in Deutschland ist nach wie vor de- saströs. Vor diesem Hintergrund ist eine Anhebung der Regelaltersgrenze bei der Rente nichts anderes als eine verkappte weitere Rentenkürzung. (Beifall bei der LINKEN) Dafür werden Sie zu Recht Ihre Quittung erhalten. Ich habe gesagt: Der Bericht der Bundesregierung ist manipulativ. Diesen Vorhalt will ich mit einem letzten Beispiel belegen. Die Bundesregierung schreibt zur Be- standsprüfungsklausel – wörtliches Zitat –: Mit der durchschnittlichen Lebenszeit verlängert sich vor allem die Zeit eines gesunden und leis- tungsfähigen Alters. Das ist eine sehr positive Darstellung. Die gleiche Bun- desregierung hat im letzten Jahr, also nur wenige Monate vorher, in Beantwortung einer Großen Anfrage Folgen- des geschrieben: Die körperlichen Anforderungen haben sich seit Mitte der 1980er-Jahre kaum verändert. … Eine deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psy- chischen Anforderungen. Das heißt, die Gesamtbelastung der Beschäftigten in Deutschland ist in den letzten knapp 30 Jahren konstant geblieben; sie hat sich eher verschlechtert, jedenfalls nicht verbessert. Wer vor dem Hintergrund einer nach wie vor unzureichenden Situation auf dem Arbeits- markt – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Schreiner. Ottmar Schreiner (SPD): – und bei nach wie vor in weiten Teilen problemati- schen Anforderungen in der Berufswelt das Rentenein- trittsalter erhöht, ist leicht von Sinnen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Birkwald, Sie können so häufig, wie Sie wollen, darum herumreden. Ich glaube aber, jedem Bürger ist es angesichts einer durchschnittlich gestiegenen Lebenser- wartung von 30 Jahren seit Einführung des Regelrenten- eintrittsalters von 65 Jahren einsichtig, dass es gut und 12690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) (C) (D)(B) vernünftig ist, zwei dieser geschenkten 30 Jahre im Er- werbsleben zu verbringen. Alles andere leuchtet nieman- dem ein, Herr Kollege. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie von den Linken sind wenigstens konsequent; Sie bleiben sich in Ihrer Ablehnung der Rente ab 67 treu. Ich halte das zwar für völlig falsch, aber es ist zumindest konsequent. Interessanter finde ich eigentlich immer wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozial- demokraten, was Sie hier veranstalten. Als Sie vorhin, Toni Schaaf, auf Ihren Positionswechsel hingewiesen wurden – Sie führen das immer so mit Verve aus –, kam der Hinweis von den Linken, man könne ja dazulernen. Ich glaube, Sie haben nicht dazugelernt, wenn Sie plötz- lich gegen die Rente mit 67 sind. Interessant ist aber vor allem, wie Sie dieses angebliche Dazulernen begründen. Sie sagen, die erforderlichen Bedingungen seien heute nicht gegeben. Man muss doch einmal an die Entwick- lung auf dem Arbeitsmarkt für die Älteren erinnern, seit- dem – und das allein ist relevant – auf Initiative der SPD in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt wurde. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!) Damals hieß es, darauf könne man stolz sein. Heute zie- hen Sie sich zurück. Werfen wir einen Blick auf das, was sich in den letz- ten zehn Jahren getan hat. Die Arbeitslosigkeit bei den Älteren hat sich halbiert. Es gibt über 1 Million mehr so- zialversicherungspflichtige Stellen. In den letzten fünf Jahren – lieber Kollege Schaaf, das wissen Sie so gut wie ich – ist gerade bei den Älteren, und zwar bei den 55- bis 60-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen, die Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen, und zwar um 35 bis 40 Prozent. (Anton Schaaf [SPD]: Wer schreibt Ihnen denn solche Zahlen auf?) Vor diesem Hintergrund behaupten Sie allen Ernstes, die Situation habe sich schlechter entwickelt, als Sie damals annehmen konnten. Das glaubt Ihnen niemand. Jeder weiß: Sie wollen einfach nicht mehr zu dem stehen, was Sie gemacht haben. Dafür sind wir nicht zu haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eines ist richtig: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist noch nicht so, dass wir uns ausruhen könnten. Es ist nicht so, dass wir nichts dafür tun müssten, die Erwerbs- quote von Älteren weiter zu erhöhen. Darauf hat der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in der Tat hingewiesen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er hat gesagt, das sind die Fakten und wir müssen das politisch bewerten! – Anton Schaaf [SPD]: Da ignorieren Sie die Fakten!) Er wird sich aber, glaube ich, nicht gerne als Kronzeuge gegen die Rente ab 67 anführen lassen. Wir können ihn ja einmal bei seinem nächsten Besuch im Ausschuss fra- gen. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiß, wie er ant- worten wird. Lieber Kollege Toni Schaaf, Sie haben völlig recht: Die Leute müssen Jobs haben, und dafür müssen wir politisch etwas tun. Ich kann Ihnen sagen: Wir tun etwas. Ich nenne Ihnen drei Punkte. Das Erste ist, dass die Politik das Signal aussendet, dass Ältere am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir wollen, dass Ältere in den Unternehmen mit ihrer Quali- fikation anerkannt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu muss man zuallererst nicht nur die Frühverren- tungsanreize beenden – das haben wir getan –, sondern auch zur Verlängerung des Lebensalters stehen und sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Kommen wir zum zweiten Punkt. Wir müssen natür- lich auch etwas im Bereich Flexibilität tun; das ist völlig richtig. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Erwerbs- karrieren der Menschen unterschiedlich sind. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Rente mit 65 oder mit 67, sondern darum, wie flexibel man sein Erwerbsle- ben beenden und in Rente gehen kann. Herr Kollege Schreiner, Sie haben als Beispiel die Chemiearbeiter an- geführt. Die IG BCE wirbt zum Beispiel für eine Teil- rente. Wissen Sie, was ihrer Meinung nach das Wich- tigste ist, was wir dafür tun müssen? Wir müssen die Zuverdienstgrenzen derjenigen, die früher in Rente ge- hen, beseitigen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Damit es eine Kombirente gibt? Das wollen wir nicht!) Das ist übrigens interessanterweise FDP-Programmatik. (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja FDP pur!) Es ist es richtig, dass diese Regierungskoalition in Ge- sprächen ist, die Zuverdienstgrenzen fallen zu lassen, da- mit wir bei der Flexibilisierung vorankommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lehrieder zulassen? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Vom Kollegen Lehrieder immer gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege Vogel, Sie haben gerade ausgeführt, dass wir den Wert der Arbeit auch älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger höher schätzen müssen. Können Sie uns sagen, wann die sogenannte 58er-Rege- lung ausgelaufen ist, die gerade sehr vielen Mitbürgern im Alter zwischen 58 und 65 signalisiert hat, dass wir sie gar nicht mehr brauchen? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12691 (A) (C) (D)(B) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Sie meinen die geförderte Altersteilzeit, Herr Kol- lege? (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja! – Zurufe von der SPD) – Er meint die Frühverrentungsanreize? (Anette Kramme [SPD]: Die 58er-Regelung ist etwas anderes! – Katja Mast [SPD]: Sie wissen plötzlich, was das ist!) – Natürlich weiß ich das, Frau Kollegin Mast. (Katja Mast [SPD]: Letztes Mal wussten Sie das noch nicht!) Ich weiß, wann sie ausgelaufen ist und dass die SPD vor einigen Monaten gefordert hat, die Regelung zur ge- forderten Altersteilzeit zu verlängern, dass gerade Sie die Frühverrentungsanreize weiterführen wollten und wir in der Regierungskoalition uns entschieden haben, das nicht zu tun. (Anton Schaaf [SPD]: Jetzt reicht’s aber!) Ich möchte, da meine Redezeit abgelaufen ist, nur noch einen Punkt ausführen, und zwar das Dritte, das wir tun müssen. Wir müssen in die Qualifikation der Älteren investieren, um denjenigen, die jetzt am Arbeitsmarkt noch weniger nachgefragt werden, eine Chance zu ge- ben. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie kürzen doch bei den Arbeitsmarkt- instrumenten!) – Nein, Herr Kollege Kurth. Wissen Sie, was wir im Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instru- mente gemacht haben? Das könnten Sie einmal würdi- gen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie kürzen die Mittel!) Wir haben die Förderung der Qualifikation beschäftigter Arbeitnehmer – ich nenne das einmal prophylaktische Arbeitsmarktpolitik – endlich dauerhaft auf eine Rechts- grundlage gestellt. (Katja Mast [SPD]: Ohne Geld ist dauerhaft nichts wert!) So sieht es aus. Programme wie WeGebAU, die wir alle kennen, sind eben nicht mehr befristet, sondern gehören dauerhaft zur Politik der Bundesagentur für Arbeit. Das ist der Paradigmenwechsel, den wir in der Arbeitsmarkt- politik eingeleitet haben. Daran sollten Sie konstruktiv mitarbeiten, anstatt immer nur zu meckern, Frau Kolle- gin Pothmer, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dauerhaft ohne Geld!) und sich an der Förderung der Frühverrentungspolitik und der Rückabwicklung von Errungenschaften zu betei- ligen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eine Kurzintervention des Kollegen Schaaf. Anton Schaaf (SPD): Herr Kollege Vogel, wenn man immer Unwahres be- hauptet, wird es nicht wahrer. Ich weiß genau, dass die Union damals im Wahlkampf die Rente mit 67 gefordert hat, bevor wir dann in der Großen Koalition darüber ver- handelt haben. Es war eine Idee der Union, und wir hat- ten einen Koalitionsvertrag. Selbstverständlich sind So- zialdemokraten gegenüber Verabredungen treu; das ist keine Frage. Franz Müntefering hat nur den Endpunkt der Rente mit 67 vorgezogen und das im Januar 2006 an- gekündigt, was große Wellen geschlagen hat. Aber der Sozialdemokratie die Urheberschaft für die Rente mit 67 in die Schuhe zu schieben, ist gänzlich falsch. Das ist der erste Punkt. (Beifall bei der SPD) Der zweite Punkt: Frühverrentung. Manchmal scheint es mir, dass Sie die Realitäten absolut verweigern wol- len. Wenn wir uns die insgesamt in Anspruch genom- mene Altersteilzeit anschauen, sehen wir, dass zwei Drittel davon nicht geförderte Altersteilzeit war und nur ein Drittel gesetzlich geförderte Altersteilzeit. Ich sage Ihnen, was der Unterschied ist. Die nicht ge- förderte Altersteilzeit ist nach wie vor sozialverträgliche Arbeitsplatzvernichtung. Die geförderte Altersteilzeit war daran gekoppelt, dass der Arbeitsplatz erhalten bleibt; bei dieser Geschichte ist „Jung für Alt“ herausge- kommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nicht rich- tig!) Die nicht geförderte Altersteilzeit wird nur von großen Betrieben genutzt. Die geförderte Altersteilzeit wurde auch von kleinen und mittelständischen Betrieben ge- nutzt, die sie jetzt nicht mehr nutzen können. Was das mit der Abschaffung der Anreize zur Frühverrentung zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Denn zwei Drittel der Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird, macht die nicht geförderte Altersteilzeit aus. Diese findet näm- lich immer noch statt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie möchten antworten, Herr Vogel? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Klar! Er muss! Das muss ja korrigiert werden! Das muss rich- tiggestellt werden!) – Bitte schön. 12692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Ja, ich möchte gerne antworten. – Lieber Kollege Toni Schaaf, erst einmal Folgendes: Ich will die Union, unseren geschätzten Koalitionspartner, gar nicht aus der positiven Verantwortung für die Rente mit 67 entlassen. (Lachen des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Dass da kein falscher Eindruck aufkommt: Ich finde es sehr gut, dass unser geschätzter Koalitionspartner an die- ser richtigen Entscheidung mitgewirkt hat. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Leider nicht die FDP!) – Ja, Kollege Straubinger. Die FDP sagt: Wir müssen auch flexibilisieren. – Das bleibt richtig. Das müssen wir noch gemeinsam machen. Lieber Toni Schaaf, der Punkt ist: Es wurde eben ganz bewusst von Ihnen so dargestellt, als sei es die Koali- tionstreue gewesen, die die Sozialdemokratie geradezu gezwungen habe, der Rente mit 67 unter Schmerzen zu- zustimmen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! So war es aber nicht!) Ich war damals nicht dabei; das wissen Sie. Aber als in- teressierter Zeitungsleser hat sich mir in der letzten Le- gislaturperiode der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht der Fall war. Nach allem, was mir die Kollegen erzählt haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt. Sie sollten sich nicht davonstehlen, (Anton Schaaf [SPD]: Ach! Das macht ja auch niemand! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Müntefering war sogar die treibende Kraft!) wenn es um positive Errungenschaften in diesem Land geht, zu denen Sie einen Beitrag geleistet haben. Der Punkt ist: Sie kneifen, statt zu dem zu stehen, was Sie Gutes erreicht haben. Nun zum Thema Altersteilzeit, lieber Toni Schaaf. Mit der geförderten Altersteilzeit senden wir das Signal, dass wir wollen, dass die Leute früher aus dem Erwerbs- leben ausscheiden. Man hätte darüber diskutieren kön- nen, ob das gut ist, wenn es sich um wirkliche Altersteil- zeitmodelle handelt. Ich habe eben gesagt, dass ich die Teilrente und Ähnliches für vernünftig halte; das wün- sche ich mir. Wenn aber auf Kosten der Solidargemein- schaft, der Beitragszahler, 90 Prozent derjenigen, die die geförderte Altersteilzeit in Anspruch genommen haben, das Blockmodell nutzen und früher aus dem Erwerbsle- ben ausscheiden und wenn diejenigen, die das tun, nicht etwa die schwer arbeitenden Metall- und Chemiearbei- ter, sondern vor allem Personen, die Bürotätigkeiten aus- üben, sind, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So war es näm- lich!) dann kann ich nur sagen: Diese Politik ist gescheitert. Sie hat das falsche Signal an die Gesellschaft gesendet, nämlich das Signal, dass die Menschen früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden sollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genau dieses Signal wollen wir nicht senden. Es wäre schön, wenn Sie zu einer vernünftigen Politik zurück- kehren und uns dabei unterstützen würden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]: Im Le- ben nicht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU- Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren fast jede Woche über die Rente mit 67 bzw. die Bewältigung der demografischen Herausforde- rung. Ich muss feststellen, dass die linke Opposition in diesem Hause offensichtlich nicht dazulernen will. (Anton Schaaf [SPD]: Ach! Quatsch! – La- chen des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Natürlich ist es richtig, nicht die Tatsachen auszublen- den, dass die Lebenserwartung steigt und die Bürgerin- nen und Bürger in Deutschland bis zum Jahr 2029 durchschnittlich drei Jahre länger leben werden. Dies wird für all unsere sozialen Sicherungssysteme eine He- rausforderung darstellen. Die linke Seite dieses Hauses, aber auch die SPD meint, dass man dieses Problem nicht beachten muss. Die SPD möchte die richtige Entschei- dung, die Rente mit 67 einzuführen, und zwar schritt- weise bis zum Jahr 2029, beginnend ab dem Jahr 2012, die sie seinerzeit in unserer gemeinsamen politischen Arbeit mit herbeigeführt hat, aussetzen. Die Linksfrak- tion möchte die Rente mit 67 sogar ganz abzuschaffen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rich- tig!) Das kann nicht der richtige Weg zur Bewältigung der de- mografischen Herausforderung sein. Die Linken lehnen die Rente mit 67 grundsätzlich ab, und die SPD rückt von ihren früheren Erkenntnissen ab. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den damaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering würdigen. Er hat damals richtig gehandelt, auch gegen den Zeitgeist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich ist es für die Menschen angenehmer, früh in Rente zu gehen und eine möglichst hohe Rente zu bezie- hen. Das geht aber zulasten der Jungen in unserer Ge- sellschaft. Sie haben letztendlich die Lasten zu tragen, was eine Überforderung der Jungen ist. Von den Jungen hat aus der linken Fraktion heute keiner gesprochen, aber man kann das ja auch nicht erwarten. Die Union und die FDP haben den demografischen Faktor aufgrund der demografischen Entwicklung schon Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12693 Max Straubinger (A) (C) (D)(B) 1997 in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt. Die SPD unter Lafontaine hat in ihrer Verblendung dann einen Wahlkampf dagegen geführt und damit sicherlich auch einige Prozentpunkte hinzugewonnen. Danach wurde dieser demografische Faktor, obwohl er richtig war, wieder abgeschafft. Gerhard Schröder hat später be- kannt, dass dies sein größter Fehler in der Rentenpolitik war. Zumindest die SPD-Fraktion sollte sich heute vor Augen führen, dass es ein Fehler ist, richtige Entschei- dungen entweder immer wieder hinauszuzögern oder wieder zurückzunehmen. Der Kollege Ottmar Schreiner hat versucht, darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen angeblich nicht gegeben sind, weil die Beschäftigungslage für die älte- ren Bürger nicht ausreichend ist. Jetzt gebe ich auch auf- grund der gestrigen Ausschusssitzung zu, dass es eine Herausforderung ist, 1 Million Menschen über 55 Jahre, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über 50!) die arbeitslos gemeldet sind, wieder in Arbeit zu brin- gen. Gleichermaßen möchte ich in dieser Debatte aber durchaus auch auf die Entwicklung der Beschäftigung von Älteren hinweisen. Wir können anhand der Statistik der Bundesagentur für Arbeit feststellen, dass im Juni 1999 gut 548 000 Menschen im Alter von 60 bis 65 Jah- ren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- gungsverhältnis waren. Diese Zahl ist angestiegen. Im Juni letzten Jahres vermerkten wir, dass fast 1 124 000 Menschen zwischen 60 und 65 Jahren in einem sozial- versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind. Das zeigt sehr deutlich die Verbesserung, die bei der Be- schäftigung von älteren Bürgerinnen und Bürgern in un- serem Land eingetreten ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Herr Kollege Schreiner, dies wird in besonderer Weise durch diese Zahlen der Beschäftigungsstatistik belegt. Sie haben beklagt, dass die Bundesregierung hier einen richtigen Bericht abgegeben hat, der durch das Ge- setz auch gefordert wird. Sehr deutlich zeigt sich die Steigerung der Beschäftigung Älterer in den Zahlen: Im März 2007 waren fast 800 000 Ältere beschäftigt. Im März 2008 waren gut 847 000 Ältere in sozialversiche- rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Im März 2009 waren es knapp 959 000, und im März des letzten Jahres waren es 1 078 877. Das zeigt sehr deutlich: Die Beschäftigung der älteren Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nimmt zu. Des- halb ist es auch verantwortbar, die Rente mit 67 in Gang zu setzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Straubinger. Max Straubinger (CDU/CSU): Wir werden das tun und deshalb Ihre Anträge, die mehr dem Populismus anstatt der Sache dienen, ableh- nen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frank Heinrich hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frank Heinrich (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Stunde des Austauschs der ver- schiedensten Argumente möchte ich kurz drei der Schlagworte rekapitulieren, die ich mir aufgeschrieben habe. Es sind viele Zahlen genannt worden. Eine der Zahlen ist mir besonders in Erinnerung. Sie betrifft mich und viele von Ihnen, Sie oben auf den Tribünen betrifft sie wahrscheinlich überdurchschnittlich mehr. Es geht um die gestiegene Lebenserwartung – dies kam in den Zah- len vor, die Herr Schiewerling am Anfang genannt hat – und um die noch steigende Lebenserwartung. In der Ber- liner Morgenpost hieß es gestern, die durchschnittliche Lebenserwartung der Berliner Bevölkerung werde in den nächsten 20 Jahren gegenüber heute weiter deutlich stei- gen, bei Männern im Schnitt um 6,1 Jahre und bei den Damen um 4,8 Jahre. Das heißt, wenn man diese Mathe- matik noch weiter fortsetzt wie vorhin, dann werden wir noch stärker profitieren und die Lebenserwartung wird noch weiter steigen. Wir werden aber nicht in demselben Maße mehr arbeiten müssen, wie unsere Lebenserwar- tung steigt. Das hat auch, wie es der letzte Redner angesprochen hat, mit Solidarität zu tun. Denn dann müssen wir als Politiker dieses Landes selbstverständlich die gesamte Breite darstellen statt nur diejenigen, die möglicherweise länger arbeiten müssen. Mein Jahrgang ist der erste, der davon betroffen ist. Dann geht es um einen Querschnitt aller, die in Deutschland davon betroffen sind, auch die Jugend. Es ist generell eine sehr gute Nachricht, dass wir län- ger leben werden, aber sie treibt möglicherweise die Kosten oder trägt Herausforderungen an uns heran, die wir nicht nur auf die Schultern anderer verteilen dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich zitiere aus dem Antrag der Linken: In Verbindung mit der gesetzlich festgeschriebenen Absenkung des Rentenniveaus wird die Rente erst ab 67 zu einer Welle von Altersarmut führen. Das ist eine Mathematik, die wir so nicht mittragen kön- nen. Erstens wird es keine Absenkung des Rentenni- veaus geben. Das ist vorhin zweimal widerlegt worden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Absen- kung des Rentenniveaus steht im Gesetz!) 12694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Frank Heinrich (A) (C) (D)(B) Zweitens gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass es eine Herausforderung ist und wir möglicherweise dadurch ei- nen Rückgang des Wohlstands befürchten müssen, dann müssen wir dagegen vorgehen, aber nicht nur bei denen, die dann im Ruhestand sind oder in den Ruhestand ge- hen sollen. Diese Herausforderung ist eine Folge des de- mografischen Wandels. Die Rente mit 67 ist eine Ant- wort darauf. Es ist nicht die Ursache, wie Sie es be- schreiben. Herr Kolb, Sie haben den Begriff Mentalitätswandel eingeführt, den ich bemerkenswert finde. Ich erinnere mich an den Ruck, der durch Deutschland gehen sollte. Tatsächlich geht es um einen Ruck oder Mentalitätswan- del aller Beteiligten statt nur eines Teil des Parlaments oder derjenigen, die möglicherweise dafür oder dagegen sind. Damit kommen wir zu dem Begriff der Teilhabe, den sowohl Sie, Herr Kolb, als auch Sie, Herr Strengmann- Kuhn, genannt haben. Der Begriff war auch Gegenstand einer Fachtagung 2008 zum Thema „Behinderung und Alter: Gesellschaftliche Teilhabe 2030“. Das ist das Stichdatum, ab dem die ersten von uns volle zwei Jahre länger arbeiten sollen. Wenn wir uns, gesund und jung geblieben, 2030 fragen würden, wie die gesellschaftliche Teilhabe aussieht, zu welchen Ergebnissen würden wir dann kommen? Diese Umfrage würde mich interessie- ren. Mir hat gestern eine Person auf diese Frage geant- wortet: „Ich würde sagen, Rente mit 67 frühestens.“ Bei mir war dieser Tage eine Besuchergruppe zu Gast. Eine Frau antwortete mir auf diese Frage: „Natür- lich möchte ich gerne länger arbeiten.“ Natürlich ist da- mit die Herausforderung verbunden, die notwendigen Arbeitsplätze zu organisieren. Das haben wir bereits ge- hört. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Quod erat demonstrandum!) Aber wir haben die nötige Zeit, um das zu arrangieren, mit Flexibilität und verschiedensten Maßnahmen, die nicht nur, aber auch von der Politik ausgehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo sind denn die Arbeitsplätze?) Wir reden immer von Teilhabe, sowohl was Behinde- rung als auch Alter angeht. Dann muss auch die Teilhabe an Beschäftigung und Arbeit möglich sein. Das wollen wir einleiten. Das ist uns wichtig. Erwerbsarbeit ist auch sinngebend und erfüllend. Das ist also ein sozialer und ökonomischer Grund. Ein dritter Begriff – damit komme ich zum Schluss – ist der Fachkräftebedarf, der übrigens nicht nur jetzt be- vorsteht und den Menschen Angst macht, sondern bis 2030 noch kulminieren wird. Das Know-how der Alten ist nicht verzichtbar. Wir können als Gesellschaft nicht auf diesen Zuwachs an Know-how verzichten. Ich möchte als Entgegnung zu Ihnen, Herr Schaaf und Herr Schreiner, aus einem weiteren Antrag von Ihnen zu diesem Thema zitieren: Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre hat einen deutlichen Anstieg der Erwerbstä- tigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem stei- genden durchschnittlichen Rentenzugangsalter aus- drückt … Das ist der Status quo. Jetzt haben wir 20 Jahre Zeit, diese Linie im Koordinatensystem fortzuführen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das geht ab 1. Januar los!) Wenn meine Altersgruppe ungefähr dann in den Ruhe- stand geht, werden wir dieses Problem gelöst haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Geset- zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und So- ziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/5298, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3546 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be- ratung abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende Fraktion. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Bera- tung. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rente ab 67 vollständig zurücknehmen“. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5298, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2935 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen. Die Linke hat dagegen gestimmt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/5297. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3995 mit dem Titel „Chancen für die Teilhabe am Ar- beitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern – Rentenzugang flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 17/4046 mit dem Titel „Vorausset- zungen für die Rente mit 67 schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12695 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (C) (D)(B) Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- men. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP, SPD und Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich niemand. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes – Drucksache 17/5761 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/5960 – Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetz- entwurfs, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die ab- solute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforderlich ist. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent- lich müssten wir heute über Verwaltungsfragen spre- chen; denn die Entscheidung über die Sache haben wir bereits im März getroffen. Die christlich-liberale Koali- tion hat damals den Weg für eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit geebnet. Leider wurden wir damals nicht von der Opposition unterstützt. Ich bedauere das nach wie vor sehr. Aber durch unseren Beschluss kann die Bun- desregierung jetzt eine Lohnuntergrenze einführen. Vo- raussetzung ist nur ein Antrag der Tarifpartner. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dann gilt übrigens ein tariflicher Mindestlohn für die ge- samte Branche. Es wird zukünftig nicht mehr darauf an- kommen, ob der Betrieb seinen Sitz im Ausland oder im Inland hat, ob es sich um Verleihzeiten oder um verleih- freie Zeiten handelt oder welchem Arbeitgeberverband der Betrieb bzw. welcher Gewerkschaft der Arbeitneh- mer angehört. Nein, es gilt dann ein tariflicher Mindest- lohn für alle. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Es gibt zwei, Ost und West!) Eigentlich sollte es heute nur um technische Fragen gehen: Wer ist für die Kontrolle zuständig? Wie hoch sind Bußgelder und Strafen? Was hat ein inländischer Arbeitgeber nachzuweisen? Welche Meldepflichten muss ein ausländischer Verleihbetrieb erfüllen? Wie viele neue Planstellen müssen geschaffen werden? Ei- gentlich geht es also um reine Verwaltungsfragen. Aber darüber sprechen wir eigentlich doch nicht; denn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nutzen die Gelegenheit einmal mehr, um eine Generaldebatte über die Zeitarbeit vom Zaun zu brechen, gewürzt nach Ihrem Lieblingsrezept: ganz viel Emotion, eine Prise Ideologie und bloß keine Fakten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine prekäre Beschäfti- gung. Tatsache ist, jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem normalen Arbeitsverhältnis. Auch wenn er beim Kunden arbeitet, ist er doch beim Zeitarbeitsunternehmen sozial- versicherungspflichtig beschäftigt, in der Regel übrigens unbefristet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, Kündigungs- schutz, Anspruch auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Nur die Arbeitsorte wechseln häufiger, wie übrigens auch bei Fernfahrern, Bauarbeitern und vielen anderen. Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine Sackgasse. Tatsache ist, die Zeitarbeit war und ist gerade für die Schwächsten am Arbeitsmarkt eine Brücke in den Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der neu eingestellten Zeitarbeitnehmer waren da- vor arbeitslos. Rund 15 Prozent wechseln übrigens spä- ter zu den Kunden, mit steigender Tendenz. Das ist jetzt auch von dem neuen Präsidenten des Bundesarbeitgeber- verbandes der Personaldienstleister beklagt worden, der wie folgt zitiert wird: Wir verlieren viele Mitarbeiter, weil sie von den Kundenunternehmen … abgeworben werden. Auch dies ist eine Tatsache. Drei Viertel der Übernom- menen wären übrigens ohne den vorherigen Einsatz in der Zeitarbeit nicht eingestellt worden. Sie behaupten, Stammbelegschaften würden durch Zeitarbeitnehmer ersetzt. Fakt ist, nur 2 Prozent der Kunden bauen Personal ab und stellen Zeitarbeiter ein. Das ist ein reines Randphänomen. Alle diese Zahlen sind übrigens belegt, sei es durch die Bundesagentur für Ar- beit, sei es durch das IAB, sei es durch Berichte der Bun- desregierung. Sie hingegen, liebe Frau Müller-Gem- meke, ignorieren diese Tatsachen. Das ist Politik à la Vogel Strauß: ab mit dem Kopf in den Sand, nur nichts hören, nur nichts sehen. Wenn Sie keinen Sand in den Augen hätten, hätten Sie die brandneue Studie der IW Consult lesen können und müssen. Darin wird der Zeitarbeit eines bescheinigt: Sie ist der Treiber für Flexibilität und Wachstum am Ar- beitsmarkt und für die Wirtschaft. Die Zeitarbeiter waren und sind eine Stütze des Aufschwungs. Obwohl weniger als 3 Prozent in der Branche arbeiten, erwirtschafteten sie 15 Prozent des Wirtschaftswachstums, also überpro- portional viel. Darüber hinaus retteten sie Stammbeleg- schaften; denn die Kunden konnten durch Stornierung von Aufträgen an Zeitarbeitsunternehmen kurzfristig auf 12696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Gitta Connemann (A) (C) (D)(B) Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, wo es wieder auf- wärtsgeht, ist die Kernmannschaft noch da, und Auf- tragsspitzen können wieder abgefedert werden. Deswe- gen kommt die Studie auch zu dem Ergebnis – ich zitiere und bitte, zuzuhören –: Die Zeitarbeit hat den Unternehmen geholfen, die Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Massenentlas- sungen zu meistern, und hat die für den nachfolgen- den Aufschwung benötigten Personalressourcen schnell bereitgestellt. Die Krise hätte ohne Zeitar- beit wahrscheinlich schwerwiegendere Folgen für die deutsche Wirtschaft gehabt und länger angedau- ert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weiter heißt es: Gerade diejenigen Unternehmen, die den Auf- schwung tragen, sind besonders stark auf die … Zeitarbeit angewiesen. … Damit stärken die Unter- nehmen, die Zeitarbeit einsetzen, nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Damit steht fest – durch Studien belegt –: Gemeinsam mit der Kurzarbeit hat erst die Zeitarbeit das deutsche Wunder am Arbeitsmarkt in der Krise möglich gemacht. Bestätigt wird diese Wirkung auch durch die Bundes- agentur für Arbeit. Nach den neuesten Zahlen sorgt die Zeitarbeitsbranche derzeit für etwa jede dritte neue Stelle am Arbeitsmarkt. Es stimmt also: Treiber für den Arbeitsmarkt. Deshalb war es mehr als gerecht, dass wir als Gesetzgeber uns der Branche besonders intensiv wid- meten. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, schwarzen Schafen wie Schlecker das Handwerk zu le- gen, übrigens wir in der christlich-liberalen Koalition. Wir haben die EU-Zeitarbeitsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt, wir in der christlich-liberalen Koali- tion. Wir haben den Weg für eine Lohnuntergrenze geeb- net. So sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Lohn- dumping aus dem Ausland gewappnet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir bereiten weitere Anträge vor. Wir wollen die Be- zeichnung „Leiharbeit“ ersetzen; denn damit werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich hart arbeiten, diskriminiert. Kein Begriff eignet sich we- niger für die Beschreibung der Zeitarbeit; (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mietarbeit! Leihe ist unentgeltlich!) denn Leihe ist Überlassung von Sachen, Zeitarbeitneh- mer sind aber keine Sachen, sondern Menschen, die tag- täglich hart arbeiten. Wir müssen auch auf ein aktuelles Urteil des Bundes- arbeitsgerichts reagieren und das Arbeitnehmer-Entsen- degesetz um eine Klausel für die Zeitarbeit ergänzen. Dort, wo ein allgemein verbindlicher Branchenmindest- lohn gilt, soll er auch für die Zeitarbeit gelten. Wir werden weiter dafür sorgen, dass die klassische Zeitarbeit zukünftig nicht mehr durch Umgehung diskre- ditiert wird. Wir haben diese Aufgabe den Tarifvertrags- parteien ins Stammbuch geschrieben. Sie haben Zeit, da- rauf zu reagieren. Wenn sie nicht reagieren, sind wir gefordert, übrigens deshalb gefordert, weil seinerzeit Rot-Grün durch die damalige unbegrenzte Öffnung der Höchstüberlassungsdauer genau diese Schein-Zeitarbeit erst provoziert hat. Es war Rot-Grün – ich betone das – im Rahmen der Hartz-III-Gesetzgebung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Connemann. Gitta Connemann (CDU/CSU): Meine Damen und Herren von der Opposition, vor diesem Hintergrund können Sie natürlich noch weiter den Kopf in den Sand stecken. Sie können sich aber auch endlich die Augen reiben, handeln und unserem Gesetz- entwurf zustimmen. Dafür wären wir Ihnen sehr dank- bar. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak- tion. (Beifall bei der SPD) Anette Kramme (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Connemann, ich frage mich: In welchem Sonnen- system bewegen Sie sich? Sind Sie überhaupt in der Milchstraße? (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf jeden Fall befinden Sie sich nicht auf dem Boden der Realität der Bundesrepublik Deutschland. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieso?) Frau Connemann, Sie sagen, Sie hätten die EU-Zeit- arbeitsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt. Hören Sie sich Professor Düwell an! Er sagt: Das ist eindeutig nicht der Fall. Sie hätten beispielsweise eine eindeutige Begrenzung bei der Dauer der Leiharbeit vornehmen müssen. Das ist aber nicht geschehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Meinung von einem!) Sie heben die Arbeitsmarktfunktion der Leiharbeit hervor. Sie müssten an sich auch die Untersuchung des IAB kennen, in der es heißt, dass die Leiharbeit allen- falls ein schmaler Steg in Arbeit ist. Aber wir diskutieren heute über etwas anderes. Es gibt drei Kategorien von Gesetzentwürfen. Bei der ers- ten Kategorie kann man sagen: Diese Gesetze sind groß- artig. Es gibt eine Kategorie zwei. Da sagt man: besser als nichts. Dann gibt es eine Kategorie drei. Da kann man nur sagen: einfach Humbug. Wir diskutieren heute wieder über Verbesserungen für Leiharbeitnehmer. Konkret geht es darum, Sanktions- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12697 Anette Kramme (A) (C) (D)(B) und Kontrollmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Ent- sendegesetz auch für die Leiharbeit tauglich zu machen. Sie halten sich dabei – das müssen wir Ihnen zugestehen – an die Verabredungen, die im Rahmen der Regelsatzver- handlungen getroffen worden sind. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Das ist ja nicht unwesentlich!) Aber Sie nehmen nur eine Umsetzung eins zu eins vor. Kein Jota mehr! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das mit Verabredungen, Frau Kramme! – Gegenruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie können auch mal selber denken!) Es ist das absolute Minimum, was Sie uns hier vorlegen. Dabei gibt es Besonderheiten in der Leiharbeit, zumal die Leiharbeit jetzt grenzüberschreitend stattfindet. Da- bei wissen wir: Leiharbeit ist Leidarbeit. Drei Viertel al- ler Leiharbeitnehmer arbeiten unter der Niedriglohn- schwelle. 60 Prozent der Leiharbeitnehmer haben eine schlechtere Bezahlung als Stammarbeitnehmer auf exakt dem gleichen Arbeitsplatz. Jeder achte Leiharbeitneh- mer erhält Aufstockungsleistungen nach dem SGB II. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: 7 Prozent!) Natürlich begrüßen wir, dass es jetzt endlich zu einer Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz kommt, wobei wir natürlich hoffen, dass es etwas mehr Engagement der Arbeitsministerin gibt, damit diese Lohnuntergrenze tatsächlich schnell greifen kann. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Haben wir nämlich noch gar nicht!) Selbstverständlich begrüßen wir, dass es Meldepflichten für Entleiher gibt, die Leiharbeiter von ausländischen Verleihern beschäftigen. Wir sind natürlich auch dankbar dafür, dass es Kontroll- und Sanktionsmechanismen gibt. Aber es bleiben einige problematische Fallkonstel- lationen. Nehmen wir Folgendes an: Eine ausländische Leihar- beitsfirma kommt in die Bundesrepublik Deutschland. Das ist genau der Fall, für den wir jetzt – so Ihre Auffas- sung – die Lohnuntergrenze gebildet haben. Die Finanz- kontrolle Schwarzarbeit stellt fest, dass der Mindestlohn dort nicht gezahlt wird. Es ist gut und richtig, dass diese ausländische Leiharbeitsfirma ohne Weiteres eins auf den Deckel bekommen wird. Aber der Mindestlohn für den individuellen Leiharbeitnehmer ist damit noch lange nicht durchgesetzt. Vielmehr muss der Mindestlohnan- spruch im Ausland vollstreckt werden. Nach dem, was wir bei den Prozessen gegen die Tarif- gemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit festgestellt haben, bin ich mir ganz sicher: Es wird ins- gesamt nicht sehr viele Prozesse geben; es wird eine Reihe von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerin- nen geben, die leer ausgehen werden. Angesichts dessen frage ich Sie: Warum haben Sie nicht ähnlich wie bei ei- nem anderen Rechtsgedanken eine Entleiherhaftung ein- geführt, sodass die Leiharbeitnehmer und Leiharbeitneh- merinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland klagen und vollstrecken können? (Beifall bei der SPD) Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben einen weiteren Ansatzpunkt: Wir werden mehr ausländische Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik Deutschland haben. In Berlin gibt es eine Beratungsstelle, die uns im Übrigen in der Sachver- ständigenanhörung Schauerliches berichtet hat. An sich ist es doch legitim und in höchstem Maße nachvollzieh- bar, dass wir Menschen, die keine Kenntnisse vom deut- schen Rechtssystem haben, mit einer Beratung zur Ver- fügung stehen. Auch da tut sich leider überhaupt nichts. Ein zusätzliches Problem, liebe Kollegen und Kolle- ginnen, ist in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ange- legt. Ich will nicht sagen, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit schlecht arbeitet. Im Gegenteil: Wir sind angetan von dem, was dort in den letzten Jahren bewirkt worden ist. Dort sind 6 500 Mitarbeiter und Mitarbeite- rinnen tätig. Aber wir müssen auch eines sehen: Wir haben dieser Behörde dadurch immense zusätzliche Aufgaben über- tragen, dass es immer mehr Mindestlöhne in der Bundes- republik Deutschland gibt. Allein wegen der Leiharbeit werden 900 000 Arbeitsverhältnisse zusätzlich über- wacht werden müssen. Angesichts dessen sage ich Ih- nen, meine Damen und Herren von der Union: Es ist schäbig, dort in den nächsten zwei Jahren lediglich eine Personalaufstockung von 100 Planstellen vorzunehmen. Dies nützt nichts, wird aber dazu führen, dass Lohndum- ping keine Schranken gesetzt wird und dass es tatsäch- lich stattfinden wird. Die IG BAU hat gesagt, dass wir tatsächlich etwa 4 800 zusätzliche Stellen brauchen, um effektiv zu kontrollieren. Bereinigen wir das und sagen wir, dass eine ordentliche Portion dazukommen muss; dann werden wir stärker sein. (Beifall bei der SPD) Ihrerseits ist leider nicht klar geregelt worden, was geschieht, wenn ein Leiharbeitnehmer mit der neuen Lohnuntergrenze in einem Betrieb arbeitet, für den ein anderer Mindestlohn gilt. Es wäre so einfach gewesen, dafür eine Regelung in den Gesetzentwurf aufzunehmen, die besagt, der Leiharbeitnehmer bekomme im Zweifel den höheren Mindestlohn. Aber auch das ist Ihrerseits unterblieben. Liebe Kollegen und Kolleginnen, im Endergebnis werden wir die Probleme in der Leiharbeit nur dann lö- sen, wenn einige essenzielle Sachen geregelt werden. Dazu gehört, dass wir endlich die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit durchsetzen. Anderenfalls werden weiterhin sinnvolle Stammarbeitsplätze vernichtet und in die Leiharbeit abgedrängt. Sie werden damit bewir- ken, dass der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik weiter wächst – mit verheerenden volkswirtschaftlichen Folgen für die Zukunft. Des Weiteren ist es sinnvoll, dass Leiharbeitsverhält- nisse nicht mehr befristet durchgeführt werden können. Ihre, die vorherige Regierung in Nordrhein-Westfalen 12698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Anette Kramme (A) (C) (D)(B) hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem festgestellt worden ist, dass eine Synchronisierung zwischen Ar- beitsverhältnissen und Auftragsdauer stattfindet. Das kann und darf in der Leiharbeit nicht sein. Ein allerletzter Punkt. Die Betriebsräte in den Entlei- herbetrieben brauchen endlich mehr Mitbestimmungs- rechte. Betriebsräte müssen mit darüber entscheiden können, ob Leiharbeiter im Betrieb sind, wie lange sie im Betrieb sind, in welchen Abteilungen sie dort tätig sind und welche Tätigkeiten sie dort konkret ausführen. Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden sich noch ein ganzes Stück bewegen müssen, damit die Probleme der Leiharbeit, einem prekären Arbeitsverhält- nis, gelöst werden. In diesem Sinne: Strengen Sie sich an! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Kramme, es ist schade, dass Sie sehr oft, wenn Sie an dieses Rednerpult gehen, über das nörgeln müssen, was die Regierungskoalition macht. Heute hät- ten Sie Grund gehabt, uns zu loben; das kann ich hier nicht anders sagen. Den drei Kategorien, die Sie genannt haben, müssten Sie eine vierte hinzufügen, nämlich die der Notwendigkeit eines Gesetzes. Das heute zu verab- schiedende Gesetz ist notwendig, damit wir die Verabre- dungen umsetzen können, die wir mit Ihnen getroffen haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Natürlich können Sie jetzt hier Krokodilstränen wei- nen und sagen, dass sei nur die Eins-zu-eins-Umsetzung einer Verabredung. Für mich ist es schon wichtig, dass man, wenn man etwas verabredet, wenn man sein Wort gibt, dies hinterher eins zu eins umsetzt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist wichtig für die Verlässlichkeit, für das Vertrauen bei der Zusammenarbeit in der Politik, und zwar über die Grenzen zwischen Regierungskoalition und Opposition hinweg. Das, was wir heute machen, ist also gut und not- wendig. Diese Debatte ist vielleicht sachlicher als an- dere. Sie haben trotzdem versucht, ein paar Punkte auf- zuzeigen, über die wir uns hier streiten können und sollen. Nachdem die Kollegin Connemann Funktion und Be- deutung der Zeitarbeit hier wirklich eindrucksvoll be- schrieben hat, will ich noch einmal sagen: Auch wir be- kennen uns zu dem Instrument der Zeitarbeit. Auch nach der Krise gilt: Keine andere Branche hat so viele Ar- beitsplätze geschaffen wie die Zeitarbeitsbranche. Frau Kollegin Kramme, ich muss Ihnen sagen: Die Befürch- tung, am Ende einer Entwicklung würden alle Arbeits- verhältnisse in deutschen Landen nur noch Zeitarbeits- verhältnisse sein, ist wirklich unbegründet. Das können Sie auch aktuell sehen, wenn Sie sich ein- mal anschauen, was im Bereich der Zeitarbeit passiert. Da stellt man fest: Es gibt Grenzen des Wachstums. Die Zeitarbeitsbranche klagt plötzlich darüber, dass sie keine Arbeitnehmer mehr findet. Warum ist das im zweiten Jahr eines mittlerweile erfreulicherweise länger andau- ernden Aufschwungs so? Weil die Unternehmen selbst wieder Perspektiven sehen, weil sie in der Lage sind, in der eigenen Stammbelegschaft neue Stellen zu begrün- den, und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vorher in der Krise über eine Zeitarbeit versucht ha- ben, die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu schaffen, jetzt die Wahl haben. Sie können wieder zu denjenigen Unter- nehmen gehen, die vorher Zielunternehmen der Zeitar- beit gewesen sind. Beim konjunkturellen Auf und Ab wird es immer Phasen geben, in denen die Zeitarbeit be- sondere Bedeutung hat, und andere Phasen, in denen die Beschäftigung in den Zieleinsatzbranchen Oberhand ge- winnt. Ihre Sorgen sind also vollkommen unbegründet; das sage ich hier deutlich. (Beifall bei der FDP) Wir haben seit Beginn dieser Regierungskoalition konsequent daran gearbeitet, dass Zeitarbeit auf der ei- nen Seite möglich ist, dass aber auf der anderen Seite Grenzüberschreitungen verhindert werden und wirksam bekämpft werden können. (Stephan Thomae [FDP]: So ist es!) Das war auch beim Fall Schlecker so. Dieser Fall war der Auslöser dafür, dass wir die erste Änderung des Ar- beitnehmerüberlassungsgesetzes auf den Weg gebracht haben. Wir haben dann nachgehalten und auf aktuelle Entwicklungen reagiert. Zeitweise wurden die Beratun- gen zu diesem Gesetz durch die Verhandlungen im Ver- mittlungsausschuss überlagert. Aber am Ende ist meines Erachtens etwas herausgekommen, mit dem man sehr zufrieden sein kann. Wir haben zugestimmt – auch das bitte ich Sie einmal anzuerkennen –, dass es eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit geben wird. Ob und in welchem Umfang sie notwendig sein wird, muss man abwarten. Wir haben gestern mit Herrn Weise darüber diskutiert. Er meinte, es sei für eine Antwort noch ein bisschen zu früh. In der Tendenz kann man feststellen: Ganz so groß wird der Ansturm aus Osteuropa nicht sein, wie es manche mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt angekündigt hat- ten. Das alles wird man sehen. Heute werden Kontrollinstrumente in das AÜG ein- gebaut, damit die Verabredungen hinsichtlich der Lohn- untergrenze wirksam kontrolliert werden können. Ich muss Ihnen sagen: Alles das halte ich für sinnvoll. Es ist eine geordnete Entwicklung, die wir mit dem Ziel betrei- ben, Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument Nummer eins oder vielleicht Nummer zwei – darüber kann man strei- ten – neben der befristeten Beschäftigung für die Unter- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12699 Dr. Heinrich L. Kolb (A) (C) (D)(B) nehmen in Deutschland zu erhalten. Das wird für uns auch künftig wichtig sein. Sie haben das Thema Equal Pay angesprochen. Ja- wohl, das haben wir früh thematisiert, auch als FDP. Ich bin gespannt, wie die Unternehmen jetzt mit dem Auf- trag umgehen, den wir ihnen gegeben haben. Wir haben es ja in den Wochen, fast Monaten, in denen wir im Ver- mittlungsausschuss verhandelt haben, erlebt, wie die Un- ternehmen und hier vor allen Dingen die Zeitarbeitsbran- che immer wieder gesagt haben: Lasst uns das machen. Wir können das viel besser als ihr. – Jetzt sind umge- kehrt die Unternehmerinnen und Unternehmer der Zeit- arbeitsbranche am Zuge. Jetzt wollen wir eine Lösung in Form von Zeitkorridoren oder Ähnlichem sehen, wie der Lohn der Zeitarbeitnehmer hin zu Equal Pay entwickelt wird. Wir sind da gespannt und werden uns überraschen lassen. Ich will noch sagen: Wir haben – auch das ist nicht ganz unwesentlich – eine Verlängerung der Frist für die Antragstellung für Hilfen aus dem Bildungspaket mit in dieses Paket aufgenommen. Wir unterstützen diesen Schritt nachdrücklich. Wir sind der festen Überzeugung, die Bildungschancen von Kindern sollten nicht an Fristen scheitern. Nachdem in der Arbeitsgruppe des Vermitt- lungsausschusses der Wunsch geäußert wurde – übrigens auch von der A-Seite und den kommunalen Spitzenver- bänden –, dass man die Kommunen das Ganze machen lassen soll, haben wir ihnen das ermöglicht. So wird jetzt verfahren. Wir stellen fest, dass dieser Prozess ein wenig länger dauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn das die BA selbst gemacht hätte. Wir reagieren flexibel auf diesen Umstand und sind bereit, die entsprechenden Fristen zu verlängern. Wichtig ist, dass am Ende jungen Menschen aus Hartz-IV-Familien Bildungschancen eröffnet wer- den. Auch das wollten wir ja mit dieser Reform errei- chen. Wir wollen nämlich keine Verfestigung von Hartz IV, sondern wir wollen dafür sorgen, dass solche Kreisläufe durchbrochen werden, dass junge Menschen sich qualifizieren können und die gleichen Chancen ha- ben, unabhängig von dem Haushalt, in den sie hineinge- boren werden. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir auch diesen Punkt in das Gesetz aufgenommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Insgesamt, Frau Kollegin Kramme, handelt es sich um ein notwendiges, aber auch um ein gutes Gesetz. Sie sollten zustimmen. Dafür werbe ich bei Ihnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Connemann, wenn es Ihnen so wichtig ist, wie etwas bezeichnet wird, dann möchte ich vor- schlagen, um zu einer präziseren Sprachregelung zu kommen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einfach in Arbeitnehmermietgesetz umzubenennen und Leihar- beitnehmer nicht mehr Leiharbeitnehmer, sondern Miet- arbeitnehmer zu nennen. Damit hätten wir präzise Be- grifflichkeiten. (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er- langen] [CDU/CSU]: Haben Sie noch mehr so geistreiche Vorschläge?) Ansonsten ist zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als die zweite Beerdigung des Gleich- heitsgrundsatzes bei der Entlohnung von Leiharbeitneh- mern. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist jetzt gesetz- lich passé. Leiharbeitnehmer können jetzt nur noch auf ihre Gewerkschaften hoffen. Gesetzlichen Schutz und staatliche Unterstützung bekommen sie nicht. Ich habe heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass meine Ge- werkschaft, die IG Metall, den Arbeitgebern ein Ultima- tum mit dem Ziel gestellt hat, endlich darüber zu verhan- deln, wie Lohnverbesserungen bei Zeitarbeitnehmern erreicht werden können. Ich persönlich bin stolz auf meine Gewerkschaft; denn sie ist wenigstens weiterhin an dem Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ dran. Genau das tut diese Bundesregierung nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Diese Bundesregierung weiß meines Erachtens über- haupt nicht, was Gleichheit und Gerechtigkeit im Be- trieb bedeuten. Eine dunkle Ahnung, was es vielleicht bedeuten könnte, bekommt man, wenn man sich vor Au- gen führt, was im Rahmen der Diskussion über Equal Pay am Equal-Pay-Tag gemacht wurde: Die Unterschrif- tenlisten wurden ja gestern offiziell übergeben. In diesem Zusammenhang fragt man sich zunächst einmal, wieso die Bundesvereinigung der Deutschen Ar- beitgeberverbände und der Verband deutscher Unterneh- merinnen hier als Mitunterstützer auftreten. Wer hat die Mitglieder dieser Verbände gehindert, in ihren Betrieben gleichen Lohn für Frauen bei gleicher Arbeit einzufüh- ren? Wieso brauchen Arbeitgeber noch eine extra Auf- forderung? Sie können das doch einfach machen. (Beifall bei der LINKEN) Die zweite Frage ist: Warum verabschieden wir in Deutschland Gleichstellungsgesetze und regeln gleich- zeitig die Ungleichheit in allen anderen Fällen? Frauen verdienen 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kol- legen. Leiharbeitnehmer verdienen bis zu 50 Prozent weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Min- destlohn in der Leiharbeit beträgt im Westen 7,79 Euro und im Osten 6,89 Euro. Das ist nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) 12700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Jutta Krellmann (A) (C) (D)(B) Wir diskutieren nachher über die Angleichung der Ren- ten in Ost und West. Sie zementieren in Ihrem Gesetz- entwurf die Ungleichheit bei den Leiharbeitern. Ich habe den Eindruck, Sie haben nicht wahrgenommen, was in den Tarifverträgen steht. Diese Ungerechtigkeit wird nämlich auf Ihre Initiative hin per Gesetz festgeschrie- ben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kolleginnen und Kollegen könnten möglicher- weise wahrnehmen, dass wir jetzt inmitten der Debatte sind, und sie könnten ihre Nebengespräche vielleicht auf später verschieben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es ist, wenn man vor einer namentli- chen Abstimmung spricht und das Gefühl hat, es interes- siert niemanden. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt ha- ben Sie wieder eine halbe Minute verloren!) Zurück zum Thema Ungleichbehandlung von Men- schen im Betrieb. Ich rechne einmal hoch, was die Ent- lohnung nach Tarif bedeutet: Ein Leiharbeitnehmer im Westen verdient nach Ihrem Vorschlag für einen Min- destlohn 1 181 Euro brutto, und ein Leiharbeitnehmer im Osten verdient 1 045 Euro brutto. Angesichts dieser Zahl ist die Gefahr groß, zum Aufstocker zu werden. Von die- sem Einkommen auf nahezu Sozialhilfeniveau kann man nicht leben. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Ungleichheit per Gesetz können wir im Grunde genommen nicht zustimmen. Wir als Linke wer- den uns in der namentlichen Abstimmung enthalten. Wir werden also nicht gegen Mindestlöhne stimmen; denn sie schützen in der Tat deutsche Arbeitnehmer und eben- falls die Arbeitgeber in der Leiharbeit vor ausländischer Unterbietungskonkurrenz. Die Linke steht aber weiter- hin zu dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“. Wo wir können, werden wir Gewerkschaften und andere in ihren Forderungen nach einer gleichen Entlohnung unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich bitte noch einmal, der Freude über die bevorste- hende namentliche Abstimmung etwas stiller Ausdruck zu verleihen, als das bisher der Fall ist. Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/ Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Kollegin Connemann, im Gegensatz zu Ihnen werde ich jetzt zu dem Gesetzentwurf reden. Wir begrüßen, dass die Kontrolle der Lohnunter- grenze in der Leiharbeitsbranche bei den Behörden der Zollverwaltung angesiedelt wird. Das gewährleistet, dass die Lohnuntergrenze effektiv und vor allem profes- sionell kontrolliert wird – zumindest theoretisch. Die Fi- nanzkontrolle Schwarzarbeit muss aber immer mehr Mindestlöhne kontrollieren, und auch die Zahl der Leih- arbeitskräfte ist wesentlich höher als im Gesetzentwurf angegeben. Wir fordern eine realistische Personalaufsto- ckung, damit die Theorie auch zur Praxis wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man den Schutz der Beschäftigten wirklich ernst nimmt, dann erkennt man: Wirkungsvolle Kontrollen der Lohnuntergrenze sind spätestens seit der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Lappalie, sondern ele- mentar wichtig. Überhaupt nicht einverstanden sind wir aber mit der Ausgestaltung der Kontrollen hinsichtlich der sogenann- ten Drehtürklausel. Nach dem großen Schlecker-Skandal haben Sie, die Regierungsfraktionen, mit großem media- len Aufwand diese Drehtürklausel auf den Weg ge- bracht. Wenigstens die Leiharbeitskräfte, die zuvor beim Entleihbetrieb regulär angestellt waren, sollen nun Equal Pay erhalten. Das ist eh schon eine dürftige Regulierung. Umso wichtiger wären wirkungsvolle Kontrollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit diesem Gesetzentwurf übertragen Sie die Kon- trolle auf die Bundesagentur für Arbeit und eben nicht auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wie übrigens von der BA selbst angeregt wurde. Damit bleibt die Rege- lung in der Praxis ein zahnloser Tiger. Die Bundesagen- tur für Arbeit ist nicht gerade für besonders wirkungs- volle Kontrollen bekannt. Sie kann nicht gezielt kontrollieren; es fehlen ihr auch Ermittlungsbefugnisse. Anders sieht es bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit aus, die jederzeit Betriebsstätten betreten darf und auch Personen befragen kann. Der Schutz von Leiharbeits- kräften und echte Regulierungsbemühungen sehen also anders aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit einen Zielkonflikt. Einerseits soll sie die Leiharbeit kontrollie- ren. Andererseits ist sie wegen ihrer Vermittlungstätig- keit auf ein gutes Verhältnis zu den Leiharbeitsunterneh- men angewiesen. Das widerspricht sich. Wir finden das äußerst problematisch. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, dass alle Kontrollen auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit übertragen werden. Unter dem Strich werden durch den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12701 Beate Müller-Gemmeke (A) (C) (D)(B) Gesetzentwurf an manchen Stellen effektive Kontrollen verhindert. Deswegen werden wir uns bei der Abstim- mung enthalten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Ich vermute, dass die Regierungsfraktionen die Re- form der Leiharbeit mit der heutigen Abstimmung als abgeschlossen ansehen. Ich kann nur sagen: Sie, die Re- gierungsfraktionen, haben sich lediglich von der öffentli- chen Empörung über den Schlecker-Skandal treiben las- sen und kosmetische Korrekturen vorgenommen. Das Ergebnis der sogenannten Reform ist deshalb halbherzig und reicht bei weitem nicht aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir Grüne bleiben nicht wie Sie auf halbem Wege stehen. Die Lohnuntergrenze ist uns zu wenig; denn ver- bessert wird nicht die Situation der Leiharbeitskräfte. Wir fordern weiterhin gleichen Lohn für gleiche Arbeit, einen Bonus in Höhe von 10 Prozent, die Wiedereinfüh- rung des Synchronisationsverbotes und mehr Rechte für Betriebsräte. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden nicht lockerlassen; denn Leiharbeitskräfte haben ein Recht auf faire Entlohnung und ein Mindestmaß an Si- cherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbes- sern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert sich grüne Politik. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Paul Lehrieder spricht für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Einige Kollegen werden der Rede im Stehen folgen. Das wird bestimmt eine Besonderheit sein. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Schluss Ihrer Rede haben Sie die Vermutung geäußert, dass für die Regierungskoalition nach Ihrer – leider irrigen – Auffassung mit dem Thema Zeitarbeit Schluss sei. Dem ist nicht so. Wir haben noch ein Problem zu lösen, und zwar Equal Pay. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!) Wir stehen im Wort. Sie werden sehen, dass wir auch für dieses Problem eine Lösung finden werden. (Katja Mast [SPD]: Neun Monate!) Wir werden die Entwicklungen ein Jahr lang beobach- ten. Dann werden wir sehen, ob die Tarifvertragsparteien zu einer Lösung kommen oder ob wir selber etwas tun müssen. (Katja Mast [SPD]: Neun Monate haben Sie vorgeschlagen! – Gegenruf des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das prüfen wir noch! – Gegenruf der Abg. Katja Mast [SPD]: Nein, du weißt genau, dass es stimmt!) Heute, rund 14 Tage nach der ersten Beratung, befas- sen wir uns abschließend mit dem Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarz- arbeitsbekämpfungsgesetzes. Darin wird deutlich, dass unsere Politik, die Politik der christlich-liberalen Koali- tion, keine Politik der leeren Worte ist. Wir halten unser Wort. Wir setzen unsere Versprechen zügig um und han- deln dort, wo Handlungsbedarf besteht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir im Bereich der Leiharbeit allein im Jahr 2011 über die Drehtürklausel, über die Einführung eines Mindestlohns und nunmehr mit dem heutigen Gesetz über die Überwa- chung der Einhaltung des Mindestlohnes auch in der Leiharbeit richtige Gesetze, Arbeitnehmerschutzgesetze, verabschiedet haben. Gerade habe ich mir meine Stimmkarten abgeholt. Ich habe mir zwei blaue Karten geholt. Bei den Grünen sehe ich ein paar weiße Karten. Im linken Block des Hauses sehe ich etliche rote Karten. Liebe Kolleginnen und Kol- legen, die Sie immer die Arbeitnehmerrechte – völlig zu Recht – hochhalten: Noch ist es Zeit, Ihre Karten zu tau- schen. Gehen Sie an die Fächer! Holen Sie sich blaue Karten, wenn es Ihnen mit dem Arbeitnehmerschutz ernst ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Durch die Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jah- res – vor nunmehr gut drei Wochen – bestand im Bereich der Leiharbeit Handlungsbedarf. Gerade in dieser Bran- che galt es, Lohndumping zu verhindern. Deshalb haben wir am 24. März dieses Jahres auch einen branchenspe- zifischen Mindestlohn für die Zeitarbeit eingeführt und werden heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für einen wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanis- mus stimmen. Die erwartete Einwanderungswelle europäischer Ar- beitnehmer blieb aus. Wir wurden nicht – wie von eini- gen Kollegen in diesem Hause, gerade aus der Opposi- tion, als Zerrbild an die Wand gemalt – von ganzen Kohorten arbeitswilliger Mitbürger aus osteuropäischen Ländern überrollt. Allerdings ist es den neuen Regelun- gen für die Leiharbeit zu verdanken, dass die Arbeitneh- merfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mit- tel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen die in vielen Handwerksbranchen bereits existierende Azubi-Lücke und als willkommenes Arbeitskräftepoten- 12702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Paul Lehrieder (A) (C) (D)(B) zial mit Blick auf derzeit immerhin über 1 Million of- fene Stellen in Deutschland. Meine Damen und Herren, ich wünsche unserer Ar- beitsministerin, Frau von der Leyen, an dieser Stelle gute Besserung; ich hoffe, dass die Hand gut verheilt, damit sie tatkräftig, wie wir es von ihr kennen, weiterarbeiten kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) Frau von der Leyen stellt ganz deutlich heraus: Die Frage ist nicht, ob wir es zulassen, dass Arbeitskräfte zu uns kommen; vielmehr ist die Frage, ob sie trotz der Sprachbarriere nach Deutschland kommen wollen, wenn sie noch fünf andere Angebote haben. Gehen Sie einmal nach Warschau, Stettin oder Prag und schauen Sie, wel- che Sprachkurse dort angeboten werden, ob es mehr Deutsch- oder Englischkurse sind. Überlegen Sie sich dann, ob wir tatsächlich die Chance haben, qualifiziertes Personal – wir brauchen es sicherlich auch in Zukunft – aus diesen Ländern zu bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen uns um Fachkräfte in unserem Land be- mühen. Nach Hochrechnungen des Instituts für Arbeits- markt- und Berufsforschung werden wir bereits im Jahr 2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben. Bei der Lösung dieses Problems ist es wichtig, dass wir uns in erster Linie auf Potenziale im Inland konzentrie- ren. Dazu gehört ein vernünftiges Ausschöpfen der Po- tenziale des Alters – wir haben beim vorherigen Tages- ordnungspunkt zur Rente mit 67 darüber geredet –, der Frauenerwerbstätigkeit – da haben wir in Deutschland noch ein großes Arbeitskräftepotenzial –, der Arbeitslo- sigkeit bzw. Langzeitarbeitslosigkeit, wo wir einiges tun können, aber sicherlich auch der Zuwanderung. Jedoch werden wir unseren Bedarf nicht vollständig über die Potenziale im Inland decken können. Wir brauchen aus- ländische Fachkräfte in unserem Land, und zwar bereits jetzt, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, auf 1 Million offene Stellen verweisen können. Kommen wir zurück zur Leiharbeit. Wir sind in einer Zeit angelangt, in der wir jede arbeitende Hand in der Bevölkerung brauchen, in der wir jeder Hand die Mög- lichkeit geben müssen, zu arbeiten. Wir werden heute mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent- wurfs das Richtige zur Verbesserung der Kontrollmecha- nismen in der Leih- und Zeitarbeit auf den Weg bringen. Mein Appell geht nochmals an die Opposition: Tau- schen Sie ganz schnell Ihre Stimmkarten. Es ist ein gutes Gesetz. Stimmen Sie dem Gesetz zu! Sie tun damit et- was Verantwortungsvolles für die Bevölkerung in unse- rem Lande, für die Zuschauer auf der Tribüne und an den Fernsehgeräten. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die deutschen Arbeitnehmer und für die zu uns kommenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich bin am Ende meiner Rede. – Ich bedanke mich für Ihr geduldiges Zuwarten und wünsche Ihnen jetzt eine weise Entscheidung bei der namentlichen Abstimmung. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp- fungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/5960, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5761 anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Gegenstimmen hat es nicht gegeben. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent- halten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforder- lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Im An- schluss daran erfolgt eine einfache Abstimmung über ei- nen Entschließungsantrag. Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab- stimmung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? – Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab- stimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze wieder einzunehmen, damit ich bei der nächsten Abstim- mung den Überblick behalten kann. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5963. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak- tion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. 1) Ergebnis Seite 12704 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12703 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatz- punkt 4 auf: 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleiches Rentenrecht in Ost und West – Drucksachen 17/5207, 17/5961 – Berichterstattung: Abgeordnete Silvia Schmidt (Eisleben) ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland – Drucksachen 17/4192, 17/5962 – Berichterstattung: Abgeordneter Frank Heinrich Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke wird später namentlich abgestimmt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSU- Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Frank Heinrich (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir das Thema Rente aufgreifen. In zweiter und dritter Lesung behan- deln wir heute die Anträge der Grünen und der Linkspar- tei. Ich möchte die Haltung der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition beschreiben: Wir befinden uns auf dem Weg. Sie wollen zwar, dass wir schneller vorankommen, fest steht aber, dass wir auf dem Weg sind. Der Koali- tionsvertrag ist an dieser Stelle eindeutig. Fraktionsüber- greifend wollen wir ein einheitliches Rentensystem ein- führen. Jedoch ist dies – das habe ich bereits in den vorheri- gen Sitzungen gesagt – eine sehr komplexe, äußerst sen- sible Materie. Es gilt, die Interessen von Jung und Alt – das hatten wir in der vorherigen Debatte –, Ost und West, Stadt und Land zu berücksichtigen. Das lässt sich nicht auf eine reine Ost-West-Thematik reduzieren. Derzeit besteht ein System, das sich in einem guten Gleichgewicht befindet, zumindest ein sehr gutes Funda- ment darstellt. Das geltende Rentenrecht und die umla- gefinanzierte Rente sind durch die Einheit erst möglich geworden. Der gegenwärtige Stand sieht so aus: Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den Löhnen. Der Rentenwert Ost nähert sich in dem Maße dem Rentenwert West an, in dem sich die Verdienste der Beschäftigten in Ost und West annähern. Der Durch- schnittslohn Ost hat mittlerweile 85 Prozent des Durch- schnittslohns West erreicht. In Klammern füge ich hinzu: Daran gibt es zwar viel zu kritisieren, das ist heute aber nicht Gegenstand der Debatte. Demgegenüber hat sich der aktuelle Rentenwert Ost bereits bis auf 89 Prozent an den Rentenwert West angenähert. Das ist aber immer noch zu wenig; deshalb machen wir uns auf den Weg. Die Entgeltberechnung im Osten war mit der Hoff- nung auf konstantere Lohnsteigerungen verbunden. Ich erinnere mich, dass ich um die Wendezeit mit Freunden darüber diskutiert habe. Damals war ich der festen Über- zeugung, dass wir 15 Jahre brauchen, bis wir die Lohn- angleichung sowie als Folge davon die Rentenanglei- chung erreicht haben. Die Lohnsteigerung ist jedoch ins Stocken geraten. Die Angleichung wird daher notwen- dig. Die Gleichbehandlung von Ost und West steht für uns im Vordergrund. Darum wird der Wille, einheitliche Rentenwerte einzuführen, auch im Koalitionsvertrag er- klärt. Auf dem Weg dahin wollen wir konsensorientiert vorgehen. Ich möchte aus einer Regierungspressekonfe- renz zitieren, die vor kurzem zu diesem Thema stattge- funden hat. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Seibert: Wenn man etwas gleich Gutes an diese Stelle setzen will, dann bedeutet dies, dass möglichst alle mit im Boot sein müssen, damit es für die eine oder andere Seite nicht zu Nachteilen kommt. Diesen Konsens, diese Kompromissbereitschaft, dieses gemeinsame Vorgehen ins Werk zu setzen, ist ein größeres Vor- haben, an dem fortlaufend gearbeitet wird. Die Schlussfolgerung daraus ist – an dieser Stelle lese ich weiter –: Vielmehr gilt es, mit ostdeutschen Ministerpräsi- denten zu reden, aber auch die Mehrheitsverhält- nisse im Bundesrat zu berücksichtigen. Es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses und ei- ner gesamtgesellschaftlichen Bereitschaft, da ge- meinsam voranzugehen. Das beschreibt, in welcher Breite und mit welcher Sensibilität wir dieses Thema angehen müssen, damit es – nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in diesem Land – akzeptiert wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das Ziel ist die Angleichung des Rentenwertes, ohne die Bestandsrenten zu mindern und ohne die bereits erarbei- teten Anwartschaften zu verschlechtern. Deshalb ist das Anliegen berechtigt. 12704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Frank Heinrich (A) (C) (D)(B) am Schluss keine Benachteiligung entstehen, auch nicht Wir wollen eine einheitliche Berechnung der Entgelt- punkte für die Zukunft und den Wegfall der Hochwer- tung der Ostentgelte. Das, was Sie als Linke in Ihrem Antrag vorschlagen, ist nicht mit uns zu machen. Sie for- dern eine Angleichung des Rentenwertes Ost an den Rentenwert West und gleichzeitig die Beibehaltung der Hochwertung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist notwendig, sonst wird es ungerecht!) Das würde zu neuen gravierenden Ungerechtigkeiten und sehr weitreichenden Verwerfungen führen. Das kön- nen wir nicht verantworten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das kann ich nicht erkennen!) Ich möchte noch kurz ansprechen, dass wir baldmög- lichst zu einem einheitlichen Rentensystem kommen wollen. Wir denken, dass es schon aus politischen Grün- den – wir leben in einem vereinigten Land, in dem der Grundsatz existiert, dass wir ein einheitliches Rechtssys- tem haben – nicht bei der Regelung bleiben darf, die wir im Moment haben. Deshalb stimmen wir dem Vorschlag Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 574; davon ja: 450 enthalten: 124 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl nanziell durchdacht sein. Wir werden heute die beiden vorliegenden Anträge aus den genannten Gründen ableh- nen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie könnten sich doch wenigstens ent- halten!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich darf die Aussprache kurz unterbrechen, um Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit- telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp- fungsgesetzes der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, Drucksachen 17/5761 und 17/5960, bekannt zu geben: abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 450, Enthaltungen 124. Zur Annahme des Gesetzentwurfes ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit, das sind 311 Jastimmen, erforderlich. Der Ge- setzentwurf hat die erforderliche Mehrheit erhalten. Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos auf Westseite. Das Konzept wird ausgewogen, nah am Konsens und fi- (Beifall bei Abgeordneten DIE GRÜ Danke, dass Sie für dieses ei gen. Danke für dieses gerec wir sind auf dem Weg; desha Danke für einige der Vorsch diesen halten wir weit mehr a Anträgen, die wir von der li bekommen. Es geht dabei zum einen u ellen Rentenwerts Ost und grenze Ost auf die Höhe der W um die Reduzierung der Ho Ermittlung der in Ostdeutsch erworbenen Entgeltpunkte, a resultierenden Rentenansprü des BÜNDNISSES 90/ NEN) nheitliche Recht Sorge tra- htfertigte Anmahnen. Aber lb nehme ich dazu Stellung. läge in Ihrem Antrag. Von ls von den Vorschlägen und nken Seite des Parlaments m die Anhebung des aktu- der Beitragsbemessungs- estwerte und zum anderen chwertungsfaktoren für die land in der Vergangenheit ber so, dass sich die daraus che nicht ändern. Es darf der Grünen nicht zu. Wir hab einen Begriff, der in Ihrem V rüber haben wir diskutiert. B sind wir noch nicht ganz nah Ich möchte dazu Folgend gleiche Berechnung der Ren tenpunkten und möchten und zept (Matthias W. Birkwald denn inklusive Zeitplan in dieser Wir haben von der Mitte de chen; diese ist im Septembe werden Sie von uns hören. (Matthias W. Birkwald en ein Problem mit diesem orschlag genannt wird. Da- ezüglich der Garantierente bei euch. es sagen: Wir sind für eine tenwerte mit gleichen Ren- werden ein eigenes Kon- [DIE LINKE]: Wann ?) Legislaturperiode vorlegen. r Legislaturperiode gespro- r erreicht. Das heißt, dann [DIE LINKE]: Okay!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12705 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Petra Merkel (Berlin) Dr. Matthias Miersch Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert 12706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Enthalten DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12707 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8 fort. Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 5 Millionen ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen erkennen die unglaubliche, gewaltige Leistung der Her- stellung der Einheit durchaus an. Für diese unglaubliche Leistung sind sie ausgesprochen dankbar. Aber es geht auch um Gerechtigkeit. Es geht um die Vereinheitli- chung der Lebensverhältnisse, um die Anerkennung der Lebensarbeitszeit. Das Angleichungsgebot des Art. 30 Abs. 5 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 zielt auf die Angleichung der Rente in den alten und neuen Ländern und damit auf die Herstellung ein- heitlicher Lebensverhältnisse für die Rentner und Rent- nerinnen über die Angleichung der Löhne und Gehälter. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Gerade in den letzten Jahren ist die Angleichung der Löhne und Gehälter zum Stillstand gekommen. Der Un- terschied im Lohnniveau zwischen Ost und West ist grö- ßer als der Unterschied im Lohnniveau in den alten Län- dern zwischen Nord und Süd. Die fehlende Tarifbindung im Osten verhindert, dass die Angleichung wie im öffentlichen Dienst und in einigen wenigen tarifgebun- denen Branchen fortgesetzt wird. Im Osten arbeiten immerhin noch 40 Prozent der Beschäftigten im Nie- driglohnbereich und viele ohne Tarifbindung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) Die Höherwertung der ostdeutschen Durchschnittslöhne ist deshalb nach wie vor wichtig, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) auch um dem Ziel des Einigungsvertrages gerecht zu werden. Unterschiedliche Rentenwerte sind nicht mehr ver- mittelbar. Sie führen seit Jahren zu Ungerechtigkeiten. Den Ostdeutschen fehlen 11 Prozent ihrer Rente; für den sogenannten Eckrentner Ost sind das 139 Euro im Mo- nat. Es kann niemand erwarten, dass man auf dieses Geld verzichtet. Eine Lösung dieses Problems ist schwierig. Sie wird auch nicht über Nacht erfolgen. Aber jedes weitere Jahr ohne Angleichung und ohne unterstüt- zende Maßnahmen wie Mindestlohn und aktive Arbeits- marktpolitik im Osten kostet uns viel Geld. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es geht um die Lebensarbeitsleistung und die unter- schiedlichen Lebensverläufe, ganz besonders um die der Frauen. Was kann schnell getan werden? Zum Beispiel – ich habe es schon beim letzten Mal gesagt –: dieselbe Anrechnung und Bewertung der Kindererziehungszei- ten, der Pflege und des Wehr- und Zivildienstes. Ich habe auch schon einmal gesagt: Niemandem kann heute noch erklärt werden, warum die Versicherungszeiten un- terschiedlich bewertet werden. Pflege ist in Ost und West gleich, Kindererziehung ebenso. Damit wären wir mit Sicherheit einen Schritt weiter. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man kann die Debatte zur Rentenangleichung nur auf der Ba- sis der Alterseinkommen führen; denn die Rente als Säule der Alterssicherung ist in den alten Bundesländern völlig anders aufgestellt als im Osten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stimmt!) Zur Gruppe der westdeutschen Rentner, vor allem der Männer, zählen auch Beamte und Selbstständige. Sie ha- ben zum Teil nur kurze Versicherungszeiten in der ge- setzlichen Rentenversicherung und beziehen ihr wich- tigstes Alterseinkommen aus anderen Systemen wie der Beamtenversorgung, der berufsständischen Versorgung und der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Über die Hälfte der Männer in den alten Ländern mit einer monat- lichen Rente von unter 300 Euro bezieht gleichzeitig eine Beamtenpension. Betriebsrenten sind in der jetzigen Rentnergeneration im Osten kaum vorhanden. In den al- ten Ländern haben nur 7 Prozent der Frauen und über 30 Prozent der Männer eine betriebliche Altersvorsorge; Tendenz steigend, auch im Osten. In den neuen Ländern gibt es kaum Nebeneinnahmen, weder aus Vermietung oder Verpachtung noch aus Zinsen. Hier leben fast alle Rentner und Rentnerinnen ausschließlich von der gesetz- lichen Rentenversicherung. So viel zum aktuellen Stand. Wir kennen natürlich die Vorwürfe, die nicht nur die Presse, sondern auch der Bundesrechnungshof erhebt. Es heißt, dass Beschäftigte, die bereits jetzt 100 Prozent des Westniveaus verdienen, durch die Höherwertung in Zu- kunft profitieren. Das ist richtig. Würde man aber den Höherwertungsfaktor generell wegnehmen und nur eine rein formale Angleichung durchführen, würden sich alle Rentner und Rentnerinnen dagegen wehren; denn dann müssten sie generell auf 11 Prozent ihrer Rente verzich- ten. Das kann man, wenn man Gerechtigkeit will, nicht hinnehmen. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 38 Cent!) Herr Sellering, der Ministerpräsident von Mecklen- burg-Vorpommern, sagte kürzlich in einem Interview mit der Schweriner Volkszeitung zu dem Vorschlag Ihrer Partei: Das ist ein gefährlicher Vorschlag, der unter dem Deckmantel einer Angleichung die Benachteiligung der Ostdeutschen bei der Rente dramatisch vergrö- ßern würde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Wolfgang Strengmann- 12708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Silvia Schmidt (Eisleben) (A) (C) (D)(B) Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 38 Cent!) Auch der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Herr Haseloff, hat aufgezeigt, dass er zum Beispiel den Ver- such der FDP in Baden-Württemberg in dieser Richtung verhindert hat. Er hat es so begründet: Noch immer tragen die Ostdeutschen stärker die Folgelasten aus der deutschen Geschichte. Sicher- lich müssen wir irgendwann dazu kommen, die Rentenberechnungen in Ost und West anzugleichen und die Systeme zu vereinheitlichen. Beide sind kluge Männer. Ich möchte Sie nur daran erinnern: Wir hatten den 17. Juni 1953. Arbeiter in Ostdeutschland haben sich ge- gen Panzer gestellt. Ich erinnere an die Opfer der Mauer, ich erinnere an die Opfer der Stasi, und ich erinnere Sie an die friedliche Revolution. Wir können also nicht nur jeden Jahrestag feiern und sagen, wie wichtig das für un- sere Geschichte war, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir bekommen einen Revolutionsbo- nus!) sondern die Bürger und Bürgerinnen, die Rentner und Rentnerinnen erwarten auch Respekt, Anerkennung, Ge- rechtigkeit und vor allem Demokratie, für die sie einge- treten sind. Ich gebe den Ministerpräsidenten völlig recht: Sie können den Bestandsrentnern eine Angleichung nicht ohne Verbesserung anbieten. Es gab in der DDR eben keine Möglichkeit, die Renten aufzuwerten. Ich habe das gerade erzählt: Wir hatten eine Diktatur. Es war ausge- sprochen schwierig, hier noch etwas zu tun. Diese Men- schen kann man also auch verstehen. Für mich enthält der Antrag der Linken natürlich ein sehr sympathisches Modell, das muss ich so sagen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es freut mich, das zu hören, Frau Kollegin!) aber das wird sehr viel kosten, und das muss man durch- rechnen. Ich möchte nur noch kurz anmerken, was unsere Ideen sind: Wir sind der Meinung, dass die Rentenan- gleichung bis zum Auslaufen des Solidarpakts im Jahre 2019 abgeschlossen sein muss. Das ist eine lange Zeit; ich weiß. Wir müssen die Lebensarbeitsleistung der Menschen in den neuen Bundesländern anerkennen, und wir wollen auch die zukünftigen Rentner und Rentnerin- nen nicht belasten. Wir werden auf alle Fälle – auch das habe ich schon einmal gesagt – den Vorschlag eines Härtefallfonds ein- bringen, und zwar bis zur Sommerpause. Gleichzeitig wollen wir die Zeiten der Kindererziehung, der Pflege, des Wehr- und Zivildienstes schnellstmöglich anpassen. Auch hierzu werden wir Anträge vorlegen. Daneben ar- beitet die Alterssicherungskommission in unserem Par- teivorstand. Ottmar Schreiner als Vorsitzender sucht hier mit nach Lösungen. Herr Heinrich, Sie haben recht: Es ist nicht alles leicht. Das ist ein mühseliges Unterfangen, und man kann den Vätern der Einheit nicht vorwerfen, dass sie diese Rentenangleichung nicht gewollt haben. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist, dass wir endlich auch die Löhne in den neuen Bundesländern an- gleichen. Wir dürfen uns nicht noch einmal solche Fehl- entwicklungen leisten wie zum Beispiel die, den Mitar- beitern in der Pflege in den neuen Bundesländern nur 7,50 Euro und in den alten Bundesländern 8,50 Euro an- zubieten. Dadurch haben wir hier im Voraus schon wie- der eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, was sich spä- ter natürlich auch in den Renten niederschlagen wird. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Traurig, aber wahr!) Das darf nicht sein. Wir brauchen einen einheitlichen ge- setzlichen Mindestlohn in Ost und West. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Die Rentenversicherung alleine wird dieses Problem nicht lösen. Wir wissen, das ist eine Frage der Gerechtig- keit, wir wissen, das ist eine Frage der Einheit, und wir wissen, das ist auch eine Frage der Steuermittel. Wir bas- teln Rettungsschirme für die einen, und natürlich haben die Bürger und Bürgerinnen auch die Erwartung, dass man auch Rettungsschirme für die anderen errichtet. Ich danke Ihnen vielmals. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP- Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsver- trag festgeschrieben, dass wir in dieser Legislaturpe- riode, also bis zum Jahr 2013, ein einheitliches Renten- system einführen werden. (Beifall bei der FDP) Viele Menschen warten darauf, und es gibt auch viele Stimmen, die skeptisch sind, ob das gelingen kann. Ich aber bin zuversichtlich und spreche für meine Kollegen der Bundestagsfraktion und auch für die Kollegen der Union, wenn ich sage, dass wir diese Skepsis durch un- ser Handeln werden widerlegen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, wir werden Ihrem Antrag heute trotzdem nicht zustimmen; denn darin sind einige Überlegungen enthal- ten, die wir nicht teilen. Darauf gehe ich am Ende meiner Rede gerne noch ein. Ich möchte daran erinnern, dass wir als FDP-Bundes- tagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt haben, der eine Vereinheitlichung des deutschen Rentenrechts zum Ziel hatte. Inhalt war – das halten wir auch weiterhin für richtig –, dass in ganz Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12709 Pascal Kober (A) (C) (D)(B) Deutschland ein einheitliches Rentenrecht eingeführt wird: mit einem einheitlichen Rentenwert, einheitlichen Entgeltpunkten und einer einheitlichen Beitragsbemes- sungsgrenze. Ausgehend von einem bestimmten Stichtag würden sich dann alle Renten, in Ost und West, entspre- chend der Entwicklung des einheitlichen Rentenwerts anpassen. Jeder Euro Rentenbeitrag würde ab diesem Stichtag im ganzen Bundesgebiet den gleichen Rentenanspruch bedeuten. (Beifall bei der FDP) Bisherige Ansprüche und Regelungen würden selbstver- ständlich unberührt bleiben. Ich bin sehr froh, dass das Ziel der Schaffung eines einheitlichen Rentenrechts Eingang in unseren Koali- tionsvertrag gefunden hat und dass wir das Thema in dieser Legislaturperiode umsetzen werden; denn es be- steht, wie gesagt, in der Tat Handlungsbedarf. Über 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirt- schafts- und Sozialunion ist es an der Zeit, dass wir die deutsche Einheit auch im Rentenrecht verwirklichen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die aktuelle Gesetzgebung führt dazu, dass sich Ver- sicherte in Ost und West gleichermaßen benachteiligt fühlen. Die Versicherten im Westen sind wegen der Hochwertung der im Osten gezahlten Beiträge um über 18 Prozent unzufrieden und fühlen sich dadurch benach- teiligt. Die Versicherten im Osten fühlen sich durch den niedrigeren Rentenwert benachteiligt. Zwar wurden die Renten in den neuen Bundesländern durch die Wieder- vereinigung und das Rentenüberleitungsgesetz enorm aufgewertet; allerdings liegt auch heute noch der soge- nannte Rentenwert Ost rund 12 Prozent unter dem Ren- tenwert West. Das bedeutet, dass ein Jahr durchschnittli- cher Rentenbeitrag im Westen noch über 12 Prozent mehr Wert hat als in den neuen Bundesländern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Problem!) Daraus ergibt sich, dass der sogenannte Eckrentner – ein Versicherter, der 45 Jahre lang mit Durchschnitts- beiträgen in die Rentenversicherung eingezahlt hat – im Westen eine Standardrente bzw. eine Eckrente in Höhe von 1 224 Euro erhält, im Osten jedoch nur von 1 085,85 Euro. Diese Standardrente bzw. Eckrente ist aber nicht mit der Durchschnittsrente zu verwechseln. Die Durch- schnittsrente – auch dazu möchte ich etwas sagen – ist im Osten zwar um etwa 100 Euro höher als im Westen; das hat jedoch auch historische Gründe. In den alten Bundesländern ist eine größere Zahl von Kleinstrenten eingerechnet. Das sind Renten von Menschen, die nur kurze Zeit Mitglied der Rentenversicherung waren und danach beispielsweise selbstständig wurden oder in den Beamtenstatus gekommen sind. Diese Menschen sorgen für eine Reduzierung der Durchschnittsrente, sind aber in der Regel im Alter gut versorgt. Solche Kleinstrenten gibt es in den neuen Bundeslän- dern jedoch bis heute kaum. Der Grund dafür ist, dass in der ehemaligen DDR alle Menschen im Angestelltensta- tus arbeiteten und daher auch komplett von der deut- schen Rentenversicherung erfasst werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie vorhin bereits erwähnt, liegt Ihr Antrag nicht allzu weit von unseren Vorstellungen entfernt. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie sich doch enthalten!) Ihrem Vorschlag einer Garantierente werden wir aber unsere Zustimmung nicht geben können. (Beifall bei der FDP) Ihnen schwebt ein anderes Rentenrecht vor, als wir es seit Jahrzehnten sehr erfolgreich und mit hoher Anerken- nung seitens der Bevölkerung haben. Die Einführung ei- ner Garantierente würde das Äquivalenzprinzip verlet- zen und zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das und damit auch Ihren Antrag lehnen wir als FDP-Bundes- tagsfraktion ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Birkwald von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eines möchte und muss ich vorab klarstellen: Bei der Angleichung der ostdeutschen Renten an das Westniveau geht es um Gerechtigkeit – und nicht um Almosen. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Mit Almosen kennt ihr euch ja aus!) Es muss gelten: Gleiche Rente für gleiche Lebensleis- tung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wollen ein gleiches Rentenrecht für Ost und West ein- führen und möchten damit Gerechtigkeit schaffen. Gut gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht; denn Ihr Vorschlag zur Umsetzung ist leider schlecht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) In Wahrheit festigt Ihr Vorschlag das bestehende Zweiklassensystem des Rentenrechts, und das ist unge- recht. Dem wird die Linke auf keinen Fall zustimmen. (Beifall bei der LINKEN) Nach Ihrem Vorschlag würden alle bisherigen ost- deutschen Rentenpunkte so in westdeutsche Renten- punkte heruntergerechnet, dass der tatsächliche Renten- anspruch um keinen Cent steigt. (Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!) 12710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Matthias W. Birkwald (A) (C) (D)(B) Damit blieben die bisher erworbenen Rentenanwart- schaften – auch bei der jungen Generation – bei gleicher Lebensleistung dauerhaft um 11 Prozent gekürzt. Was ist denn daran gerecht? Gar nichts! (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]) Die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau war ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Das ignorieren Sie völlig, und das ist nicht akzeptabel. Ihr Denkfehler liegt klar auf der Hand. Sie, lieber Kollege Strengmann-Kuhn, haben gegenüber der Bild- Zeitung davon gesprochen, dass ja die Osteinkommen denen im Westen nahezu angeglichen seien. Das ist falsch; die Kollegin Schmidt hat darauf bereits hinge- wiesen. Die Friseurin in Dresden verdient noch immer deutlich weniger als die Friseurin in Köln. Sie haben ge- genüber diesem Blatt auch behauptet, es gebe ja auch keinen Ausgleich zwischen Bayern und Schleswig-Hol- stein. Mit Verlaub, das ist ignorant. Sie lassen dabei nämlich schlicht außer Acht, dass selbst Brandenburg als einkommensstärkstes ostdeutsches Bundesland bei den Löhnen und Gehältern deutlich abgeschlagen hinter Schleswig-Holstein als dem einkommensschwächsten westdeutschen Bundesland zurückfällt. Das sind die Tat- sachen. Wenn Sie diese Tatsachen weiter verdrehen, hei- zen Sie die Neiddebatte zwischen Ost und West weiter an. Das können Sie doch nun wirklich nicht wollen. (Beifall bei der LINKEN) Bleiben Sie also bitte bei den Tatsachen! Die Grünen müssen endlich lernen, die Lebenswirklichkeit der Men- schen in Ostdeutschland und ihr Empfinden ernst zu nehmen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: So ein Unsinn!) Die Ausgangslage ist ja bekannt. Wenn zum 1. Juli die Renten um 1 Prozent steigen, bleibt der aktuelle Ren- tenwert für Ostdeutsche mit 24,37 Euro weiterhin um 11 Prozent geringer als der Rentenwert für Westdeutsche mit 27,47 Euro. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das müssen wir ändern!) Das hat bittere Folgen: Nach 45 Jahren durchschnittli- chem Verdienst erhalten Ostdeutsche 140 Euro weniger Rente als Westdeutsche. Im Klartext heißt das: Die wirt- schaftliche Lebensleistung der Ostdeutschen wird in der Rentenversicherung schlechter bewertet als die der Westdeutschen, und das schon seit über 20 Jahren. Doch statt zu handeln, betreiben seit der Wiedervereinigung alle Bundesregierungen Sankt-Nimmerleins-Politik. Er- innern wir uns: Die Angleichung war ein zentrales eini- gungspolitisches Versprechen. Die Linke will, dass es jetzt endlich eingelöst wird. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag eine Lösung auf, die von den Gewerkschaften Verdi, GEW, Transnet, der Gewerkschaft der Polizei und den Sozial- verbänden Volkssolidarität, dem Sozialverband Deutsch- land und dem Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner und Hinterbliebenen entwickelt worden ist und überzeu- gend vertreten wird. Nach unserem Vorschlag muss eine gerechte Angleichung erstens zu einer deutlichen Ver- besserung für alle heutigen Rentnerinnen und Rentner führen; (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber nur im Osten!) denn die Alterseinkünfte sind im Osten 18 Prozent ge- ringer als im Westen. (Beifall bei der LINKEN) Das liegt vor allem daran, dass die gesetzliche Rente bei den Ostdeutschen mehr als 90 Prozent ihres gesamten Alterseinkommens ausmacht. Zweitens. Die Hochwertung der ostdeutschen Löhne und Gehälter muss – darauf wurde eben hingewiesen – als pauschaler Nachteilsausgleich beibehalten werden, und das, obwohl sich die Tariflöhne angleichen. Warum? Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Ostdeutschland arbeitet nämlich ohne Tarifvertrag, und die durchschnitt- lichen Löhne und Gehälter liegen an der Saale und der Oder nach wie vor ein Viertel unter denen am Rhein und an der Isar. Außerdem müssen Ostdeutsche für einen fast gleichen Lohn oft länger arbeiten und auf im Westen üb- liche Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder Weih- nachtsgeld verzichten. Die bloße Angleichung der Tarif- löhne sagt also nichts über die tatsächliche Ungleich- behandlung aus. Ohne eine Hochwertung würde der Eckrentner Ost – dieser ist eben vom Kollegen Kober er- wähnt worden – heute nur knapp 700 Euro Rente erhal- ten. Das geht nicht. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Die Angleichung soll bis 2016 abgeschlos- sen sein. Die Linke, Verdi, die Volkssolidarität und an- dere schlagen dafür einen steuerfinanzierten, stufen- weise steigenden Zuschlag vor. Viertens. Die Angleichung der Renten im Osten an das Westniveau darf nicht gegen eine vernünftige Lohn- und Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland ausgespielt werden. Die Rentnerin in Cottbus ist nicht weniger wert als der Rentner in Kiel. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig, Herr Birkwald, der Rentenwert Ost liegt immer noch deutlich unter dem Rentenwert West, nämlich ab 1. Juli bei 24,37 Euro im Vergleich zu 27,47 Euro. Die- ser Zustand muss so schnell wie möglich beseitigt wer- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12711 Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (C) (D)(B) den, weil er ungerecht ist und von den Ostdeutschen zu Recht als diskriminierend empfunden wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Da sind wir uns ja einig!) Sie haben jedoch verschwiegen, dass Sie das nicht schnell beseitigen wollen, sondern sich fünf Jahre Zeit lassen wollen, um diese Lücke zu schließen. Bei der SPD ist das noch viel schwammiger. Da war davon die Rede, man müsse erst einmal abwarten, bis sich die Löhne angeglichen hätten. Das ist das Warten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei der CDU heißt es: Wir ha- ben uns auf den Weg gemacht. – Die Ministerin hat je- doch bisher noch nichts vorgelegt, und auch die Koali- tionsfraktionen haben noch nichts vorgelegt. Ich sehe diesen Weg noch nicht. Wenn unser Antrag dazu führt, dass sich die Prozesse bei Ihnen beschleunigen – das fänden wir sehr richtig –, dann hat es sich gelohnt, die- sen Antrag einzubringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für uns sind folgende Dinge wichtig: Erstens. Der Rentenwert Ost muss auf den Rentenwert West angeho- ben werden, und zwar so schnell wie möglich. Zweitens. Wir wollen einen Vorschlag machen, der fi- nanzierbar und schnell umsetzbar ist, damit wir dieses Ziel erreichen. Drittens. Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten entstehen. Viertens. Mitbedacht werden muss, dass schon jetzt die Altersarmutswelle anfängt zu rollen, und zwar insbe- sondere im Osten Deutschlands. Vor kurzem wurde eine neue Studie vorgelegt, die zeigt, dass die Rentenansprü- che der Neurentnerinnen und -rentner seit ein paar Jah- ren sinken. Insbesondere im Osten wird das besonders der Fall sein. Deswegen ist uns die Forderung nach Ein- führung einer Garantierente sehr wichtig, weil dies ins- besondere die Rentnerinnen und Rentner im Osten vor Altersarmut schützt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu unserem Vorschlag: Erstens. Wir schlagen vor, den Rentenwert Ost auf den Rentenwert West zum nächst- möglichen Zeitpunkt anzuheben. Das ist, wenn man die Umsetzung bei der Rentenversicherung mit berücksich- tigt, wahrscheinlich zum 1. Juli 2012 möglich. Wir wol- len nicht so lange warten wie die Linke. (Zuruf von der LINKEN: Das ist frech!) Zweitens. Die derzeitigen Rentenansprüche sollen er- halten bleiben. Hier gibt es einen Unterschied zu den Linken, den bereits Matthias Birkwald aufgezeigt hat. Wir sind nicht der Meinung, dass man ausschließlich im Osten eine Schippe drauflegen kann (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Wieso eine Schippe? Das sind Ansprüche!) und die dortigen Renten einseitig um 10 Prozent erhöhen sollte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies würde neue Ungerechtigkeiten hervorrufen. Wer im Westen wenig verdient, würde nicht einsehen, warum er bei gleichem Lohn nicht den gleichen Rentenanspruch hat. Wer im Westen viel, 4 000 Euro, verdient, würde erst recht nicht einsehen, einen geringeren Rentenan- spruch zu haben als jemand, der im Osten 4 000 Euro verdient. Deswegen sagen wir: Wenn wir den Rentenwert Ost auf den Rentenwert West anheben, dann kann man in der Tat auf die Hochwertung der Entgeltpunkte in Ost- deutschland verzichten, weil der Unterschied mittler- weile nur noch marginal ist. Wenn man die Zahlen nimmt, die ab dem 1. Juli 2011 gelten, dann beträgt der Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit ei- nem Einkommen von 30 000 Euro im Jahr 38 Cent. Das ist der Vorteil, den wir sozusagen den Ostdeutschen wegnehmen wollen. Aber damit schaffen wir endlich gleiche Verhältnisse in Ost und West. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe viele Zuschriften erhalten, in denen die ost- deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, dass sie es als diskriminierend empfinden, dass bei ihnen die Entgeltpunkte so berechnet werden, dass dies zu einem Aufschlag führt. Denn auch die Menschen in Ost- deutschland wollen endlich so behandelt werden wie die im Westen und nicht als Erwerbstätige zweiter Klasse. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) – Ich habe doch gerade gesagt, dass, was den Rentenan- spruch angeht, der Unterschied bei einem Durchschnitts- verdiener mit einem Einkommen von ungefähr 30 000 Euro im Jahr 38 Cent beträgt. Das steigt dann mit höhe- rem Einkommen an. Sie machen einen Vorschlag, wonach alle Renten er- höht werden sollen, unabhängig von der Rentenhöhe. Das heißt, Sie sehen mehr Rente auch für die Reichen vor. Das finden wir nicht sinnvoll. Wir meinen nicht, dass jemand, der 4 000 Euro im Osten verdient, höhere Rentenansprüche haben sollte als jemand, der 4 000 Euro im Westen verdient. (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Es geht um die Tarife und um die Branchen!) In diesem Einkommensbereich gibt es schon jetzt meis- tens gleiches Geld für gleiche Arbeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Richtig ist, dass die Durchschnittseinkommen im Os- ten nach wie vor geringer sind. Aber da muss man an den Ursachen ansetzen. Wir brauchen endlich einen ein- heitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen Branchentariflöhne. Wir brauchen mehr Allgemeinver- bindlichkeitserklärungen, damit endlich auch im Osten tatsächlich genauso viel bezahlt wird wie im Westen. Wir müssen die Gewerkschaften und Arbeitgeber auffor- dern, endlich mit dem Unsinn aufzuhören, die Tarife für 12712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (C) (D)(B) Ost und West ungleich zu gestalten. Wir brauchen da endlich gleiches Recht für West und Ost. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das brauchen wir nicht nur bei den Löhnen, sondern auch in der Rente. Ich kann Ihnen versichern: Wir wer- den weiter Druck machen für ein gleiches Rentenrecht in Ost und West. Wir werden auch weiter Druck machen für eine bessere Armutsbekämpfung – in Ost- und West- deutschland. Insbesondere die Ostdeutschen würden von einer Garantierente, wie wir sie vorschlagen, profitieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heike Brehmer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Grünen zum Rentenrecht in Ost und West. Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, dann sehe ich, wie krampfhaft versucht wird, Gerechtigkeit zu formulieren, eine Form von Ge- rechtigkeit, mit der wir uns hier seit Jahren beschäftigen, eine Gerechtigkeit, die 3 Millionen ostdeutsche Rentner und 20 Millionen Rentner bundesweit betrifft. Betrachte ich mir Ihren Antrag, dann muss ich sagen: Er steht für mich – sicher zu Recht – unter dem Motto „Schnelligkeit statt Qualität“. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch ver- sprochen, dass es in dieser Legislaturperiode sein soll!) – Dazu komme ich noch, keine Sorge. Im Koalitionsvertrag haben wir als christlich-liberale Koalition vereinbart, noch in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West einzu- führen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann aber hurtig!) Die christlich-liberale Koalition wird den Demografie- bericht der Bundesregierung abwarten, der Ende des Jahres vorliegen und uns die entscheidenden Zahlen zum Sozial- und Rentensystem liefern wird. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hat doch damit überhaupt nichts zu tun!) Wir rechnen damit, dass wir gegen Ende des Jahres zu einer Entscheidung kommen werden. Ich warne im Interesse der betroffenen Rentner vor undurchdachten Entscheidungen und Schnellschüssen. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundeslän- dern haben genauso hart gearbeitet wie ihre Altersgenos- sen in den alten Bundesländern. Das sollten wir dabei nicht vergessen. Die betroffenen Rentner fragen sich zu Recht, nicht nur in den neuen Bundesländern, warum es nach 20 Jahren der deutschen Einheit noch immer unter- schiedliche Rentenwerte gibt. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!) Die Zusammenführung der Rentensysteme ist eine große sozialpolitische und solidarische Leistung gewe- sen. Allein im Jahr 2009 gab es über die Rentenversiche- rungssysteme einen Transfer in Richtung Osten in Höhe von 14,9 Milliarden Euro. Es wird oft kritisiert, dass die Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern eine höhere Anzahl an Entgeltpunkten sammeln. Man muss dabei aber bedenken, dass der Rentenwert Ost um 12,1 Pro- zent unter dem Rentenwert West liegt. Gleicht man den Rentenwert nun aber an das westdeutsche Niveau an, würde die Höherbewertung der Entgeltpunkte wegfallen. Die Folge: Zukünftige Rentner, die heute relativ wenig verdienen, könnten das Nachsehen haben. Sicher hatten wir Anfang der 90er-Jahre angenom- men: Die Rentenwerte gleichen sich über die Jahre allein durch die Lohnentwicklung an. Betrachten wir die Reali- tät der Lohnentwicklung in Ost und West, sieht es natür- lich ganz anders aus. Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen – Frau Schmidt hat es schon erwähnt, und Herr Strengmann-Kuhn hat auch darauf hingewiesen –: Die Tarifpartner haben in der Pflege einen Stundenlohn von 8,50 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten vereinbart. Wir müssen darauf hinwirken, dass die Lohnentwick- lung und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, die heute noch deutliche Unterschiede im Vergleich zu Ba- den-Württemberg oder Bayern aufweisen, sich in den nächsten Jahren verbessern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Je besser sich die Löhne in den neuen Bundesländern entwickeln, desto schneller geschieht die Rentenanpas- sung. Bei der Diskussion zur Rentenanpassung gehen die meisten Rentner davon aus, dass eine Rentenanglei- chung auch eine Rentenerhöhung bedeutet. Für einige Bürger wird dies zutreffen. Wird der Rentenwert ange- glichen, wird es Gewinner und ebenso Verlierer geben. Das ist so. Als ostdeutsche Christdemokratin wünsche ich mir natürlich, dass es möglichst keine Verlierer gibt, auch wenn die Zahl der Gewinner vergleichsweise kleiner werden könnte. Deshalb müssen wir zum Ende des Jah- res den Bericht der Bundesregierung, der dann vorliegen wird, genau prüfen und hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, noch vor Ende der Wahlperiode Klarheit schaffen. Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für die Be- troffenen alles andere als befriedigend ist. Die christlich- liberale Koalition hat sich ebenso gründlich wie ausgie- big Zeit genommen, die Verfassungsgerichtsurteile im SGB II und bei Hartz IV umzusetzen. Von daher die Ein- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12713 Heike Brehmer (A) (C) (D)(B) ladung an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sich zu beteiligen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das machen wir doch!) wenn wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzent- wurf vorlegen werden, und sich nicht wie bei der Hartz- IV-Gesetzgebung zum Bildungs- und Teilhabepaket ein- fach aus der Verantwortung zu stehlen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem Antrag fordern Sie die radikale Angleichung der Ost- an die Westrente; Sie sind wieder ganz vorn mit dabei. Be- kanntlich haben Sie sich ja wie keine andere Partei das Banner der sozialen Gerechtigkeit über den Kaminsims gehängt. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, sa- gen Sie mal!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kehren Sie erst einmal Ihren eigenen Hof, bevor Sie dem klei- nen Mann vermeintliche Gerechtigkeit versprechen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Na, Frau Kol- legin!) In der Rentenangleichung wären Ihnen die ehemaligen DDR-Bürger dankbar dafür, wenn Sie einfach einen Teil des Geldes aus dem SED-Parteivermögen für die Ren- tenkasse zur Verfügung stellten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt reicht es aber! Das ist alles schon klar! Ganz tief in die Kiste! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Wir reden über das Rentenrecht Ost bzw. West. Ich halte hier fest: Nach der Wende stand Deutschland vor der großen Herausforderung, zwei unterschiedliche So- zialsysteme miteinander zusammenzuführen. Dazu ge- hörten die Rentensysteme in beiden Teilen Deutsch- lands. Diesen Kraftakt haben wir innerhalb kurzer Zeit zumindest im Hinblick auf diese Thematik geschafft, und darauf können wir auch stolz sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In der DDR gab es – Sie erinnern sich – ein völlig ma- rodes Sozialsystem; die Altersvorsorge war abgeschrie- ben. Dieses System wurde in einer riesigen Kraftanstren- gung ersetzt. Die West- und Ostdeutschen haben gemeinsam das marode Rentensystem der DDR über- wunden und in ein gesamtdeutsches überführt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich erinnere Sie an die erbärmliche Rentenhöhe in der DDR: durchschnittlich 400 bis 500 DDR-Mark. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was kostete denn da ein Brötchen?) Zudem war es kaum jemandem möglich, Finanz- oder Sachwerte für das Alter anzusparen. Nach der Wende stiegen die Renten erheblich. Auch das ist ein Punkt, auf den man ruhig einmal stolz sein kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nicht vergessen werden darf – auch das ist wichtig, wenn wir über Rentner und Rente reden –: das bessere Sozialsystem, das bessere Gesundheitssystem, das bes- sere Rentensystem und eine bessere Versorgung im Pfle- gefall. Dies hat konkrete Auswirkungen zum Beispiel auf die Lebenserwartung. Dass sich die Lebenserwar- tung der Ostdeutschen in den letzten 20 Jahren massiv erhöht hat, ist auch eine Folge des Rentensystems. (Beifall bei der FDP – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Sehr gut!) Das sind doch alles Erfolgsgeschichten, die an dieser Stelle auch einmal erwähnt werden müssen. Dass es Er- folgsgeschichten sind, wollen Sie nicht hören; das tut mir leid. Trotzdem sind es Erfolgsgeschichten. Zur Vollendung der deutschen Einheit gehört nun auch, dass wir überall in Deutschland das gleiche Ren- tenrecht haben werden. Das ist eine Anstrengung, die auch diese Bundesregierung leisten wird. Aber keine Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir im Grundsatz diese Unterschiedlichkeit haben. Dies ist und bleibt ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Län- dern den Löhnen. Das heißt, die Renten sind auch davon abhängig, wie die Verdienstmöglichkeiten der Beschäf- tigten im Osten sind. Wenn 40 Jahre lang Großbetriebe komplett kaputtgewirtschaftet wurden, wenn der Mittel- stand zerschlagen wurde, wenn Kleinstbetrieben kaum Luft gelassen wurde, was glauben Sie, was man 20 Jahre später an Wirtschaftskraft und Entlohnung aufbauen kann? (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann hätten Sie es nicht in den Einigungsvertrag hi- neinschreiben dürfen!) Sie haben eines der größten Verbrechen in diesem Teil Deutschlands begangen und Schaden angerichtet. Jetzt beschweren Sie sich, dass diejenigen, die versuchen, Ihr Feuer zu löschen, das Feuer nicht schnell genug löschen. So geht es auch nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ein Unsinn!) Weil man in der DDR kaum vorsorgen konnte, weil man nur eine niedrige Rente in Aussicht hatte, weil es übrigens auch keinen großen Unterschied zwischen Ar- 12714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Patrick Kurth (Kyffhäuser) (A) (C) (D)(B) beitern und Akademikern gab, wurden einst die Ost- rentenpunkte aufgewertet. Das ist eine Schwierigkeit, die wir ebenfalls ansprechen müssen. Es geht nicht nur um Rentenauszahlung, sondern auch um die Bewertung der Punkte. Dies muss mit abgearbeitet werden. Dazu bedarf es keiner überhasteten Arbeit, sondern dazu be- darf es der Genauigkeit. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über- hastet? Hallo, 20 Jahre! Nichts überhastet!) Das wird diese Koalition in dieser Legislaturperiode leisten. Sehr herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich nun das Wort dem Kollegen Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Jetzt nicht die SED vergessen, Herr Kollege!) Ulrich Lange (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Anfang halte ich ebenso wie der Kollege gerade eben fest, dass sich das Rentensystem, wie wir es nach der Wiedervereinigung für Deutschland geschaffen haben, dem Grundsatz nach bewährt hat. Ich danke den Bürge- rinnen und Bürgern für 20 Jahre Solidarität im Renten- system, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Das war ein echter Kraftakt in unserem Land, und meines Er- achtens muss das heute auch einmal gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das Rentensystem in dieser Legislaturperiode anzugleichen. Aber dass diese Angleichung im Detail schwierig ist und dass es hierbei zwischen dem Vorschlag der Grünen oder aber der vermeintlich großen Gerechtigkeit der Linken große Differenzierungsprobleme gibt, haben die Vorred- nerinnen und Vorredner schon sehr deutlich gemacht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das „vermeintlich“ müssen Sie streichen!) Wir haben eine Hochwertung der Entgeltpunkte im Osten. Diese müssten wir dann im Sinne der Gerechtig- keit abschaffen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) Wir müssten den Umrechnungsfaktor angleichen. Es gibt also viele Probleme und Punkte im Detail, die ich jetzt nicht alle wiederholen möchte. Angesichts der Komplexität und angesichts der Schwierigkeit dieser Materie dürfen wir das Problem der zwischen Ost und West möglicherweise bestehenden Ungerechtigkeit nicht in einer emotionalen Debatte an- gehen. Wir dürfen auch keine Schnellschüsse machen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 20 Jahre! Das ist kein Schnellschuss!) – In diesen 20 Jahren – der Kollege hat es eben deutlich gemacht – ist sehr viel geleistet worden. Ich glaube, dass man darauf stolz sein kann und dies auch hier in aller Deutlichkeit sagen darf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen ist es nicht redlich, hier von Ungerechtig- keit zu reden; vielmehr geht es darum, in einem langfris- tigen Prozess diese Gleichheit zu schaffen. Darum sind wir mit unserer Ministerin bemüht. Wir sind sicher, dass wir hier zu einem richtigen, sinnvollen und ausgewoge- nen Ergebnis kommen, nämlich zu einer gerechten Lö- sung zwischen West und Ost, zwischen Ost und West, innerhalb des Systems. In diesem Sinne herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glei- ches Rentenrecht in Ost und West“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/5961, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5207 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4. Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5962, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4192 abzulehnen. Wir stim- men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Schriftführer vollzählig an den Urnen? – Das scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, abzustimmen. Die Abstimmung ist eröffnet. Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm- karten eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführerin- nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be- kannt gegeben.1) Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, wieder die Plätze einzunehmen. 1) Ergebnis Seite 12716 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12715 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1937 (2010) vom 30. August 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen – Drucksache 17/5864 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be- schlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- wärtigen: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt die UNIFIL-Mission zum Schutz der libanesischen Küste. Dieser Schutz der liba- nesischen Küste ist aus unserer Sicht aber keine Dauer- aufgabe der Staatengemeinschaft und auch keine Dauer- aufgabe für uns. Damit der Libanon diese Aufgabe schultern kann, haben wir im vergangenen Jahr nach ei- ner umfangreichen Debatte auch hier im Deutschen Bun- destag umgesteuert. Das geänderte Mandat setzt den Schwerpunkt auf die Ausbildung der libanesischen Marine. In diesem Jahr bleiben wir auf dem Kurs, den wir im letzten Jahr neu eingeschlagen haben. Heute ist der Libanon in der Lage, mit Radaranlagen die Küsten zu überwachen. Das ist ein Erfolg unserer Unterstützung und wird auch die Sicher- heit für die Handelsmarine erhöhen und damit die Versorgung der Menschen im Libanon verbessern. Des- wegen möchte ich vorab und zuallererst allen Frauen und Männern, allen Soldatinnen und Soldaten danken, die bei UNIFIL so viel erreicht haben und die unter sehr großer persönlicher Entbehrung diesen Einsatz als stabi- lisierenden Faktor in der Region tragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Noch braucht der Libanon unsere Hilfe. Wir setzen weiter auf Ausbildung und Training, weil wir uns damit eine Perspektive auf Beendigung des Einsatzes erarbei- ten können. Unser Engagement bleibt eingebettet in un- sere Arbeit für dauerhaften Frieden und demokratische Stabilität in der ganzen Region. Glaubwürdigkeit, Wohl- wollen und Vertrauen werden uns entgegengebracht. Es kommt nicht von ungefähr, dass alle Parteien – Israel, der Libanon und insbesondere die Vereinten Nationen – um eine Fortsetzung unseres Beitrages zu UNIFIL gebe- ten haben. Wir erleben, anknüpfend an die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin von heute Morgen, natürlich eine historische Zäsur in der arabischen Welt. Gerade in die- sen Tagen und in diesen Monaten ist diese Zäsur natür- lich der Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfindet. In dem Streben nach mehr Freiheit, mehr Demokratie und größerem persönlichen Wohlstand in der arabischen Welt liegt auch eine große Chance für uns Europäer. Es ist die Chance auf ein neues Kapitel der gesellschaftli- chen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ende der Diktaturen in Tunesien und in Ägypten gibt Hoff- nung. In anderen Teilen der Region überwiegt aber immer noch Besorgnis. Auch im Libanon – darum kann man nicht herumreden – ist die Lage in den letzten Monaten nicht einfacher geworden. Seit Januar ist das Land ohne Regierung. Eine Regierungsbildung ist nicht in Sicht. Die Situation der Menschen in den palästinensischen Flüchtlingslagern bleibt angespannt. Bei der Grenzfest- legung mit Syrien herrscht Stillstand. Noch immer ver- suchen die Regierungen in Syrien und im Iran, den Liba- non zu dominieren. Hinweise auf Waffenlieferungen an die Hisbollah sind erdrückend eindeutig. Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme als Grund- lage für die Entscheidung des Deutschen Bundestages gehört also nicht nur das, was unsere Frauen und Männer an Erfolgen erreicht haben, sondern natürlich auch eine kritische Würdigung der Umstände einschließlich der politischen Entwicklungen, die uns alle in diesem Hause unzweifelhaft beunruhigen. Ich denke, man muss diesen Punkt hier ausdrücklich ansprechen, weil man sonst nicht zu einer abgewogenen Entscheidung kommen kann. Der Eindruck, das sei ein leichter Einsatz, der Ein- druck, alles sei in Ordnung und alles auf bestem Wege, täuscht. Dies anzunehmen, wäre fahrlässig. Wir müssen auch die Schwierigkeiten dieses Einsatzes, insbesondere auch die politischen Schwierigkeiten dieses Einsatzes, sehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, ist nicht nur ein Drama und schrecklich für die Menschen, die für Freiheit auf die Straße gehen und Repression und Unter- drückung erleiden, sondern das, was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, hat auch viel Störpotenzial für den Li- banon. Anfang der Woche haben wir in Brüssel eine ent- schlossene Antwort auf die fortgesetzte Repression der syrischen Führung gegen das eigene Volk gegeben. Die Sanktionen sind zweistufig beschlossen worden, übri- gens auch in Einklang mit unseren Partnern, den Verei- nigten Staaten von Amerika. Auch die Erklärung der G 8 in Deauville lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, was die entsprechende Kritik an dem syrischen Präsidenten 12716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Bundesminister Dr. Guido Westerwelle (A) (C) (D)(B) prozess eingeschaltet hat. Wir sind uns in der Europäi- beit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke Friedenslösung im Nahen Osten nur die Zwei-Staaten- Lösung sein kann. Ich will nicht wiederholen, was die Frau Bundeskanz- lerin heute Morgen dazu gesagt hat. Ich will zum Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 566; davon ja: 503 nein: 63 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser ten in Ostdeutschland“ geben: abgegebene Stimmen 566. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein 63, Enthaltun- gen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter schen Union mit den Vereinigten Staaten einig, dass eine mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Ren- und der syrischen Führung a beschlossen und werden dem weil sie zielgerichtet beschlo Die Unterdrückung des sy rausforderung der europäisch sident Assad und sein engerer schen Union derzeit nicht bleiben eingefroren. Wenn M in unserer unmittelbaren Na den, dann muss die europäisc unmissverständliche Antwor ser Woche gezeigt, dass es er meinen, wenn es um den Ein schenrechte in unserer un geht. (Beifall bei der FDP Zum Schluss möchte ich der Dreh- und Angelpunkt f Fortschritte im Nahost-Frie Konflikt überlagert seit Jahrz gen in der Region. Die Ere chenendes haben gezeigt, wie schen Israel, Libanon und S münden. Wir begrüßen, da Obama wieder sehr persönli ngeht. Die Sanktionen sind entsprechend auch wirken, ssen worden sind. rischen Volkes ist eine He- en Wertegemeinschaft. Prä- Zirkel sind in der Europäi- willkommen. Ihre Konten enschen- und Bürgerrechte chbarschaft verhöhnt wer- he Wertegemeinschaft eine t geben. Europa hat in die- nst ist und dass wir es ernst satz für Freiheit und Men- mittelbaren Nachbarschaft und der CDU/CSU) allerdings auch sagen, dass ür die gesamte Region die densprozess sind. Dieser ehnten sämtliche Beziehun- ignisse des vorletzten Wo- schnell an der Grenze zwi- yrien Konflikte in Gewalt ss sich Präsident Barack ch in den Nahost-Friedens- Schluss nur noch eine Ergä Fenster der Gelegenheit, viell sches Fenster der Gelegenhe ling neue Chancen für den N dert. Es gilt aber auch Friedensprozess ist entscheid bischen Frühlings. (Wolfgang Gehrcke [D rech Dieser gegenseitige Zusamm den. Das ist die Nachricht, di ben. Einseitige Schritte, als noch einseitige Ausrufunge Weg. Rückkehr zum Verhand che – das ist es, was wir jetz was die Bundesregierung unt Ich danke für Ihre Aufmer (Beifall bei der FDP Vizepräsident Dr. Herm Bevor wir mit der Ausspr Ihnen das von den Schriftfüh ermittelte Ergebnis der na über die Beschlussempfehlun nzung machen. Es ist ein eicht ist es auch ein histori- it, dass der arabische Früh- ahost-Friedensprozess för- umgekehrt: Der Nahost- end für den Erfolg des ara- IE LINKE]: Da hat er t!) enhang muss gesehen wer- e wir an alle Beteiligten ge- o weder der Siedlungsbau n, sind nicht der richtige lungstisch, direkte Gesprä- t brauchen, und das ist es, erstützt. ksamkeit. und der CDU/CSU) ann Otto Solms: ache fortfahren, möchte ich rerinnen und Schriftführern mentlichen Abstimmung g des Ausschusses für Ar- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12717 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Dr. Matthias Miersch Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus 12718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen (Dr. Rainer Stinner [FD Als nächstem Redner erte Kollegen Günter Gloser von Günter Gloser (SPD): Sehr geehrter Herr Präside Kollegen! Die Verhältnisse im Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul P]: Das ist eindeutig!) ile ich jetzt das Wort dem der SPD-Fraktion. nt! Liebe Kolleginnen und Nahen und Mittleren Os- Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm ten und in Nordafrika haben Mit Sympathie und Begeiste haltenem Atem verfolgen wi nesien geschieht. Wir schau Sorge nach Libyen, Syrien u ten auch darüber, was die ric halten dieser gewalttätigen R Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Müller (Köln) sich tiefgreifend verändert. rung, aber auch mit ange- r, was in Ägypten und Tu- en aber auch mit großer nd in den Jemen. Wir strei- htige Antwort auf das Ver- egime ist. Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12719 Günter Gloser (A) (C) (D)(B) Wir verfolgen gespannt die Entwicklung im notwen- digen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästi- nensern. Herr Außenminister, wir unterstreichen, was Sie zum Schluss gesagt haben: Jetzt öffnet sich zum wie- derholten Male ein Fenster der Gelegenheit, um endlich zu einer Lösung zu kommen. Meine Forderung ist, neben diesen aktuellen Brenn- punkten nicht die Länder zu vergessen, die gerade nicht im Fokus stehen. Dazu gehören zum Beispiel Marokko und Algerien, aber auch der Libanon. Insofern steht die Verlängerung der UNIFIL-Mission in einem größeren Zusammenhang. UNIFIL ist ein Baustein der Stabilität im Libanon und der regionalen Stabilität für die Nachbarn des Landes. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung in der Region geleistet. Die Mission ist beispielhaft für eine langfristige und präventive Friedenspolitik. Sie vollzieht sich ohne große Schlagzeilen. So gilt auch heute mein Dank allen Soldatinnen und Soldaten der ge- samten Mission, die sich seit 2006 an diesem Einsatz be- teiligt haben, aber sich auch auf die kommenden Ein- sätze im Rahmen der UNIFIL-Mission vorbereiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie leisten eine wichtige Arbeit für den Frieden, die in der Öffentlichkeit abseits der vielen Brennpunkte viel zu wenig gewürdigt wird. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion hatte bei UNIFIL immer eine klare Linie: Das politisch Machbare, aber auch das militärisch Mög- liche, was für die Sicherung des Friedens im Nahen und Mittleren Osten geleistet werden kann, findet unsere Zu- stimmung, unabhängig davon, ob wir an der Regierung sind oder in der Opposition. Der damalige Außenminis- ter Frank-Walter Steinmeier hat 2006 keine Minute ge- zögert, eine positive Antwort auf die Anfrage von UN- Generalsekretär Kofi Annan nach einer deutschen Betei- ligung an UNIFIL zu geben. Wir erinnern uns: Die zentrale Aufgabe der maritimen Komponente von UNIFIL ist es, Waffenschmuggel von Seeseite zu unterbinden sowie die Streitkräfte des Lan- des in die Lage zu versetzen, diese Aufgabe bald selbst- ständig zu übernehmen. Dies war dringlich und ist nun angesichts der instabilen innenpolitischen Lage im Liba- non und der Schwächung der staatlichen Strukturen durch den Krieg im Sommer 2006 umso dringlicher. Die Mission hat ihre Aufgabe von 2006 bis heute in vorbildlicher Weise erfüllt. Damit ist sie aber noch nicht am Ende; denn die eigenen Fähigkeiten der libanesi- schen Armee sind noch nicht ausreichend, um ohne die internationale Präsenz auszukommen. Auch wurde der Waffenschmuggel, wie schon gesagt, nur an der Seeseite unterbunden; der Schmuggel über die Landgrenze mit Syrien stellt in der Tat ein weiteres großes Problem dar. Schon unter der letzten Bundesregierung mit SPD-Betei- ligung wurde deshalb unter anderem eine enge Zusam- menarbeit im Zollbereich begonnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier nicht immer auf das Schwanken und Herumeiern der FDP in der Opposition bis 2009 bei der Haltung zu UNIFIL eingehen; das ist nach wie vor kein Ruhmesblatt für die Liberalen. Ich frage Sie aber heute: Warum ist die Bundesregierung, warum sind die FDP-Fraktion und die Unionsfraktion im Falle Libanons für einen Einsatz der Marine zur Verhinderung von Waffenschmuggel, im Falle Libyens aber dagegen? Wir erinnern uns schmerz- lich an den Abzug deutscher Marinekontingente und die bis dahin nie dagewesene Aufkündigung der Bündnis- solidarität im Falle Libyens. Ich frage noch einmal: Was kann sinnvoller sein, als illegale Waffenlieferungen zu unterbinden? (Beifall bei der SPD) In beiden Fällen, bei der Mission im Libanon und der Mission in Libyen, gibt es ein eindeutiges Mandat des UN-Sicherheitsrates. Es ist mit keinem Argument zu be- gründen, dass sich die Bundeswehr an dem einen Einsatz beteiligt, aber die Bundesregierung den anderen Einsatz gegen Waffenlieferungen an das Regime Gaddafis ab- lehnt. Ich will hier gar nicht von der Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat in dieser Frage sprechen. Letztlich kann ich der Bundesregierung nur beschei- nigen: Sie wenden doppelte Standards an. Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, entspricht aber nicht unserem langfristigen Ziel der Verrechtlichung von in- ternationalen Beziehungen. Es schwächt die Rolle Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Das ist nun wirk- lich kein ermutigendes Zeichen deutscher Außenpolitik. Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen wurde die Debatte über die Nahostpolitik von zwei lang erwarteten Reden geprägt: Zunächst hat US-Präsident Barack Obama eine, wie ich finde, richtungsweisende Rede gehalten und eindringlich Verhandlungen als Weg zur Zwei-Staaten-Lösung gefordert. Als Grundlage emp- fahl er die Grenzen von 1967, auf die auch VN-Resolu- tionen Bezug nehmen. Der israelische Ministerpräsident hat dies wenige Tage später in seiner Rede vor dem Kon- gress zurückgewiesen. Zwar sprach er von der Bereit- schaft zu großzügigen Zugeständnissen an die Palästi- nenser, blieb dabei aber vage und zugleich in allen Kernpunkten möglicher Verhandlungen kompromisslos. Worin besteht der Bezug dieser Vorgänge zu UNIFIL? Erstens in der geografischen Nähe, zweitens in der gro- ßen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die seit Jahr- zehnten im Libanon leben, drittens in dem Zwischenfall an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon im Au- gust des vergangenen Jahres, bei dem vier Menschen starben, und schließlich in den ebenfalls tödlichen Grenzzwischenfällen vor nur gut zehn Tagen, als es an verschiedenen Grenzen Israels zu Auseinandersetzungen mit Grenztruppen kam. All diese Punkte zeigen, wie eng die Stabilität des Libanons mit der Sicherheit Israels verbunden ist. Da verwundert es nicht, dass Israel nach wie vor die Präsenz auch deutscher Truppen in der Region ausdrücklich be- grüßt. Dies ist neben dem eigenen Interesse an der Stabi- 12720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Günter Gloser (A) (C) (D)(B) lität in der Region insgesamt ein gewichtiger Grund für unsere Zustimmung zu diesem Antrag. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vor kurzem hat der Sonderbeauftragte des Generalse- kretärs der Vereinten Nationen, Michael Williams, Deutschland und auch Berlin besucht. Er hat auch mit Parlamentariern gesprochen. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an diesen Gesprächen teilgenommen haben, wissen, dass Michael Williams ausdrücklich un- terstrichen hat, wie wichtig diese UNIFIL-Mission ist. Sie ist nämlich auch ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Vereinten Nationen in der sich stark verändernden Region weiter präsent sind. Es ist wichtig, dass in dieser veränderten Umgebung die Fahnen der Vereinten Natio- nen wehen und weiterhin ein deutscher Beitrag geleistet wird. Dieser Beitrag ist, wie ich finde, viel wichtiger, als die relativ kleine Zahl von 300 deutschen Soldatinnen und Soldaten das vielleicht vermuten lässt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister, Dr. Thomas de Maizière. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- teidigung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol- lege Gloser, über Libyen diskutieren wir ein anderes Mal. Heute diskutieren wir über Libanon und Israel. In der Sache ist nur noch zu ergänzen, dass das Man- dat hinsichtlich der Höhe im Vergleich zum laufenden Jahr unverändert bleibt. Ich schließe mich dem hier allseits ausgesprochenen Dank an die Soldatinnen und Soldaten an, beziehe mich auf die Ausführungen unseres Außenministers, die ich inhaltlich voll teile, und bitte um Ihre Zustimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was die Dauer der Rede angeht, sollten Sie sich das zum Beispiel nehmen, Kollege Gehrcke. – Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Opposition ist ratlos! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Regierung nicht mehr zu sagen hat!) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Respekt, Herr Verteidigungsminister. Ich weiß nicht, ob das eine besondere Variante war, ob das eine besondere Finte war oder ob das künftig Ihr Stil sein wird. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das war Stil!) Ich finde es spannend, das herauszubekommen. Das war eine überraschende Wendung. Allen Respekt! Das hat mir Spaß gemacht. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Na, und uns erst!) – Und Ihnen erst einmal. Jetzt zur Sache. Ich hoffe, dass das, was ich jetzt aus- führen werde, Ihnen nicht so viel Spaß macht. Das wird man dann ja sehen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte daran erinnern, dass bei den Debatten über das UNIFIL-Mandat Gregor Gysi, Norman Paech, der damals hier Abgeordneter war, und ich selbst immer wieder betont haben, dass das UNIFIL-Mandat notwen- dig war, um den Waffenstillstand hinzubekommen. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!) Ohne das Mandat hätte es den Waffenstillstand nicht ge- geben. Ich war während des Krieges in Beirut. Ich habe gese- hen, wie die Raketen dort eingeschlagen sind. Ich habe gesehen, dass man nicht aus der Stadt herauskam. Ich habe gesehen, dass sich die Reichen nach Syrien abset- zen konnten und insbesondere die Situation in den paläs- tinensischen Flüchtlingslagern katastrophal war. Viele Menschen hatten überhaupt keine Chance, die Stadt zu verlassen. All das hat mir die Notwendigkeit vor Augen geführt, dass das abgeschlossen wird. Ich will hinzufü- gen: Ich bin froh, dass der Waffenstillstand bis heute ge- halten hat. Er ist zwar fragil und wurde immer wieder gebrochen, im Wesentlichen hat er aber gehalten. Die Si- tuation im Libanon, in Syrien und dem gesamten Raum ist schwieriger geworden. Keiner kann eine Garantie ab- geben, dass es beim Waffenstillstand bleiben wird. Ich bin entsetzt über die Auseinandersetzungen in Sy- rien und darüber, wie die Regierung unter Präsident Assad mit den Demonstranten umgeht. Wer gegen das eigene Volk mit Waffen vorgeht, verwirkt den Anspruch, für das Volk sprechen zu dürfen. Das muss unbedingt be- tont werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will jetzt keine Libyen-Debatte starten, sehr ge- ehrte Herren Minister. Sie wissen aber ganz genau, dass eine solche Resolution im Weltsicherheitsrat heute nicht noch einmal verabschiedet würde. Die Erklärungen Russlands, Chinas, Brasiliens und anderer Staaten besa- gen eindeutig, dass sich diese Länder getäuscht fühlen. Sie wissen, dass es derzeit keine Chance gibt, aus einem Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, irgendwie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12721 Wolfgang Gehrcke (A) (C) (D)(B) herauszukommen. Es hat sich erneut bestätigt: Krieg ist kein Mittel, um politische Probleme zu lösen. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt komme ich zum Mandat selber. Zunächst habe ich begründet, warum das Mandat überhaupt erteilt wurde. Jetzt will ich Ihnen erklären, warum wir nicht zu- gestimmt haben. Für mich gibt es drei sehr ernsthafte Argumente dagegen. Ein Argument ist streckenweise von der FDP, sogar bis in die Regierung vertreten wor- den. Das macht es nicht besser, aber auch nicht schlech- ter. Erstes Argument. Es war nicht notwendig, ein Kapi- tel-VII-Mandat zu erteilen. Es gab die grundsätzliche Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich auf das Man- dat einzulassen. Man hätte in der klassischen Form von Blauhelm-Einsätzen auf Grundlage eines Kapitel-VI- Mandates vorgehen können. Das ist leider ausgeschlagen worden. Das habe ich immer für einen großen Fehler ge- halten, und ich halte es heute noch für einen großen Feh- ler. Zweites Argument. Wir hatten vorgeschlagen, auf der Landseite die Truppen auf beiden Seiten der Grenzen zu stationieren. Das hätte die Neutralität der Vereinten Na- tionen stärker unterstrichen. Drittes Argument. Ich möchte nicht, dass deutsche Soldaten in dieser Region eingesetzt werden. Das richtet sich nicht gegen die Soldaten. Ich kann mir verschiedene Szenarien vorstellen, wie deutsche Soldaten in diese Auseinandersetzung einbezogen werden. Ich möchte nicht, dass solche Szenarien Realität werden. Das war für mich das wichtigste Argument dagegen. Andere hingegen waren bereit, hier zuzustimmen. Es gibt eine ganz bestimmte deutsche Geschichte. Diese ist gestern hier in eigenartiger Art und Weise debattiert worden. Ich ziehe aus der deutschen Geschichte die Lehre, dass deutsche Soldaten in dieser Region nicht mehr tätig werden sollen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Herr Kollege, Sie sind doch an keiner Stelle bereit, etwas zu machen! Sie sagen doch über- all Nein!) Ich bitte Sie, zumindest das zu akzeptieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UNIFIL – das ist gerade auch vom Kollegen Gehrcke gesagt wor- den – ist vom ersten Tage an ein Erfolg gewesen. Die Mission hat den Frieden gesichert und mitgeholfen, vor allem den Süden Libanons zu stabilisieren, wenn wir auch von einer echten Stabilität noch weit entfernt sind. Ich möchte mich selbstverständlich nicht nur dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten anschließen, son- dern auch deren Angehörigen danken, die monatelang von ihren Geliebten getrennt werden. Herzlichen Dank für diese Toleranz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Wir haben die UNIFIL-Mission immer unterstützt, auch deswegen, weil sie tatsächlich geholfen hat, den Krieg zu beenden. Ohne den Beschluss der Vereinten Nationen als die rechtliche Grundlage für diesen Einsatz und ohne den Einsatz selbst, den wir mit beschlossen ha- ben, wäre dieser Krieg nicht zu Ende gegangen, und es hätte den Waffenstillstand nicht gegeben. Noch einmal zum Mandat: Man kann natürlich Kritik am Mandat äußern, das werde ich auch gleich tun. Die Zielsetzung des Mandates aber ist für mich und die Mehrheit meiner Fraktion immer wieder Grund gewe- sen, dem zuzustimmen. Die Situation in der Region, auch im Libanon, verän- dert sich jedoch. Sinn der Außenpolitik ist es, diese Dy- namik zu begreifen und mitzugestalten. Wir bekommen aber ein Mandat vorgelegt, das die Veränderungen in der Region nicht berücksichtigt. Das ist enttäuschend. Dabei hat sich so vieles verändert – Herr Außenminister, Sie haben es eingangs selbst gesagt –: die Situation an den Grenzen – vor wenigen Tagen haben wir es erlebt –, die Debatte in den USA, die Reden der vergangenen Tage, der Waffenschmuggel, der zwischen dem Libanon und Syrien weiterläuft. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass der UN-Generalsekretär alle Staaten auffordert, sich ver- stärkt im Süden Libanons zu engagieren. Ein weiteres Beispiel: Der Generalsekretär sagt, man brauche min- destens neun Schiffe, um eine Mission erfolgreich aus- zuführen. Derzeit gibt es nur acht Schiffe. Das ist auch auf die von Deutschland ausgehende Reduktion zurück- zuführen. All diesen Veränderungen gehen Sie nicht nach. Sie werden dem nicht gerecht. Ich gebe zu: Man braucht dafür Energie. In der deut- schen Außenpolitik erkenne ich zurzeit wenig Energie. Das sieht man zum Beispiel daran, dass man bei Libyen für große Verwirrung gesorgt hat. Man hat gesagt, dass man eine humanitäre Aktion durchführen will, und am Ende stellte sich heraus, dass niemand diese verlangt hatte. Das ist Kompensationsaußenpolitik. Diese macht keinen Sinn und wird der großen Veränderung, die wir zurzeit in der Welt erleben, nicht gerecht. Es ist enttäuschend, wenn die Deutschen die Lead- Funktion, die wir innehatten, wie eine heiße Kartoffel behandeln und am Ende Brasilien die Lead-Funktion von den Italienern übernimmt, unter anderem auch des- wegen, weil die Deutschen sich dermaßen aus der Ver- antwortung gezogen haben. Das ist besonders pikant, Herr Verteidigungsminister, weil Sie sich in der letzten Woche in Ihrer großen Rede auf die Brasilianer als Bei- spiel für diejenigen Länder bezogen haben, die Aus- landseinsätze aus globaler Perspektive betrachten. Sie haben gesagt, aus unserem Wohlstand entstehe Verant- wortung. Wie kann es dann sein, dass die Brasilianer da, 12722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Omid Nouripour (A) (C) (D)(B) wo wir uns aus der Verantwortung stehlen, die Verant- wortung übernehmen müssen? Es ist auch pikant, wenn im Zusammenhang mit der Ausbildung gesagt wird – das hat der Außenminister heute wieder getan –, dass die Deutschen sich jetzt ver- stärkt um die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte kümmern wollen, damit dieser Einsatz am Ende des Ta- ges überflüssig wird, und wenn gleichzeitig die militäri- sche Ausbildungshilfe für den Libanon von 2009 auf 2010 von der Priorität 1 in die Priorität 2 herabgestuft wird. Das kann man begründen; Sie tun es aber nicht. Das alles ist von vorne bis hinten nicht kohärent; das ist sehr bedauerlich. Das alles ist Dienst nach Vorschrift. Wenn man sich anschaut, wie sich die Welt verändert, wie diese Region gerade auf dem Kopf steht und welch eine Dynamik – diese birgt auch große Risiken in sich – in der gesam- ten Region derzeit besteht, dann wissen wir, dass wir eine Außenpolitik brauchen, die gestaltet und die nicht das tut, was Sie tun, nämlich Dienst nach Vorschrift. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi- dent! Viele Besucherinnen und Besucher, unter anderem auch eine Schülergruppe, haben mich am heutigen Tag gefragt, wie der Parlamentsalltag gestaltet ist. Als ich dann berichtet habe, dass wir hier auch Bundeswehr- mandate verlängern und wie wir über Mandate diskutie- ren, hat mich eine Schülerin gefragt, wieso wir das nicht einfacher oder besser organisieren, da dies wie ein Rou- tinevorgang wirkt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich großen Wert darauf lege, dass wir den Parlamentsvorbe- halt hier im Deutschen Bundestag, selbst wenn es sich um ein Mandat handelt, das weitestgehend unstrittig ist, natürlich nicht in einem Ritual abhandeln, sondern die- sen tatsächlich ernst nehmen. Das zeigen wir zum Bei- spiel bei dem Afghanistan-Mandat, das wesentlich um- strittener ist, indem wir den Fortschrittsbericht und andere Unterlagen hinzuziehen, um unsere Entschei- dungsfindung abzusichern. Ich möchte all denjenigen, die ihren Dienst leisten, und vor allen Dingen ihren Angehörigen sagen, dass ich ihnen sehr dankbar bin – das ist auch schon von den vor- herigen Rednern gesagt worden –, dass sie diesen wich- tigen Beitrag leisten und damit dazu beitragen, dass un- ser Land ein hohes Ansehen genießt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Sicherheit vor der Küste Libanons muss gewähr- leistet werden. Dabei geht es darum, den Waffen- schmuggel einzugrenzen, aber auch darum, die Fach- leute der libanesischen Armee und Marine auszubilden, damit sie einen eigenen Beitrag zur Sicherheit leisten können. Diese zwei Punkte nehmen wir ernst und setzen wir in dieser Legislaturperiode um; so steht es auch im Koalitionsvertrag. Wir haben vereinbart, dass wir auf eine schrittweise Reduzierung des deutschen Beitrages zur Maritime Task Force hinwirken wollen. Mit dem Mandat haben wir die Zahl der maximal einzusetzenden Soldaten von 800 auf 300, also um über 60 Prozent, ge- senkt. Der Auftrag aus dem August 2006 zur Ausbildung ist bei weitem noch nicht erfüllt und muss deshalb weiter ausgeführt werden. Das UNIFIL-Mandat – selbst wenn es in seinem Ent- stehen, auch hier in Deutschland, sehr umstritten war – leistet, wie ich schon sagte, einen wichtigen Beitrag zur Steigerung des Ansehens der Bundeswehr und natürlich auch zur Handlungsfähigkeit der internationalen Ge- meinschaft. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Man- dat gerade auch innerhalb der Europäischen Union sehr positiv begleitet wird. Allein schon die Vielzahl derjeni- gen, die sich an dieser Mission beteiligen, zeigt, dass es ein funktionierendes Mandat ist. Seit 2006 leisten 15 Länder entweder größere oder kleinere Beiträge zur UNIFIL Maritime Task Force, von Belgien bis Bangladesch, von Italien bis Indonesien. Ich glaube, dies ist nicht nur im Hinblick auf das Ansinnen von UNIFIL wichtig, sondern auch ein wichtiger Beitrag zu den operativen Fähigkeiten, die die Bundeswehr und die internationale Gemeinschaft brauchen. Die Lage im Libanon und in der Region insgesamt ist keineswegs so positiv, wie ich das UNIFIL-Mandat ge- rade dargestellt habe; es ist nur ein sehr kleiner Beitrag zur Stabilisierung und zur Sicherheit. Im Libanon ist die Situation sehr schwierig. Dort werden Christen bedroht. Dies wollen wir ändern; das ist ein besonderes Anliegen unserer Fraktion. Ich möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, nicht nur über den maritimen Teil der Sicherheit im Libanon zu reden, sondern auch über das, was sonst noch im Land passiert. Am 27. März dieses Jahres explodierte in Zahle, im Osten des Libanon, vor einer Syrisch-Orthodoxen Kir- che eine Bombe. Es war nur Glück, dass die 2 Kilo TNT an diesem Sonntag nur einen Sachschaden angerichtet haben. Aber dieser Vorfall zeigt, auch wenn er bei wei- tem nicht so spektakulär wie andere Vorfälle in der Re- gion ist, dass die Situation im Libanon gerade für be- drohte Minderheiten nach wie vor problematisch ist. Daran wird deutlich, dass auch über das UNIFIL-Man- dat hinaus die Sicherheit und Stabilität im Libanon so- wie der Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere vor unmenschlichem Kalkül und brutalen Methoden, wich- tige Anliegen des Deutschen Bundestags und damit un- serer Verantwortungsträger sein sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir können bei solchen Geschehnissen nicht tatenlos zusehen. Hier ist aber nicht in erster Linie militärisches, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12723 Philipp Mißfelder (A) (C) (D)(B) sondern vor allem politisches Engagement gefragt. Die Bundesregierung bemüht sich sehr, in dieser Region Pflöcke einzuschlagen. Der Deutsche Bundestag hat mehrere Reisen in die Region durchgeführt und ist an exponierter Stelle tätig. Die Bundeskanzlerin beispiels- weise hat heute die Reise unseres Fraktionsvorsitzenden nach Ägypten erwähnt. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch eine größere Delegation des Auswärtigen Ausschusses Tune- sien und Ägypten besucht hat. Damit haben wir verdeut- licht, dass wir auch in der derzeitigen unruhigen Phase in der arabischen Welt versuchen, enge Bande zu knüpfen und eine wichtige Rolle zu spielen, wenngleich dies im Spannungsverhältnis zwischen der Staatsräson der Siche- rung des Existenzrechts Israels einerseits und der Erwar- tungshaltung vieler junger Menschen in der arabischen Welt andererseits ein sehr schwieriges Unterfangen ist. Ich glaube, dass Sie alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrer politischen Arbeit wichtige Bei- träge zu dem, was wir im militärischen Bereich erfolg- reich tun, leisten. Wir müssen deutlich machen, dass diese Region für uns sehr wichtig ist. Der Deutsche Bun- destag muss sich insgesamt viel stärker um diese Region bemühen, als es noch vor längerer Zeit der Fall war. Wir dürfen dieses Thema nicht alleine den Mittelmeer-Anrai- nerstaaten überlassen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5864 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten – Drucksache 17/5897– Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Frak- tion das Wort. Dr. Sascha Raabe (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtau- sendwende richtige, wichtige und ehrgeizige Ziele ge- setzt, die acht sogenannten Millenniumsziele bzw., ins Deutsche übersetzt, die Jahrtausendentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Das erste Ziel: Die Vereinten Nationen wollen Hun- ger und Armut bekämpfen; bis zum Jahr 2015 streben sie eine Halbierung der Armut an. Das zweite Ziel besteht darin, bis zum Jahr 2015 allen Kinder auf der Erde eine Grundschulbildung zu ermögli- chen. Das dritte Ziel ist die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen. Das vierte Ziel ist die Senkung der Kindersterblich- keit um zwei Drittel bis zum Jahr 2015. Das fünfte Ziel ist die Verbesserung der Gesundheits- versorgung der Mütter und die Senkung der Müttersterb- lichkeit um 75 Prozent bis 2015. Das sechste Ziel ist die Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen schweren Krankheiten. Das siebte Ziel ist die ökologische Nachhaltigkeit. Das achte Ziel sind der Aufbau einer globalen Part- nerschaft für Entwicklung und faire und gerechte Welt- wirtschaftsstrukturen. Ich habe diese Ziele ganz bewusst am Anfang hier noch einmal genannt, weil ich glaube, dass nicht alle, die uns heute zuschauen, diese acht Ziele kennen. Deswegen ist es richtig und gut gewesen, dass die damalige Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2005 in Deutschland eine deutsche Millenniumkampagne mit ins Leben gerufen hat, die es auf UN-Ebene schon gab und durch die hier in Deutschland gemeinsam mit vielen Nichtregierungsorganisationen in der Bevölkerung dafür geworben wurde, diese Ziele bekannt zu machen; denn wir können in der Entwicklungszusammenarbeit nichts erreichen, wenn nur wir als Fachleute wissen, worum es geht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, bei den Bürgerin- nen und Bürgern Verständnis dafür zu wecken und sie mitzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen ist dann auch bereit, Steuergelder dafür auszugeben, dass Menschen aus Hunger und Armut befreit werden. Die Kampagne hat erfolgreich gearbeitet. Seit 2005 hat sie etliche Aktionsbündnisse initiiert und unterstützt. Ich nenne einmal beispielhaft das Aktionsbündnis Rheinland-Pfalz, länderübergreifende Aktionsbündnisse in Hessen und Thüringen, die Klimaschutz+ Stiftung und die Jugendinitiative „Chasing the Dream“. Ein Er- folg der Kampagne ist auch, dass mittlerweile über 80 Städte und Kreise in Deutschland die Millenniumser- klärung der Städte und Gemeinden in Deutschland unter- zeichnet haben, darunter auch Hanau in meinem Wahl- kreis. Es war eine wichtige Aktion der Kampagne, eine Städtetour durchzuführen. Herr Hoppe, Sie erinnern sich: Als Sie Vorsitzender des Ausschusses waren, stan- den Millenniumstore vor dem Reichstag, durch die wir die Bedeutung dieser acht Ziele auch noch einmal sicht- bar machen konnten. Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesell- schaft, mit VENRO, mit der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und mit Oxfam, um nur einige zu nennen, die sich dort eingebracht haben. Wir konnten viele pro- 12724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Sascha Raabe (A) (C) (D)(B) minente Unterstützer gewinnen, auch Fußballspieler, zum Beispiel Philipp Lahm und eine ganze Reihe mehr. Viele Bürgerinnen und Bürger haben unzählige Stunden in Eine-Welt-Läden und in Bürgergesprächen über diese Ziele diskutiert und eine ganz hervorragende Arbeit ge- leistet. An dieser Stelle möchte ich all denen, die diese Kampagne geführt haben, auch Renée Ernst, ein herz- liches Dankeschön für ihre Arbeit aussprechen. (Beifall im ganzen Hause) Wenn so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger eine so erfolgreiche Arbeit machen, dann könnte man ja meinen, dass der Bundesentwicklungsminister voran- schreitet, diesen Menschen dankt und sagt: Es sind jetzt noch ein paar Jahre bis zum Jahr 2015, eure tolle Arbeit führe ich fort. – Das wäre eigentlich das Logischste der Welt. Was aber macht dieser Entwicklungsminister? Was macht Herr Niebel? Herr Niebel sagt: Eure Arbeit ist schön und gut, aber Geld gibt es nicht mehr dafür. Ende Juni 2011 stelle ich die Finanzierung ein, und ihr könnt sehen, wo ihr bleibt. Herr Minister, deshalb wundert es mich schon sehr, dass Sie heute Vormittag erstmals zur Verleihung des Walter-Scheel-Preises für Engagement in der Entwick- lungszusammenarbeit eingeladen haben. (Michael Brand [CDU/CSU]: Hoch auf dem gelben Wagen!) Es ist sehr sinnvoll, so einen Preis zu stiften; das will ich gar nicht Abrede stellen. Sie haben heute unter anderem Prominente ausgezeichnet, die alle eine gute Arbeit ge- leistet haben, wie Ulrich Wickert und Nia Künzer, die Weltmeisterin im Fußball. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nur den Raabe hat er vergessen!) – Herr Kollege, andere haben die Auszeichnung viel eher verdient. – Es wurden dort auch prominente Unter- nehmer wie Dr. Michael Otto ausgezeichnet. Wie kann man aber so einen Preis ins Leben rufen und gleichzeitig Tausenden Ehrenamtlichen in Deutsch- land im Prinzip die Tür verschließen und sagen: Ihr be- kommt nichts, aber Prominente zeichne ich aus? Herr Niebel, das ist schäbig. Deswegen fordern wir in unse- rem Antrag, dass Sie diese Kampagne weiter finanzie- ren. Sie sollten auch den vielen Tausenden ehrenamt- lichen Bürgerinnen und Bürgern endlich Anerkennung aussprechen, statt sie im Regen stehen zu lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte aus dem Offenen Brief der Arbeitsge- meinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutsch- land zitieren, der uns heute erreicht hat. In dem Schrei- ben an Sie, Herr Niebel, heißt es: Die Eine Welt Landesnetzwerke haben diese Ent- scheidung bei ihrem gestrigen Treffen diskutiert und können sie überhaupt nicht nachvollziehen. Wir halten sie für ein falsches politisches Signal und eine schwere Enttäuschung für diejenigen, die mit viel Zeit, Energie und großem persönlichen Einsatz für eine gerechtere Welt und die Umsetzung der Millenniumsziele ihren Beitrag leisten. Das konterkariert ihre oft betonte Wertschätzung des bürgerlichen Engagement ins Gegenteil. (Michael Brand [CDU/CSU]: Zur Sache bitte und nicht nur persönlich diffamieren!) Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister: Kehren Sie um! Liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, egal welcher Fraktion Sie angehören, stimmen Sie unserem Antrag zu! Denn es kann nicht sein, dass Strukturen, die seit 2005 geschaffen wurden, jetzt auf einmal kaputtge- hen, weil die Finanzierung ausbleibt. Denn wir haben die Ziele noch längst nicht erreicht. Die Begründung des Ministeriums ist ein Hohn. Das Ministerium hat geschrieben, die Finanzierung der Kam- pagne werde jetzt eingestellt, weil das Ziel erreicht sei. Jeder, auch die Besucherinnen und Besucher auf der Tri- büne, sollte sich ehrlich fragen, ob er über die acht Ziele Bescheid gewusst hat. Denn das war das Ziel der Kam- pagne. Der Minister behauptet, alle Bürger in Deutschland kennen die acht Entwicklungsziele der Vereinten Natio- nen, sodass er kein Geld mehr für entsprechende Wer- bung ausgeben muss. Das glauben Sie doch selbst nicht. Es gibt noch sehr viel zu tun. Denn wir sind leider noch weit davon entfernt, bis zum Jahr 2015 diese wich- tigen Ziele zu erreichen. Dafür wird selbstverständlich auch Geld gebraucht. Auch deswegen war es richtig, dass die Initiatoren und Mitstreiter der Kampagne Ihnen, Herr Minister, kri- tisch gesagt haben, dass Ihre Politik in die falsche Rich- tung geht. Denn Sie können nicht die Mittel für Entwick- lungszusammenarbeit stagnieren lassen und in der mittelfristigen Finanzplanung sogar kürzen wollen und gleichzeitig behaupten, Sie hielten sich an diese Verspre- chen. Ich glaube nicht, dass Sie das, was als Grund für die Einstellung der Kampagne genannt wurde, nämlich dass alle Menschen in Deutschland diese Ziele kennen, ernst- haft glauben. Das sind vielleicht 10 bis 20 Prozent, wie wir aus Untersuchungen wissen. Sie wollten vielmehr eine kritische Kampagne mundtot machen, die den Fin- ger in die Wunde gelegt hat, nämlich dass Sie das Minis- terium letztlich nur noch als Einrichtung zur Außenwirt- schaftsförderung verstehen, statt sich im Interesse der ärmsten Menschen an die Versprechen zu halten, die Deutschland bei den Vereinten Nationen und in Europa gegeben hat. Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustim- men. Die Millenniumkampagne darf nicht sterben. Sie muss weitergehen und bis zum Jahr 2015 dafür sorgen, dass Menschen auf der ganzen Welt Chancen haben und aus Hunger und Armut herauskommen. Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12725 Dr. Sascha Raabe (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Sabine Weiss von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhalten wollen. Es geht heute in dem SPD-Antrag um die Forderung, die deutsche UN- Millenniumkampagne zu erhalten. Herr Raabe hat das bereits ausgeführt. Die UN-Millenniumkampagne gliedert sich in eine nationale und eine internationale Kampagne. Die natio- nale deutsche Kampagne sollte das Bewusstsein für die Millenniumsziele in Deutschland schärfen, die interna- tionale Kampagne das Bewusstsein in den Entwick- lungsländern. Die Förderung für die deutsche UN-Millenniumkam- pagne läuft nun aus. Für die internationale Kampagne wird derzeit eine Fortsetzung der Förderung geprüft. Entwicklungspolitische Themen standen bisher bei uns nicht immer vordergründig in dem Verdacht, die Menschen auf die Straße zu locken. Viel zu weit weg vom alltäglichen Leben hier, in immerhin einem der reichsten Industrieländer der Welt, schienen Themen wie die Bekämpfung des Hungers und der Malaria. Dieses alte Klischee ist gottlob heute falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie falsch es ist, haben die erfolgreichen Aktionen und Kampagnen der deutschen UN-Millenniumkampa- gne, aber auch der Kampagne von VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ und Kampagnen anderer Ak- tionsgruppen gezeigt. Mehr als 100 000 Menschen sind schon deutschland- weit an einem Wochenende für ein entwicklungspoliti- sches Thema wie beim „Stand Up“-Wochenende im Jahr 2008 auf die Straße gegangen. Laut VENRO haben mehr als 740 000 Menschen in Deutschland bereits ihre Stimme gegen die weltweite Armut erhoben. Die deut- schen Kampagnen haben damit etwas geschafft, wovon viele andere Veranstalter und Organisatoren von Kam- pagnen nur träumen können. Die deutsche Bevölkerung macht mit – so haben wir es jetzt gesehen – im Kampf gegen die weltweite Armut und für mehr globale Gerechtigkeit. Sie beteiligt sich ak- tiv, prangert die weltweite Ungerechtigkeit an und leistet ihren Beitrag, um das Problem der weltweiten Armut zu bekämpfen. Dies ist sicherlich auch der deutschen UN- Millenniumkampagne zu verdanken. Gemeinsam mit der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Aktionsgruppen hat sie in den vergangenen sechs Jahren immer wieder den Fin- ger tief in die Wunde gelegt. Durch ihren hartnäckigen Einsatz haben die Kampa- gnen die Aufmerksamkeit auf das, wie ich finde, drin- gendste Problem in unserer Welt, nämlich die weltweite Armut, gerichtet. Sie haben dafür gesorgt, dass das Elend des Hungers, fehlende Bildung und die Geiselhaft, in die Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria ganze Länder genommen haben, bei uns eben nicht in Verges- senheit geraten. Sie haben aber auch uns Politikerinnen und Politiker immer wieder an unsere Versprechen und unsere Verantwortung erinnert sowie konsequentes Han- deln angemahnt. Dafür bin ich dankbar; denn der öffent- liche Druck, die Anstrengungen im Kampf gegen die weltweite Armut weiter zu verstärken, ist eine wichtige Unterstützung für uns Entwicklungspolitiker. So können wir das Thema in den Fraktionen, im Bundestag und im Wahlkreis immer wieder ganz oben auf der Agenda plat- zieren. Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat gemein- sam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kampagnen die Menschen in Deutschland erreicht und berührt. Sie ha- ben wichtige Aufklärungsarbeit geleistet über die Mil- lenniumsentwicklungsziele und damit über das Verspre- chen, dass eine bessere und gerechtere Welt auch tatsächlich möglich ist. Fast könnte man jetzt sagen: Mission erfolgreich erfüllt. – Aber so einfach können wir es uns natürlich nicht machen. Zu groß sind noch die Herausforderungen bei der Erreichung der Millenniums- entwicklungsziele, trotz aller Erfolge. Solange nach wie vor fast 9 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich an zumeist vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen sterben, solange 72 Millionen Kindern im Grundschulal- ter ihr Recht auf Bildung verwehrt bleibt und solange schätzungsweise 1 Milliarde Menschen unterernährt sind, so lange sollte und muss ein Aufschrei der Empö- rung angesichts dieses Skandals durch uns und die ge- samte Bevölkerung gehen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD und der LINKEN) Da Empörung allein aber noch keinen Hungernden satt macht, keinem Kind eine Zukunft gibt und keine werdende Mutter vor einem vermeidbaren Tod bei der Geburt bewahrt, ist es damit natürlich nicht getan. Un- sere Empörung muss einhergehen mit rationalen Überle- gungen, was wir, die Entwicklungs- und Schwellenlän- der sowie die Zivilgesellschaft besser machen können und besser machen müssen. Um die Millenniumsziele zu erreichen, müssen alle Akteure ihre Bemühungen weiter konsequent verstärken. Die Zeit drängt, und wir müssen besser werden. Um die Millenniumsziele zu erreichen, brauchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit in den In- dustrienationen, aber auch besonders in den Entwick- lungs- und Schwellenländern. Nur wer die Millenniums- entwicklungsziele kennt und über die einzelnen Ziele Bescheid weiß, kann Druck auf alle Beteiligten ausüben, die Anstrengungen für die Erreichung der Ziele zu ver- stärken. Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat die deut- sche Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft über die Millenniumsziele informiert und mobilisiert. Die För- 12726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Sabine Weiss (Wesel I) (A) (C) (D)(B) dervereinbarung läuft nun – das wissen wir seit sechs Jahren – zum 30. Juni dieses Jahres aus und wird auch nicht verlängert werden. Auch wenn es nie genug öffent- liche Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse und öffent- lichen Druck für die Millenniumsziele geben kann, so finde ich es dennoch konsequent, dass diese Förderung nun ausläuft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die deutsche Kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Mittlerweile gibt es viele zivilgesellschaftliche Aktions- gruppen, die diese Lücke bestens füllen können, weil sie, um es plastisch zu sagen, schon lange das gleiche Feld beackern. Beispielsweise schafft es die Kampagne von VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ höchst erfolg- reich und in beeindruckender Art und Weise, die Öffent- lichkeit, Prominente und auch Politiker im Kampf gegen die Armut zu mobilisieren. Wir reden doch immer alle davon, dass wir Doppelstrukturen und Ineffizienzen ver- meiden wollen. Wenn wir das wirklich ernst meinen, dann sollten wir das, was wir in den Partnerländern for- dern, auch gefälligst hier in Deutschland tun. Denn wie heißt es so schön? – Kehre immer erst vor deiner eigenen Tür. Die deutsche Millenniumkampagne hat gute Arbeit geleistet, ihre Aufgaben erfüllt. Das BMZ hat die Kam- pagne mit insgesamt 3,3 Millionen Euro unterstützt. Nun aber haben sich andere Kampagnen und Aktionsgruppen etabliert, die die Aufgaben erfolgreich weiterführen und ausbauen werden. Die Mittel, die bisher in die deutsche UN-Millenniumkampagne geflossen sind, können nun an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Mangelnde Effizienz und nicht optimaler Mitteleinsatz sind doch nach wie vor das Problem in der Entwicklungszusam- menarbeit. An dieser Stelle macht das BMZ wieder ein- mal ernst mit den Forderungen nach mehr Effizienz und eben weniger Doppelstrukturen, und das ist richtig so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Weiss, erlauben Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Sascha Raabe? Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Gerne. Dr. Sascha Raabe (SPD): Frau Kollegin Weiss, Sie haben darauf hingewiesen, dass man die Mittel effizient verwenden und darauf hin- wirken muss, dass es bei der Öffentlichkeitsarbeit keine Doppelstrukturen gibt. Das war Ihr Kernargument dafür, dass die finanzielle Förderung der Kampagne eingestellt wird. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass in diesem Jahr der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministe- riums um mehr als 300 000 Euro erhöht wurde, man aber den Ehrenamtlichen die Gelder für ihre Öffentlichkeits- arbeit streicht? Ist die Öffentlichkeitsarbeit eines Minis- ters mehr wert als die von Tausenden Ehrenamtlichen, die sich Tag für Tag in Kirchen und Nichtregierungsor- ganisationen weltweit für die Bekämpfung von Hunger und Armut einsetzen? (Zuruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Herr Dr. Raabe, sicherlich ist der Titel für die Öffent- lichkeitsarbeit nicht ausschließlich für den Minister, sondern auch für das Ministerium und für die Entwick- lungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland gedacht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade die Tatsache, dass die Mittel um 300 000 Euro aufgestockt werden, zeigt doch, wie viel Wert im BMZ weiterhin auf Kampagnen, auf die Entwicklungszusam- menarbeit und damit auf die Menschen in den Entwick- lungsländern gelegt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich hoffe, dass die deutsche Förderung der internatio- nalen UN-Millenniumkampagne weitergeführt werden kann; denn der Schlüssel zur Erreichung der Millenni- umsentwicklungsziele liegt in den Entwicklungsländern selbst. Dort müssen die Weichen richtig gestellt werden. Nur durch gemeinsames Handeln von Regierungen, Zivilgesellschaften und dem Privatsektor wird eine nachhaltige Entwicklung und Verbesserung möglich sein. Aber gerade in den Entwicklungsländern gibt es teilweise große Informationsdefizite über die Millen- niumsziele an sich, über den aktuellen Umsetzungsstand und über die Anstrengungen der nationalen und interna- tionalen Akteure zu deren Erreichung. Bedauerlicher- weise – das wissen wir alle – ist es auch noch nicht in alle Winkel dieser Welt vorgedrungen, dass die Millenni- umsentwicklungsziele Grundrechte widerspiegeln, die jedem Menschen zustehen müssen. Daher ist es von ent- scheidender Bedeutung, das zivilgesellschaftliche Enga- gement in den Entwicklungsländern zu mobilisieren und zu unterstützen. Hier leistet die internationale UN-Mil- lenniumkampagne wichtige Aufklärungsarbeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist aber auch an uns Politikern, die Bedeutung der Millenniumsentwicklungsziele und der Entwicklungszu- sammenarbeit immer wieder in den Wahlkreisen und hier in Berlin zu thematisieren. Wir Entwicklungspoliti- ker müssen unsere eigene Kampagne gegen die welt- weite Armut ins Leben rufen. Zusammengefasst: Die deutsche UN-Millennium- kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Zivilgesellschaftli- che Kampagnen werden weiter für den Kampf gegen die weltweite Armut trommeln, hier in Deutschland und mit unserer Unterstützung in den Entwicklungsländern. Ein Auslaufen der Förderung ist folgerichtig, und daher leh- nen wir den Antrag „Deutsche UN-Millenniumkampa- gne erhalten“ ab. Wie ich eingangs sagte: Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhal- ten wollen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12727 (A) (C) (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Weiss, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag. (Beifall – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Herzlichen Dank!) Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Der Bundestag reagiert heute auf die Tatsache, dass die Bundesregierung die Gelder für die deutsche UN-Millenniumkampagne – das wurde hier schon mehr- mals erwähnt – gestrichen hat. So kurz nach dem Bilanz- gipfel, der letztes Jahr bei den Vereinten Nationen statt- gefunden hat – Bilanz: zehn Jahre Millenniumserklärung –, auf dem es wieder viele Versprechungen von der Bun- desregierung gab, ist das, finde ich, ein Affront und eine Geringschätzung der Arbeit von vielen Initiativen und vielen Menschen. Das ist inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich frage mich: Warum wurden die Gelder gestri- chen? Um wie viel Geld geht es? Es geht um jährlich 500 000 Euro. Hier gab es schon verschiedene Verglei- che, etwa mit Imagekampagnen, die die Bundesregie- rung veranlasst. Zum Beispiel wurden letztes Jahr 3 Millionen Euro für eine Anzeigenkampagne für einen neuen Gesetzentwurf ausgegeben. Im Verhältnis dazu ist es völlig unverständlich, dass diese 500 000 Euro gestri- chen werden. Deshalb halte ich die Begründung, die das Ministerium gegeben hat, die hier wiederholt wurde, auch von der Kollegin Weiss, die Ziele bei der Aufklä- rung seien erreicht, schlichtweg für vorgeschoben. Wir wissen, dass die Kampagne kritisch gearbeitet und überprüft hat, was die Zusagen der Bundesregierung angeht, was internationale Versprechen angeht, die gege- ben wurden. Da ist die Bilanz zur Erfüllung schlecht. Erst die Hälfte der bis 2015 zugesagten Mittel wurde zur Verfügung gestellt. Da liegt die Bundesregierung weit zurück. Das hat die Kampagne kritisiert. Ich glaube, Herr Niebel, das ging Ihnen schlichtweg gegen den Strich. Deswegen schaffen Sie hier einen Präzedenzfall und zeigen, dass solche Kampagnen nicht mehr unter- stützt werden. Das ist nicht demokratisch. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich möchte noch auf einen anderen Satz zurückkom- men, den Sie in der Begründung gegeben haben. Den halte ich für viel entscheidender. Das Ministerium hat nämlich geschrieben: Der Schlüssel für das Erreichen der Millenniumsziele liegt in den Entwicklungsländern selbst. – Darauf möchte ich schon noch mit ein paar Sät- zen eingehen. Das ist für mich nämlich ein bezeichnender Satz, der die politische Ausrichtung der Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit sehr deutlich be- schreibt. Sie drehen den Spieß jetzt um. Die Verantwortung für Hunger, für Armut, für Unterentwicklung wird nun ein- seitig den Ländern des Südens zugeschoben, und Stück für Stück wird die Verantwortung der westlichen Indus- triestaaten dadurch zurückgenommen, sowohl finanziell als auch politisch. So geht es nicht. (Beifall bei der LINKEN) Die Kanzlerin hat es heute Morgen in ihrer Regie- rungserklärung genauso gesagt: mehr Eigenverantwor- tung der Regierungen in den Entwicklungsländern. Vor allem hat sie eigene Einnahmen der Entwicklungsländer gefordert. Sehr interessant finde ich das. Gleichzeitig fordert nämlich die Bundesregierung in ihrer Roh- stoffstrategie systematisch den Abbau zum Beispiel von Schutzzöllen in den Rohstoffländern. Das sind aber ganz große Einnahmequellen. Diese wollen Sie systematisch abbauen. Das zeigt, dass hier eine Logik vorherrscht, die von Doppelmoral geprägt ist. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben es nicht verstanden! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Quatsch!) Sie wollen schlichtweg die Verantwortung den Entwick- lungsländern zuschieben und sich selbst Stück für Stück zurücknehmen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das glauben Sie selbst nicht!). Dies betrifft auch die Handelsstrukturen der Europäi- schen Union und Deutschlands, die nach wie vor verhin- dern, dass endlich gerechte Preise für Produkte aus den Ländern des Südens gezahlt werden können, und die auch systematisch verhindern, dass Konzerne nicht mehr auf Kosten von billigen Arbeitskräften und unter Aus- nutzung von miesesten Arbeitsbedingungen ihre Profite machen können. Dies verhindern Sie durch Ihre Han- delspolitik. Da sind wir in der Verantwortung. Die west- lichen Industriestaaten haben hier Verantwortung für Ar- mut, für Hunger, für Unterentwicklung. Da können Sie sich nicht davonstehlen. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind doch viel zu intelligent, um zu glauben, was Sie hier sa- gen!) Genau diese Ausbeutungsstrukturen müssen wir be- kämpfen. Wir müssen sie aber eben auch hier bewusst machen. Was sind die Ursachen von Armut? Wir tragen mit unserem Lebensstil zur Armut bei. Der Reichtum hier basiert zum großen Teil auf der Armut der Men- schen weltweit, und dafür brauchen wir umfassende Aufklärung. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie vielleicht!) Dafür müsste in meinen Augen die Millenniumkam- pagne kritischer und politischer werden. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist linker Lebensstil!) Um dieses Bewusstsein hier weiter zu fördern, brauchen wir auch Geld. (D) 12728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Heike Hänsel (A) (C) (D)(B) Das sind die grundsätzlichen Fragen, und deshalb un- terstützen wir auch den Antrag. Wir brauchen viel mehr Aufklärung über diese weltweiten Zusammenhänge. So, wie Sie es machen, Herr Niebel, geht es nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Harald Leibrecht für die FDP-Frak- tion. (Beifall bei der FDP) Harald Leibrecht (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die deutsche UN-Millenniumkampagne über sechs Jahre hinweg durchaus wertvolle Arbeit geleistet hat, um die deutsche Öffentlichkeit mit kreativen Aktio- nen über die UN-Millenniumsziele zu informieren und Unterstützung für die Erreichung dieser Ziele zu gewin- nen – wir brauchen heute ganz andere Wege, um die Menschen im Land für dieses wichtige Thema zu gewin- nen. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Welche?) Die FDP-Fraktion wird dem Antrag der SPD zum Er- halt dieser Millenniumkampagne nicht zustimmen, und ich erkläre Ihnen auch gerne, warum das so ist: Das BMZ hat die deutsche UN-Millenniumkampagne seit 2005 mit insgesamt 3,3 Millionen Euro gefördert. Diese Ausgaben hatten in der Vergangenheit durchaus ihre Be- rechtigung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei vielen Bürgern im Land jedoch kein unumstrittenes Poli- tikfeld und braucht gerade darum auch mehr Öffentlich- keit. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Ziele und unser Handeln gegenüber den Bürgern immer wieder erklären und sie für Fragen der Entwicklungspolitik sensibilisie- ren. Sicherlich hat die deutsche UN-Millenniumkampagne mit dazu beigetragen, dass das Thema der Jahrtausend- entwicklungsziele in der deutschen Öffentlichkeit mitt- lerweile stärker verankert ist. Dass heute in der deutschen Öffentlichkeit über diese wichtigen Entwicklungsziele gesprochen und diskutiert wird, liegt aber weniger an Werbekampagnen, sondern vielmehr an der erfolgrei- chen Arbeit des BMZ und an Minister Niebel. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) – Ja, früher hat doch kein Mensch außerhalb der deut- schen Entwicklungscommunity trotz solcher teuren Kampagnen etwas von den Jahrtausendentwicklungszie- len gewusst, geschweige denn, dass man etwas darüber erfahren hat, was das BMZ aktiv getan hat, um diese Ziele zu erreichen. Wir haben heute, was die deutsche Entwicklungszu- sammenarbeit anbetrifft, eine viel breitere und wesent- lich besser informierte und vor allem interessierte Öf- fentlichkeit. Das Thema MDGs findet in den Medien statt, aber auch bei vielen Veranstaltungen von Nichtre- gierungsorganisationen, in Schulen, bei den Kirchen und den politischen Stiftungen. Fristete die Entwicklungszu- sammenarbeit früher eher ein Mauerblümchendasein und wurde über diese Jahrtausendentwicklungsziele we- nig berichtet, so sind diese Themen heute sehr viel tiefer im Bewusstsein der Menschen hier im Lande verankert. Indem Entwicklungspolitik nicht mehr quasi hinter verschlossenen Türen stattfindet, sondern immer trans- parenter wird, nimmt sie die Öffentlichkeit auch mit. Wir haben gestern zum Beispiel im Ausschuss über den Ent- wurf der Entwicklungskampagne des BMZ gesprochen. Dabei legte Dirk Niebel kein vorab beschlossenes Papier vor, sondern ganz bewusst ein Konzept, das als Diskus- sionsgrundlage für die kommenden Monate dient. Jetzt hat jeder die Chance, sich bis November konstruktiv ein- zubringen. Schon jetzt gibt es viele öffentliche Veran- staltungen zu diesem Thema. Es sind gerade solche Ver- anstaltungen von Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteuren, die weitaus besser als teure Öffent- lichkeitskampagnen über die Fortschritte bei diesen MDGs informieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die deutsche UN-Millenniumkampagne war von An- fang an zeitlich bis zum 30. Juni 2011 begrenzt. Ich halte es für gut und sinnvoll, dass wir diese Ausgaben in Zu- kunft sparen und das Geld in die Projektarbeit in Ent- wicklungsländern stecken. Dort wird es sehr viel drin- gender benötigt. In den vergangenen Jahren haben sich rund um die deutsche UN-Millenniumkampagne viele Initiativen ge- gründet, die sich für die Erreichung dieser Ziele aktiv einsetzen. Diese Initiativen finden seit dem Regierungs- wechsel im BMZ einen Ansprechpartner, der das ent- wicklungspolitische Engagement der Zivilgesellschaft wesentlich unterstützt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Damit haben wir genau das erreicht, was wir immer wollten: dass sich auch aus der Gesellschaft heraus Pro- jekte und Initiativen entwickeln, die sich für die Errei- chung dieser Jahrtausendentwicklungsziele in Deutsch- land engagieren. Damit keine Missverständnisse entstehen, meine Da- men und Herren: Die Millenniumserklärung und deren Ziele sind Richtschnur für die deutsche Entwicklungszu- sammenarbeit. Eine verantwortungsvolle Politik muss auf den effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Finanzmittel achten, vor allem in Zeiten knapper Kas- sen. Ich bin sehr froh, dass sich das BMZ diesem Grund- satz verpflichtet sieht und auf gute Arbeit, nicht aber auf teure Werbekampagnen setzt. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12729 (A) (C) (D)(B) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Völlig klar, der Antrag der SPD findet unsere Zustim- mung, voll und ganz. Gar nicht klar ist, was die Bundes- regierung bewogen hat, ausgerechnet beim deutschen Zweig der UN-Millenniumkampagne den Rotstift anzu- setzen. Ich habe den Reden heute aufmerksam zugehört; es waren eigentlich gute Reden, die eher Argumente für die Fortsetzung der Unterstützung gebracht haben. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, genau!) Die Schlussfolgerung ist für mich nicht nachvollzieh- bar. Man sagt: Die Kampagne hat gut gearbeitet. – Viele von uns haben an Aktionen mitgewirkt. Sascha Raabe hat hier bereits die acht Millenniumstore, die vor dem Reichstag aufgestellt wurden, noch einmal in Erinnerung gerufen. Viele haben Veranstaltungen in den Wahlkrei- sen gemacht. Es ist immer und immer wieder neu not- wendig, auf die globalen Herausforderungen hinzuwei- sen, für die Erreichung der Millenniumsziele zu werben. Das ist doch nicht erreicht. Man kann doch nicht sagen: Auftrag erfüllt, das Kind kann laufen, jetzt brauchen wir das nicht mehr zu unterstützen. Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die Mil- lenniumsziele zu erreichen. Gerade bei der Bekämpfung des Hungers geht die Entwicklung in die falsche Rich- tung; die Zahl der Hungernden steigt wieder. Auch bei der Bekämpfung von Müttersterblichkeit und Kinder- sterblichkeit gibt es eben nicht die Erfolge, die notwen- dig wären. Dafür gibt es viele Gründe. Deshalb erschließt es sich mir nicht, dass wir nicht auch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit enga- giert und couragiert fortsetzen und die erfolgreiche Mil- lenniumkampagne weiterhin unterstützen. Ist es etwa die unliebsame Kritik der Millenniumkampagne an der Bun- desregierung und an uns allen? Das wäre nicht in Ord- nung; denn wir brauchen diese mahnenden Worte. Ich erinnere daran, dass die Millenniumkampagne nicht nur diese Bundesregierung für die Nichterfüllung der Ver- sprechen kritisiert hat, sondern auch die Vorgängerregie- rung. Dieser Kritik müssen wir uns stellen. Sie wissen, jeder von uns weiß, dass zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit noch eine große Lücke klafft. Deshalb sollten wir uns auch weiter von der Millenniumkam- pagne anspornen lassen. Ich wünsche mir sehr – das habe ich auch heute Mor- gen schon im Rahmen der G-8-Debatte gesagt –, dass die Initiative, die aus allen fünf Fraktionen des Parla- ments heraus entstanden ist, endlich die Versprechen zu erfüllen und schon in den nächsten Haushaltsberatungen genügend Mittel für Entwicklungsfinanzierung und hu- manitäre Hilfe bereitzustellen, Ergebnisse zeitigt, dass diese Kampagne vielleicht sogar noch vor der Sommer- pause tatsächlich zu einem entwicklungspolitischen Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels hier in diesem Parlament führt, so wie die Briten es uns vorge- macht haben. Sie bitten uns inzwischen ja, nicht nachzu- lassen; denn sie werden jetzt durch die Boulevardpresse unter Druck gesetzt. Weil Großbritannien dabei ist, das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, während andere ver- gleichbare Industrienationen in Europa nicht mitziehen, fragt die dortige Presse: Warum sollen wir Briten es al- leine machen? – Wir würden den Briten also in den Rü- cken fallen, wenn wir uns jetzt keinen Ruck gäben und weitere Schritte in diese Richtung unternehmen würden. (Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] – Zustimmung des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregie- rung, die Streichung dieser Gelder wäre ein Eigentor. Es ist jetzt schon ein Imageschaden entstanden. Diese Kam- pagne steht auch nicht in Konkurrenz zu VENRO oder zu anderen Kampagnen. Hier findet vielmehr eine Soli- darisierung statt, und es werden von allen Seiten Briefe des Inhaltes verschickt: Tut das bitte nicht! Wir brauchen überall, von Flensburg bis Passau, viele Kampagnen und Aktionen, die die Notwendigkeit des Erreichens der Millenniumsziele deutlich machen. Neh- men Sie diese unsinnige Kürzung zurück! Lassen Sie uns gemeinsam einen Konsens für die Entwicklungs- finanzierung finden! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5897 mit dem Titel „Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/ CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Oppositions- fraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni- schen Abkommens zwischen der internationa- len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re- gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 – Drucksache 17/5706 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis- ter Guido Westerwelle das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 12730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- wärtigen: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Bitte erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich die Ein- bringung des Mandates begründe, anlässlich eines be- sonderen Ereignisses eine Bemerkung vorab mache: Ratko Mladic wird des Völkermordes und der Verbre- chen gegen die Menschlichkeit beschuldigt und seit fast 16 Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Seine Fest- nahme ist eine sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit in Europa. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Ich habe soeben dem serbischen Präsidenten Tadic zu dem Erfolg gratuliert und auch dazu, dass jetzt die Auf- arbeitung des Unrechts der Balkankriege erfolgen kann, weil die Voraussetzungen dafür nunmehr gegeben sind. Serbien löst mit der Verhaftung von Ratko Mladic eine langjährige Forderung der Europäischen Union und auch des Chefanklägers des Internationalen Jugoslawien-Tri- bunals ein. Aber so groß der Erfolg ist, wir müssen jetzt in dieser Stunde auch an die Opfer und an die Familien der Opfer des Massakers von Srebrenica denken. Ihr mutmaßlicher Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden. Die Festnahme von Mladic schafft eine weitere Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Bal- kanregion. Ich möchte noch einmal mit Nachdruck un- terstreichen: Aus Sicht der Bundesregierung haben alle Länder des westlichen Balkans eine europäische Per- spektive. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Status des Kosovo ist geklärt. Die Grenzen im westlichen Bal- kan sind gezogen. Im Juli des vergangenen Jahres, also nach der letztmaligen Mandatierung durch den Deut- schen Bundestag, hat der Internationale Gerichtshof be- stätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit internationalem Recht erfolgte. Kosovo hat im vergangenen Jahr sicherlich Fort- schritte gemacht. Wer sagt: „Politisch ist im letzten Jahr viel passiert, aber verändert hat sich wenig“, der sagt aus unserer Sicht nur die halbe Wahrheit. Zwar mussten im vergangenen Jahr die Parlamentswahlen in einigen Wahlkreisen wiederholt werden. Entscheidend ist aber, dass die Wahlen insgesamt friedlich und geordnet ver- laufen sind. Entscheidend ist, dass Unregelmäßigkeiten in rechtsstaatlicher Weise aus der Welt geschafft werden konnten. Auch die Reaktion auf das, was dort festgestellt worden ist, ist wichtig und bedeutsam. Die Bürgerinnen und Bürger im Norden Kosovos ha- ben sich mit ihrem Wahlboykott vor allem selbst gescha- det. Sie berauben sich der Chance, die Politik Kosovos mitzugestalten. Die Serben im Süden des Landes sind viel weiter. Ihre Wahlbeteiligung lag höher als bei frühe- ren Wahlen. Für den Süden sind die Wahlen ein Beispiel dafür, dass die Trennlinien zwischen den Ethnien porö- ser und durchlässiger werden, als radikale Kräfte immer wieder behaupten. Die Verfassung der Republik Kosovo reserviert von 120 Sitzen zehn Sitze für die serbische Minderheit; 13 serbische Kandidaten wurden gewählt. Für andere Minderheiten reserviert die Verfassung ebenfalls zehn Sitze; zwölf Minderheitenvertreter wurden gewählt. Heutzutage wird im Kosovo eben nicht nur nach ethni- schen, sondern zunehmend auch nach politischen Ge- sichtspunkten entschieden. Wenn man bedenkt, dass sich im Februar erst zum dritten Mal der Tag der Unabhän- gigkeitserklärung Kosovos gejährt hat, dann muss man sagen, dass dies bemerkenswerte Fortschritte sind, die in dem politischen Zusammenhang unseres Mandats heute nicht unberücksichtigt bleiben sollten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Richtig ist, dass seit der letzten KFOR-Debatte zwei Staatspräsidenten zurücktreten mussten. Richtig ist aber auch, dass das politische Vakuum nicht zu Unfrieden und Gewalt führte. Die Verfassung wurde eingehalten. Alle politischen Akteure haben die Entscheidung des Verfassungsgerichts respektiert. Es ist ein Zeichen für eine positive Entwicklung im Land, dass die Selbsthei- lungskräfte der Institutionen funktionieren. Noch sind viele Konflikte ungelöst; auch das festzu- stellen, gehört zu einer angemessenen und umfassenden Lagebeurteilung dazu. Diejenigen, die dort gewesen sind und Gespräche geführt haben, können aus diesen Ge- sprächen von vielen Ängsten und Unsicherheiten berich- ten. Die Lage im Norden Kosovos bleibt angespannt. Das Problem der Parallelstrukturen ist nicht gelöst. Der Schutz der serbisch-orthodoxen Klöster bleibt eine hoch- sensible Sicherheitsfrage. Das erfordert auch weiterhin den Rückhalt durch KFOR. Die kosovarischen Sicherheitskräfte übernehmen schrittweise mehr Verantwortung. Schon jetzt garantiert die lokale Polizei die Sicherheit von sechs der neun be- sonders schutzwürdigen serbischen Kulturdenkmäler. Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter sta- bilisiert. Eine Reduzierung der internationalen Militär- präsenz und damit auch der Kräfte der Bundeswehr ist möglich. Es ist die zweite Reduzierung seit Antritt dieser Bundesregierung. Im letzten Jahr sank die Mandatsober- grenze von 3 500 Soldatinnen und Soldaten auf 2 500. Jetzt reduzieren wir in dem Antrag, den wir Ihnen vorle- gen, erneut, und zwar auf 1 850 Kräfte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es soll aber auch hinzugefügt werden: Kosovo wird noch viele Jahre auf Unterstützung auch durch die Euro- päische Union angewiesen sein. Das hat auch der Fort- schrittsbericht der Europäischen Kommission im De- zember 2010 deutlich gemacht. Die Kommission hat auch Fortschritte in der Justiz und beim Kampf gegen or- ganisierte Kriminalität angemahnt. Noch häufen sich Klagen über die politische Beeinflussung der Gerichte. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12731 Bundesminister Dr. Guido Westerwelle (A) (C) (D)(B) Noch ist Kosovo von europäischen Standards weit ent- fernt. Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten der EU- Rechtsstaatsmission EULEX, die Ermittlungen im Zu- sammenhang mit den Vorwürfen, die die Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates er- hoben haben, zu führen. Die Führung Kosovos hat ihre Unterstützung bei der Aufklärung angekündigt. Wir wer- den sie natürlich an ihren Taten messen. Dies ist ein langjähriges Engagement, auch ein lang- jähriges militärisches Engagement. Aber wir sehen, dass es gut war, Ausdauer zu haben und sich der Verantwor- tung zu stellen. Wir wollen nie vergessen, wie die Lage Mitte und auch noch Ende der 90er-Jahre gewesen ist. Manche fragen: Was geht uns das an? Spätestens dann, wenn man sich daran erinnert, wie viele Hunderttau- sende von Flüchtlingen aus der Region seinerzeit nach Deutschland gekommen sind, weiß man, dass Kosovo nicht irgendwo ist und dass nicht irgendwelche anderen betroffen sind. Das sind wir selbst; das ist Europa. Des- wegen ist es richtig, dass dieser Einsatz auch unter den veränderten Umständen mit den veränderten Rahmenda- ten fortgesetzt wird. Wir bitten um Ihre Zustimmung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Michael Groschek für die SPD- Fraktion. Michael Groschek (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, Herr Außenminister: KFOR ist seit 1999 zu einer Er- folgsgeschichte vernetzter Sicherheitspolitik geworden. Anders als das bei anderen Mandaten der Fall ist, ist das wirklich überprüfbar, nachvollziehbar und im Ergebnis unzweifelhaft. Deshalb gebührt unser Dank den Solda- tinnen und Soldaten, aber auch allen anderen Einsatz- kräften; denn hier gibt es ein vorbildliches Zusammen- wirken aller. Man muss daran erinnern, was am Beginn des Einsat- zes stand: Der Versuch von Staatenbildung – was ange- sichts grausamer Kriegsverbrechen und Vertreibung im- mer wichtiger wird – und ethnische Konflikte, die wir in Europa für unmöglich gehalten hätten. Wenn wir heute in die Region blicken, finden wir einen befriedeten Sü- den und einen Norden, der halbwegs sicher ist und nur noch relativ wenig Eskalationspotenzial birgt. Deshalb noch einmal: Allen Beteiligten ein herzlicher Dank für diesen Jahrzehnte dauernden Einsatz im Kosovo und in Serbien. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben am Wochenende vernehmen können, bei- spielsweise im NDR, dass sich ein Teil unserer Soldatin- nen und Soldaten über Langeweile im Einsatz beklagt. Wenn das den Tatsachen entspricht, dann ist auch das ein Erfolgsindiz. Soldatinnen und Soldaten, die sich im Ein- satzgebiet langweilen, sind allemal besser dran als dieje- nigen, die um Leib und Leben fürchten müssen. Auch deshalb ist der Einsatz der KFOR eine Erfolgsgeschichte der Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam in unter- schiedlichen Regierungskonstellationen verantwortet ha- ben. Ja, wir ziehen uns Stück um Stück zurück. Wir redu- zieren das Mandat von ursprünglich 6 000 Bundeswehr- soldaten auf maximal 1 850 Soldaten. Unsere Zustim- mung zu dem Mandat ist gewiss, weil auch wir sehen, dass die KFOR und unsere Streitkräfte im Grunde nur noch die Überlebensversicherung im Hintergrund bilden. Im Vordergrund stehen die nationale Polizei, die para- militärische Miliz und das, was EULEX als internatio- nale Polizeimacht bieten kann. Die schrittweise Über- gabe der Verantwortung an die kosovarische Seite kann man nur begrüßen. Die Republik Kosovo sagt selbst: Bitte bleibt, ein Restrisiko wollen wir mit eurer Hilfe ab- decken, weil unsere eigene Kraft und Staatlichkeit noch nicht ausreichen. – Trotzdem ist es für uns eine grundle- gende Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nicht durch das Militär gesichert werden kann, sondern nur durch Demokratie und Wohlstand. Wenn man Demokratie und Wohlstand als Grundlage nimmt, dann weiß man, dass nur Europa die Alternative zu Vertreibung und Zerstörung ist. Bei diesem langen Marsch des Kosovo und Serbiens nach Europa haben auch Sozialdemokraten Blutzoll gezahlt. Es war ein so- zialdemokratischer Ministerpräsident, der von wirren Nationalisten in Serbien ermordet wurde, weil er seine Nation mutig nach Europa führen wollte. Solche Männer und diesen Geist wollen wir stärken. Wir würden uns gerade heute von der Bundesregie- rung, Herr Außenminister – nicht in Ihrer Rede, aber in der Rede, die die Bundeskanzlerin heute Morgen gehal- ten hat –, mehr Mut zu Europa wünschen, mehr Be- kenntnis zu und Aktivität für Europa. In dieser Hinsicht haben wir heute vieles vermisst. Wir hatten das Gefühl, dass Teile der Regierung und der Regierungskoalition nicht bestrebt sind, die Stammtische zu überzeugen, son- dern sich nach wie vor von ebendiesen über den Tisch ziehen lassen. Das ist sehr bedauerlich. (Beifall bei der SPD) Mut macht dagegen die private Initiative in vielen Be- reichen, unter anderem die Investitionsabsicht des an- sonsten viel gescholtenen RWE: 350 Millionen Euro sol- len in den nächsten Jahren in Wasserkraft in Serbien investiert werden. Das ist eine sehr sinnvolle Investition, die wir ausdrücklich begrüßen, weil sie die nachhaltige Entwicklung in der Region fördert. Investitionsbereit- schaft setzt aber auch Investitionssicherheit voraus. Da hapert es noch an manchem. Ich darf daran erinnern, dass beispielsweise der WAZ-Konzern in einer Kumpa- nei von Politik und Wirtschaft auf dem Feld der Medien- wirtschaft übelst ausgebootet werden sollte. Das ist das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Da muss in Serbien und der Region noch nachgearbeitet werden, wenn wir die Investitionen mobilisieren wollen, die wir brauchen, um die Region nach vorne zu bringen. 12732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Michael Groschek (A) (C) (D)(B) Für uns endet die Verantwortung eben nicht mit dem Abzug der letzten Soldatin oder des letzten Soldaten. Vielmehr bekennen wir uns zu dem Prinzip, die Ent- wicklung weiter zu fördern. Da muss die Politik – gerade wir, für die die Perspektive Europa alternativlos ist – ei- nen Beitrag dazu leisten, beiden Seiten zu helfen, sich aus ihrer Opferrolle zu emanzipieren. Wer immer nur mit dem Blick des Opfers auf den Nachbarn schaut, hat nicht die Kraft und die Fähigkeit, nach vorne zu blicken, über den Horizont zu schauen und mutig in Richtung Europa zu gehen. Ich finde schon, dass gerade heute, wo Mladic in Haft genommen wurde, ein Tag ist, um sich zur Euro- päisierung und zu einer Teilhabe beider Staaten im Rah- men der Europäischen Union zu bekennen. Der Weg dorthin ist lang; das wissen wir. Ich will diese Gelegenheit nutzen, um einen sicher- heitspolitischen Punkt anzusprechen, der uns in dieser Woche im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskon- trolle und Nichtverbreitung“ beschäftigt hat: die Streu- bombenverminung Serbiens. Ein serbisches Opfer hat sehr eindrucksvoll geschildert, wie es als Bombenent- schärfer mit der Streubombenmunition in Kontakt ge- kommen ist und körperlich versehrt wurde. Wir konnten in der Zeit nachlesen, auf wie skandalöse Weise bei- spielsweise unsere staatlichen Zuschüsse zur Riester- Rente missbraucht werden, um in die Produktion von verbotener und geächteter Streubombenmunition zu in- vestieren. Hier beginnt unsere Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung: Wir müssen gemeinsam nicht nur fordern, das Streubombenverbot juristisch durchzu- setzen und abzusichern, sondern wir müssen die Produk- tion von Streubomben dadurch auch praktisch verun- möglichen, dass wir ein Verbot von Investitionen in die Produktion dieser grässlichen Waffen erwirken. Das wäre ein Ausrufezeichen, welches wir uns von dieser Bundesregierung wünschen würden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In diesem Sinne: Jede Unterstützung für das Mandat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de Maizière. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- teidigung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Geschichtliche Entwicklungen vollziehen sich in Geschichten und Namen: Der Außenminister hat an Mladic, seine Verbrechen und seine Verhaftung erinnert. Herr Groschek hat an Herrn Djindjic erinnert, der ermor- det worden ist. Auch ich will mit einer Geschichte be- ginnen, aber mit einer schönen: Vor rund zwei Wochen, am 10. Mai, wurde das Erzengelkloster im Bistrica-Tal bei Prizren von der Kosovo Force an die kosovarischen Sicherheitsbehörden übergeben, als sechstes von insge- samt neun serbischen Kulturgütern. Diese Übergabe hatte für das deutsche Kontingent eine ganz besondere, auch emotionale Bedeutung, war es doch die Bundes- wehr, die dieses Kloster über viele Jahre zu schützen hatte. Bei den schweren Unruhen im März 2004 mussten unsere Soldaten nämlich die wenigen dort ansässigen serbischen Mönche evakuieren, um sie so vor Schlim- merem zu bewahren. Das Kloster selbst erlitt schwerste Schäden. Der Wiederaufbau ist zwischenzeitlich abge- schlossen, auch mithilfe der Bundeswehr. Die kleine Ge- schichte über das Kloster erzählt eigentlich die ganze Geschichte dieses Einsatzes. Seit diesen Unruhen ist es auch dank der Präsenz von KFOR nie wieder zu Ausschreitungen solchen Ausma- ßes gekommen. Es gibt sie noch, die gelegentlichen Zwi- schenfälle; Sie haben darauf hingewiesen. Die Lage im Norden des Kosovo bleibt gespannt. Aber insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Kosovo nachhaltig stabili- siert. Zur Stunde versehen im Kosovo noch rund 1 000 deutsche Soldaten ihren Dienst bei KFOR. Wir werden dieses Kontingent zeitnah auf 900 Soldatinnen und Soldaten reduzieren. Da fragt man sich: Warum er- bitten wir ein Mandat von höchstens 1 850, wenn es doch nur 900 sind? Die Antwort besteht darin, dass wir 500 in Deutschland in Reserve stehende Soldaten eines Operational-Reserve-Force-Bataillons bereithalten – das ist mit den Kosovaren abgestimmt –, damit man, wenn es zu Unruhen käme, schnell eingreifen könnte. Der Rest bezieht sich auf Personalüberhänge bei Kontingentwech- seln und Ähnliches. Die Reduzierung von derzeit mögli- chen 2 500 auf mögliche 1 850 Soldatinnen und Solda- ten steht in vollem Einklang mit der laufenden Absenkung der Gesamtstärke von KFOR. Es ist schon gesagt worden – ich unterstreiche das –: Die Strategie ist erfolgreich. Sie mündet zunehmend in politische Aktivitäten. Natürlich – der Außenminister hat darauf hingewiesen – müssen die kosovarische Re- gierung und auch die serbische Regierung einen Beitrag dazu leisten, insbesondere mit Blick auf die Grenz- und Statusfragen, die sie haben. Aber wir wünschen uns na- türlich auch – ich sage das heute aufgrund der netten Stimmung, in der wir sind, ganz zurückhaltend – mehr rechtsstaatliche Fortschritte, gerade im Kosovo. Das ge- hört dazu. An diesem Erfolg der internationalen Gemeinschaft – daran will ich heute einmal erinnern – haben insgesamt 110 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 im Einsatz mitgewirkt. Manche Doppelzählung ist dabei, weil manche mehrfach im Einsatz waren; das weiß ich durchaus. Auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Aber diese Zahl macht deutlich, um welche Dimension es geht: In zehn Jahren haben dort weit über 100 000 ver- schiedene deutsche Soldaten ihren Einsatz geleistet. Ih- nen sowie den zivilen Mitarbeitern bei UNMIK und EULEX sei auch von mir an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12733 Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung (A) (C) (D)(B) Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unsere Soldaten leisten eine gute Arbeit. Ich war im März vor Ort und habe mich selbst davon überzeugt. Wir sind dort hochgeschätzt bei unseren Partnern, bei der ko- sovarischen Regierung und der Opposition, also auf al- len Seiten. Deshalb wird Deutschland nun zum dritten Mal in Folge und zum sechsten Mal insgesamt den Kommandanten, den COMKFOR, also den Chef von KFOR insgesamt, für ein weiteres Jahr stellen. Ich glaube, das ist eine Auszeichnung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich über die Unterstützung dieses Hohen Hauses und bitte in der zweiten Lesung um Zustimmung zur Mandatsverlänge- rung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Inge Höger für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als zwölf Jahre ist die NATO schon im Kosovo präsent. In vielen Bereichen des Landes ist die Lage heute verhee- render als vor Beginn des NATO-Krieges. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Was? – Elke Hoff [FDP]: Das kann ja nicht wahr sein! – Michael Brand [CDU/CSU]: Gut, wenn man Feindbilder pflegt!) Die verschiedenen internationalen Akteure, besonders die NATO und die EU, haben neben militärischen Aktio- nen auch in zivilen, polizeilichen und wirtschaftlichen Bereichen in das Land eingegriffen. Die Situation in die- ser Balkanregion hat sich dadurch grundlegend verän- dert. Verbessert hat sie sich nicht, im Gegenteil. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist zynisch, was Sie hier sagen!) Vor der NATO-Intervention war es vor allem die schlechte ökonomische Situation, die neben dem serbi- schen und albanischen Nationalismus die Lage im Kosovo destabilisiert hat. Obwohl es im ehemaligen Jugoslawien eine Art Länderfinanzausgleich zur Unter- stützung des Kosovo gab, lag das Einkommen dort pro Kopf nur bei etwa der Hälfte dessen, was im Rest Jugo- slawiens erzielt wurde. Nach zwölf Jahren Besatzung liegt das Einkommen im Kosovo nun bei weniger als ei- nem Viertel dessen, was in Serbien verdient wird, (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, Frau Höger!) und die Schere geht zunehmend weiter auseinander. Etwa die Hälfte der Menschen im Kosovo ist arbeitslos. Mehr als ein Drittel lebt in Armut, (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Was hat das mit der Bundeswehr zu tun?) und beinahe 20 Prozent leben in extremer Armut. Diese Menschen müssen von weniger als 94 Cent pro Tag le- ben. (Kathrin Vogler [DIE LINKE], an die CDU/ CSU gewandt: Das können Sie sich ruhig ein- mal anhören! – Gegenruf von der CDU/CSU: Aber man muss nicht jeden Unsinn verkraf- ten!) Sie können ja versuchen, mit 94 Cent pro Tag auszu- kommen. Angesichts dessen ist klar, dass die im Mandatsantrag erwähnte „weitestgehende“ Ruhe bestenfalls oberfläch- lich ist. Hier zeigt sich überdeutlich: Das Mantra der Bundesregierung, Sicherheit sei die Voraussetzung für Entwicklung, funktioniert nicht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn die Menschen eine Entwicklungs- perspektive haben, dann wird auch die Sicherheitslage besser. (Beifall bei der LINKEN) Doch genau hier haben die Besatzer auf ganzer Linie versagt. Die ethnische Spaltung des Landes hat sich in den letzten zwölf Jahren verfestigt. Es sind zwar nahezu alle kosovo-albanischen Flüchtlinge in das Land zurück- gekehrt, von den 230 000 serbischen Flüchtlingen aber gerade einmal 15 000. Davon mussten 4 000 bei den Un- ruhen 2004 erneut fliehen. Für Roma sieht die Lage noch schlechter aus. Sie werden im Kosovo verfolgt. Für diese Bevölkerungsgruppe ist die Lebenssituation ziemlich aussichtslos. Trotzdem finden nach wie vor Sammelab- schiebungen aus Deutschland statt. Eine humane Politik sieht anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Institutionen, die mit westlicher Hilfe im Kosovo auf- gebaut wurden, haben wenig zur Demokratisierung bei- getragen. Für die Privatisierungen ist beispielsweise die Kosovo Trust Agency zuständig. Sie hat mit zur Aus- breitung von Korruption beigetragen. Der Sonderermitt- ler des Europarates, Dick Marty, gibt der KFOR und auch der Bundeswehr wesentliche Mitschuld an der Aus- breitung von organisierter Kriminalität, von Menschen- handel und illegalen Organtransplantationen. (Zuruf von der FDP: Das ist unglaublich! – Michael Brand [CDU/CSU]: Bei der Rede kann man nur mit Valium auskommen! – Ge- genruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das müssen Sie einfach mal aushalten!) Eine solche Mitschuld ist in Untersuchungen und Be- richten nachgewiesen worden. Die internationale zivile und militärische Präsenz ist mit dafür verantwortlich, dass Bordelle mit Zwangsprostituierten gute Geschäfte machen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind doch verblendet!) 12734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Inge Höger (A) (C) (D)(B) Das sieht auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung so. Diese Studie berichtet übrigens auch davon, dass die kosovarische Bevölkerung in der internationalen Präsenz „überhebliche Protektoratsherren“ sieht. Die Linke fordert ein Ende der NATO-Besatzung. Die frei werdenden Gelder könnten dann zur Verbesserung der Situation der Menschen vor Ort eingesetzt werden. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Michael Brand [CDU/CSU]: Da klatscht nur noch einer bei Ihnen!) Vor allem aber ist die Einsicht nötig, dass die bisherige Kosovo-Politik ein grundlegender Fehler war. Das vor- liegende Mandat führt nur weiter in die politische Sack- gasse. Die Linke lehnt die Mandatsverlängerung ab. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Gut, dass der Außenminister über die Opfer gesprochen hat! – Weiterer Zu- ruf von der CDU/CSU: Mit der Sackgasse kennen Sie sich ja aus!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Präsenz deutscher Soldaten im Kosovo beruht auf der UN-Sicherheitsresolution 1244 aus dem Jahr 1999. Nicht nur Russland, auch Serbien hat seinerzeit der Sta- tionierung der internationalen Truppen zugestimmt. Die völkerrechtliche Legitimität ist damit im Gegensatz zur vorangegangenen nicht UN-mandatierten NATO-Inter- vention unstreitig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Überzeugendste an diesem Einsatz aber ist, dass er sich konsequent selbst überflüssig macht. Erfreulich ist die Reduzierung der Truppen von ursprünglich 50 000 Soldaten auf jetzt 5 500, davon noch 900 deutsche. Die weitere Reduzierung ist geplant. Die Multinational Battle Groups wurden aufgelöst und durch Monitoring Teams ersetzt. Der Flugbetrieb der Bundeswehr wurde eingestellt, und die Hubschrauber wurden zurückverlegt. Die größten Herausforderungen für die 2 Millionen Ein- wohner des Kosovo sind nicht militärischer, sondern polizeilicher und rechtsstaatlicher Natur. Dieser Tatsache tragen der schrittweise Abzug der Truppen und die Übertragung der Aufgaben auf die Kosovo Police Force Rechnung. Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Trotz ei- nes gewissen Wirtschaftswachstums liegt die Jugendar- beitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei über 60 Prozent. Die ethnische Teilung verursacht nach wie vor Spannungen. Die meisten der 200 000 Kosovo-Ser- ben leben in der Region um Mitrovica mit eigenen Ver- waltungsstrukturen. Korruption und mafiose Strukturen prägen das Machtgefüge im Kosovo. Bei einer Fahrt durch das Land springt einem sofort die unerklärlich große Zahl von Baustellen ins Auge. Man fragt sich, wa- rum all die Hotels und Tankstellen nie fertig werden und als Bauruinen die Landschaft verschandeln. Die Ant- wort: Drogenhandel und Geldwäsche sind die vorherr- schenden Einnahmequellen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE], an die Koalition gewandt: Zuhören!) Besorgniserregend ist darüber hinaus der Ausbau der Kosovo Security Force zu einer milizartigen Streitkraft, obwohl diese ursprünglich allein für Evakuierung, Brandbekämpfung und Minenräumung eingerichtet wurde. Eine solche bewaffnete Miliz kann leicht zur Keimzelle neuer bewaffneter ethnischer Auseinanderset- zungen werden. Umso bedauerlicher ist es, dass diese 2 000 Kräfte gerade erst mit 900 deutschen G-36-Ge- wehren von Heckler & Koch beliefert worden sind. Der verständliche Wunsch nach Ruhe und Frieden im Land darf nicht dazu führen, dass die organisierte Krimi- nalität, die bis in die Regierung hineinreicht, verschont bleibt. (Inge Höger [DIE LINKE]: Das ist aber so!) Die europäische Rechtsstaatsmission EULEX muss da- für alle erforderliche Unterstützung bekommen, auch wenn Ermittlungserfolge bei der Korruptionsbekämp- fung gelegentlich Demonstrationen und Widerstand her- vorrufen. EULEX ist die größte zivile Mission der EU mit 1 400 Polizisten, 50 Richtern, 30 Staatsanwälten und 76 Zollbeamten. Von dem Erfolg dieser Arbeit wird ab- hängen, ob sich das Kosovo eines Tages in die EU inte- grieren lassen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch müssen Kosovo und Serbien Wege einer prag- matischen Annäherung finden, wenn sich für beide eine europäische Perspektive auftun soll. Hoffnung macht die von Serbien mitgetragene UN-Resolution vom Oktober letzten Jahres, in der genau dies gefordert wird. Hoff- nung macht natürlich auch die heutige Verhaftung des gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic. Schließen möchte ich mit einem Appell an die Bun- desregierung, die Abschiebung der Roma in das Kosovo zu beenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, hat die Lebensbedingungen der abgeschobenen Roma im Kosovo als humanitäre Kata- strophe bezeichnet. Die Hälfte der 12 000 ausreisepflich- tigen Roma ist jünger als 18. Zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele von ihnen sprechen weder serbisch noch albanisch, und nur die wenigsten haben die Chance, im Kosovo eine Schule zu besuchen. Ein Drittel dieser Kinder in den Lagern ha- ben laut Grundrechte-Report nicht genug zu essen. Erin- nern wir uns an die Rede von Zoni Weisz am 27. Januar dieses Jahres hier im Bundestag und an unsere Verant- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12735 Katja Keul (A) (C) (D)(B) wortung und Verpflichtung gegenüber den Roma und Sinti Europas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Beenden Sie die Abschiebung der Roma in das Kosovo! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Si- cherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 verabschiedete, sprach das Generalse- kretariat der Vereinten Nationen von einer Tragödie im Kosovo. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit ent- fernt. Deshalb fand ich es unmöglich, dass hier gerade diejenigen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser Stabili- sierung geleistet haben, als Besatzer bezeichnet worden sind. Ich glaube, das war ein Missgriff, der in dieser De- batte nichts verloren hatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ging damals für die Kosovaren um ihr Überleben. Elf Jahre später hat sich viel zum Guten gewendet. Vor elf Jahren haben die Vereinten Nationen uns angesichts einer humanitären Tragödie den Auftrag gegeben, ein si- cheres Umfeld für alle Menschen im Kosovo zu schaf- fen. Wir erinnern uns: Deutschland hat es sich nicht leicht gemacht, bei diesem Einsatz mitzumachen und Verantwortung zu übernehmen. Vor elf Jahren beschloss der Deutsche Bundestag ein Mandat mit einer Ober- grenze von 8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem Mandat mit 8 500 Mann vom 12. Juni 1999 und dem Mandat mit 1 850 Mann, das heute zur Rede steht, ist er- sichtlich. Der zivil-militärische Friedenseinsatz hat Er- folg gezeigt. Deshalb dürfen wir heute davon ausgehen, dass KFOR mit maximal 1 800 deutschen Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Vor diesem Hintergrund kann niemand behaupten, die Männer und Frauen der Kosovo Force hätten in den elf Jahren nicht viel erreicht. Die internationale Gemeinschaft musste diese Tragö- die stoppen. Die Präsenz ist weiterhin notwendig. Wir investieren damit auch in die Zukunft Europas. Den Er- folg stellte kürzlich auch die Neue Zürcher Zeitung fest, die schrieb: Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebro- chen: Mehr und mehr Serben nehmen am politi- schen Leben teil, profitieren von den Minderheiten- rechten und -quoten und spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Politik in Kosovo. Dies ist letztendlich ein Verdienst unserer politischen Initiativen, insbesondere der Initiativen, die unser Au- ßenminister in den vergangenen zwei Jahren gestartet hat. Diesen Erfolg möchte ich hier nicht unerwähnt las- sen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie steht es um die Sicherheit? Generalmajor Erhard Bühler, der deutsche Kommandeur der KFOR-Truppen, hat am 22. April dieses Jahres die Aufgabe so beschrie- ben – ich zitiere erneut –: „Für mich ist es wichtig, Auf- gaben der KFOR auf die Behörden des Kosovo zu über- tragen, insbesondere an die Kosovo Police. Es ist kein Geheimnis, dass ich eine hohe Meinung von der Kosovo Police habe.“ – Dies ist tatsächlich ein großer Erfolg und zeigt, dass wir – nach der kosovarischen Polizei und den Polizisten von EUPOL – nur noch die dritte Linie der Si- cherheit garantieren. Wir leisten einen wichtigen Beitrag als Absicherung für den Fall, dass es wieder zu größeren Problemen kommt. Minister de Maizière hat vorhin das sehr anschauliche Beispiel des Schutzes der Mönche und Schwestern in den Klöstern genannt. Dies zeigt, wie wichtig dieser Ein- satz war und welch hohen symbolischen Stellenwert ein- zelne Maßnahmen der Bundeswehr im Kosovo hatten. Dies ist aus meiner Sicht ein historisch ganz wichtiger Punkt. Ich weise noch einmal darauf hin, dass in der Ge- schichte sehr dramatische und schlimme Dinge auf dem Balkan geschehen sind, für die Deutschland verantwort- lich war, dass Deutschland an dieser Stelle aber eine gute Spur hinterlassen hat. Dafür bin ich den deutschen Sol- datinnen und Soldaten außerordentlich dankbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte diese Debatte nutzen, um unser Engage- ment in der gesamten Region des Balkans auch über die- ses Mandat hinaus deutlich zu machen. Die Fortschritte sind bereits angesprochen worden. Natürlich wird es weiterhin wichtige Themen geben, mit denen wir uns be- schäftigen müssen. Die Zukunft der Region insgesamt liegt unserer Meinung nach innerhalb der Europäischen Union. Dies betrachte ich auch als eine Vision für die Europäische Union; nicht kurzfristig, aber langfristig ist dies ein wichtiger Schritt. Auch Serbien sieht seine Zu- kunft, wie wir aus vielen Gesprächen wissen, in der EU und hat am 22. Dezember 2009 einen Beitrittsantrag ge- stellt. Dafür bedarf es natürlich einer echten EU-Per- spektive. Die Voraussetzung dafür ist die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Kosovo und Serbien. Serbien hat sein Anliegen im Hinblick auf eine recht- liche Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Ko- sovo mit gutem Recht vor dem Internationalen Gerichts- hof in Den Haag vorgetragen; das steht Serbien frei. Der verantwortungsvolle Umgang der Serben mit der Ant- wort des IGH hat uns die Hoffnung gegeben, dass allen klar ist: Es geht ernsthaft darum, dass Serbien und das 12736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Philipp Mißfelder (A) (C) (D)(B) Kosovo ihre Konflikte friedlich lösen und letztlich als gute Nachbarn zusammenleben. Dazu bedarf es aller- dings weiterer Schritte, und bis dahin ist es noch ein lan- ger Weg. Gestern mussten wir leider die Meldung lesen, dass Serbiens Präsident Tadic das Gipfeltreffen zwischen Prä- sident Obama und den Staatschefs aus Ost- und Süd- europa in Warschau boykottieren möchte. Der Grund sei, dass auch die Präsidentin des Kosovo eingeladen ist. Wenn das stimmt, muss man sagen: Das ist der falsche Weg. Dies bedarf zwar keiner Geißelung, aber des Hin- weises, dass wir uns das so nicht vorstellen. Wir halten es für den richtigen Weg, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und die Gemeinsamkeiten zu betonen. Das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir in den ver- gangenen Monaten sehr gute Gespräche mit serbischen Politikern geführt haben. Insofern hat mich die gestrige Meldung überrascht und gleichzeitig enttäuscht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unsere Fraktion wirbt für die Verlängerung dieses Mandats. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5706 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Altschuldenentlastung für Wohnungsunter- nehmen in den neuen Ländern – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Altschulden der ostdeutschen Wohnungs- unternehmen streichen – Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000 – Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungs- unternehmen neu ausrichten – Drucksachen 17/4698, 17/5124 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Götz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema „Altschuldenentlastung für die Wohnungsunternehmen in den neuen Bundesländern“ begleitet uns schon seit der Wiedervereinigung. Die Altschulden sind eine Last aus der DDR-Zeit, die es gemeinsam zu schultern galt und die wir zurzeit gemeinsam schultern. Die Umstellung von einer staatlich zentral gesteuerten Planwirtschaft auf die Erfordernisse der sozialen Marktwirtschaft hat viele Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vor enorme Herausforderungen gestellt. Ohne die Städtebauförde- rung im Allgemeinen und die Altschuldenregelungen im Besonderen wären viele Wohnungsunternehmen seiner- zeit nicht überlebensfähig gewesen. Die Unionsfraktion will an der bewährten Struktur des Wohnungsmarktes, bestehend aus kommunalen, genossenschaftlichen und privaten Wohnungsunternehmen, festhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Altschuldenhilfe trägt Sorge dafür, dass dies, zumin- dest für Teile, auch möglich ist. Das empirica-Gutachten, auf das sich insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezieht, zeigt, dass die Maßnahmen zur Altschuldenregelung gewirkt haben und noch immer wirken. Bisher haben über 300 Unter- nehmen eine Bewilligung für zusätzliche Altschulden- hilfe erhalten. Von den 1,1 Milliarden Euro, die dafür be- reitgestellt worden sind, stehen bis 2013 noch circa 180 Millionen Euro zur Verfügung. Mit Blick auf die Zeit nach 2013 wollen wir von der christlich-liberalen Koalition nach Lösungen suchen, da- mit der Prozess des Stadtumbaus nicht ins Stocken gerät. Dazu wollen wir den vorgesehenen Bericht aus dem BMVBS zum Stadtumbau Ost, die Evaluierung des Stadtumbaus Ost, im nächsten Jahr, im Jahre 2012, ab- warten. Dann werden wir die aktuelle Situation prüfen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen auch für die Altschuldenhilfe ziehen, aber weniger mit Blick auf die wirtschaftliche Situation der Wohnungsunterneh- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12737 Volkmar Vogel (Kleinsaara) (A) (C) (D)(B) men, sondern mehr mit Blick auf die wohnungspoliti- sche Situation der Akteure und Unternehmen, die sich aktiv in die Stadtentwicklung in den Kommunen einbrin- gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jah- ren hat sich die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen Wohnungsunternehmen stetig und merklich verbessert mit der Folge, dass die Altschulden keine wesentlichen Auswirkungen mehr auf die ostdeutsche Wohnungswirt- schaft haben. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist ja ei- genartig! Da gibt es doch ganz andere Meldun- gen!) – Ich komme dazu, Herr Hacker. – Dabei ist Folgendes zu sehen: Die allermeisten Unternehmen im Osten haben nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das verdient unsere Anerkennung. Sie haben ihre eigene Verwaltung konsolidiert, durch Sanierung attraktiven Wohnraum ge- schaffen, der auch nachgefragt wird, angemessene Miet- preiserhöhungen durchgeführt, was nicht immer leicht war, und natürlich auch Wohnungsbestand verkauft. Die allermeisten Wohnungsunternehmen sind diesen schwie- rigen Weg gegangen und haben es aus eigener Kraft ge- schafft, nicht mehr durch Altschulden in ihrem Fortbe- stand gefährdet zu sein. Im Koalitionsvertrag haben Christdemokraten und Li- berale vereinbart, Investitionen in den Innenstädten zu fördern. So sollen durch den Stadtumbau Ost die Innen- städte aufgewertet und die Sanierung der Altbausubstanz gestärkt werden. Durch das empirica-Gutachten, das uns vorliegt und das wir sehr intensiv ausgewertet haben, wird diese Idee bestätigt. Allerdings ist zu beachten, dass Investitionen in die Innenstädte nicht in direktem Zu- sammenhang mit der Altschuldenregelung im Osten ste- hen, sondern ein Thema der Städtebauförderung insge- samt sind. Mein Kollege Peter Götz wird nachfolgend nähere Ausführungen dazu machen. Da uns als Union die bewährte Struktur aus kommu- nalem, genossenschaftlichem und privatem Wohnungs- eigentum wichtig ist, möchte ich erwähnen, dass insbesondere in den Innenstädten viele private Immobi- lienbesitzer vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie die kommunale Wohnungswirtschaft. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr richtig!) Auch sie sind seit 1990 hohe Verbindlichkeiten einge- gangen und haben mit ihrem Engagement zu einer er- heblichen Aufwertung und Verbesserung der Situation der Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern bei- getragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich selber komme aus Ostthüringen. Der größte Teil meines Wahlkreises ist ländlich geprägt. Da die Einwoh- nerzahl insgesamt sinkt, wird insbesondere auch der ländliche Teil meines Wahlkreises betroffen sein. So zeichnet sich ab, dass der Leerstand in den kleinen Städ- ten und auch in den Dörfern bedrohlich wachsen wird. Hier werden wir nach Lösungen suchen müssen, die je- nen Hausbesitzern helfen, die Investitionen vorgenom- men und so zu einer erheblichen Aufwertung ostdeut- scher Städte und auch Gemeinden beigetragen haben. Dass wir auch in diesem Bereich eine Lösung finden, ist mir persönlich wichtig; denn ich möchte nicht, dass sich am Ende, wie in der DDR, nur der Staat um die Ge- staltung des Lebens- und Wohnumfeldes in den Städten und Dörfern kümmert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Privates Engagement im Bereich des Wohnens muss un- terstützt und gefördert werden. Nur so werden wir dafür Sorge tragen, dass wir langfristig einen ausgewogenen und attraktiven Wohnungsmarkt in Deutschland behal- ten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Vogel, Sie haben hier ein Lied gesungen, das zum Teil mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung steht. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass in den letzten zwei Jahrzehnten viel geleistet worden ist. Aber es geht heute um die Problematik Altschuldenentlastung. Ich stelle nicht infrage, dass wir die Vielgestaltigkeit des Wohneigentums in den neuen Ländern erhalten und weiterentwickeln wollen und dass private Grundstücks- eigentümer an den staatlichen Fördermaßnahmen betei- ligt werden sollen. Das ist alles unbestritten. Heute geht es konkret um die Altschuldenproblematik, (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Das ist doch schon mal eine Aussage!) und es geht um die Städtebauförderpolitik dieser Bun- desregierung im Allgemeinen. (Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul- den nichts zu tun!) – Darum geht es im Allgemeinen, Herr Döring; denn die Politik der Bundesregierung ist nicht von nachhaltigen Anstrengungen bei der Lösung stadtentwicklungspoliti- scher Themen in den neuen Ländern geprägt. (Patrick Döring [FDP]: Unsere Haushalts- politik ist auch nachhaltig!) Das kann man weder von der Bundesregierung noch von der schwarz-gelben Koalition in diesem Hause sagen. Damit geben Sie, wie ich finde, ein sehr wichtiges Pfund auf, das in der Städtebauförderung in Deutschland viele Jahre prägend war. Daraus konnten wir die guten Ergeb- nisse erzielen. 12738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Hans-Joachim Hacker (A) (C) (D)(B) Ich erinnere nur daran, dass Sie die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ abgewertet ha- ben. Das weiß jeder. Das sagen Ihnen alle Wohnungs- unternehmen. Dafür werden Sie kritisiert. (Patrick Döring [FDP]: Das hat aber mit Alt- schuldenhilfe nichts zu tun!) – Jetzt komme ich zur Altschuldenhilfe, Herr Döring. Bei der Altschuldenhilfe zeigen Sie nicht einen einzi- gen Ansatz. Sie haben selber ein Gutachten in Auftrag gegeben, das Ihnen konkrete Hinweise zur Entwicklung einer Politik gibt. Dieses Gutachten negieren Sie. Damit ist beides in Verbindung zu bringen; denn wir müssen Abriss und Sanierung als Einheit sehen. (Patrick Döring [FDP]: Das ist ja das Problem!) Abriss und Sanierung sind zwei Seiten einer Medaille. Diese beiden Seiten nehmen Sie nicht wahr. Wir sind dafür, dass wir weiter Abriss und Aufwer- tung vornehmen. Für uns sind neben den Innenstädten, die in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende Rolle spielen werden, auch die Plattenbaugebiete weiter- hin wichtig, weil wir wohnungspolitisch betrachtet noch Jahrzehnte weiter mit ihnen leben müssen. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Es hat auch niemand gesagt, dass die nicht wichtig sind! Das ist alles nicht verboten! Die sind wichtig!) – Das ist auch nicht das Thema, Frau Müller. Das Thema ist, dass wir dort helfen müssen, wo noch mehr getan werden muss. Wir haben aus der DDR-Zeit die schon er- wähnten Altschulden übernommen. (Patrick Döring [FDP]: Wir haben sie nicht übernommen!) Derzeit liegen immer noch 7,6 Milliarden Euro Altschul- den auf den ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Es gab sicherlich unterschiedliche Aktivitäten. Damit haben Sie recht, Herr Vogel. Dass das Altschuldenhilfe- Gesetz enorm geholfen hat, bestreitet die SPD auch nicht. Ich sage nur: Gerade vor dem Hintergrund, dass letzte Woche die Berlin-Brandenburger Wohnungsunter- nehmen einen Hilferuf an die Bundesregierung gerichtet haben, müssen wir jetzt aktive Politik machen, Herr Mücke. Haben Sie den mitbekommen? – Sie haben sich in den Haushaltsberatungen dankenswerterweise kräftig ins Zeug gelegt und wollten die Städtebaufördermittel ein bisschen aufstocken. Aber leider ist nicht viel dabei herausgekommen. – Noch einmal zurück zu dem Appell aus Berlin-Brandenburg, lieber Herr Staatssekretär Mücke. (Patrick Döring [FDP]: Es wäre schön, wenn beide Länder ihre Mittel richtig verwenden würden!) Der Hilferuf aus Berlin-Brandenburg, der von den Mi- nistern anderer Länder und auch von den Wohnungs- unternehmen unterstützt wird, Herr Döring, lautet im Wesentlichen: Im Jahr 2016 könnte jede siebte Wohnung in Berlin-Brandenburg unbewohnt sein. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das gilt aber nicht nur für den Osten!) – Damit komme ich zu Ihnen, Frau Müller. Wir machen doch in der SPD keine nach Ost und West sortierte Woh- nungspolitik. Es gibt eine andere Fraktion, die das viel- leicht in der Vergangenheit konnte; aber heute kann sie das auch nicht mehr. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Genau! – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Uns?) – Ja, Frau Bluhm, genau Sie. Sie konnten in der Vergan- genheit Ost und West schön differenziert darstellen. Das gelingt Ihnen heute nicht mehr. Sie haben nun auch Kol- leginnen und Kollegen aus dem alten Bundesgebiet. Ich bin sehr gespannt, wie die Kollegen zu einem solchen Ost-West-Denken stehen, das uns eigentlich im 21. Jahr der deutschen Einheit fremd werden sollte. Aber bleiben wir bei den Altschulden. Wie gesagt, 2010 war jede zwölfte Wohnung unbe- wohnt. Hier ist ein enormer Anstieg zu befürchten. Jede leerstehende Wohnung belastet die Wohnungsunterneh- men jedes Jahr mit 3 500 Euro für Tilgung und Zinsen. Das ist ein Strick, der die Unternehmen einschnürt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die starke Abwan- derung aus den neuen Ländern. Insbesondere mobile junge Menschen wandern ab. Das können wir nur be- dingt beeinflussen, Stichwort „demografische Entwick- lung“. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Darauf müssen sich die Unternehmen mittel- und langfristig ein- stellen. Sie müssen sanieren, attraktive Wohnungen schaffen und vor allen Dingen – ich will den Fokus auch auf die alten Menschen in den neuen Ländern richten – für altersgerechte Wohnsubstanz sorgen. Das alles geht nur, wenn wir bei der Altschuldenhilfe vorankommen. Wir weisen mit unserem Antrag konkret den Weg, wie man das Problem lösen kann. Diesen können Bund und Länder gemeinsam gehen. Frau Kollegin Bluhm, unser Weg sieht ein bisschen anders aus als Ihrer. Wir streichen nicht einfach die Altschulden. Das war auch nicht Politik der letzten 20 Jahre. Wir können heute eine lange Diskussion über das Zustandekommen der Alt- schulden – das hatte etwas mit der Währungsumstellung, den Sparguthaben und dem Einsatz dieser Sparguthaben in der DDR zu tun – führen. Aber das würde keinem Wohnungsunternehmen und auch keinem Mieter in den neuen Ländern helfen. Wir müssen vielmehr Lösungen suchen und finden und dann Beschlüsse fassen, die kon- kret helfen. Unsere Lösung sieht wie folgt aus: Wir fordern in un- serem Antrag den Bund auf, jetzt Gespräche mit den Ländern aufzunehmen. Herr Mücke, dieser Appell rich- tet sich an die Bundesregierung. Wir fordern, dass die Regierung dem Deutschen Bundestag eine abschlie- ßende Regelung zur Beschlussfassung vorlegt, die eine bessere Finanzausstattung der Städtebauförderung sowie eine bessere Förderung der energetischen Sanierung und des altersgerechten Umbaus vorsieht. Herr Götz, wir ha- ben vielleicht in den nächsten Wochen noch Gelegen- heit, darüber intensive Gespräche zu führen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12739 Hans-Joachim Hacker (A) (C) (D)(B) (Peter Götz [CDU/CSU]: Das werden wir tun!) Herr Vogel, Sie haben an Ihren Koalitionsvertrag er- innert. Aus diesem will ich jetzt nicht zitieren. Aber ich erinnere Sie daran, dass Sie dort die konkrete Verpflich- tung eingegangen sind, eine Lösung zu finden, die dafür sorgt, dass die Wohnungsunternehmen nicht durch den Leerstand gefährdet werden. Das, was Sie hierzu im Ko- alitionsvertrag festgeschrieben haben, ist richtig. (Patrick Döring [FDP]: Ein guter Koalitions- vertrag!) Dieses Versprechen sollten Sie jetzt einlösen, Herr Döring; denn ansonsten werden die Folgekosten die Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern – das ha- ben wir nach 1990 gesehen – überrollen. Wir sind bei ungefähr 30 Milliarden Euro gestartet. 1994 waren es bereits 50 Milliarden Euro. Die Hilfe war zwar richtig, kam aber zu spät. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben in dieser Woche gezeigt, dass Sie lernfähig sind. Dafür möchte ich Ihnen ein Kompliment ausspre- chen. (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Das ist schon länger so! Aber das ist Ihnen erst in dieser Woche aufgefallen!) – Herr Vogel, das ist mir schon öfter aufgefallen. Aber Sie sollten das hier auch vertreten. Herr Götz, Sie haben sich bei der Privilegierung von Kinderlärm in Kitas bewegt. (Patrick Döring [FDP]: Was Sie in der letzten Legislaturperiode abgelehnt haben!) Obwohl Sie unseren ersten Antrag zu diesem Thema im Bundestag in dieser Legislaturperiode abgelehnt haben, haben Sie nun eine Regelung vorgelegt, der wir zustim- men konnten. Die kleinen Differenzen, die es gab – diese waren für uns nicht ganz unwichtig –, will ich noch ein- mal in Erinnerung rufen. Aber das hat am Ende das Er- reichen des großen Ziels nicht beeinträchtigt. Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Kehrtwende in Ihrer Energiepolitik vollzogen und befürworten nun den Atomausstieg, ohne dass sich die technischen Be- dingungen in den deutschen Atomkraftwerken verändert haben. Ich traue Ihnen Kraft und Mut zu, bei der Alt- schuldenproblematik ebenso zu agieren. Ich rufe Ihnen zu: Bringen Sie den Mut auf, den letzten notwendigen Schritt bei der Entlastung der ostdeutschen Wohnungs- unternehmen von Altschulden zu gehen! Lösen Sie jetzt Ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag ein! Sie haben jetzt die Chance, unserem Antrag zuzustimmen. Meine Damen und Herren von der Koalition, bitte stei- gen Sie in das Boot! (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Petra Müller (Aachen) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim „Stadtumbau Ost“ soll die Aufwertung von Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt und der Rückbau der technischen und so- zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden. Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge- löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun- ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge- fährdet werden. Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag der christ- lich-liberalen Koalition. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende des letzten Jahres gab es insgesamt 780 000 Wohnungen in Deutschland, die leer standen, Tendenz steigend. Das heißt, 3,7 Prozent, also fast 4 Prozent des deutschen Wohnraums waren nicht vermietet. Das ist marktökono- misch ein Problem, volkswirtschaftlich und vor allem sozial. Aber dieser Leerstand muss differenziert betrach- tet werden, um am Ende zu einer differenzierten Lösung zu gelangen. Die Analysen der Marktforschung sagen uns natürlich mehr: Von den 780 000 Wohnungen sind 380 000 Woh- nungen in Ostdeutschland leer. Das sind 6,6 Prozent im Vergleich zu 2,7 Prozent im Westen. Damit scheint das Sorgenkind ausgemacht: Betroffen sind vor allem die so- zialistischen Plattenbausiedlungen, betroffen sind die Rechtsnachfolger der DDR-volkseigenen Wohnungs- baugesellschaften. Diese Unternehmen leiden erstens am Leerstand, an einer unattraktiven Wohnsubstanz und zweitens an der Kreditlast der Planwirtschaft. Aber auch das ist wieder nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig zei- gen Studien, dass sich die Leerstandsquoten Ost und West seit 2001 annähern. Das ist die Sach- und Fakten- lage. In dem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag des BMVBS – das ist schon mehrfach hier angeklungen – wurde der Wohnungsmarkt untersucht. Es kommt zu ei- nem Ergebnis. Das Ergebnis ist unter anderem begrü- ßenswert: Die Ertragslage der ostdeutschen Wohnungs- unternehmen hat sich im Wesentlichen verbessert. Diese Gutachten wurden übrigens vom GdW und von Haus & Grund begleitet. Das Gutachten besagt weiter: Noch nie ging es der ostdeutschen Wohnungswirtschaft so gut. (Zuruf von der FDP: So ist das!) Für 200 Wohnungsunternehmen stehen bis 2013 noch rund 170 Millionen Euro bereits bewilligte Mittel zum Abruf bereit. Die Frage ist nun: Soll die Altschuldenhilfe über das Jahr 2013 hinaus fortgeführt werden? (Hans-Joachim Hacker [SPD]: 2012!) – 2013 gibt es ja noch Mittel. Man muss erst einmal ab- rufen. Aber darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr Kollege Hacker. Kolleginnen und Kollegen, seriös kann ich Ihnen da- rauf heute, vor dem Sommer des Jahres 2011, keine ver- bindliche Antwort geben. Vielmehr vertrete ich die Auf- fassung, dass wir uns in 2012 die Situation in den 12740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Petra Müller (Aachen) (A) (C) (D)(B) ostdeutschen Ländern erneut ansehen müssen, den Abru- fungsstand der Mittel betrachten und danach seriöse Ent- scheidungen treffen. Fakt ist: Die Altschulden machen heute gut 20 Prozent der langfristigen Verbindlichkeiten der Woh- nungsunternehmen in Ostdeutschland aus. Damit gefähr- den die Altschulden diese Unternehmen nicht. Dement- sprechend ist es für eine Fortführung des Stadtumbaus nicht zwingend notwendig, die Altschuldenhilfe nach 2013 weiter fortzuführen; denn sie werden bis dahin ab- nehmen. Zudem erfolgen zurzeit in Ost und in West wei- tere Abrisse, ganz einfach aus betriebswirtschaftlichen Gründen, weil damit die Leerstandskosten reduziert wer- den. Es werden auch sanierte Gebäude abgerissen. Das sind ganz normale Vorgänge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich an dieser Stelle nicht falsch. Als fast einzige Rednerin zu diesem Thema komme ich nicht aus dem Osten. Die Problematik der Altschuldenhilfe habe ich sehr wohl verstanden. Aber ich möchte Sie darum bitten, das empirica-Gutachten ohne Vorbehalte und ohne Vorur- teile zu lesen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, sich zu bemühen, die Altschuldenhilfe fortzuführen. Sie können sicher sein: Bemühen werden wir uns. Die christlich-liberale Koalition wird mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ weiterhin erfolgreich und kontinuier- lich die Probleme der Städte und Gemeinden lösen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kurz ist es eben bei meinen Vorrednern schon ange- klungen: Diese Probleme resultieren nicht aus den Alt- schulden; sie resultieren aus den momentanen Wand- lungsprozessen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aus beidem!) Diese sind in ganz Deutschland zu beobachten. Ich rede von Schrumpfungsprozessen im Osten genauso wie im Westen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Schrump- fungsprozesse in den nächsten Jahren durch die ganze Republik fortsetzen werden. Das hat etwas mit der Be- völkerungsentwicklung und mit dem demografischen Wandel zu tun. Diese Tatsache müssen wir für ganz Deutschland akzeptieren. Städtebaulich und politisch ist das selbstverständlich zu begleiten, aber es ist 20 Jahre nach der deutschen Einheit einfach Normalität. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Stärkung der Innenstädte, Nahverdichtung, Rückbau von Splittersiedlungen, das ist langfristig der einzig gangbare Weg. Deshalb sollten wir in puncto Altschul- den auch über eine Kopplungsregelung nachdenken: Es wird eine Altschuldenhilfeentlastung gewährt, wenn ein Unternehmen Wohngebäude ab dem Baujahr 1949 oder 1950 abreißt und den Entlastungsbetrag in die Sanierung von Wohngebäuden in den Innenstädten, die nämlich ge- stärkt werden müssen, investiert. Auch das ist übrigens ein Ergebnis des Gutachtens. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja, das unter- stützen wir auch!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab- schließend ganz schnell noch eine Bemerkung machen. Alles will finanziert werden, auch die Altschuldenhilfe. Angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung räumen wir der Städtebauförderung und damit dem „Stadtumbau Ost“ absolute Priorität ein. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das zeigt sich nicht in den Zahlen!) Der „Stadtumbau Ost“ erreicht einen großen Adressaten- kreis, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Der Haushalt sieht anders aus!) wirkt spezifisch und punktgenau und erhält den Kommu- nen und Regionen heimatbezogene Gestaltungshoheit. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Frau Müller, der Haushalt! Schauen Sie doch einmal in den Haushalt hinein!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die Anträge lehnt die FDP-Bundestagsfraktion ab. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Müller, früher habe ich immer Herz- klopfen bekommen, wenn ich hierher musste, weil ich so aufgeregt war, hier zu reden. Heute habe ich Herzklop- fen bekommen, als ich Ihrer Rede folgen musste, aber nicht deshalb, weil sie so gut war, sondern deshalb, weil sie mich beschämt. Ich verzeihe Ihnen das aber, weil Sie eben nicht aus den neuen Bundesländern kommen. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ich bin der größte anzunehmende Wessi! Ich weiß!) Mehr als ein Jahr ist es schon her, dass wir uns hier im Plenum mit dem Thema Altschulden befasst haben. Seit- dem hat es eine Reihe von Debatten, Expertengesprä- chen, Anhörungen und neuen Anträgen gegeben, zuletzt ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gut- achten, das hier mehrfach angesprochen wurde, dazu wieder Stellungnahmen und noch eine Anhörung. Im Ergebnis sind wir bisher keinen Millimeter weiterge- kommen. Dabei haben Sie selbst in den Koalitionsver- trag geschrieben, dass der Stadtumbau in den neuen Bundesländern nicht durch ungelöste Altschuldenpro- bleme gefährdet werden soll. Aber genau das tun Sie. Entgegen allen im vergange- nen Jahr eingeholten Expertenmeinungen, entgegen den Stellungnahmen aus der Wohnungs- und Immobilien- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12741 Heidrun Bluhm (A) (C) (D)(B) wirtschaft, entgegen den Forderungen der ostdeutschen Bauminister, vieler Kommunalpolitiker, des Deutschen Städtetages, entgegen auch den Schlussfolgerungen Ih- res eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens „Altschul- denhilfe und Stadtumbau“ ignoriert diese Bundesregie- rung hartnäckig die Realität in vielen ostdeutschen Städten, (Patrick Döring [FDP]: Sie haben das Gutach- ten nicht verstanden! Sie haben noch über 100 Millionen zur Verfügung!) die ohne Altschuldenentlastung der Wohnungsunterneh- men den notwendigen Stadtumbauprozess zukünftig nicht mehr werden schultern können und deswegen in eine neue Abwärtsspirale kommen, nachdem sie die erste so halbwegs überlebt haben. (Patrick Döring [FDP]: Erst einmal die Mittel abrufen, die da sind!) Sie feiern heute auch noch, dass es ihnen heute etwas besser geht, aber Sie sorgen dafür, dass es ihnen morgen wieder schlechter geht. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Es sind doch Mittel nicht abgerufen! Wir können über Ihre persönlichen Interessen bei der Frage sprechen!) Die demografische Entwicklung, speziell in Ost- deutschland, produziert dort eine neue Leerstandswelle. (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Stadtumbau und Altschuldenhilfe sind zwei verschiedene Dinge!) Wachsender Leerstand verschärft die wirtschaftliche Si- tuation vieler Wohnungsunternehmen und schwächt ihre Kreditwürdigkeit, und auch das wissen Sie. Leerste- hende Häuser, selbst in besten Innenstadtlagen, suchen heute Investoren und halten die Mieter nicht vom Weg- zug ab. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das hat aber doch mit der Altschuldenhilfe nichts zu tun! Das ist der demografische Wandel! – Patrick Döring [FDP]: Das ist der blanke Lobbyis- mus!) Dass ein CSU-Politiker aus Traunstein das nicht verste- hen kann oder will, ist vielleicht noch verständlich, aber wenn ein CDU-Politiker aus dem Wahlkreis Greiz – Al- tenburger Land oder Politiker aus der FDP aus den neuen Bundesländern das nicht sehen können, sind sie blind oder für die Probleme ihres Wahlkreises nicht of- fen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Natürlich sehen wir das! – Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Wir werden Lösungen finden!) Das Streichen der noch verbliebenen 7,6 Milliarden Euro Altschulden – so beziffert sie das Gutachten des Bauministeriums – könnte ein eigenes Konjunkturpro- gramm sein. (Patrick Döring [FDP]: Ja, da sprechen wir mal über Ihre persönlichen wirtschaftlichen Interessen!) Wie bei der Städtebauförderung würde die so gewon- nene Investitionskraft der Wohnungsunternehmen ein Vielfaches an Investitionsvolumen mobilisieren und nicht nur den Stadtumbau schlechthin am Leben erhal- ten, (Beifall bei der LINKEN) sondern zugleich ein Grundstock an Eigenkapital für den dringend notwendigen ökologischen und barrierefreien Umbau des Wohnungsbestandes und für die ebenso not- wendige Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus sein. (Sebastian Körber [FDP]: Was hat das denn mit den Altschulden zu tun?) Die Begründung, warum eine Streichung der Alt- schulden angeblich nicht möglich sein soll, ist wirklich abenteuerlich. Ich zitiere hier den Minister Ramsauer aus der Leipziger Volkszeitung vom Februar dieses Jah- res: Angesichts der Haushaltskonsolidierungsvorgaben sieht die Bundesregierung gegenwärtig die Priorität bei der Finanzierung der Städtebauförderung. Ich habe das dreimal gelesen und mir dann überlegt, doch zu lachen. Eigentlich müsste man über so viel Ver- logenheit des Fachministers weinen. Meine Damen und Herren, den Antrag der SPD leh- nen wir ebenfalls ab, und bei dem der Bündnisgrünen werden wir uns enthalten, weil beide die Bundesregie- rung beauftragen wollen, eine neue bzw. andere Fortfüh- rung für die Altschuldenentlastung zu finden. Dieses Grundvertrauen haben wir nicht. Dafür bietet die Linke eine Lösung: Streichen Sie die Altschulden! (Patrick Döring [FDP]: Woher nehmen wir die 6 Milliarden?) Die Bundesregierung hat bisher nichts vorgelegt und wird es auch nicht tun. Der Fachminister kann es einfach nicht. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Die Altschuldenhilfe war lange ein wohnungswirt- schaftliches Instrument. Es ging also darum, bestimmten Wohnungsunternehmen das Überleben zu sichern. Ich sehe die Altschuldenhilfe heute aber als städtebauliches Instrument. Wer will, dass das Programm „Stadtumbau Ost“ erfolgreich sein soll, der muss die Altschuldenhilfe über das Jahr 2013 hinaus verlängern. (Patrick Döring [FDP]: Quatsch!) 12742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Stephan Kühn (A) (C) (D)(B) Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ziele des Programms „Stadtumbau Ost“: Die Sanierung der Alt- bausubstanz soll verstärkt werden und eine Aufwertung der Innenstadtbereiche stattfinden. Gleichzeitig – das ist auch ein Beschluss des Bundestages – sollen weitere 200 000 bis 250 000 Wohnungen vom Markt genommen werden. Wenden wir uns dem empirica-Gutachten zu: Dort wird deutlich, dass Unternehmen, die abgerissen haben, solche Unternehmen waren, die die Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten. 90 Prozent der Abrisse wa- ren Abrisse von Unternehmen, die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen haben. Rückbaupotenziale – so steht es auch in dem Gutachten – haben aber im Wesent- lichen nur noch die Unternehmen, die bisher keine Alt- schuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten. (Patrick Döring [FDP]: Aber die machen heute Gewinne! Anders als vor zehn Jahren!) Das sind rund zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungs- unternehmen. Wenn sie nicht von Altschulden entlastet werden, werden sie nicht zurückbauen; denn sie bleiben schließlich auf diesen Schulden sitzen. Dies erklärt auch die rückläufigen Abrisszahlen und berührt damit natürlich auch die Frage, ob das Ziel des Stadtumbaus Ost an dieser Stelle erreicht werden kann. Waren 2005 noch 60 000 Wohnungseinheiten rückge- baut worden, waren es im vergangenen Jahr gerade noch 13 000. Es ist klar, dass angesichts des demografischen Wan- dels in Ostdeutschland weiterer Rückbau notwendig ist. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Den demogra- fischen Wandel gibt es überall!) Insbesondere in den Schrumpfungsregionen Ostdeutsch- lands befinden sich die Wohnungsunternehmen, die be- sonders stark von den Altschulden betroffen sind. Dies sollten wir bei der Debatte beachten. Hier liegt eine dop- pelte Belastung vor: einerseits angesichts schrumpfender Märkte geringere Mieterlöse und andererseits drückende Altschulden, die summa summarum zu einer Investiti- onsbremse führen. Wir wollen aber, dass sich alle Unter- nehmen an der energetischen Sanierung und an dem Thema barrierefreies und altengerechtes Wohnen beteili- gen. (Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul- denhilfe nichts zu tun!) Dies gelingt ihnen nicht, wenn sie keine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür vorfinden. Das empirica-Gutachten macht meines Erachtens ei- nen sehr intelligenten Vorschlag. Es sagt nämlich, alle Unternehmen könnten künftig Altschuldenhilfe in An- spruch nehmen, und der Entlastungsbeitrag wird eins zu eins in die Altbaubestände in den Innenstädten inves- tiert. Wir schlagen zusätzlich vor: oder auch in Quar- tiere, die gemäß entsprechender integrierter Stadtent- wicklungskonzepte dauerhaft für die Wohnraum- versorgung notwendig sind. Ein solcher Vorschlag wird in der Wohnungswirtschaft begrüßt. Dort sagt man, man wolle das Geld nicht in den Schuldendienst stecken, son- dern investieren. Dies wollen wir natürlich auch. Wenn man sich die volkswirtschaftlichen Aspekte anguckt, er- reichen wir damit natürlich auch eine Hebelwirkung, wie es bei der Städtebauförderung der Fall ist. Zu den Kosten: Uns ist auch klar – ich sitze im Haus- haltsausschuss –, 7,6 Milliarden Euro wird man ange- sichts der Haushaltsrahmenbedingungen nicht berappen können. Für eine Verlängerung der Altschuldenhilfe steht in Rede, dass sie bis 2016 zu neuen Kosten von 600 Millionen Euro führt. Das bedeutet, dass alle Rück- baumaßnahmen mit Altschuldenhilfe erfolgen und dass es innerhalb von fünf Jahren möglich ist, dieses Volu- men von 200 000 bis 250 000 Wohneinheiten zurückzu- bauen. Das halte ich für nicht mehr realistisch, auch an- gesichts der momentanen Rückbauzahlen. Es wird also ein wesentlich längerer Zeitraum in Anspruch genom- men werden müssen. Entsprechend ist dann auch die Be- lastung durch die Gewährung einer Altschuldenhilfe ge- ringer. 79 Millionen Euro stehen in diesem Haushalts- jahr für die Altenschuldenhilfe bereit. Wenn man davon ausgeht, dass man den weiteren Rückbau über einen län- geren Zeitraum als bis 2016 strecken muss, dann wird deutlich, dass keine neuen Haushaltsbelastungen existie- ren, sondern dass man sozusagen das Niveau der bisher gezahlten Altschuldenhilfe in dieser Höhe wird fort- schreiben können. Im Koalitionsvertrag – das ist schon zitiert worden – wird klar gesagt: Der Erfolg des Stadtumbaus Ost soll nicht durch die ungelöste Altschuldenproblematik ge- fährdet werden. Aber genau das droht unserer Ansicht nach. Ich frage mich, wozu wir ein Gutachten machen lassen, wenn die darin formulierten Empfehlungen nicht aufgegriffen werden. Ich habe auch kein Verständnis, wenn Lösungen auf dem Tisch liegen, dass wir das wei- ter beobachten und noch einmal evaluieren. Das ist nicht die Schlussfolgerung, die man aus dem Gutachten zie- hen kann. Zudem brauchen die Unternehmen langfris- tige Planungssicherheit. Sie ist unter der Bedingung der ungeklärten Frage, wie es mit der Altschuldenhilfe wei- tergeht, nicht gegeben. Die Ostministerpräsidenten haben sich klar geäußert. Sie treten für die Fortführung der Altschuldenhilfe ein, also für eine Anschlussregelung. Das können wir heute beschließen, meine Damen und Herren, denn dazu liegt ein Antrag von uns vor. Ich freue mich, wenn Sie diesem Antrag zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Frak- tion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Götz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstrit- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12743 Peter Götz (A) (C) (D)(B) tig: Zahlreiche Städte und Gemeinden sind von einem nachwirkenden demografischen und wirtschaftlichen Strukturwandel betroffen. Das gilt vor allem im Osten unseres Landes. Mit dem 2002 aufgelegten Programm „Stadtumbau Ost“ konnte viel zur Stabilisierung, Rückgewinnung und Sicherung des Lebensumfeldes der Menschen erreicht werden. Die Altschuldenhilfe war dabei eine wichtige Unterstützung. Sie gab den begünstigten Wohnungsun- ternehmen – ich betone, den begünstigten Wohnungsun- ternehmen – einen sehr positiven Schub. Die Entlastung von Altschulden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften sowie die kommunalen Wohnungsgesellschaften heute erheblich besser dastehen als jemals zuvor in ihrer Geschichte. Viele von uns erinnern sich noch: Nach dem Zusam- menbruch des Kommunismus und dem Ende des Sozia- lismus in der DDR vor 20 Jahren lagen die Altschulden bei über 30 Milliarden Euro. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: D-Mark!) Davon hat der Steuerzahler bis heute mehr als die Hälfte übernommen. Ich meine, diese großartige Solidarleis- tung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger unse- res Landes für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft soll- ten wir zunächst einmal dankbar anerkennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Diesen Dank an den deutschen Steuerzahler verbinde ich auch gerne mit einem Dank an die vielen deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die durch ihr Engagement die Wohnqualität in den Städten und Ge- meinden maßgeblich aufgewertet haben. Kombiniert mit Fördermitteln vor allem aus dem Programm „Stadtum- bau Ost“ wurde in vielen ostdeutschen Kommunen die Innenentwicklung zu einem echten Erfolgsmodell. So hat dieses Programm circa 400 Städten und Gemeinden bei der Bewältigung des Strukturwandels sehr geholfen. Mein Kollege Vogel, aber auch meine Kollegin Müller haben darauf hingewiesen. Nur noch einmal zur Erinnerung, Frau Kollegin Bluhm: In der Vergangenheit wurden die Fördermittel für die Altschuldenhilfe mehrmals – ich betone: mehr- mals – auf über 1,1 Milliarden Euro aufgestockt, und bislang sind, was vorhin auch gesagt worden ist, die Gel- der überhaupt nicht in diesem Umfang abgerufen. Es ist richtig, dass wir in nächster Zeit einige Fragen beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Gibt es nach dem Auslaufen der Befristung ab 2013 – nur zur Erinne- rung: Wir befinden uns im Jahr 2011 – einen Anschluss? Die zweite Frage ist: Wie sieht dieser Anschluss gegebe- nenfalls aus? Herr Kollege Hacker, zu Ihrer Beruhigung: Sie kön- nen davon ausgehen, dass wir eine gute Lösung finden werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das wiederholt zitierte empirica-Gutachten kam übri- gens zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Alt- schuldenentlastung für den Erfolg des Programms „Stad- tumbau Ost“ nicht zwingend erforderlich ist. Für uns in der Union geht es in Zukunft primär um städtebauliche Kriterien und weniger um Kriterien für Unternehmen; denn sonst müssten wir zu Recht auch der Frage nachge- hen, was mit den vielen privaten Eigentümern geschieht, die keine Altschuldenentlastung erhalten haben. Nach dem Ergebnis des empirica-Gutachtens hat sich die Ertragslage ostdeutscher Wohnungsunternehmen – auch das ist unstrittig – wesentlich und kontinuierlich verbessert. Deshalb ist es nur konsequent, wie dort vor- geschlagen wurde, den Schwerpunkt auf die Sanierung der Altbauten in den Innenstädten zu legen. Dies kommt unseren Zielen – Herr Kollege Hacker, Sie hatten vorhin dieses Thema angesprochen –, die wir uns in diesen Ta- gen im Zusammenhang mit der energetischen Stadtsa- nierung gesteckt haben, weit entgegen. Wir wollen und sollten unsere Förderkulisse bei den Städtebauförderprogrammen neu definieren. Deshalb wollen wir erreichen, dass wir die Städtebauförderung im kommenden Jahr auf dem diesjährigen Niveau von 455 Millionen Euro verstetigen. Wichtig ist dabei, dass der eindeutige Schwerpunkt auf die Innenentwicklung unserer Städte und Gemeinden gelegt wird. Wir, das heißt Bund, Länder und Gemeinden, müssen in gemein- samer Anstrengung gute Rahmenbedingungen für urba- nes Leben in den Orts- und Stadtteilzentren setzen und die Städte und Gemeinden dabei nach Kräften unterstüt- zen. Neben den zunehmend wichtiger werdenden Themen der energetischen Sanierung dürfen wir auch die Baukul- tur nicht aus den Augen verlieren. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns unsere vielen Programme genau anschauen und prüfen, wie wir insge- samt die Effizienz steigern können. Der Stadtumbau wird dabei auch in Zukunft eine ganz wichtige, entschei- dende Rolle spielen, und zwar – das sage ich bewusst – im Osten, aber auch im Westen unseres Landes. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält Kollegin Heidrun Bluhm. (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kann sie uns erklären, wo sie arbeitet!) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Döring hat während meiner Rede mit seinem Zwi- schenruf zumindest suggeriert, dass ich persönliche wirt- schaftliche Interessen haben könnte, mich für die Strei- chung der Altschulden einzusetzen. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ist das so?) Ich erkläre hiermit, dass ich bisher weder ein Woh- nungsunternehmen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft geleitet habe noch eins gekauft habe. 12744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Heidrun Bluhm (A) (C) (D)(B) Ich erkläre hiermit, dass ich von Altschulden selbst nirgendwo belastet bin und dass ich nur und ausschließ- lich parteipolitisch, meinem Fachgebiet entsprechend, mit meiner Sachkompetenz für die ostdeutschen Bundes- länder hier für meine Fraktion gesprochen habe. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind eine Altlast!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5000. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1154 mit dem Titel „Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei- den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom- men. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1148 mit dem Ti- tel „Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunterneh- men streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- men. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- tel „Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunter- nehmen neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5124, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4698 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor- schriften – Drucksachen 17/4984, 17/5392 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) – Drucksache 17/5953 (neu) – Berichterstattung: Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Kerstin Tack Dr. Christel Happach-Kasan Karin Binder Friedrich Ostendorff b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ur- sachen bekämpfen – Drucksachen 17/5377, 17/5953 (neu) – Berichterstattung: Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Kerstin Tack Dr. Christel Happach-Kasan Karin Binder Friedrich Ostendorff Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alois Gerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittel- sicherheit ist ein hohes Gut. Die christlich-liberale Koalition hat bewiesen: Wir handeln schnell und ent- schlossen, wenn es darum geht, Sicherheitslücken zu schließen. Zum Jahreswechsel 2010/11 wurden durch kriminelle Machenschaften Futtermittel mit Dioxin verunreinigt. Der Dioxinskandal hat eine große mediale Welle verur- sacht und die Verbraucher verunsichert. Wie wir heute alle wissen, bestand glücklicherweise zu keinem Zeit- punkt eine gesundheitliche Gefahr für die Menschen. Die Behörden haben länderübergreifend schnell, konse- quent und umsichtig reagiert. Bereits im Januar hat sich Frau Bundesministerin Ilse Aigner mit den Ländern auf den „Aktionsplan Verbrau- cherschutz in der Futtermittelkette“ verständigt und wich- tige Anstrengungen zum Thema auf EU-Ebene initiiert. Die Bundesregierung hat im März eine Rechtsverordnung auf den Weg gebracht, die die Futtermittelkontrolle aus- weitet, eine Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe einführt und eine Trennung der Produktionsströme für technische und nichttechnische Fette vorschreibt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12745 Alois Gerig (A) (C) (D)(B) Heute beraten und entscheiden wir über Änderungen im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch mit dem Ziel, weitere wichtige Punkte des Aktionsplans umzuset- zen. Gleichwohl möchte ich schon anmerken, dass kri- minelle Energie auch damit nicht gänzlich verhindert, aber durch das Engerziehen des Netzes deutlich einge- dämmt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier die wichtigsten Inhalte, verbunden mit dem Dank an Frau Aigner und das BMELV für die rasche Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs: Künftig müssen Lebensmittel- und Futtermittelher- steller sowie Laboratorien gesundheitsbedenkliche Stoffe, die sie in untersuchten Lebens- oder Futtermitteln fest- gestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Die Meldepflicht besteht unter anderem für Dioxine und Fu- rane. Dioxinprobleme können durch dieses Monitoring somit früher als bisher erkannt und Gegenmaßnahmen können schneller eingeleitet werden. Eigenkontrollen haben sich allgemein in der Wirtschaft etabliert und be- währt. Ich möchte darauf hinweisen, dass auch dieser Dio- xinskandal durch die Eigenkontrolle eines Unterneh- mens aufgedeckt wurde. Wichtig ist dabei allerdings schon, dass die Unternehmen aufgrund der Kontroller- gebnisse nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden. Vorschnell veröffentlichte Eigenkontrollergebnisse, die sich häufig auf Vorprodukte beziehen, würden zu einer erheblichen Verwirrung führen. Die Sanktionsmöglichkeiten des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzes werden deutlich ausgeweitet. Dies wird durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfrak- tionen erreicht: Der Bußgeldrahmen wird verdoppelt. Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat geahndet, und schwere Verstöße werden künftig sogar mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe belegt. Und dies ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte in Erinnerung rufen: Der Dioxinskandal führte bei Verbrauchern verständlicherweise zu starker Verunsicherung und Kaufzurückhaltung. Der damit ein- hergehende Preisverfall war ein schwerer Schlag für die Unternehmen der gesamten Land- und Ernährungswirt- schaft. Besonders betroffen waren landwirtschaftliche Familienbetriebe. Zeitweilig waren fast 5 000 Höfe ge- sperrt. So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen. Die Opposition sollte solche Vorfälle bitte nicht dazu missbrauchen, die herkömmliche Landwirtschaft infrage zu stellen und eine ökologische Agrarwende herbeizure- den. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir alle wissen genau: Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Die wichtigsten Botschaften an unsere Verbraucher müssen jetzt lauten: Unsere Landwirtschaft ist in der ge- botenen Vielfalt unverzichtbar, um die Verbraucher mit bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen. Deutsche Le- bensmittel sind weltweit mit die sichersten; die Kontrol- len sind dicht und streng. Absolute Sicherheit vor krimi- nellen Machenschaften gibt es nicht. Kaufen Sie bewusst ein. Stärken Sie zum Beispiel mit einem gezielten Griff ins Lebensmittelregal die heimische Produktion. Eine abschließende Bitte an die Opposition. Gefähr- den Sie durch überzogene Forderungen nicht die Nah- rungsmittelproduktion in deutschen Landen. Dies kann zu empfindlichen Fehlentwicklungen und zu Produk- tionsverlagerungen führen, wie wir das im Bereich der Hühnerhaltung erlebt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Sonst sind am Ende die Verbraucher, die wir alle doch schützen wollen, die Verlierer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Koalition lässt es nicht zu, dass schwarze Schafe das Ansehen der deutschen Land- und Ernährungswirt- schaft schädigen. Es geht auch um den Erhalt der Be- triebe und um die dazugehörigen Arbeitsplätze. Darüber hinaus schützen wir die Gesundheit der Verbraucher und stärken ihr Vertrauen in deutsche Lebensmittel. Ich bitte Sie: Stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Tack (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns heute abschließend in zweiter und dritter Beratung mit der Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbu- ches. Es gibt zwei Punkte aus dem 14-Punkte-Plan, die die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vor vier Monaten im Zuge des Dioxinskandals vereinbart hat. Ich möchte betonen: vor vier Monaten. Es wurde nämlich behauptet, man sei fix gewesen. Zur Verdeutli- chung: Es ist bereits vier Monate her. (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Danke für die Anerkennung!) Mit der Gesetzesänderung wird die Meldepflicht für private Labore festgeschrieben. Künftig müssen sie be- denkliche Mengen an gesundheitsgefährdenden und da- her nicht erwünschten Stoffen, die sie in untersuchten Lebens- und Futtermitteln feststellen, an die zuständigen Behörden melden. Ferner werden die Lebens- und Fut- termittelunternehmen verpflichtet, den zuständigen Be- hörden ebenfalls Ergebnisse der Eigenkontrollen mitzu- teilen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Gesetzesinitiative ausdrücklich, weil sie Teil des schon Anfang des Jahres von uns vorgelegten Aktionsplanes gewesen ist, den die Bundesregierung in weiten Teilen übernommen hat. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: So kann man es auch sehen!) 12746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Kerstin Tack (A) (C) (D)(B) Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunter- nehmen, Ergebnisse der Eigenkontrollen an die zuständi- gen Behörden zu melden, ist ein Fortschritt. Allerdings sind noch weitere strenge Kontrollen von Futterfetten vorzuschreiben, und die Hersteller müssen verpflichtet werden, jede Charge beproben zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Futtermittelfette sind als Haupteingangsquelle der fettlöslichen Dioxine besonders sensibel; sie sind deshalb schärfer zu überwachen. Auch muss eine offene und voll- ständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe um- gesetzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen können. Mit der Meldepflicht für die privaten Labore werden diese ganz besonders in die Informationskette des aufzu- bauenden Frühwarnsystems einbezogen; ihnen wird eine neue Beteiligungsrolle zugeschrieben. Die Meldepflicht bedeutet auch eine neue Herausforderung hinsichtlich der Gestaltung der Aufträge der Unternehmen an die La- bore; denn bisher waren die Labore oft nicht unterrich- tet, was mit den Stoffen, die sie zur Beprobung bekom- men hatten, tatsächlich passieren sollte. Das wird sich künftig, wenn die Labore in die Mitteilungskette einbe- zogen werden, deutlich ändern müssen. Auch war bisher die Beurteilung der Ergebnisse nicht Teil des Laborauf- trages. Vielmehr ging es ausschließlich um die Mittei- lung der Untersuchungsergebnisse. Die notwendige Rechtsverordnung, die jetzt dieses Gesetz untermauern soll, ist besonders wichtig. Wir er- warten deswegen eine Vorlage dieser Rechtsverordnung noch vor der Sommerpause; denn die Labore sind verun- sichert. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber 2011, bitte!) – Genau, vor der Sommerpause 2011; davon gehe ich aus. – Die Labore wissen in der Regel nicht, wie sie das Gesetz umzusetzen haben. Die Bundesregierung bleibt die Vorlage schuldig. Eines ist klar und wichtig: Dieses Gesetz beschreibt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 14-Punkte-Plan. Mit den ergriffenen Maßnahmen, die hier heute zur Be- schlussfassung stehen, wird keine bessere Information der Verbraucherinnen und Verbraucher verwirklicht. Die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit wird nicht deut- lich erhöht. Der Verwaltungsvollzug wird nicht effizien- ter. Der Informationsfluss zwischen Gemeinden, Län- dern und Bund wird nicht effektiv und wirksam verstärkt. Dazu sind weitere Maßnahmen erforderlich, auf deren Vorlage wir noch warten. Die Novellierung des Verbraucherinformationsgeset- zes muss endlich erfolgen. In der Novelle muss geregelt werden, dass sämtliche Untersuchungsergebnisse der be- trieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Unter- suchungsergebnisse in aufgearbeiteter Form in einer Da- tenbank veröffentlicht werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Um die aktive Information der Verbraucherinnen und Verbraucher über Grenzwertüberschreitungen zu ge- währleisten, müssen die Behörden verpflichtet werden, Untersuchungsergebnisse von sich aus zu veröffentli- chen. Hierzu ist § 40 LFGB in das Verbraucherinforma- tionsgesetz zu integrieren und die Sollvorschrift in § 40 LFGB in eine Istvorschrift umzuwandeln. Die Ab- wägungsklausel ist zu streichen. Auf einer Internetseite sind Ross und Reiter sehr deutlich zu benennen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie- rung ist auch noch die Vorlage einer Positivliste schul- dig. Diese soll auf europäischer Ebene verbindlich fest- gelegt werden; das ist richtig. Aber wir unterstützen ganz ausdrücklich die Forderung, die die Bundesländer der Bundesregierung gestellt haben: Wenn wir auf der europäischen Ebene zu keiner Lösung kommen, dann muss es eine nationale Lösung für die Positivliste geben. Wir unterstützen die Bundesländer auch darin, zu sagen: Wenn eine Umsetzung in Europa bis Sommer 2011 nicht möglich ist, dann erwarten wir eine nationale Regelung und bitten die Bundesregierung, diese hier vorzulegen. Eine besondere Herausforderung besteht auch und ge- rade bei der Schaffung von Haftungsregelungen. Die Landwirte, die letztendlich die Opfer und Leidtragenden des Dioxinskandals waren, sind beträchtlich zu Schaden gekommen; dieser Schaden ist bisher nicht abgegolten. Deshalb brauchen wir hier schnellstmöglich und drin- gend Vorschläge, wie eine Haftungsregelung in Zukunft aussehen kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist vernünftig, wenn die Bundesregierung jetzt sagt: Wir wollen uns mithilfe einer Studie weiter beraten lassen. Ich warne aber davor, hier zu viel Zeit ins Land gehen zu lassen. Bisher hat es nicht einmal eine Vergabe gegeben. Wir können uns aber vorstellen, dass ein neuer Skandal kommt, vielleicht auch in geringerer Dimen- sion. Dann hätten wir jedoch nichts auf den Weg ge- bracht. Insofern gehen wir davon aus, dass der Bundes- regierung die richtige Zeitschiene sehr wohl bekannt ist: Es muss zügig gehandelt werden. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre- gierung auch auf, die Umstände des Dioxinskandals zum Anlass zu nehmen, einen Gesetzentwurf zur Regelung des Informantenschutzes vorzulegen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die zuständigen Behörden über Missstände im eigenen Betrieb informieren, müssen ge- setzlich vor Benachteiligungen geschützt werden. Be- reits in der öffentlichen Anhörung des Verbraucheraus- schusses am 4. Juni 2008 ist die Notwendigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung deutlich geworden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12747 Kerstin Tack (A) (C) (D)(B) Wir brauchen eine gläserne Produktion und eine funk- tionierende Verbraucherinformation. Leider schützt die Koalition die Futtermittelpanscher und nicht die Ver- braucherinnen und Verbraucher. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ganz genau! – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist jetzt voll- kommener Blödsinn!) Sie schlägt nämlich vor, dass die Öffentlichkeit von Grenzwertüberschreitungen nichts erfährt, solange die so produzierten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gelan- gen. Wir wollen das nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deshalb schlagen wir in unserem Entschließungsantrag eine Veröffentlichungspflicht vor. Aus unserer Sicht sieht so eine vernünftige Verbraucherpolitik aus. Wir bit- ten daher um Unterstützung unseres Entschließungsan- trags. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des heute vorliegenden Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Fut- termittelgesetzbuchs kommen wir einen ganz bedeuten- den Schritt weiter bei der Umsetzung des 14-Punkte- Plans, den die Bundesregierung und die Länder gemein- sam beschlossen haben: unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel und Transparenz für den Verbrau- cher. Die überwiegende Zustimmung, jetzt auch vonsei- ten der SPD, bestätigt, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind. Das ist, glaube ich, gut. Zum Jahreswechsel ist entdeckt worden, dass ein Be- trieb Futterfette, die den zulässigen Höchstgehalt an Dioxin überschritten hatten, an 25 Futtermittelwerke weiterverkauft hat. Es muss herausgestellt werden: Die- ser Betrieb hat kriminell gehandelt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist das Problem, mit dem wir es im Augenblick zu tun haben. Wir haben es nicht mit einem Skandal, son- dern mit dem kriminellen Handeln eines Betriebes zu tun. In der Folge sind knapp 5 000 landwirtschaftliche Betriebe gesperrt worden. Wir müssen sehen, dass diese Betriebe wirtschaftliche Folgen zu tragen hatten. Es kam zu einem Preisverfall bei Eiern und Schweinefleisch, der die wirtschaftliche Situation dieser Betriebe erheblich belastet hat. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht festgestellt: Es bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Daher, Frau Tack, geht es an diesem Punkt nicht um Verbraucherschutz. Die Verbraucher waren nicht gefährdet. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja! Das kann man hinterher sagen!) Es geht vielmehr darum, dass wir es den Betrieben er- schweren, kriminell zu handeln, und dass wir die Folgen kriminellen Handelns eingrenzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es handelt sich also nicht um einen Skandal. Verbrau- cherschutz heißt im Übrigen: Wenn eine Gefahr besteht, dann muss gewarnt werden. Wenn keine Gefahr besteht, dann sind die Behörden aufgerufen, zu beruhigen. Auch wenn es keine Gefahr gegeben hat, sind wir uns alle darüber einig, dass Handeln geboten ist. Futtermittel sind Lebensmittel für Tiere. Abfallentsorgung durch den Tiermagen wollen wir nicht. Aber wir wissen auch: Kein Gesetz schützt vor kriminellem Handeln. Kriminelles Handeln muss erschwert werden; deswegen dieser Ge- setzentwurf. Wir müssen verantwortlich arbeitende Be- triebe schützen. Das erreichen wir mit einer Melde- pflicht für Labore, die jetzt eingeführt werden soll. Wir erhalten ein Dioxin-Monitoring, das uns in Zukunft bes- ser in die Lage versetzt, zu beurteilen, in welchen Regio- nen es Probleme gibt und in welchen nicht. Dioxine sind langlebige Umweltgifte. Ihr Entstehen kann nicht vollständig verhindert werden. Aber wir kön- nen feststellen, dass seit 1990 der Dioxingehalt in unse- ren Lebensmitteln gesenkt worden ist und heute nur noch ein Drittel des damaligen Wertes beträgt. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Da haben wir ja Glück gehabt!) Mein Kollege hat zu Recht herausgestellt, dass das Fehlverhalten dieses Betriebes nur wegen der Eigenkon- trollen eines Futtermittelwerkes entdeckt worden ist. Deswegen muss unsere Konsequenz lauten, dass wir die Eigenkontrollen stärken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Weg, den die SPD uns vorschlägt – Betriebe an den Pranger stellen und Denunziantentum fördern –, ist ge- nau der falsche Weg. Das dürfen wir nicht tun. Damit be- kommen wir keine Eigenverantwortung. Ich wiederhole: Was Sie von der SPD vorschlagen, ist genau der falsche Weg. (Beifall bei der FDP) Wir wissen, dass die Produzenten die Verantwortung für ihre Produkte tragen. Diese Verantwortung kann ih- nen niemand abnehmen. Wir wissen auch, dass Lebens- mittelkontrollen das Ziel haben, Fehlverhalten aufzude- cken und das Eigeninteresse der Unternehmen an der Qualität ihrer Produkte zu stärken. Anfang dieses Jahres hat man versucht, moderne Landwirtschaft mit dem kriminellen Fehlverhalten eines Betriebes in Schleswig-Holstein in Verbindung zu brin- 12748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Christel Happach-Kasan (A) (C) (D)(B) gen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen; er war schlicht und ergreifend falsch. Betroffen waren vor allem kleine Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst gemischt ha- ben. Moderne Landwirtschaft schont die Natur, vermei- det Arbeitsunfälle – ein, wie ich meine, ganz wichtiges Thema – und produziert qualitativ hochwertige Lebens- mittel. Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Bei dem Dioxinvorfall sprechen wir von einer kriminellen Hand- lung, die dazu geführt hat, dass eine Reihe landwirt- schaftlicher Betriebe existenziell gefährdet wurde. Die Verbraucherinnen und Verbraucher befanden sich zu kei- nem Zeitpunkt in irgendeiner Gefahr. Gleichzeitig wird landauf, landab über die Belastung von Gemüse mit EHEC-Bakterien diskutiert. Hier han- delt es sich um eine reale Gefahr. Inzwischen gibt es über 500 Erkrankungen und möglicherweise einige To- desfälle. Dieses Syndrom gefährdet die Menschen und kann langfristige Gesundheitsschäden zur Folge haben. Als Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz müssen wir uns davon freimachen, jeglichen sogenannten Skandalen hinterherzulaufen. Stattdessen müssen wir die Menschen vor den realen Gefahren schützen. Reale Gefahren im Lebensmittelbe- reich, liebe Kolleginnen von der SPD-Fraktion, sind ins- besondere Hygienemängel sowie Belastungen von Le- bensmitteln mit Bakterien. Gegen diese Gefahren hilft nur das Einhalten von Hygienevorschriften. Die Lebens- mittelhygiene gilt für den Bereich der Produktion, be- trifft aber auch jeden einzelnen Haushalt. Ich bitte Sie herzlich: Schützen Sie die Menschen vor den realen Gefahren und diskutieren Sie nicht die ver- meintlichen Gefahren. Das nimmt den Menschen Le- bensqualität und Vertrauen. An dieser Stelle will ich ganz deutlich die Vorwürfe vonseiten der SPD und der CDU/CSU gegenüber dem Robert-Koch-Institut zurück- weisen. Wir brauchen Fachbehörden, die fachlich arbei- ten und ihr fachliches Wissen der Öffentlichkeit mittei- len. Das hat das Robert-Koch-Institut zu Recht getan. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit, wenn Sie weiterhin Lebensmittel aus deutscher Produktion genie- ßen; denn sie sind ausgesprochen gut. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Karin Binder (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit unserer Le- bensmittel ist keine Geheimsache. Mögliche Schadstoff- belastungen sind keine Betriebsgeheimnisse. (Beifall bei der LINKEN) Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, zu erfahren, was in ihrem Essen ist und wie die Lebens- mittel erzeugt wurden. Nur ein offener Umgang mit In- formationen über den Herstellungsprozess und die Be- standteile unserer Lebensmittel sorgt letztendlich für einen sauberen Teller. Das ist für mich die zentrale Lehre aus dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres. Zur Verbesserung der Sicherheit unserer Lebensmittel hatten sich Bund und Länder auf einen 14-Punkte-Plan verständigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf geht zwar in die richtige Richtung, aber leider nur einen win- zig kleinen Schritt. Die Koalition greift in ihrem Gesetz- entwurf lediglich 2 von 14 Punkten dieses Plans auf und setzt damit nur einen Bruchteil der erforderlichen Maß- nahmen um. Die Linke hatte schon frühzeitig einen umfassenden Antrag zur Bewältigung des Dioxinskandals vorgelegt. Zur Vorsorge und Vermeidung ähnlich gelagerter Fälle müssen wir die richtigen Lehren aus dieser böswilligen Panscherei ziehen. Es gilt, die Ursachen zu bekämpfen, statt an den Symptomen herumzudoktern. (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Gehring, die Eigenkontrolle hat sich be- währt. Ich frage Sie nur, wie? Ein anderer Betrieb hat da- rauf aufmerksam gemacht, dass etwas falsch läuft. Das hat nicht die Eigenkontrolle bewirkt. Die Eigenkontrol- len müssen klaren Regelungen unterworfen werden. Vor allem müssen die Daten gemeldet werden, damit sofort reagiert werden kann. Wir brauchen die Verpflichtung der Labore. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Machen wir doch! – Franz-Josef Holzenkamp [CDU/ CSU]: Haben wir doch alles erledigt!) Es braucht eine verbindliche Verpflichtung. Es braucht dazu auch ein Register und eine Akkreditierung dieser Labore. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Haben Sie den Gesetzentwurf gelesen?) Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Betriebe aus dem Staub machen, indem sie ausländische Labore be- auftragen, die unseren Gesetzen nicht unterworfen sind. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein, das haben wir doch verhindert!) – Das steht nicht in Ihrem Gesetzentwurf. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Doch!) Ich will auf drei Punkte näher eingehen. Erstens. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die unter der Koalition von SPD und Grünen eingeleitete Reduzierung staatlicher Kontrollen und der vermeintli- che Ersatz durch Eigenkontrollen der Betriebe nach de- ren Regeln funktioniert nicht. Dieses Experiment hat das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gekos- tet. Die Linke möchte deshalb eine betriebliche Zertifi- zierung nach strengen gesetzlichen Vorgaben. Diese Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12749 Karin Binder (A) (C) (D)(B) müssen für die gesamte Erzeugungskette, vom Stall bis zur Ladentheke, gelten. (Beifall bei der LINKEN) Die daraus entstehenden Kosten sind auf die beteiligten Branchen umzulegen. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Und dann auf die Verbraucher!) Zweitens: Meldepflichten für die Labore ohne Hinter- türchen. Im Gesetzentwurf der Regierung wird eine Mel- depflicht für die Überschreitung von Grenzwerten oder unerlaubten Zusatzstoffen auf die privaten Labore be- schränkt. Wir möchten eine Ausweitung der Melde- pflicht auch auf private Zertifizierungssysteme, zum Beispiel auf QS, das Prüfsystem Qualitätssicherung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Register und Ähnliches habe ich schon angesprochen. Aber auch die Frage, wie die Unternehmen und La- bore überwacht werden sollen, wurde uns bisher nicht beantwortet. Die Kontrollbehörden der Länder sind schon heute überfordert. Einige Bundesländer befinden sich bereits in einer Haushaltsnotlage und werden weiter zu Einsparungsmaßnahmen gezwungen. In einem inter- nationalen Futtermittelmarkt und einer globalisierten Le- bensmittelindustrie ist deshalb eine finanzielle Beteili- gung des Bundes an diesen zusätzlichen Aufgaben der Länder unerlässlich. Drittens. Wissen ist Verbrauchermacht. Die wich- tigste Frage bleibt: Wie erfahren Verbraucherinnen und Verbraucher von Schadstoffbelastungen bei Lebensmit- teln? Die richtige Antwort könnte das Verbraucherinfor- mationsgesetz liefern. Hier sollte eine Pflicht zur Veröf- fentlichung durch die verursachenden Unternehmen, aber auch eine aktive Informationspflicht der damit be- fassten Behörden verankert werden. Nur dann können wir wirklich von Verbraucherschutz reden. Aber nach al- len bisherigen Anzeichen ist leider zu vermuten, dass Frau Aigner ihrem Ruf treu bleibt und über Ankündigun- gen nicht hinausgeht. Wir sagen nach wie vor: Den Behörden gemeldete Daten und Ergebnisse der Laboruntersuchungen der Be- triebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige Verbraucherinformationen. Das muss Bestandteil des Verbraucherinformationsgesetzes werden. Nur so wird Verbraucherschutz verbessert. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Punkte umfasst der Dioxinaktionsplan, der nach dem Dio- xinskandal im Januar dieses Jahres zwischen den Bun- desländern und Ministerin Aigner vereinbart wurde. Drei Punkte wollen Sie jetzt, nach vier Monaten, endlich umsetzen. Viele andere Punkte, darunter so zentrale Ziele wie die verbindliche staatliche Positivliste für Fut- termittel, die Transparenz für Verbraucher und die Pro- dukthaftung, werden weiterhin nicht umgesetzt. Zur Positivliste für Futtermittel erklärte Frau Aigner gestern, man sehe in Deutschland die etablierte Positiv- liste der Wirtschaft als sinnvolles und vertrauensbilden- des Instrument an und setze sich ansonsten für eine EU- weite Liste ein. Da Frau Aigner mit der Positivliste, wie wir alle wissen, in Brüssel gescheitert ist, bedeutet das doch, dass es keine verbindliche Positivliste geben wird, stattdessen die unverbindliche und ungenügende Liste der Wirtschaft. Damit sind Sie an diesem entscheidenden Punkt gescheitert. Die Transparenz für Verbraucher verschieben Sie auf die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, die Sie schon zigmal verschoben haben, weil Sie sich in der Ko- alition nicht einigen. Würden Sie es mit der Information der Verbraucher ernst meinen, müssten Sie heute unse- rem Änderungsantrag zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Durch die Schaffung eines neuen § 40 Abs. 1 a im Le- bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch schlagen wir Grünen eine gesetzliche Grundlage vor, um nachgewie- sene Rechtsverstöße unter Nennung des Namens des je- weiligen Unternehmens veröffentlichen zu können. (Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Das ist genau das, was Sie von der Koalition gestern im Ausschuss für den Gastronomiebereich vorgeschlagen haben. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja! Aber da ging es doch um etwas ganz anderes!) Meine Damen und Herren, was gilt bei Ihnen mehr: das Wort der Ministerin, die am 19. Januar dieses Jahres an diesem Pult sagte: „Wir sind zu Transparenz ver- pflichtet“, oder das Wort von Frau Happach-Kasan von der FDP, die gestern im Agrarausschuss sagte: „Wir ma- chen nichts, was nicht im Interesse der Unternehmen ist“? (Widerspruch bei der FDP – Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Quatsch! Das habe ich doch gar nicht gesagt! – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was? Den Nachweis will ich sehen!) Ihr Problem ist: Sie machen keine Politik für die Ver- braucher und keine Politik für die Bäuerinnen und die Bauern, sondern nur Politik für die Industrie. Ich möchte aus AGRA-EUROPE vom 9. Mai dieses Jahres zitieren: Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes …, Manfred Nüssel, baut bei den Neuerungen im Fut- termittelrecht nach der überstandenen Dioxin-Krise auf den Einfluss führender Agrarpolitiker der CDU. Vor Agrarjournalisten in Berlin nannte Nüssel dabei 12750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Friedrich Ostendorff (A) (C) (D)(B) vergangene Woche konkret den agrarpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz- Josef Holzenkamp, (Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!) den Abgeordneten Johannes Röring sowie den Staatssekretär … Peter Bleser. (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hört! Hört!) Nicht zuletzt bei ihnen hofft er auf ein offenes Ohr für die Belange der Branche. Natürlich, Herr Nüssel, haben diese Herren ein offenes Ohr für die Branche. Schließlich sind sie in vielfältiger und einzigartiger Weise Teil dieser Branche. Das Problem von Frau Aigner ist, dass sie von Agrar- funktionären eingekesselt ist, die jeden positiven Ansatz blockieren, egal ob beim Verbot der Käfighaltung von Hühnern, beim Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden, bei der Kampagne „Wahrheit und Klarheit“, bei der Charta für Landwirtschaft oder beim Dioxin-Aktions- plan. Jegliche Initiative der Ministerin wird von den ei- genen Leuten geblockt, boykottiert oder verwässert. Meine Damen und Herren von der Koalition, solange bei Ihnen Funktionäre der Agrarindustrie das Sagen ha- ben, (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was? Wer ist denn hier der Funktionär?) werden Sie keinen einzigen Lebensmittelskandal aufklä- ren, nichts zur Abschaffung der Massentierhaltung zu- stande bringen, keinen einzigen Missstand in der Land- wirtschaft beheben und weiterhin Agrarpolitik für die Agrarindustrie und nicht für die Bäuerinnen und Bauern machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat unsere Kolle- gin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzinterven- tion das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit zu ei- ner Kurzintervention. Lieber Kollege Ostendorff, ist es nicht so, dass wir gemeinsam festgestellt haben, dass die Verbraucherin- nen und Verbraucher beim diesjährigen Dioxinvorfall nicht gefährdet waren? Ist es nicht auch so, dass wir ge- meinsam festgestellt haben, dass bäuerliche Betriebe, die das Futter selbst mischen, die also Getreide produzieren und Futterfette einmischen, um eine gesunde Ernährung der Tiere zu gewährleisten, durch diesen Vorfall beson- ders geschädigt worden sind? Sind wir uns nicht einig, dass es wichtig ist, die gut und sorgfältig arbeitenden landwirtschaftlichen Betriebe im Lande vor kriminellem Handeln zu schützen? Ist es nicht richtig, dass der Schutz genau dieser mittelständischen landwirtschaftli- chen Betriebe auch im Interesse einer Politik, die sich für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch- land einsetzt, sein muss? Ich dachte, wir wären uns in diesen Punkten einig. Ich bin etwas enttäuscht, Herr Kollege Ostendorff, dass Sie als Landwirt nicht das Interesse der Landwirte, die or- dentlich arbeiten, im Fokus haben, sondern stattdessen eine Skandalisierung betreiben, wie es auch die Medien getan haben. Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass eine Menge landwirtschaftlicher Betriebe durch die Vor- fälle in Schleswig-Holstein in ihrer Existenz gefährdet worden sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nun darf ich das Wort zur Gegenrede erteilen. Bitte schön, Herr Kollege. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Es ist für Mitglieder kleiner Fraktionen, denen nur eine kurze Redezeit zur Verfügung steht, immer wieder erfreulich, auf diesem Wege die Gelegenheit zu bekom- men, eine zweite Rede zu halten. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ach! Was soll denn das jetzt?) Frau Happach-Kasan, wenn Sie mir bei den vielfälti- gen Gelegenheiten, bei denen wir über dieses Thema diskutiert haben, zugehört hätten, dann hätten Sie gehört, dass ich in jeder Rede, die ich halte, deutlich mache – das habe ich auch heute getan –, dass ich in genau den Punkten, die Sie angesprochen haben, anderer Meinung bin als Sie. Ich sage: Hier ging es um einen Betrieb in Schleswig- Holstein, der Futterfette herstellt und kriminell gehan- delt hat. Dieser Betrieb hatte sehr große Futtermühlen als Abnehmer. Mir als praktizierendem Landwirt ist nicht bekannt, dass kleine Bauern besonders viel Misch- futter kaufen. Meine These ist, dass kleinbäuerliche Be- triebe ihr Getreide in der Regel selbst mahlen und nicht Kunden von Futtermittelmischwerken sind und nicht in großem Stile Futtermittel aus Futtermittelmischwerken beziehen. Ihre Logik erschließt sich mir nicht. Ich glaube, hier müssen Sie genauer zuhören. Ich bin an die- sem Punkt immer sehr entschieden und klar. Ich sage: In der Realität ist es genau umgekehrt. Die Verbraucher waren nicht gefährdet. Nein, es ist zum Glück niemand akut erkrankt. Das behauptet auch niemand. Es ist mir nicht bekannt, dass es irgendeine wissenschaftliche Quelle gibt, die besagt: Wenn du dei- nem Körper Dioxin zuführst, dann wirst du akut krank, wie das jetzt beim EHEC-Bakterium der Fall ist, wenn es das HUS auslöst. Mein Wissensstand ist bisher – Frau Happach-Kasan, Sie sind Wissenschaftlerin; ich bin Praktiker und habe nie studiert –, dass Dioxin im Fettge- webe angereichert wird. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann wäre es interessant, nach dieser Sitzung zu er- fahren, welche Erkenntnisse Sie diesbezüglich gewon- nen haben. Mein Erkenntnisstand ist: Es wird im Fettge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12751 Friedrich Ostendorff (A) (C) (D)(B) webe angereichert, und natürlich ist irgendwann eine Schwelle erreicht, ab der der Mensch akut gefährdet ist. Wir wollen hier aber nicht skandalisierend reden, wie Sie das tun. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Sie reden nicht skandalisierend?) Ich glaube, das müssen wir sehr seriös abarbeiten. Es gilt, diese Einträge von Umweltgiften zu minimieren. Ich glaube, die Gesellschaft ist in der Vergangenheit vielleicht etwas leichtfertig mit Stoffen wie Dioxin um- gegangen. Ich denke, dass wir allen Bauern und Bäuerin- nen, deren Betriebe ohne ihr eigenes Verschulden ge- sperrt wurden und die ihre Produkte am Markt nicht absetzen konnten, natürlich allen Schutz geben müssen; denn sie brauchen unser aller Solidarität. Das ist völlig unbestritten. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ja, dann geben Sie sie ihnen doch!) Das müssen wir endlich anpacken. Wir hätten erwartet, dass es Vorschläge dafür gibt, wie solchen Betrieben, die ohne Not in eine wirtschaftli- che Existenzgefährdung geraten sind und geächtet wer- den, weil sie gesperrt sind – das bleibt ja nicht verborgen –, in Zukunft wirksam geholfen werden kann, sodass sie, wenn sie Futtermittel am Markt beziehen, sicher sein können, dass diese Futtermittel sauber sind und die Branche das Ihrige tut, um die Haftung zu übernehmen, falls es bei diesen Futtermitteln zu Auffälligkeiten kommt. Die Branche, die Sie mit Ihren Vorschlägen fördern wollen, macht sich einen schlanken Fuß und übernimmt eben keine Verantwortung. Die betroffenen Bäuerinnen und Bauern sind völlig alleine mit ihren Nöten, mit ihren Sorgen und auch mit dem wirtschaftlichen Misserfolg, der damit natürlich einhergeht. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Ostendorff. – Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan, Sie haben das Ange- bot zum persönlichen Gespräch gehört. Da wir bis kurz vor Mitternacht fertig werden, besteht sicher noch die Gelegenheit dazu, bevor wir für morgen zur nächsten Sitzung einladen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Als Nächster hat der Kollege Johannes Röring für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kol- lege. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Johannes Röring (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade festge- stellt, dass die Verdopplung der Redezeit noch längst nicht zur Verdopplung der Erkenntnisse führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Da sind wir ja gespannt! – Kerstin Tack [SPD]: Sag mal deine Erkennt- nisse!) Im Januar dieses Jahres mussten wir alle im Rahmen der Dioxinkrise miterleben, dass das Fehlverhalten eines Einzelnen bundesweit große Verunsicherung und große Schäden ausgelöst hat. Die Verbraucherinnen und Ver- braucher waren in höchstem Maße verunsichert und wussten nicht, welche Lebensmittel am Ende noch si- cher waren. Die Produzenten dieser Lebensmittel, die Landwirte, standen völlig unverschuldet am Pranger. Viele Teilnehmer der Produktionskette waren von den Folgewirkungen betroffen. Auch wenn das Thema Dioxin mittlerweile weitestge- hend aus der medialen Berichterstattung verschwunden ist, haben sowohl die direkt als auch die indirekt betrof- fenen Landwirte die finanziellen Folgen der Krise hart gespürt. Nach einer aktuellen Analyse der Dow Jones News sind die marktbedingten Preisrückgänge durch diese Krise auf etwa 100 Millionen Euro zu beziffern. Damit wir eine ähnliche Situation nicht wieder erleben müssen, haben wir schnell gehandelt. (Iris Gleicke [SPD]: Schnell?) An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal ein kla- res Wort zur Medienberichterstattung, aber auch zum Verhalten der Opposition sagen. Wie hier in teils unver- antwortlicher Weise Ängste geschürt wurden, war mehr als unanständig und nicht angebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es wurde pauschalisiert und verleumdet und sogar die Landwirtschaft selbst angegriffen. Man hat versucht, aus Opfern Täter zu machen. Das war ein starker Schlag in das Gesicht unserer Bäuerinnen und Bauern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die sich tagtäglich – das möchte ich an dieser Stelle beto- nen – mit großer Verantwortung um ihre Tiere kümmern. Dieses Verhalten möchte ich deutlich verurteilen. Die Zahl der anwesenden Agrarpolitiker der Opposition zeigt, wie wichtig Sie unsere Bäuerinnen und Bauern nehmen: Ihre Reihen sind sehr schwach besetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Fakten zeigen, dass die Behörden der Länder, der Bund, aber auch die EU schnell und gut zusammengear- beitet haben und das durch die Wirtschaft aufgebaute System der Transparenz und Rückverfolgbarkeit gegrif- fen hat. Sie haben den Futtermittelskandal aufgedeckt. Viele Betriebe haben schon vorher Eigenkontrollen durchgeführt und machen dies auch heute noch. Der Ur- sprung und vor allen Dingen die Wege der Futtermittel sind sehr schnell aufgedeckt worden. Im Gegensatz zur Opposition haben wir nicht Effekt- hascherei und Populismus betrieben. (Kerstin Tack [SPD]: Schon mal ein bisschen Niveau hineinbringen!) Wir haben direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle ge- handelt. Im Zentrum des Aktionsplans steht nämlich, dass wir die Sicherheitsstandards der Futtermittelkette 12752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Johannes Röring (A) (C) (D)(B) weiter erhöhen und die Melde- und Kontrollpflichten verschärfen wollen. Wir wollen also – das betone ich ausdrücklich – das bestehende System verbessern und weiterentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit der heute zu beschließenden Änderung des Le- bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden wir nur wenige Monate nach der Entwicklung des Aktions- plans erste Teile gesetzgeberisch umsetzen. Wir wollen eine zuverlässige Kontrolle aller Glieder der Lebensmit- telproduktionskette. Sowohl die Verbraucher als auch insbesondere die Beteiligten der Wertschöpfungskette inklusive der Bäuerinnen und Bauern brauchen auf allen Ebenen Sicherheit hinsichtlich Qualität und Herkunft der Produkte. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Röring, wir haben die Chance zu einer Zwischenfrage von der linken Seite, den Sozialdemokra- ten. Würden Sie sie zulassen? Sie müssen das nicht. Johannes Röring (CDU/CSU): Gerne, Kollege Priesmeier. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Kollege Röring, stimmen Sie mir zu, dass durch das Verhalten des damaligen niedersächsischen Staatsse- kretärs anlässlich des Besuches der Ministerin in Olden- burg und den Erkenntnisstand, den er zu dem damaligen Zeitpunkt hatte, die Krise, die Sie in wesentlichen Teilen der Opposition anlasten, in besonderer Weise befördert worden ist? Wenn Sie mir nicht zustimmen, dann bitte ich Sie, das zu begründen. – Vielen Dank. Vizepräsident Eduard Oswald: Das war die Zwischenfrage unseres Kollegen Priesmeier. – Bitte schön, Herr Kollege Röring. Johannes Röring (CDU/CSU): Lieber Kollege Wilhelm Priesmeier, ich stimme die- ser Erkenntnis nicht zu; denn wir haben – das habe ich eben deutlich gemacht – gerade durch die Eigenkontrol- len im System sehr schnell die Herkunft dieser Futter- chargen nachvollzogen und erkannt. Das wäre vor eini- gen Jahren noch nicht möglich gewesen. Dass es in einem System, wie wir es kennen, zu kri- minellem Handeln kommt, werden wir auch durch die schärfsten gesetzlichen Maßnahmen letzten Endes nie unterbinden können. Deswegen sind wir dabei, es pra- xisgerecht und vernünftig weiterzuentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie ha- ben es zu spät gemerkt!) Die Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelge- setzbuchs wird nun konkret. Die Meldepflicht der priva- ten Laboratorien ist vorgeschrieben. Die Eigenkontrolle wird verstärkt berücksichtigt. Ein Punkt, der meines Er- achtens andiskutiert, aber noch nicht umgesetzt worden ist, ist die Versicherungspflicht für Futtermittelunterneh- mer zum Schutz aller Partner in der Kette. Hinsichtlich der neuen Vorgaben zur Eigenkontrolle möchte ich gerne auf die öffentliche Anhörung Bezug nehmen, die wir zu diesem Thema durchgeführt haben. Dort haben uns viele Experten bestätigt, dass bereits heute ein hohes Maß an verantwortungsbewusster Eigenkontrolle durch die Un- ternehmen vorhanden ist. Wir fügen deshalb der Kon- trollkette nur eine sinnvolle Informationspflicht hinzu, die bedeutet, dass alle Lebensmittel- und Futtermittel- hersteller Ergebnisse von Eigenkontrollen zu Dioxinen den zuständigen Behörden mitteilen müssen. Weitere, darüber hinausgehende Mitteilungsverpflichtungen der Unternehmen lehnen wir deutlich ab, da wir Vorverur- teilungen verhindern wollen, um nicht unnötigerweise Unternehmensexistenzen und – damit einhergehend – Arbeitsplätze zu gefährden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wer das noch nicht richtig verinnerlicht und verstan- den hat, der muss sich nur die Ereignisse dieser Tage an- schauen. Wer gestern Abend und heute Morgen die Mel- dungen zu der Frage, woher das gefährliche Bakterium kommt, verfolgt hat, der hat mitbekommen, was ver- frühte Meldungen und Vorverurteilungen bewirken kön- nen. Das hat Konsequenzen für den Handel. Unschul- dige Gemüseerzeuger aus Norddeutschland haben erhebliche Probleme und beklagen Millionenschäden an einem Tag. Heute war zu hören, dass die Behörden nach intensiven Bemühungen aufgedeckt haben, woher die Gefahr kommt. Es waren am Ende – ich glaube, ich sage damit nicht zu viel – grüne Gurken. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sehr komisch!) Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahegetreten bin. Ich möchte das nur als Beispiel nennen, um deutlich zu ma- chen, wie schnell Vorverurteilungen ganze Produktions- zweige in Gefahr bringen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage noch einmal: Die Lebensmittel in Deutsch- land waren noch niemals von so hoher Qualität und so sicher wie in der heutigen Zeit. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so bleibt. Der deutschen Agrar- und Er- nährungswirtschaft soll man vertrauen können. Qualität und Sicherheit sind Markenzeichen dieser Branche. Ich denke, dass durch die nun zu beschließenden gesetz- lichen Vorgaben dies weiter zu verdeutlichen ist. Wir als Regierungskoalition haben gezeigt, was schnelles und sachorientiertes Handeln bedeutet (Lachen bei der SPD) und dass wir erfolgreiche Politik machen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12753 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Johannes Röring. Tagesordnungspunkt 13 a: Wir kommen zur Abstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Le- bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 (neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/4984 und 17/5392 in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5958 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für die- sen Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Änderungs- antrag ist damit abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So- zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent- haltungen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5959. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koali- tionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Tagesordnungspunkt 13 b: Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ursachen be- kämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 (neu), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 17/5377 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 (neu) empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen- probe! – Keine. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Versorgung der privat Versicherten im Basis- tarif sicherstellen – Drucksache 17/5524 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gesetzliche Krankenversicherung für Solo- Selbstständige bezahlbar gestalten – Drucksachen 17/777, 17/5566 – Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Lanfermann c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Private Kranken- und Pflegeversicherung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe- dürftige – Drucksachen 17/780, 17/5630 – Berichterstattung: Abgeordnete Karin Maag d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf- fung der Benachteiligung von privat versicher- ten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II – Drucksache 17/548 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Gesundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 17/5629 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe keinen Widerspruch. Ich verzichte auf die Ver- lesung der einzelnen Namen; die Namen liegen uns vor, 12754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) und die entsprechenden Reden sind beim Protokoll ein- gegangen1). Tagesordnungspunkt 14 a: Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5524 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. – Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 14 b: Der Ausschuss für Ge- sundheit empfiehlt in seiner Beschlussfassung auf Drucksache 17/5566, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/777 mit dem Titel „Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 14 c: Der Ausschuss für Ge- sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5630, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/780 mit dem Titel „Private Kranken- und Pflegeversicherung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebedürftige“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions- fraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Tagesordnungspunkt 14 d: Der Ausschuss für Ge- sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5629, den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicher- ten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosen- geld II der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/548 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung eine weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsge- setzes – Drucksache 17/3122 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/5930 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Burkhard Lischka Marco Buschmann 1) Anlage 3 Jens Petermann Ingrid Hönlinger Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, wer- den die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Wir beraten und beschließen heute in zweiter und dritter Lesung das Dritte Gesetz zur Änderung des Um- wandlungsgesetzes. Es dient der Umsetzung der Richtli- nie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, die Änderungen bereits bestehender Richtlinien (Richtlinie 77/91/EWG, 78/855/EWG, 82/891/EWG und 2005/56/EG) hinsichtlich der Berichts- und Dokumenta- tionspflichten bei Verschmelzungen und Spaltungen von Gesellschaften vorsieht. Die heute zu beschließenden Änderungen des Um- wandlungsrechts stellen einen weiteren wichtigen Bau- stein im Rahmen der kontinuierlichen Fortentwicklung des Unternehmensrechts in Deutschland dar. Der vorlie- gende Gesetzentwurf, an dem im Rahmen des parlamen- tarischen Beratungsverfahrens mehrere wichtige Ände- rungen vorgenommen wurden, leistet einen Beitrag zur weiteren Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutsch- land. Denn Unternehmen werden bei Umwandlungen künftig von Einsparungen profitieren und mit einem ge- ringeren Verwaltungsaufwand konfrontiert als bisher. So können künftig etwa die Prüfung der Sacheinlagen und des Verschmelzungsvertrags durch denselben Sachver- ständigen vorgenommen werden. Eine Zwischenbilanz wird künftig dann entbehrlich sein, wenn alle Anteils- inhaber sämtlicher beteiligter Rechtsträger durch nota- riell beurkundete Erklärung darauf verzichten oder ein Halbjahresfinanzbericht gemäß § 37 w des Wertpapier- handelsgesetzes veröffentlicht wurde. Daneben können Aktionären mit ihrer Einwilligung Unterlagen in Zukunft auf dem Wege elektronischer Kommunikation übermittelt werden. Auf eine Versen- dung in Papierform kann verzichtet werden. Konzern- verschmelzungen werden dadurch vereinfacht, dass bei Konzernverschmelzungen auf eine Aktiengesellschaft bei 100-prozentiger Beteiligung die Notwendigkeit eines Verschmelzungsbeschlusses nicht wie bisher nur hin- sichtlich der Beschlussfassung bei der übernehmenden Aktiengesellschaft, sondern auch bei der übertragenden Kapitalgesellschaft entfällt, wenn der übernehmenden Aktiengesellschaft sämtliche Anteile der übertragenden Aktiengesellschaft gehören. Den berechtigten Interessen an einer Unterrichtung des Betriebsrats über geplante Konzernverschmelzungen wird dabei durch eine vom Rechtsausschuss angeregte gesetzliche Klarstellung Rechnung getragen. Ein wichtiges Element des vorliegenden Änderungs- gesetzes zum Umwandlungsrecht ist die Einführung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out. Gehören der übernehmenden Gesellschaft mindestens 90 Prozent des Grundkapitals einer übertragenden Aktiengesellschaft, kann die Hauptversammlung der übertragenden Aktien- gesellschaft einen Squeeze-out-Beschluss fassen. Wäh- rend der allgemeine aktienrechtliche Squeeze-out eine Dr. Stephan Harbarth (A) (C) (D)(B) mindestens 95-prozentige Beteiligung voraussetzt, ist der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out – wie von der Richtlinie vorgesehen – bereits ab einer 90-prozentigen Beteiligung möglich. Zu Recht war darauf hingewiesen worden, dass der vorgelegte Regierungsentwurf die Möglichkeit eröffnet hätte, bei nur 90-prozentiger Betei- ligung zunächst in Ausübung der neu geschaffenen ge- setzlichen Regelung einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out durchführen zu können, ohne sodann auch die Verschmelzung durchzuführen. Dieser Umgehungs- möglichkeit ist aus Gründen der inhaltlichen Konsistenz der Rechtsordnung nunmehr durch vom Rechtsaus- schuss beschlossene Änderungen ein Riegel vorgescho- ben worden. Wenngleich mit den vorliegenden umwand- lungsrechtlichen Änderungen die von der Richtlinie eröffneten Möglichkeiten an allen Stellen in rechtspoli- tisch überzeugender Weise umgesetzt wurden, besteht im Umwandlungsrecht weiterer Handlungsbedarf, der im Rahmen der hier anstehenden Richtlinienumsetzung the- matisch nicht tangiert war. Als wichtige rechtspolitische Herausforderungen des Umwandlungsrechts, die im vorliegenden Gesetzentwurf nicht behandelt werden, seien exemplarisch nur drei ge- nannt: Erstens besteht weiterhin eine rechtspolitisch kaum zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Aktionäre des übertragenden und des übernehmenden Rechtsträ- gers bei der Rüge des Umtauschverhältnisses im Rah- men von Verschmelzungen. Zweitens sind etwaige Ausgleichsleistungen an Aktio- näre, die durch das Umtauschverhältnis übervorteilt werden, nach derzeitiger Rechtslage nur in Form von Geldleistungen, nicht jedoch in Form von Anteilsgewäh- rungen möglich. Die letztere Option wäre aber deshalb sinnvoll, weil sie Liquiditätsdruck von Unternehmen nähme, die an Umwandlungsvorgängen beteiligt sind. Drittens wird man kritisch zu hinterfragen haben, ob die Notwendigkeit einer aufwendigen Hauptversamm- lung in allen Fällen der Ausgliederung wirklich sachge- recht ist. Diese Fragen in den kommenden Monaten aufzugrei- fen, stünde dem Gesetzgeber nach unserer Überzeugung gut zu Gesicht. Wir freuen uns auch insoweit auf ähnlich konstruktive Beratungen, wie wir sie bei den Erörterun- gen im Hinblick auf das heute zu verabschiedende Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes erleben durften. Burkhard Lischka (SPD): Wir verabschieden hier einen Gesetzentwurf von im- menser Tragweite für das Wirtschaftsleben – und wir verabschieden ihn vollkommen ohne öffentliche Begleit- musik. Eigentlich sollte einen das wundern. Genau eine Berichterstattung im „Handelsblatt“ habe ich gefunden, ansonsten nichts, was rauscht im Blätterwald. Sicher, der Gesetzentwurf setzt zuallererst europäi- sche Vorgaben aus dem Herbst 2009 um – gerade noch fristgerecht übrigens, bis Ende Juni 2011 war Zeit. Und er ist alles in allem handwerklich solide gemacht. Zu Protokoll Trotzdem: Einen intensiven Blick ist er wert. Die Re- gelungen für die Spaltung und Verschmelzung von Un- ternehmen werden stark verändert. Das hat große Aus- wirkungen auf Konzernverschmelzungen und alle davon Betroffenen: die Entscheiderinnen und Entscheider in den beteiligten Unternehmen, die Aktionärinnen und Ak- tionäre und nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter, die Kundinnen und Kunden. Es sollte darum nicht nur ein Spezialthema für ein paar Unternehmens- juristen sein. Wenn Politik zum Ziel hat, die Chancen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu erhöhen, indem die Investitionsfähigkeit und Innovationskraft der privaten Wirtschaft gestärkt werden, dann ist ein moder- nes, praktikables Umwandlungsrecht ein Baustein dazu. Und das Umwandlungsrecht wird mit dieser Novelle in der Tat von ein paar bürokratischen Hürden entschlackt. Die Konzernumwandlung wird entlang den EU-Vorga- ben straffer und kosteneffizienter. Unnötige Berichts- und Informationspflichten werden gestrichen, Kosten- ersparnisse unter anderem dadurch eröffnet, dass auf Zwischenbilanzen verzichtet werden kann oder dass im Falle einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft die- selben Sachverständigen mit der Prüfung sowohl der Sacheinlagen als auch des Verschmelzungsvertrages be- auftragt werden können. Alles gut also? Bessere, stringentere Lösungen, bei denen die Wirt- schaft auch noch bares Geld spart, begrüße ich. Verein- fachung darf aber nicht so weit gehen, dass als „Neben- wirkung“ die Rechte wichtiger Gruppen unter den Tisch zu fallen drohen, wie es mit der Unterrichtung der Betriebsräte fast passiert wäre. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte geregelt werden, dass ein Ver- schmelzungsbeschluss des Anteilsinhabers der übertra- genen Kapitalgesellschaft dann nicht erforderlich ist, wenn sich das gesamte Stammgrundkapital einer über- tragenen Kapitalgesellschaft in der Hand einer über- nehmenden Aktiengesellschaft befindet. Damit war quasi der Anknüpfungspunkt für die Betriebsratszulei- tung „weggespart“. Der Zeitpunkt, wann die Betriebs- räte zu unterrichten sind, hätte sich nicht mehr exakt be- stimmen lassen. Darauf hatte der DGB hingewiesen. Wir Sozialdemokraten haben diesen Punkt aufgenommen, ihn auch bei der Expertenanhörung in den Fokus ge- rückt und eine Klarstellung erreichen können. Dieses Versäumnis des Gesetzgebers ist also dank sozialdemo- kratischen Engagements erfolgreich eingefangen worden. Gerade wenn Verfahren einfacher und über- sichtlicher werden sollen, ist es extrem wichtig, die Un- terrichtungspflichten der Vertretungsorgane sorgsam auszutarieren. Da dürfen wir uns keinen Lapsus leisten. Denn hier geht um zentrale Transparenzfragen, um das Miteinander von Unternehmensführung und Mitarbei- tervertretung. Wie wichtig diese Fragen sind, hat uns die Finanz- und Wirtschaftskrise ja wohl wirklich überdeut- lich vor Augen geführt. Beispiel zwei: der Squeeze-out. Der Gesetzentwurf verändert die rechtlichen Anforderungen bei der Ver- schmelzung und Spaltung unter der Beteiligung von Ak- tiengesellschaften; insbesondere geht es um die Ver- schmelzung von 100-prozentigen Tochtergesellschaften mit der Muttergesellschaft. Die zentrale und für die Pra- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12755 gegebene Reden Burkhard Lischka (A) (C) (D)(B) xis bedeutendste Regelung ist der neu gestaltete Squeeze-out. Wir verändern die Vorgaben, nach denen der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak- tiengesellschaft erzwungen werden kann. Auch hier geht es um Wirkungen und Nebenwirkungen. Mit Blick auf die Regelungen zum Squeeze-out muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass die neue Regelschwelle von jetzt 90 Prozent nicht dadurch ausgehebelt werden kann, dass ein Squeeze-out nach § 62 UmwG-E durchgeführt und auf die anschließende Verschmelzung verzichtet wird. Das Wirksamwerden des Sqeeze-out an eine Ein- tragung der Konzernverschmelzung zu binden, war not- wendig. Diese Hintertür haben wir im Rechtsausschuss zugeschlagen. Das war wichtig. So bleibt das Fazit: Der Prozess der Konzernverschmelzungen wird durch einen sachgerechten Gesetzentwurf erleichtert. Meine Frak- tion wird ihn mittragen. Marco Buschmann (FDP): Bereits im Jahre 2007 hat sich der Europäische Rat darauf verständigt, die Verwaltungslasten für Unterneh- men bis zum Jahre 2012 um 25 Prozent zu verringern. Zu diesem Zweck haben die europäischen Institutionen die Umwandlungsrichtlinie Richtlinie 2009/109/EG auf den Weg gebracht, mit dem Ziel, den Verwaltungs- und Kostenaufwand aufgrund von Veröffentlichungs- und Dokumentationspflichten auf ein Minimum zu beschrän- ken. Die FDP-Bundestagsfraktion teilt das Ziel, Unter- nehmen und insbesondere den Mittelstand von überflüs- sigen Bürokratielasten zu befreien. Vor diesem Hinter- grund begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf in der Fassung, den er durch die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen bekommen soll, als konsequente Umsetzung dieser Zielvorgabe. Durch den heute zu beratenden Regierungsentwurf für das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungs- rechts und den Änderungsantrag der Regierungskoali- tionen soll die Richtlinie 2009/109/EG in nationales Recht umgesetzt werden. Schon der Regierungsentwurf vom 7. Juli 2010 hat in verschiedenen Bereichen eine Erleichterung bedeutet. Zum Beispiel ermöglicht der Entwurf die Übermittlung von Dokumenten auf elektro- nischem Wege. Des Weiteren kann die Prüfung der Sach- einlagen und des Verschmelzungsvertrages zukünftig durch denselben Sachverständigen erfolgen. Wichtige Änderungen im Umwandlungsrecht ergaben sich jedoch aus dem erweiterten Berichterstatterge- spräch vom 9. Februar 2011. Für die konstruktive Mit- arbeit möchte ich mich daher bei den Berichterstattern aller Fraktionen bedanken und insbesondere bei den an- gehörten Sachverständigen für ihre hilfreiche Unterstüt- zung. Die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Kollegen Lischka und Frau Kollegin Hönlinger, verlief sehr sach- kundig und konstruktiv. Zwei wichtige Ergebnisse möchte ich dabei heraus- stellen: Zum einen war im Regierungsentwurf vorgese- hen, die Unterrichtungspflicht im deutschen Recht nicht nur auf die Aktiengesellschaft zu beschränken, sondern Zu Protokoll auf Unternehmen sämtlicher Rechtsformen auszuweiten. Der Regierungsentwurf setzte hier also europäisches Recht nicht eins zu eins um, sondern schickte sich an, Berichtspflichten anlässlich einer Richtlinienumsetzung auszuweiten. Wir haben hier auf eine Umsetzung eins zu eins bestanden. Denn die Ausweitung von Berichts- pflichten steht im Widerspruch zum erklärten Ziel der Richtlinie, nämlich Unternehmen von bürokratischen Informationspflichten zu entlasten. Entlastung erreicht man aber nicht durch Ausweitung, sondern nur durch Beseitigung oder Vermeidung von Informationspflich- ten. Die wohl wichtigste Änderung erfährt der Regie- rungsentwurf auf Initiative der Koalitionsfraktionen durch die Stärkung des sachlichen und zeitlichen Zu- sammenhangs zwischen dem erleichterten Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung und der dazu erforderli- chen Verschmelzung selbst. Das war erforderlich, da der konzernrechtliche Squeeze-out anlässlich einer Ver- schmelzung unter erleichterten Bedingungen erfolgen kann als andere Formen des Squeeze-out. Hier war man sich in der Fachwelt einig, dass sich Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten für die erhöhten Vorgaben ei- nes regulären Squeeze-outs ergeben. Für meine Frak- tion stand es auch nie zur Debatte, die Voraussetzungen für Squeeze-out allgemein abzusenken. Denn es geht hier um Eigentumspositionen von Aktionären. Das ist nicht nur angesichts von Art. 14 GG ein hohes Gut. Da- mit spielt man nicht. Hier haben die Koalitionsfraktio- nen im Zusammenspiel mit den Sachverständigen, die wir dazu gehört haben, einen Weg gefunden, um diese Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten auszu- schließen. So wird der erleichterte Squeeze-out anläss- lich einer Verschmelzung erst mit der Eintragung des Verschmelzungsbeschlusses wirksam. So kann nicht ein- fach ein erleichterter Squeeze-out wirksam durchgeführt werden, ohne nicht auch die Verschmelzung durchzufüh- ren, um derentwillen man das Privileg erleichterter Vo- raussetzungen erhält. Zum anderen erhalten wir aber die Vorteile des Instruments. Denn es ist dennoch möglich, im Zusammenhang mit einer Verschmelzung den von der Richtlinie geforderten Squeeze-out bei einer 90-prozentigen Tochtergesellschaft durchzuführen. Insgesamt ist das Ergebnis ein guter Schritt in die richtige Richtung: die Entlastung der Unternehmen von Bürokratie und Kosten. Ich werbe hier daher um Ihre Zustimmung! Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Änderungen des hier vorliegenden Umwand- lungsgesetzes betreffen insbesondere die Veröffentli- chungs- und Dokumentationspflichten jedes an der Ver- schmelzung oder Spaltung beteiligten Rechtsträgers sowie die Erleichterung eines Squeeze-out, also den Ausschluss eines Gesellschafters. Wenn wir dem Gesetz zustimmen, dann nicht, weil wir den zugrunde liegenden Vorgängen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind. Von Markus M. Ronner stammt der Satz: „Das Zeitalter der Fusionen hat Unternehmer als bloße Über- nehmer entlarvt. Und mancher hat sich dabei übernom- men.“ 12756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Richard Pitterle (A) (C) (D)(B) Als Finanzpolitiker finde ich die Einschätzung zutref- fend, wonach eine Fusion der Zusammenschluss von zwei Unternehmen zum Abbau von Verlusten sei, die sie alleine nie gehabt hätten. Regelmäßig sind diese Vor- gänge mit einem Personalabbau verbunden, wie es der jüngste Fall bei der Verschmelzung der Dresdner Bank und der Commerzbank gezeigt hat. Der konzernweite Personalabbau betraf hierbei 9 000 Vollzeitstellen, da- von rund 6 500 in Deutschland. Daher ist für uns ent- scheidend, dass mit der vorliegenden Gesetzesänderung keine Verschlechterung der Rechte der Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer einhergeht und die Beteiligungs- rechte des Betriebsrats nicht beschnitten werden. Die Ergänzungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E legen den Fristbeginn für die Unterrichtung des Be- triebsrates über die Verschmelzung fest. Nunmehr ist spätestens mit Abschluss des Verschmelzungsvertrages die Verpflichtung zu erfüllen, diesen dem Betriebsrat zuzu- leiten. Die Änderungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E knüpfen das Wirksamwerden des Übertragungsbe- schlusses nunmehr an die Eintragung des Verschmel- zungsbeschlusses in das Handelsregister. Damit ist si- chergestellt, dass ein konzernverschmelzungsrechtlicher Squeeze-out, der bei 90 Prozent möglich ist, gegenüber dem sonstigen aktienrechtlichen Squeeze-out bei 95 Pro- zent nicht missbraucht wird, indem eine Verschmelzung angedacht wird, ein Squeeze-out durchgeführt wird und die Verschmelzung sodann scheitert. Die letzten Änderungen, die nach der Anhörung er- folgten und auf Hinweise der Sachverständigen zurück- gehen, begrüßen wir daher. Ebenfalls begrüßen wir, dass das BMJ sich auf die notwendigen Umsetzungen aus der Änderungsrichtlinie für Verschmelzungen und Spaltungen beschränkt hat und nicht, wie von einigen Sachverständigen verlangt wurde, eine Reihe weiterer Vorschläge, die damit nur mittelbar im Zusammenhang stehen, aufgenommen hat. Der konzernverschmelzungs- rechtliche Squeeze-out bei 90 Prozent ergibt sich zwin- gend aus der umzusetzenden Richtlinie. Insoweit ist dies zwar aus dem Blickpunkt des Gesellschaftsrechts nicht befriedigend, es dürfte jedoch kein rechtlicher Hand- lungsspielraum verbleiben, die Schwelle auf 95 Prozent hochzusetzen. Bei einer künftigen Reform des Umwandlungsrechts wäre zu überlegen, wie die Rechte der Arbeitnehmer ge- stärkt werden können. Der Sachverständige Ernst Büchele hatte in der Anhörung vorgeschlagen, das über- nehmende Unternehmen zu verpflichten, für eine Über- gangszeit von etwa fünf Jahren eine Beschäftigungsga- rantie abzugeben. Würde diese nicht eingehalten, wäre eine je nach Dauer der Beschäftigung gestaffelte Aus- gleichszahlung in ein Sondervermögen zu leisten, das die Kreditanstalt für Wiederaufbau verwaltet. Die damit gesammelten Mittel dürfen nur verwendet werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, entweder innerhalb von bestehenden oder erst noch zu gründenden Unterneh- men. Dazu können auch reine Beschäftigungsgesell- schaften gehören, die Arbeitnehmer so lange auf- nehmen, bis sie am regulären Arbeitsmarkt wieder untergekommen sind oder das – nahende – Rentenalter erreichen. Zu Protokoll Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir beraten heute das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes. Das Umwandlungsgesetz regelt die Umwandlung von Rechtsträgern, die ihren Sitz in Deutschland haben. Insbesondere geht es dabei um Ver- schmelzungen, Spaltungen, Formenwechsel sowie Ver- mögensübertragungen von gesellschafts-, vereins- oder genossenschaftsrechtlich organisierten Rechtsträgern. In dem Dritten Gesetz zur Änderung des Umwandlungs- gesetzes führen wir EU-rechtliche Vorgaben in das deut- sche Recht ein. Wir Grünen haben uns an diesem Ge- setzgebungsprozess konstruktiv beteiligt. Der Hauptpunkt, der mit dieser Gesetzesänderung vorgenommen wird, ist die Absenkung des Squeeze-out. Unter einem Squeeze-out ist ein unter Zwang vollzoge- ner Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak- tiengesellschaft zu verstehen. Das bedeutet: Wenn ein Aktionär – direkt oder über von ihm abhängige Unter- nehmen – mindestens 95 Prozent des Grundkapitals ei- ner Aktiengesellschaft hält, kann er die restlichen Aktio- näre gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aus dem Unternehmen drängen. Mit dem Gesetzentwurf sen- ken wir die Squeeze-out-Schwelle entsprechend der eu- ropäischen Vorgaben auf 90 Prozent. Uns ist bewusst, dass eine Absenkung der Squeeze- out-Schwelle nicht unproblematisch ist. Dieser Zwangs- ausschluss der Minderheitsaktionäre stellt einen erheb- lichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position der Minderheitsaktionäre dar. Schon jetzt zeigt sich die Rechtsprechung zunehmend großzügig. Beispielsweise hält sie auch Fälle für unbedenklich, in denen der Hauptaktionär die für den Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre erforderliche Beteiligungsquote von 95 Prozent erst durch ein Wertpa- pierdarlehen erreicht hat. Vor diesem Hintergrund begrü- ßen wir, dass der Regierungsentwurf den Schwellenwert von 95 Prozent für den ,,normalen“ gesellschaftsrechtli- chen und übernahmerechtlichen Squeeze-out unangetas- tet lässt. Für den Zwangsausschluss im Zusammenhang mit einer Konzernverschmelzung im Aktienrecht müssen wir hingegen die Absenkung des Schwellenwertes auf 90 Prozent im Gesetz etablieren, da dieses den europa- rechtlichen Vorgaben entspricht. Begrüßenswert ist zu- dem, dass mit diesem Gesetzentwurf die Transparenz für Aktionäre erhöht wird. Mit der Einführung des neuen § 64 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes schreiben wir die Unterrichtungspflicht über Vermögensänderungen auch für Verschmelzungen von Aktiengesellschaften fest. Bis- her gab es diese Verpflichtung nur bei Spaltungen von Aktiengesellschaften. Abschließend ist hervorzuheben, dass wir mit diesem Gesetzentwurf im Hinblick auf die Vorbereitung einer Hauptversammlung Bürokratie abbauen. Überflüssige Kosten werden für Unternehmen minimiert. Durch die Gesetzesänderung können die die Hauptversammlung vorbereitenden Unterlagen den Aktionären auf elektro- nischem Wege zugeleitet werden. Das bedeutet nicht nur eine erhebliche Ersparnis an Papier und Zeit, sondern kommt auch unserer Umwelt zugute. Wir Grünen unter- stützen daher das Gesetzesvorhaben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12757 gegebene Reden 12758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5930, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3122 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. – Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zivile Krisenprävention ins Zentrum deut- scher Außenpolitik rücken – Drucksache 17/5910 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den friedenspolitischen und krisenpräventi- ven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen – Drucksachen 17/4043, 17/5307 – Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Michael Roth (Heringen) Michael Link (Heilbronn) Dr. Diether Dehm Manuel Sarrazin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da- mit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in die- ser Debatte ist unsere Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort. Bitte schön, Kollegin Kerstin Müller. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Kofi Annan 1999 nach den Ereignis- sen von Srebrenica und Ruanda von allen UNO-Mit- gliedstaaten eine Kultur der Prävention einforderte, da schien es fast, als hätte die Weltgemeinschaft einmal ver- standen. Auf dem Weltgipfel 2005 sagte sie nicht nur der Armut den Kampf an; sie versprach bedrohten Men- schen mit dem Konzept der Responsibility to Protect auch mehr Schutz vor Kriegsgewalt und die Stärkung von Menschenrechten und Demokratie. Wir haben in Deutschland unter Rot-Grün 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ und den Ausbau ziviler Instrumente wie das ZIF, den Zivilen Friedens- dienst oder auch zivik beschlossen. Wir hatten damals eine klare Vision, nämlich: Deutschland will und muss vor allem eines sein: zivile Friedensmacht in der Welt. Heute müssen wir feststellen, dass ausgerechnet jetzt, da Deutschland im Sicherheitsrat sitzt und zivile Krisen- prävention gefragt ist wie nie, zum Beispiel in Tunesien, in Ägypten oder im Sudan, die zivile Krisenprävention vor sich hindümpelt. Das, finden wir, ist nicht hinnehm- bar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD]) Die zivile Krisenprävention ist antriebslos, weil es keine erkennbare friedens- und sicherheitspolitische Ge- samtstrategie der Bundesregierung gibt. Ich nehme ein- mal das Beispiel der Bundeswehrreform, die zwar breit diskutiert wird, aber völlig losgelöst vom Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ ist. Der Vorrang „Zivil vor Militär“ kommt dabei unter die Räder. Die Schieflage zwischen Zivil und Militär bei der Mittelvergabe ver- schärft sich weiter. Der Begriff der vernetzten Sicherheit, von dem Sie immer reden, verkommt dabei zur Floskel. Am Ende wird das Militär das Zivile nur noch stärker dominieren. Das, finden wir, ist eine falsche Entwicklung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zivile Krisenprävention ist auch führungslos – so könnte man sagen –, weil nämlich der zuständige Res- sortkreis weder politische Macht noch eigene Ressour- cen hat, und sie ist orientierungslos, weil zum Beispiel der Beirat, den es immerhin gibt, zu einem Alibi- gremium verkommen ist. Das ist die Bilanz der Tätigkeit der hochrangigen Fachleute, die da sitzen. Wir meinen: Das muss sich ändern. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht, in dem wir konkrete Vor- schläge dazu machen, wie wir die zivile Krisenpräven- tion wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik rü- cken können und wie wir endlich eine internationale Vorreiterrolle bei der zivilen Krisenprävention gewinnen oder zurückgewinnen können. Was ist erforderlich? Wir müssen zunächst einmal den Aktionsplan zu einem nationalen zivilen Planziel weiterentwickeln – das klingt technisch, aber das ist das, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12759 Kerstin Müller (Köln) (A) (C) (D)(B) was die Europäische Union von uns schon seit längerem erwartet –, weil wir sonst nicht die nötigen Instrumente haben, um beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und De- mokratie in Konfliktländern angemessen dabei zu sein. Dem müssen Sie sich stellen. Meiner Meinung nach tun Sie das nicht. Ein paar Beispiele: Warum ist Deutschland als größtes Land in der EU noch nicht ein- mal in der Lage, auch nur annähernd die bereits 2004 zu- gesagten 900 Polizisten für Friedensmissionen oder auch ausreichendes Personal für den EAD zur Verfügung zu stellen? Warum ist Deutschland als drittgrößter Beitrags- zahler der UNO mit weit weniger als 2 Prozent Personal- anteil – das alles hat das ZIF wunderbar aufgelistet – in UNO-Friedensmissionen vertreten? Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständ- lich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Ko- alition, heute unserem Antrag zum EAD nicht zustim- men können. So würde man an dieser Stelle einmal ein Stück vorwärtskommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wichtig ist auch, dass die vorbeugende Diplomatie und die Konfliktvermittlung gestärkt werden. Dazu ha- ben Sie sich schon 2009 im EU-Rat verpflichtet; aber passiert ist nichts. Jetzt, als dies bei den Umbrüchen in der arabischen Welt notwendig war, war zum Beispiel die Europäische Union nicht in der Lage, schnell Ver- mittler vor Ort zu entsenden. Etwas, was ganz wichtig ist, haben wir auch auf den Reisen des Unterausschusses zu hören bekommen und gesehen: Wir müssen viel vorausschauender und syste- matischer Personalpools für Polizei-, Verwaltungs- und Rechtsstaatsexperten aufbauen, die wir dann in EU-Mis- sionen, UNO-Missionen oder auch zur Afrikanischen Union entsenden können. Dabei sind auch Frauen ge- fragt, wie es die Sicherheitsratsresolution 1325 verlangt. Wichtig ist auch, eine Lageanalyse zu entwickeln. Dazu sind ressortübergreifende Frühwarnsysteme erfor- derlich. Aber auch das gibt es bisher nicht; da ist selbst die Afrikanische Union weiter, wie wir sehen konnten. (Heiterkeit bei der FDP) – Ja, die haben das, wir haben es noch nicht. Schließlich muss auch der Beirat ein klares Mandat erhalten, damit künftig bei Early Warning die Expertise der Zivilgesellschaft auch tatsächlich einbezogen wird. Ich glaube, dass unsere Instrumente wirkungslos blei- ben, wenn der politische Wille nicht da ist. Das heißt, der Ressortkreis muss politische Entscheidungskompetenz erhalten, er muss politisch hoch angesetzt sein, er braucht einen Mr. oder eine Mrs. Krisenprävention, und er muss endlich so etwas wie Ressourcenpooling ma- chen können, wie wir es von anderen Ländern, zum Bei- spiel von Großbritannien, schon längst kennen. Ich komme zum Schluss. Ich höre schon: Na ja, aber wir haben doch jetzt den Unterausschuss für zivile Kri- senprävention. Ich kann nur sagen: Das ist ein Instru- ment des Parlaments. Geht man auf die Website des Auswärtigen Amtes zur zivilen Krisenprävention, um zu sehen, was die Bundesregierung macht, kommt als Ers- tes der Unterausschuss. Der Unterausschuss ist ein Par- lamentsausschuss. Ich finde es ja schön, dass die Bun- desregierung darauf stolz ist. Aber das Handeln des Unterausschusses, in dem wir natürlich gern engagiert mit Ihnen zusammenarbeiten, ersetzt nicht das Handeln der Bundesregierung, das wir von ihr erwarten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich Kiesewetter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt kommt Vernunft in die Debatte!) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Müller, es ist ja schön, wie engagiert Sie die Dinge anpa- cken. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wichtig!) Sie wollen immer das Zivile in das Zentrum der Außen- politik rücken. Aber ich denke, es ist auch wichtig, das in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das mache ich immer!) Es geht nicht, immer nur Pläne zu fordern oder Pläne zu entwickeln. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Pa- pieren nennen, die meiner Fraktion wichtig sind und für die wir gearbeitet haben. Eine so umfassende Sicher- heitsstrategie, wie Sie sie mit Ihrem Antrag einbringen, haben wir bereits im Mai 2008 verabschiedet, Frau Kol- legin Müller. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will auf etwas anderes hinaus. Es geht darum, den Gedanken der zivilen Krisenprävention in die Köpfe zu pflanzen. Wir haben eine Institution in Deutschland, die dazu durchaus geeignet wäre; das ist die Bundesakade- mie für Sicherheitspolitik. Sie ist stark vom Verteidi- gungsministerium und vom Auswärtigen Amt geprägt, hat Gutes geleistet und die Sicherheitspolitik in Deutsch- land vorangebracht. Es wäre eine geeignete Maßnahme – dies schlagen wir vonseiten unserer Fraktion vor –, die Bundesakademie auszubauen, sie mit dem Bundesminis- terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbinden und dort auch ein Forum für den zivilen Friedensdienst anzubieten. Das ist ein konkreter Vorschlag, der von den vielen Papierplänen weggeht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 12760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Roderich Kiesewetter (A) (C) (D)(B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um um- fassende Sicherheit. Der Ansatz vernetzter Sicherheit war im letzten Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit greift weiter. Wir werden in den nächsten zehn Jahren Entwicklungen erleben – wir sehen es gerade in Nordaf- rika –, die zeigen, dass im Zusammenhang mit dem Si- cherheitsbegriff auch soziale Sicherheit eine Rolle spielt. Umfassende Sicherheit bedeutet nicht nur Krisenvor- und -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen Friedensdienste als auch Fragen der Entwicklungspolitik ein. Es geht eben weiter als das, was bisher im Fokus Ih- rer Kritik war. Sicherheitsvorsorge und Krisenbewältigung sind also kein Selbstzweck, sondern ein ganz entscheidender Punkt, den sich auch die Europäische Union auf ihr Pa- nier geschrieben hat. Ich nenne ein Beispiel dafür: Die neue Europäische Nachbarschaftspolitik, über die wir gestern im Europaausschuss und vor einiger Zeit auch im Auswärtigen Ausschuss gesprochen haben, leistet ei- nen wesentlichen Beitrag. In den Jahren 2007 bis 2013 stellt die Europäische Union über 11 Milliarden Euro für die Nachbarschaftspolitik zur Verfügung. Für uns, die Union, ist Nachbarschaftspolitik – ich glaube auch für die gesamte Koalition zu sprechen – zivile Krisenvor- sorge. Dies bedeutet, dass wir Deutschen allein 500 Millionen Euro jährlich zusätzlich leisten, weil wir in der Europäischen Union einen Anteil von 28 Prozent an diesen 11 Milliarden Euro zu tragen haben. Dazu kommt Entwicklungspolitik als wichtiger Eck- pfeiler der zivilen Krisenprävention. Für den Bundes- haushalt 2012 ist eine Steigerung des BMZ-Plafonds um fast 114 Millionen Euro vorgesehen. Für die Förderung des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika und im Nahen Osten werden dem Auswärtigen Amt zusätzlich 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das ist ganzheitliche Außenpolitik. So viel zu Ihrer Kritik, die Mittel würden gekürzt. Of- fiziell sind sie – das kann man nachlesen – auf der Höhe von 2007, inoffiziell sogar ein Vielfaches höher. Ich glaube, ich habe das deutlich herausgestellt. Wichtig ist doch, dass wir Konflikte frühzeitig erken- nen. Wir brauchen das Frühwarnsystem – darin sind wir uns einig – und müssen Mittel ziviler und entwicklungs- politischer Krisenprävention aufgreifen. Dabei geht es nicht nur um die Förderung guter Regierungsführung, sondern auch um die diplomatische Vermittlung und die Mediation. Dazu kommen die Krisennachsorge und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio, in der Re- gel mit einem Mandat der Vereinten Nationen. Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus, und wir alle wissen: Erfolgreiche Politik lebt in allererster Linie von der Betrachtung der Wirklichkeit. Wo die militäri- sche Unterstützung der Krisenbewältigung unausweich- lich wird, müssen militärische Mittel mit Instrumenten ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusam- menwirken. Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird sicherlich erweitert werden; umfassende Sicherheit streben wir an. Dazu gehört auch menschliche Sicherheit. Dies müssen wir wirksam umsetzen. Uns in der Fraktion treibt es wirklich um, die Wirksamkeit der Mittel ziviler Krisen- prävention noch weiter zu verbessern. Ich möchte das an einer Reihe von Punkten darstellen. Erstens kommt es darauf an, egal um welche Art von Mission es sich handelt, ob zivil, polizeilich oder militä- risch, dass wir in der Ausbildung, in der Vorbereitung Expertise für kulturelle Befindlichkeiten vermitteln. Das haben wir in Afghanistan intensiv gelernt. Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch im VN-Mandat festzulegen. Erfolg und Misserfolg einer Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden müssen. Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere natio- nalen Interessen hin überprüft werden. Wir brauchen folglich eine föderale – andere nennen sie nationale – Si- cherheitsstrategie, deren Umsetzung wir auch jährlich im Parlament diskutieren sollten. Die Umsetzung wird sicherlich ein interessanter Punkt, Frau Müller und Frau Bulmahn, in unserem Unterausschuss. Ich komme zum vierten Punkt. Zur rechtzeitigen Auf- deckung von Krisen ist ein Frühwarnsystem erforder- lich, zu dem auch Nichtregierungsorganisationen einen wesentlichen Beitrag leisten können. In diesem Zusam- menhang könnten wir Ihrem Antrag inhaltlich folgen; das können wir aber in nur sehr wenigen Punkten. Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausge- bildetem Personal schaffen. Sie beklagen, dass sich so wenige Frauen bewerben. Aber es ist ja auch so: Wenn nur 15 Prozent der Bewerber Frauen sind und dann für 20 Prozent der Stellen Frauen ausgewählt werden, spricht das für die Qualität der Frauen. Ich sehe hierin keine Benachteiligung. Machen Sie Werbung, damit sich endlich mehr Frauen bewerben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Konzept der zi- vilen Krisenprävention ist zwar klar und wurde vielfach auf dem Papier bekräftigt. Wichtig ist aber – damit habe ich auch eingeleitet –, dass sechstens das vernetzte Den- ken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten der Fachministerien und im Friedensdienst verankert ist. Dazu brauchen wir mehr Vernetzung des konzeptionellen Denkens und gemeinsame Schulungen oder Ausbildun- gen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivi- len Partner untereinander wie auch mit der lokalen Bevöl- kerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete inter- nationale Plattform sind Regionalkonferenzen; national sollten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik aufwerten. Über diesen Ansatz sollten wir intensiv nach- denken, weil wir damit auf bestehende Ressourcen bauen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Antrag enthält zwar einige interessante Ansätze, die wir vertie- fen könnten; aber die Fundamentalkritik, die er enthält, können wir überhaupt nicht teilen. Ich habe heute deut- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12761 Roderich Kiesewetter (A) (C) (D)(B) lich gemacht, wie eine konstruktive, umfassende, ganz- heitliche Sicherheitspolitik aussehen kann. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Edelgard Bulmahn. (Beifall bei der SPD) Edelgard Bulmahn (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe als junge Abgeordnete hier im Deut- schen Bundestag erlebt, wie über die schrecklichen Er- eignisse in Srebrenica und Ruanda diskutiert wurde. Ich habe auch die Hilflosigkeit erlebt, die viele Kolleginnen und Kollegen, ich selber auch, damals dabei empfunden haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass die internationale Staatengemeinschaft aus diesen schrecklichen Ereignis- sen die richtigen Konsequenzen gezogen hat, nämlich einmal die Konsequenz, der zivilen Krisenprävention ein erheblich größeres Gewicht in ihrer Politik zu geben, und auch die Konsequenz, rechtzeitig Maßnahmen der zivilen Krisenprävention einzusetzen. Diesen Prinzipien trägt sie Rechnung, indem sie rechtzeitig Verantwortung auf sich nimmt, um zum Beispiel Völkermord zu verhin- dern. Vor zehn Jahren hat die damalige rot-grüne Bundesre- gierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenpräven- tion, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die Weichen dafür gestellt, dass auch die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ausdrücklich darauf abstellt, inter- nationale und innerstaatliche Konflikte friedlich zu lö- sen. Ein weiterer Meilenstein war der Aktionsplan aus dem Jahr 2004. Die Prävention von Gewalt und Krieg und die zivile Konfliktbearbeitung sollten – das war das Ziel – grundsätzlich Vorrang gegenüber militärischen In- terventionen haben. Mit dem Aktionsplan wurden die Voraussetzungen und die Strukturen dafür geschaffen, zum Beispiel das ZIF. Diese Strukturen, die wir mithilfe des Aktionsplans geschaffen haben, finden international hohe Anerken- nung. Hier wird auch sehr wirkungsvolle Arbeit geleis- tet. Für viele Nichtregierungsorganisationen bildet der Aktionsplan übrigens den Rahmen, in dem sie ihre wich- tige und notwendige Arbeit durchführen und ausbauen können. Ein weiteres wichtiges Zeichen war die Einrichtung des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und ver- netzte Sicherheit“ in dieser Legislaturperiode. Mithilfe dieses Unterausschusses ist erstmals eine kontinuierliche parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle sicherge- stellt. Auch das ist ganz wichtig und eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass zivile Krisenprävention wirk- lich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, die sie braucht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Arbeit im Unterausschuss – ich denke, das kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen sagen – ist kon- struktiv und auch zielgerichtet. Dennoch dürfen wir nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich denke, das müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen –, der Versuchung erliegen, alle Fragen, Probleme und Strate- gien ziviler Konfliktlösung ausschließlich im Unteraus- schuss zu behandeln, sodass sich die anderen Aus- schüsse, sei es der Auswärtige Ausschuss oder der Verteidigungsausschuss, oder auch das gesamte Parla- ment überhaupt nicht mehr mit diesen Fragen befassen. Das wäre eine falsche Entwicklung. Vielmehr müssen wir beides tun. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute Abend eine Debatte über die Ziele und Instru- mente ziviler Krisenprävention führen. Ein Blick auf die Uhr, ganz offen gesagt, macht aber auch deutlich, dass die parlamentarische Aufmerksamkeit noch ausbaufähig ist. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Ausbaufähig, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allen Dingen auch das Engagement der Bundesregie- rung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie hat es leider versäumt, in ihrer Außenpolitik der zivi- len Krisenprävention die prioritäre Rolle, die sie haben muss, zu geben. Ihr kommt derzeit diese prioritäre Rolle nicht zu. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Bun- desregierung die zivile Krisenprävention finanziell aus- bluten lässt. Fast ein Drittel der Mittel für Krisenpräven- tion, Friedenssicherung und Konfliktbewältigung – meine Kollegin hat darauf hingewiesen – ist schlichtweg weg- gefallen. Man kann natürlich auch so Schwerpunkte set- zen – keine Frage. Aber diese Schwerpunkte zeigen in die falsche Richtung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zu Recht haben deshalb die führenden deutschen Frie- densforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Friedens- gutachten die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundes- regierung in wirklich ungewöhnlich scharfer Form kritisiert. Sie fordern mit Nachdruck Vorrang für zivile Strukturen ein. Die Stichworte, die hier genannt werden, lauten: Krisenprävention, Konfliktanalyse, Konfliktbear- beitung, nachsorgende Konfliktbearbeitung und Diplo- matie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen – das trifft auf Parlamentarier aller Fraktionen zu –, dass es zwar nicht überflüssig ist, in Sonntagsreden die Bedeu- tung ziviler Krisenprävention zu betonen und zu unter- streichen – das ist sogar gut –, aber auch nicht ausrei- chend ist, wie es so schön heißt. (Beifall bei der SPD) Eine gute Politik zeichnet sich eben dadurch aus, dass bei Entscheidungen am darauffolgenden Montag der zi- 12762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Edelgard Bulmahn (A) (C) (D)(B) vilen Krisenprävention tatsächlich Vorrang eingeräumt wird. Das geht aber nicht, ohne dass dafür eine Basis ge- schaffen wird. In diesem Zusammenhang müssen wir leider auch über das Geld reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, sorgen Sie dafür – da haben Sie ganz bestimmt die Unterstützung der Opposition –, dass die Mittelausstattung für die Bereiche der zivilen Krisenprävention und auch für die Entwicklungshilfe 2012 wieder deutlich verbessert wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und dass sie in der mittelfristigen Finanzplanung – auch das ist wichtig – mit den gebotenen Zuwächsen abge- sichert wird. Zivile Krisenprävention und zivile Kon- fliktbearbeitung erfordern nämlich einen langfristigen Ansatz. Sie können keine Kurzatmigkeit vertragen; das muss man einfach so klar und deutlich sagen. Wenn sie kurzatmig betrieben werden, dann zeigen sie keine Wir- kung. Hier bedarf es also einer langfristigen Verlässlich- keit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Mehr Verlässlichkeit und politische Durchschlags- kraft sind im Übrigen auch in der personellen und inhalt- lichen Begleitung dieses Themenbereiches dringend er- forderlich. Der Ressortkreis ist sinnvoll – das wird niemand bestreiten –, aber nicht ausreichend; das muss ich auch an dieser Stelle sagen. Ein Staatssekretärsaus- schuss, wie ihn die SPD-Fraktion und auch Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Antrag vorgeschlagen haben, ist sinnvoll; denn damit wird ein Gremium geschaffen, das mit echten und finanziellen Entscheidungskompetenzen ausgestattet ist. Genau das brauchen wir. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Koalitionsfraktionen sich diesem Vorschlag anschließen würden. Es ist für niemanden von Nachteil, wenn er gute Vorschläge aufgreift. Man sollte sich in der Politik nicht genieren, dies zu tun. (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass die Koalitionsfraktio- nen diesen Vorschlag aufgreifen. Über den Vorschlag, den Sie, Herr Kollege Kiesewetter, gemacht haben, näm- lich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu einem Zentrum für zivile Krisenprävention auszubauen, sollten wir im Unterausschuss diskutieren. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber bitte kon- trovers!) Es ist aber sicherlich richtig, dass dies keine Alternative ist zu dem Vorschlag, den ich vorhin gemacht habe; denn beide Vorschläge beinhalten unterschiedliche Zielset- zungen. Wir werden sicherlich noch mehrere Schritte unternehmen müssen, damit wir das Ziel erreichen, der zivilen Krisenprävention ein größeres Gewicht zu verlei- hen. Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärti- gen Amt, eine wichtige Schnittstelle, muss aus seinem Schattendasein herausgeführt werden. Auch das ist rich- tigerweise angesprochen worden. Es reicht, ganz offen gesagt, nicht aus, dass dieser Beirat Informationen von der Bundesregierung erhält. Wir müssen das Potenzial und die Kompetenzen, die im Beirat vorhanden sind, besser nutzen. Dazu gehört auch, dass der Beirat eine ge- stalterische Rolle spielt. Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Forderun- gen, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hin- blick auf den Ausbau ziviler Krisenprävention in ihrem Antrag formuliert hat, in weiten Teilen mit Forderungen in unserem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, decken. Wir werden ihn daher mit allen Kräften unterstützen. Ich hoffe, dass wir für die Beratungen über beide Anträge im Ausschuss und Unterausschuss eine gute Grundlage ha- ben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir haben Ihnen zu danken. – Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte schön, Kollege Joachim Spatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie der SPD-Antrag, der hier vor einigen Wo- chen eingebracht worden ist, enthält auch der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einige bedenkenswerte An- sätze. Das ist kein Zufall; denn die meisten Themen fu- ßen auf Ergebnissen, die wir im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ gemeinsam erarbeitet haben. Diese Anträge greifen gewissermaßen dem vor, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollen nämlich im Herbst dieses Jahres einen Bericht vorlegen und eine Agenda mit Blick auf das, was noch zu tun ist, beifügen. Eines der Themen ist die mangelnde Aufmerksam- keit, die das Thema zivile Krisenprävention in der Öf- fentlichkeit genießt. Der ehemalige Kollege Nachtwei sagt zu diesem Thema, wir sollten mehr Konflikt wagen. Ich hoffe, dass diese Vorgabe, ein Stück weit Konflikt zu wagen – auch wenn er in der Sache nicht deutlich besteht –, dem Analyseteil des Antrags der Grünen geschuldet ist; denn einige Punkte, die dort erwähnt werden, kann man eher unter einen typischen Oppositionsreflex subsumie- ren und nicht unter eine tatsächliche Analyse dessen, was geschieht. Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Erstens. Es wurde gesagt, dass es noch nie so viele Friedensmissionen der VN gab. Unser Beitrag rangiere auf Rang 43. Die ganze Wahrheit ist, dass Bangladesch mit 10 800 Soldaten, Pakistan mit 10 700 Soldaten oder Nigeria mit 5 800 Soldaten vertreten sind. Über die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12763 Joachim Spatz (A) (C) (D)(B) Gründe will ich mich ausschweigen, jeder kann sie sich denken. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja? Warum denn?) Es gehört zur ganzen Wahrheit, festzustellen, dass der Einsatz für manche Länder vielleicht attraktiver ist. Wir sind diejenigen, die möchten, dass Kräfte aus sich in der Region befindenden Ländern entsprechende VN-Missio- nen bedienen und nicht immer nur die Europäer oder die Amerikaner. Man kann nicht fordern und am selben Tag kritisieren, dass wir unser Engagement an dieser Stelle zurückfahren. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind nicht näher am Kongo dran als Deutschland!) Im Übrigen gehört zum Gesamtbild auch, dass wir an Aktionen der UN beteiligt sind, auch wenn es sich nicht um VN-Mandate handelt. Der zweite Punkt sind die Mittelkürzungen im Aus- wärtigen Amt. Natürlich werden Sie immer diejenigen, die in der Koalition für dieses Thema einstehen, im Res- sourcenwettbewerb auf Ihrer Seite haben; aber es kann nicht sein, dass wir die zivile Krisenprävention haus- haltsstellengenau diskutieren. Vielmehr dürfen gerade diejenigen, die einen ressortübergreifenden Ansatz für sinnvoll halten, nicht vergessen, dass wir eine erhebliche Mittelaufstockung im zivilen Teil des Afghanistan-Ein- satzes zu verzeichnen haben und auch in den Nordafrika- Einsatz erheblich mehr Geld investieren. Wenn wir die Haushaltsstellenlogik für eine Sekunde beiseitelassen und den umfassenden Ansatz betrachten, dann wird deutlich, dass wir sehr viel mehr als bisher in diesen Be- reich investieren. Mein dritter Punkt ist die vernetzte Sicherheit. Eines verstehe ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht – wenn man einmal von der Diskussion, die einige in der NGO-Szene zu dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ und seiner Problematik führen, absieht –: Es geht doch nicht, dass Sie in Ihrem Antrag an verschiedenen Stellen auf der einen Seite behaupten, die Bundesregierung wolle dem Primat des zivilen Ansatzes nicht zum Durchbruch verhelfen, und auf der anderen Seite die militärische Zu- rückhaltung in Libyen kritisieren. Das passt nicht zu- sammen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass man, wenn man den Grundsatz der Responsibility to Protect hochhält – wenn man dies anders beurteilt als die Bun- desregierung, dann kann man das tun –, nicht im selben Atemzug kritisieren kann, dass wir das Primat des Zivi- len nicht zur Umsetzung bringen. Das passt nicht zusam- men. (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das haben wir nicht getan!) In der weiteren Beratung werden wir natürlich die gu- ten Aspekte, die in den vorliegenden Anträgen vorhan- den sind, berücksichtigen, auch beim Thema Kapazitäts- aufbau. Das sei sehr wohl anerkannt. Aber bei den Themen Polizei, Verwaltung oder Justizaufbau müssen wir natürlich dicke Bretter bohren. Das alles wird nicht so schnell funktionieren, wie es auch in den USA, die das an vielen Stellen vorgemacht haben, nicht funktio- niert hat, ohne dass es einen entsprechenden Ressour- cenwettbewerb im Kongress gegeben hat. Diejenigen, die sich für das Thema interessieren, werden den Res- sourcenwettbewerb gerne mitmachen, um für das ge- meinsame Ziel der zivilen Krisenprävention einen noch stärkeren Beitrag zu leisten und eine noch größere Auf- merksamkeit in Deutschland zu erreichen. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. – Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! 28 Kriege und 126 weitere Gewaltkonflikte erschüttern in diesem Moment unseren Planeten. Diese vielen Kon- flikte erfordern ganz dringend von uns, zu überlegen, was wir dazu beitragen können, dass sie ohne Gewalt be- arbeitet und gelöst werden. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen ist die Stärkung der zivilen Konfliktbearbei- tung ein wichtiges Anliegen, insbesondere für eine Frie- denspartei wie die Linke. Die Grünen schlagen nun viele einzelne Maßnahmen vor, die zum Teil in die richtige Richtung weisen: Erstens wollen Sie den Aktionsplan „Zivile Krisen- prävention“ weiterentwickeln und ihn mit klaren Ziel- vorgaben, Strategien und einem Zeitplan versehen. Das ist, um es einmal mit den Worten der Kollegin Bulmahn zu sagen, „sinnvoll …, aber nicht ausreichend“. Ohne eine klare Abgrenzung zu militärischen Maßnahmen bleiben der Aktionsplan und Ihr Antrag leider nur Fas- sade. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Auch den systematischen Aufbau ziviler Ressourcen, wenn es zum Beispiel um Richter oder Ver- waltungsfachleute für zivile Missionen geht, unterstüt- zen wir. Wir sind allerdings dagegen, Polizeimissionen etwa in Afghanistan als schlecht verkappten Ersatz für Militäreinsätze zu benutzen, nur weil sie vielleicht poli- tisch leichter durchzusetzen sind. Ich hoffe, da habe ich Sie an unserer Seite. Denn einen solchen Missbrauch von Polizistinnen und Polizisten lehnt die Linke ab. (Beifall bei der LINKEN) 12764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Kathrin Vogler (A) (C) (D)(B) Drittens haben wir im letzten Jahr die schwarz-gelben Kürzungen der Mittel im Bereich der zivilen Konfliktbe- arbeitung gemeinsam scharf kritisiert. Auch die Linke fordert mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen in der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Aber die Mittel für die schwarz-gelbe Bundeswehrreform, für die Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir schon seine Unterstüt- zung zugesagt hat, liebe Frau Müller, können nicht mehr für anderes, Sinnvolleres ausgegeben werden. Das muss auch einmal gesagt werden. Bei einem solchen Sammelsurium politischer Forde- rungen wie in Ihrem Antrag muss man schon einmal ge- nauer hinschauen, vor allem, um zu erkennen, was fehlt. Mich hat zum Beispiel gewundert, dass Sie gar nichts zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und den Roh- stoffkonflikten sagen. Gerade jetzt, wo die sudanesische Armee in die Erdölprovinz Abyei einmarschiert ist, liegt das Thema bei solch einem Antrag doch auf der Hand. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die allermeisten Konflikte haben doch wirtschaftli- che Hintergründe, für die die Bundesrepublik und die EU mit ihrer Außenwirtschaftspolitik mitverantwortlich sind. Wir hatten einmal einen Bundespräsidenten – ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern –, der das ganz of- fen ausgesprochen hat und dann gehen musste. Was wir brauchen, ist eine konsequente Krisenprävention durch gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen und sozial- ökologischen Umbau. (Beifall bei der LINKEN) Last, not least: Der Knackpunkt bei der Glaubwürdig- keit friedlicher und ziviler Außenpolitik ist für die Linke der Gewaltverzicht, der in Ihrem Antrag leider gar nicht vorkommt. Ich sage es auch mit Blick auf die Position von SPD und Grünen zum Libyen-Krieg: Wer – unter welchem Vorwand auch immer – Kriege führt, der kann meiner Ansicht nach keine glaubwürdige Friedenspolitik machen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie schreiben selbst, dass es im Zusammenhang mit dem „Schutz der Zivilbevölkerung“ und „der Bekämpfung nichtstaatlicher Gewaltakteure“ „schier unlösbare Di- lemmata“ gibt. Ja, genauso ist es doch: Krieg ist kein Schutz vor Gewalt; Krieg bedeutet immer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Das sehen wir in Afghanistan, in Libyen und überall da, wo die NATO Kriege führt. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die NATO Kriege führt? – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber! Das ist ja schon wieder wie heute Nachmittag!) Gerade deswegen ist die zivile Konfliktbearbeitung so wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, hier müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen: zivile Konfliktbearbeitung nur als Feigenblättchen für Militär- einsätze oder als echte Alternative zu einer Politik der Gewalt. Sie kritisieren den Begriff der vernetzten Si- cherheit nur halbherzig. Sie tun so, als hätten die NGOs ein Wahrnehmungsproblem, wenn sie diesen Begriff kri- tisieren; man müsse ihn nur klarer formulieren und bes- ser kommunizieren. Nein, das sehe ich nicht so. (Joachim Spatz [FDP]: Wir schon!) Dieser Begriff weist in die ganz falsche Richtung. Das ganze Konzept gehört auf den Müllhaufen. Ich bitte Sie da um Unterstützung. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Treten Sie bitte mit uns ge- meinsam dafür ein, dass der Gewaltverzicht zum Leit- bild deutscher Außenpolitik wird und die zivile Kon- fliktbearbeitung zu seinem Instrumentenkasten. Dabei hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir lassen Ihnen aber keine Mogelpackungen durchgehen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Alois Karl. Bitte schön, Kol- lege Alois Karl. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alois Karl (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag der Grünen, der auch die friedenspolitischen und präven- tiven Aufträge des Europäischen Auswärtigen Dienstes berührt. Wenn man schon etwas länger im Haus tätig ist, weiß man, dass sich dieser Antrag in eine Reihe von An- trägen eingliedert, die in regelmäßigen Abständen einge- bracht werden. Man kann sie als Gutmenschenanträge bezeichnen. Wahrscheinlich sind sie Ausdruck Ihrer Tra- dition als Friedensbewegung. Man könnte meinen, wir hörten Versatzstücke aus Redebeiträgen, die bei Oster- märschen gehalten wurden. Heute soll es also um den Europäischen Auswärtigen Dienst gehen. Die Außenpolitik Europas soll auf die Friedensbemühungen, auf friedenserhaltende Maßnah- men reduziert werden. Krisenprävention und Konflikt- bearbeitung, die ausgeglichene Besetzung der Positionen durch Männer und Frauen und Gender-Mainstreaming sollen weltweit eingeführt werden. Liebe Frau Müller, die Vorgeschichte des Europäi- schen Auswärtigen Dienstes stützt Ihre Forderungen al- lerdings nicht. Der Auswärtige Dienst ist vor ungefähr einem halben Jahr eingerichtet worden und hat die Ar- beit aufgenommen. Er soll ermöglichen – das ist die In- tention –, dass Europa mit einer Stimme spricht. Der vielstimmige Chor Europas, von dem früher immer die Rede war, soll aufhören, zu existieren. Der Spruch aus Amerika, Europa solle eine Telefonnummer haben, ist uns in Erinnerung. Das wollten wir mit der Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes in die Wege lei- ten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12765 Alois Karl (A) (C) (D)(B) Wir wollen keine Doppelstrukturen. Wir wollen die Koordinierung der zivilen, aber auch der militärischen Aufgaben im Europäischen Auswärtigen Dienst zusam- menführen. Wir wissen, dass es gemeinschaftliche Ver- teidigungsbemühungen geben muss. Das zeigt sich da- ran, dass der Europäische Auswärtige Dienst Aufgaben der gemeinschaftlichen Verteidigungs- und Sicherheits- politik übernommen hat und der Militärstab hinzuge- kommen ist. Sicherheitspolitische Aufgaben ergeben sich welt- weit, also über Europa hinaus. Der Balkan-Konflikt, der Kosovo, Bosnien-Herzegowina und afrikanische Staaten fordern uns. Auch das gehört zur europäischen Außen- politik. Hierzu gehören aber auch die humanitären Auf- gaben, die Beachtung der Menschenrechte und der freie und faire Handel, gerade auch in der Außenwirtschafts- politik. Warum die Kollegin der Linken, die das Feld leider schon räumen musste, in diesem Zusammenhang gesagt hat, dass der Konflikt im Südsudan die Außenwirt- schaftspolitik in einer schändlichen Weise beeinträchtigt, bleibt ihr Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Konflikt, der sich um das Öl im Südsudan dreht, anderen zugute- kommt, zum Beispiel den Chinesen, und es dabei in gar keiner Weise um deutsche Interessen geht. Ich meine, dass die Aussage, dass Gewalt gegen die Zivilbevölke- rung auch durch unser Handeln ausgelöst wird, völlig verkehrt ist. Da sollten sich die Linken zurückhalten und vielleicht einmal darüber nachdenken, wie das 1968 bei dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war, welche Gewalt damals gegen die Zivilbevölkerung verübt wor- den ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Militärische Mittel sind die Ultima Ratio. Das wissen wir. Wir wissen auch, dass die Menschenrechte Gegen- stand der auswärtigen Politik in Deutschland und Ame- rika sind. Rein ziviles Handeln ist in der Außen- und Si- cherheitspolitik aber nicht möglich. Wir wissen, dass wir noch einen weiten Weg zu einer abgestimmten europäi- schen Außenpolitik vor uns haben. Das wird klar, wenn wir uns das Vorgehen im Zusammenhang mit dem Li- byen-Konflikt anschauen: Frankreich und Großbritan- nien haben im Sicherheitsrat für die militärische Opera- tion gestimmt. Deutschland hat zwar dagegen gestimmt, unterstützt aber die humanitären Einsätze und hilft bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Der EAD ist noch nicht so weit. Das wissen wir. Das unglückliche Auftreten Europas im Zusammenhang mit Libyen liegt möglicherweise auch daran, dass die Domi- nanz der Hohen Vertreterin, Lady Ashton, noch im Ver- borgenen blüht. Möglicherweise liegt es nicht nur an der verborgenen Dominanz, sondern vielleicht auch an der verborgenen Kompetenz. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Weg ist klar. Wir möchten, wie es der Kollege Roderich Kiesewetter gesagt hat, in Europa eine vernetzte und umfassende Sicherheitspolitik leisten. Uns ist klar, dass eine einseitige Ausrichtung der Außen- und Sicherheits- politik nicht zum Erfolg führen kann. Die Koalition hat schon vor Jahresfrist einen entsprechenden Antrag ein- gebracht und durchgesetzt. Darin heißt es, dass die Kunst guter Politik darin besteht, den zivilen und militä- rischen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik den richtigen Stellenwert zukommen zu lassen. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege, jetzt haben Sie es geschafft. Sie haben eine Zwischenfrage hervorgerufen. Würden Sie die zu- lassen? Alois Karl (CDU/CSU): Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Die Kolle- gin kann dann gleich eine Kurzintervention machen. Da der Antrag der Grünen die Bedeutung des Zusam- menspiels der zivilen und militärischen Aspekte ver- kennt, ist diesem Antrag schon allein aus diesem Grunde kein Erfolg beschieden. Ich denke, wir lehnen ihn mit großer Mehrheit ab. Mehr ist mit diesem Antrag leider nicht zu machen. Ich danke herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Alois Karl. – Jetzt zu einer Kurzintervention unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Wo waren Sie denn gerade? Wären Sie mal dabeigeblieben!) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Kollege, ich habe dem Kollegen Karl direkt ge- sagt, dass ich den Saal kurz verlassen musste. Von daher ist Ihre Bemerkung eine ziemliche Zumutung. (Zurufe von der CDU/CSU: Die ganze Rede war eine Zumutung!) Ich möchte mich jetzt nicht auf die ganze Rede bezie- hen, sondern nur auf die Schlusspassage, insbesondere auf den Satz, in dem Sie gesagt haben, dass diese Koali- tion das Zusammenspiel von militärischen und zivilen Instrumenten besonders in den Mittelpunkt ihres Han- delns stellt. Offensichtlich haben Sie nach zehn Jahren Afghanistan-Krieg immer noch nicht gemerkt, dass wir uns mit den militärischen Mitteln in eine Sackgasse be- geben. Ich möchte Sie als Bundesregierung auffordern, da- raus endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie sollten die zehn Jahre Afghanistan-Krieg auswerten, bewerten und schließlich feststellen, dass alle uns ver- kündeten politischen Ziele dieses militärischen Einsatzes nicht erreicht worden sind und der Einsatz gescheitert ist. Sie sollten jetzt auf die zivile Konfliktbearbeitung setzen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäi- schen Union und dem Europäischen Auswärtigen Dienst. Sie sollten dem Einsatz eine zivile Grundlage ge- ben. Der fatale Weg der Unterordnung des Zivilen unter das Militär, des Missbrauchs von humanitären Hilfsorga- nisationen für militärstrategische Ziele, der Konditionie- 12766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Kathrin Vogler (A) (C) (D)(B) rung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für militärstrategische Ziele muss aufgegeben werden. Sie müssen sich auf einen neuen Weg machen. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Diese Kurzintervention ist ein Missbrauch!) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Alois Karl, Sie haben die Möglichkeit zu ei- ner Erwiderung. Alois Karl (CDU/CSU): Auf Ihre Rede, so bedeutend sie auch war, bin ich in meiner Rede nicht eingegangen, da Sie vorhin leider weg mussten. Sie sprechen in Ihrer Kurzintervention ein ganz anderes Thema an. Dazu möchte ich Ihnen in aller Klarheit sagen: Die Intervention in Afghanistan wurde unter der Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer eingeleitet. Wir mussten sie jetzt weiterführen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Beenden Sie es doch!) In unserer Regierungszeit werden die deutschen Solda- ten Afghanistan verlassen. Ich sage Ihnen noch etwas: Der zivile Einsatz in Afghanistan hat dazu geführt, dass Hunderttausende von Mädchen erstmals eine Schule besuchen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein ziviler Aspekt des Einsatzes in Afghanistan. Wenn wir heute Tausende von Polizisten ausbilden, um damit Afghanistan in die Lage zu versetzen, das Heft des Handelns dort selbst in die Hand zu nehmen, dann be- deutet das eine hervorragende Perspektive für das ge- knechtete Land, das über Jahrhunderte nicht selbst über sich bestimmen konnte. Ich meine, dass sich der Einsatz, wenn sich diese Ziele alsbald realisiert haben, gelohnt hat. Ich gratuliere und danke allen, die dort ihre schwere und schwierige Arbeit machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen herzlichen Dank. – Ich glaube, wir stimmen überein, dass ich die Aussprache jetzt schließe. Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 17/5910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen mit dem Titel „Den friedenspolitischen und krisen- präventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5307, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4043 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Tagesordnungspunkt 17: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi- schen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe (KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge- setzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Katastrophenabwehr in Europa effektiv ge- stalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi- schen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe (KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge- setzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809 – Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gerold Reichenbach Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Frank Tempel Dr. Konstantin von Notz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Ich verzichte auf die Verlesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. – Sie sind damit einverstanden. (A) (C) (D)(B) Beatrix Philipp (CDU/CSU): Wir sprechen heute über zwei Anträge: über den An- trag der Koalitionsfraktionen „Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten“ und über den Antrag der Fraktion Die Linke. Beide Anträge beruhen auf der Mit- teilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: „Auf dem Weg zu einer verstärkten euro- päischen Katastrophenabwehr: Die Rolle von Katastro- phenschutz und humanitärer Hilfe.“ Diese Mitteilung der EU-Kommission an das Europäische Parlament und den Rat soll Grundlage sein – für einen effektiveren Ka- tastrophenschutz. Damit wird eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Erstens sollen bestehende europäische Ab- wehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitglied- staaten ausgebaut werden, und zweitens soll für den Ka- tastrophenfall ein europäisches Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Informationsaustausch und somit eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene ein- gerichtet werden. Aber bei allem Verständnis für Bemühungen um Ver- besserungen der Teufel steckt wieder mal im Detail: Be- reits im Februar dieses Jahres befasste sich der Deut- sche Bundestag mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Bis heute hat sich unsere Auffassung zu diesem Antrag nicht geändert, sodass ich, um unnötige Wieder- holungen zu vermeiden, auf das bereits im Februar Ge- sagte verweisen kann. Nun zum Antrag der christlich-liberalen Koalitions- fraktionen, der im Grundsatz die Vorschläge der Kom- mission, eine effektivere und effizientere Katastrophen- abwehr zu entwickeln, unterstützt. Wer wollte das nicht! Als grundsätzliche Maßnahmen dafür sind vorgese- hen: die Entwicklung von sogenannten Referenzszena- rien für die wichtigsten Arten von Katastrophen, die weitere Inventarisierung bestehender nationaler Res- sourcen – auch im Bereich Transport und Logistik – und die damit verbundene Beschleunigung bei der Mobilisie- rung. Dazu gehört es auch, die Instrumente des Kata- strophenschutzes und der humanitären Hilfe besser mit- einander zu verbinden. Wir hoffen, dass die daraus erwarteten Synergie- effekte auch die Arbeit der Vereinten Nationen unterstüt- zen. Eine grundsätzlich bessere Zusammenarbeit verschiedener europäischer Einrichtungen kann nur be- grüßt werden. So befürworten wir die engere Verzah- nung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe und die verstärkte Koordinierung zwischen dem Beob- achtungs- und Informationszentrum – bekannt unter dem Namen Monitoring and Information Center, kurz MIC – und der Krisenstelle für humanitäre Hilfe, ECHO. Aber die Schaffung einer neuen EU-Einsatzzen- trale in Form eines unabhängigen und weisungsgebun- denen europäischen Notfallabwehrzentrums müssen wir ablehnen. Dies würde Art. 196 AEUV widersprechen und ist zudem auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst. Eine derartige „EU-Einsatzzentrale“ würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich später noch eingehen werde. Um dem europäischen Gemeinschaftsgedanken aber Rechnung zu tragen, wird auch die verbesserte Sichtbar- Zu Protokoll machung der EU-Hilfen – in Form von Beschriftung auf Transportgütern und Bekleidung – als positiv erachtet. Es sollten aber die nationalen Symbole der Entsende- staaten weiterhin Erwähnung finden. Auch wenn dies, oberflächlich betrachtet, als unbedeutend für die effekti- vere Katastrophenabwehr erscheint, so haben die Bür- gerinnen und Bürger der EU ein Recht auf genaue, umfassende Informationen über die Reaktionen der Europäischen Union im Katastrophenfall. Aber, da nichts so gut ist, dass es nicht noch besser werden könnte, unterstreicht der Antrag der Koalitions- fraktionen mehrere Forderungen des Deutschen Bun- destages gegenüber der Kommission. Die Ziele der Eu- ropäischen Union sind klar: Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Katastrophenschutzes, Förderung einer schnel- len und effizienten Zusammenarbeit zwischen den einzel- staatlichen Katastrophenschutzstellen und Verbesserung der Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf in- ternationaler Ebene. So nachzulesen im Art. 196 des Ver- trages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen der Zusammenarbeit deutlich markiert werden. So finden wir in Abs. 2 des Art. 196 AEUV den Hin- weis auf die Selbstständigkeit und das bereits erwähnte Subsidiaritätsprinzip. Dort heißt es – ich zitiere: Das Europäische Parlament und der Rat erlassen, unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforder- lichen Maßnahmen zur Verfolgung der Ziele des Absatzes 1. Die Einhaltung des Substitutionsverbotes und die Be- achtung des Subsidiaritätsprinzips sind unabdingbar. Zur Verdeutlichung: Das Substitutionsverbot meint, dass EU-Maßnahmen nicht an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten treten dürfen, sie nicht ersetzen dürfen. Flankiert wird das Verbot vom besagten Subsi- diaritätsprinzip, das bedeutet, dass auf EU-Recht nur zurückzugreifen ist, wenn keine nationalen Vorschriften bestehen. Will heißen: zuerst immer die kleine Einheit. Dieses Prinzip ist eine der wesentlichen Verhaltensre- geln, die sich der Staatenbund 1992 mit dem Maastrichter Vertrag auferlegt hat. Wir kennen es aus vielen Bereichen. Deutschland ist mit seinem dezentralen Katastrophen- schutzsystem sehr gut aufgestellt. Die Feuerwehren, die vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, die auf eh- renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio- nalen Strukturen beruhen, haben sich in der Vergangen- heit stets bewährt. In Deutschland engagieren sich über 1,36 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastro- phenschutz. Zu einer verantwortungsbewussten Daseinsvorsorge des Staates aber gehört die Schaffung einer flächende- ckenden Struktur im Katastrophenschutz; dies ist eine Kernaufgabe. Viele Hilfsorganisationen – Malteser, Johanniter, DRK, ASB, um nur einige zu nennen – und auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk genießen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12767 gegebene Reden Beatrix Philipp (A) (C) (D)(B) im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Und das sehr begründet! Hier werden Kompetenz und die Verbin- dung zwischen Haupt- und Ehrenamt besonders deutlich sichtbar. Die Helferinnen und Helfer beweisen das täg- lich in ihren inländischen und ausländischen Einsätzen. Diesen Freiwilligen können wir dankbar sein, ja, wir können stolz auf sie sein! Anspruch und Ausgangsbasis darf sicherlich der hohe deutsche Standard sein. Wenn in einem anderen Mitgliedstaat dieser allerdings nicht erreicht wird, so ist es zunächst Aufgabe dieses Staates, durch eigene An- strengungen aufzuschließen. Das bedeutet: Die EU muss koordinierend darauf hinwirken, dass die Lücken durch die Mitgliedstaaten selbst geschlossen werden. Es darf also durch die EU zu keiner „Vergemeinschaftung“ der Defizite der Mitgliedstaaten im Katastrophenschutz kommen. Ich betone aber, dass sich Deutschland seiner solidarischen Rolle in der Europäischen Gemeinschaft bewusst ist und sich der Verantwortung nicht entziehen will und auch nicht wird. Deutschland hat mit seinen Nachbarstaaten und weiteren Ländern bilaterale Hilfe- leistungsabkommen geschlossen. Diese bilateralen Not- hilfemechanismen sind regelmäßig zuerst zu aktivieren, bevor auf die Katastrophenschutzinstrumente der EU insgesamt zurückgegriffen wird. Dies ist zurzeit auch gängige Praxis. Ich betone erneut: Eine von den Mitgliedstaaten un- abhängige, eigenständige Katastrophenabwehr auf EU- Ebene lehnen wir ab. Die Verantwortung hat bei den Mitgliedstaaten zu verbleiben. Auch bei der Errichtung eines Ressourcenpools muss das volle Verfügungsrecht und insbesondere das Letztentscheidungsrecht über den Einsatz der Ressourcen bei den Mitgliedstaaten verblei- ben. Nicht zuletzt die Ereignisse in Japan haben erneut – und das sehr schmerzlich – verdeutlicht, dass Kata- strophen keine ausschließlich nationalen Angelegenhei- ten sind. Weltweit hat sich die Zahl der Katastrophen zwischen 1975 und heute auf das Fünffache – von 78 auf knapp 400 – erhöht. Allein in Europa waren in den letz- ten 20 Jahren mehr als 29 Millionen Menschen von Na- turkatastrophen betroffen. Dass die Abwehr von Kata- strophen keine allein nationale Aufgabe ist, ist allen Beteiligten bewusst. Wir müssen alle handeln, dies aber im Rahmen von nationalem und europäischem Recht. Abschließend fasse ich zusammen und zitiere aus un- serem Antrag: Die Bundesregierung ist – erstens – auf- gefordert, die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen als Grundlage für die Verhandlungspositionen zu künftigen Rechtsänderungsvorschlägen im Rahmen der Europäischen Katastrophenabwehr zu nutzen; 2. bei allen Überlegungen und Maßnahmen zum Ausbau des europäischen Katastrophenschutzes auf die Beachtung des Substitutionsverbots und des Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken; 3. Maßnahmen zu unterstützen, die das Gemein- schaftsverfahren effizienter und effektiver machen sowie die Mobilisierung der verfügbaren Ressour- Zu Protokoll cen beschleunigen, bei gleichzeitiger Förderung der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten. Ich darf Sie bitten, der Beschlussempfehlung des In- nenausschusses zu folgen. Gabriele Fograscher (SPD): Zunächst möchte ich für meine Fraktion klarstellen, dass der europäische Koordinierungsmechanismus bei internationalen Einsätzen intensiv mit dem Koordinie- rungsmechanismus der Vereinten Nationen zusammen- arbeiten muss. Bei internationalen Einsätzen außerhalb der EU ist der Koordinierungsmechanismus der Verein- ten Nationen verbindlich, Europa ist hier nur unterstüt- zend tätig. Zu begrüßen ist, dass wir durch die vorliegenden An- träge heute über den Katastrophenschutz und die huma- nitäre Hilfe auf EU-Ebene diskutieren. Trotz aller notwendigen Kritik an den vorliegenden Kommissions- mitteilungen bedeuten diese Vorlagen in keiner Weise eine drohende Militarisierung der europäischen Außen- politik und der europäischen Katastrophenhilfe. Neben den durchaus richtigen Ansätzen im Koali- tionsantrag erwarten wir, dass die Bundesregierung zü- gig ein eigenes Konzept für das im Lissabonner Vertrag festgeschriebene humanitäre Freiwilligencorps vorlegt. Teil dieses Konzeptes muss es sein, die in Deutschland bewährten Freiwilligenstrukturen in der humanitären Hilfe, die durch das THW, das DRK, die Feuerwehren sowie eine weitere große Zahl nicht staatlicher Hilfs- organisationen geprägt sind, mit ihrem Potenzial und ih- rer Kompetenz vernünftig einzubinden. Auch hier darf auf europäischer Ebene kein Parallel- oder Konkurrenz- mechanismus geschaffen werden. Unsere Befürchtung ist, dass die Bundesregierung abwartet und die entspre- chenden Konzepte von anderen europäischen Ländern in deren Sinne gestaltet und vorgelegt werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tre- ten für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler, als auch auf internatio- naler Ebene. Ich möchte hier nur an einige Initiativen, etwa die un- ter Rot-Grün vorgenommene Einrichtung des Bundes- amtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe oder auch die von der Großen Koalition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Kata- strophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergän- zungsgesetz erinnern. Da bekannt ist, dass Katastrophen und Krisen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, und wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tief ver- wurzelt sind in der Tradition internationaler humanitä- rer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationa- len Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene. Dabei haben wir immer betont, dass sich das subsidiäre Prinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten muss. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefah- ren und Herausforderungen muss es im Interesse aller europäischen Länder sein, zuerst die örtlichen und 12768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Gabriele Fograscher (A) (C) (D)(B) nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stärken und auszubauen. Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entschei- dend, angesichts der Herausforderung und der Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Kata- strophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstren- gungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien ge- genüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stärkere An- strengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaf- ten und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und Steuerungssysteme. Die Zunahme internationaler Krisenherde erfordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninter- ventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisatio- nen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in in- ternationalen Krisenszenarien gespielt haben, spielen und spielen werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür einge- treten, die zivile gegenüber der militärischen Kompo- nente bei der Bewältigung von Krisenlagen zu stärken, und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der internationalen Mechanismen. Wir stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastro- phenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf na- tionaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der CDU/ CSU zu einer stärkeren Militarisierung des Katastro- phenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalis- musreform I als auch in der Großen Koalition am klaren Widerstand der Sozialdemokratischen Partei gescheitert sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amts- hilfe den Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies unser Grundgesetz vorsieht, und dies gilt nicht nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zu- ständigkeiten kommen, und gerade in sogenannten kom- plexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für interna- tionale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität muss bestehen. Und hier ist der Antrag der Linken ein- deutig über das Ziel hinausgeschossen. In bestimmten Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstüt- zung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transport- bereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Ge- rät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte. Zu Protokoll Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi- schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder- heiten anderer europäischer Länder zu respektieren. Die Nutzung von militärischen Mitteln der Mitglied- staaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich Bezug nimmt. Und diese Osloer Leitlinien umfassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das Techni- sche Hilfswerk gehört. Die Bundesrepublik Deutschland wird künftig nicht auf den Einsatz des Technischen Hilfs- werks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichten. Viele Länder beneiden uns um unseren zivilen Katastrophenschutz. Deshalb werden wir ihn auch weiterhin stärken. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am besten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus- gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich- keiten. Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bis- herige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufga- ben des Staates. Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu- sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den Zentralisierungsabsichten der EU. Das gezierte antimi- litärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophen- abwehr. Wie der Antrag der Linken zu Recht ausdrückt, ist auch davor zu warnen, die Sichtbarkeit der EU-Hil- fen als Selbstzweck zu verfolgen. Bei der Katastrophenabwehr kommt es in erster Linie auf das Vorhandensein leistungsfähiger und effizienter Katastrophenabwehrkapazitäten in den Mitgliedstaaten an. Die Bereitstellung eigener Ressourcen auf EU- Ebene einschließlich der operativen Verfügungsgewalt der Kommission über diese Ressourcen würde die Mit- gliedstaaten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen, statt diese zu fördern; das wäre kontraproduktiv. Zudem würde sie gegen Art. 196 AEUV verstoßen. Die Unter- stützung und Ergänzung durch die EU darf sich danach allein auf die Tätigkeit der Mitgliedstaaten beziehen. Für eine parallele Zuständigkeit der Union gibt es keine Rechtsgrundlage. Basis für gemeinsame Einsätze sind daher allein die Ressourcen der Mitgliedstaaten. In der Bundesrepublik Deutschland sind für den operativen Bereich maßgeblich die Länder zuständig. Im dezentra- len deutschen Katastrophenschutzsystem spielen vor al- lem die Feuerwehren sowie viele nicht staatliche Hilfsorganisationen eine Rolle, die auf bewährten eh- renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12769 gegebene Reden Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) (C) (D)(B) nalen Strukturen beruhen. Das Technische Hilfswerk steht regelmäßig auch bei Katastrophen im inner- und außereuropäischen Ausland zur Verfügung. Es ist nicht Aufgabe der EU, eine eigene Katastro- phenabwehr neben derjenigen der Mitgliedstaaten auf- zubauen. Dies würde nicht zuletzt die hervorragenden ehrenamtlichen Kräfte des Bevölkerungsschutzes in Deutschland in ihrer Arbeitsweise maßgeblich beein- trächtigen. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Am vergangenen Sonntag, dem 22. Mai, eröffnete die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, eine Vertretung der EU in der libyschen Stadt Bengasi. Diese wird in demselben Gebäude unterge- bracht sein wie die Vertretung der Vereinten Nationen und zahlreiche internationale Organisationen, darunter auch das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA, der UN. Von dessen Zustimmung hängt die Durchführung der EU-Militärmission EUFOR Libya ab, die gegenwärtig vorbereitet wird. Offiziell soll dieser Einsatz humanitäre Ziele verfolgen, aber auch Boden- truppen, unter anderem aus der European Battlegroup, beinhalten. Wie praktisch, dass sich der Europäische Auswärtige Dienst, EAD, der diesen Einsatz vorbereitet, in Bengasi bereits mit der humanitären Organisation, die ihm das Plazet erteilen soll, ein Dach teilt. Viele humanitäre Organisationen haben sich jedoch sehr deutlich gegen einen solchen geplanten Militärein- satz der EU gewandt, weil sie unter diesen Bedingungen ihre Arbeit kaum fortsetzen könnten. Sie nehmen der EU auch ganz zu Recht ihre humanitäre Zielsetzung nicht ab, weil die EU zugleich Flüchtlinge aus Libyen brutal zurückweist und ertrinken lässt. Die Linke schließt sich hier den Ärzten ohne Grenzen an, die vor einer Woche in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU schrieben: Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch, mit dem Eingreifen in den Krieg Zivilisten zu schüt- zen. Andererseits schließen sie gleichzeitig die Grenzen für die Opfer dieses Krieges – unter dem Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Ein- wanderer verhindern zu müssen. Ihre vermeintliche Humanität hört spätestens an den EU-Außengrenzen auf und ist an Ihrem Umgang mit schutzsuchenden Menschen erkennbar. Statt immer nur zu schießen, sollten Bundesregierung und EU endlich anfangen, tatsächlich zu helfen, indem man Schutzsu- chende aufnimmt. Wie katastrophal die Folgen eines militärischen Ein- satzes zur humanitären Hilfe sein können, hat sich An- fang der 1990er-Jahre in Somalia gezeigt. Das Schei- tern dieses Konzeptes bei der UN-Mission UNOSOM und dem US-Einsatz „Restore Hope“ hat Folgen bis heute. Fast 9 Millionen Menschen am Horn von Afrika sind nach Angaben des World Food Programme, WFP, von Lebensmittellieferungen abhängig. Am 18. Mai warnten Hilfsorganisationen vor einer weiteren Ver- schärfung des Hungers in Somalia aufgrund ausbleiben- Zu Protokoll der Regenfälle und fehlender finanzieller Mittel. Etwa 53 Millionen US-Dollar würden benötigt, um die Men- schen mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch was tut die EU? Sie finanziert aus den Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds einen sinnlosen Häuserkampf zwi- schen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM, und Milizen in Mogadischu, der jährlich 500 Millionen US-Dollar verschlingt. Das alles hat sehr viel mit der Mitteilung der Kommission zu europäischem Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun; denn all diese Maßnahmen werden vom EAD koordiniert. Dieser soll zukünftig eine noch zentralere Rolle bei Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe spielen und – so die EU-Kommission – die „Kohärenz zwischen der Katastrophenabwehr einerseits und möglichen politi- schen und sicherheitspolitischen Elementen“ verbes- sern. Der EAD hat aber den Zweck – das hat die EU-Au- ßenbeauftragte Catherine Ashton in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am 10. März 2010 sehr deut- lich gesagt –, den europäischen Zugriff auf die weltwei- ten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu verbessern und gegen die aufstrebenden Schwellenländer zu vertei- digen. Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe ver- kommen somit zum bloßen Instrument imperialer Machtpolitik. Die Begriffe „Schutz“, „Hilfe“ und „Hu- manität“ verlieren damit, wie durch die in ihrem Namen durchgeführten bzw. anvisierten Regime Changes in Côte d’Ivoire, immer weiter an Legitimität und Sub- stanz. Schutzbedürftige werden von der Bundesregie- rung und der EU instrumentalisiert, und fast könnte man argwöhnen, dass die deutschen und europäischen Au- ßenpolitiker von CDU bis SPD und von Grünen bis FDP auf die nächste Katastrophe warten, um unter dem Deckmantel des Katastrophenschutzes intervenieren zu können. Im Sahel beispielsweise hat in den vergangenen Jah- ren eine Katastrophe die andere abgelöst. Dürren folg- ten heftige Regenfälle und hinterließen fast 10 Millionen Menschen abhängig von Lebensmittellieferungen. Auch wenn diese Wetterphänomene in dieser Region nicht neu sind, liegt ein Zusammenhang mit dem Klimawandel und damit auch mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise nahe. Wie reagierte hier die EU? Die Außenbeauftragte Ashton hat vor wenigen Wochen ihren Entwurf für eine Sahel-Strategie vorgelegt. Von den vorangegangenen Dürren ist hierin nicht die Rede, dafür umso mehr von Terrorismus und organisierter Kriminalität, die auch Pipelines und die Sicherheit der Bürger in der EU ge- fährden würden. Not und Hunger der Bevölkerung scheinen in diesem Papier nur insoweit eine Rolle zu spielen, als sie den „Nährboden“ für Terrorismus berei- ten würden. Die Notwendigkeit von Hilfslieferungen wird hier nicht durch das Gebot der Menschlichkeit oder der Solidarität begründet, sondern dadurch, dass damit das Vertrauen in den Staat gestärkt und der Einfluss der Islamisten zurückgedrängt werden könnte. Das finde ich abscheulich; dies ist ein menschenverachtendes Doku- ment! Im Kern geht es in der Sahel-Strategie jedoch darum, die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den Sahel-Staaten – allesamt keine Staaten, die man als 12770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Sevim Daðdelen (A) (C) (D)(B) Sevim Dağdelen Rechtsstaaten bezeichnen könnte – zu fördern und diese polizeilich und militärisch aufzurüsten. 700 Millionen Euro unter anderem aus dem „Instrument für Stabilität“ sind hierfür vorgesehen. Aus dem Europäischen Ent- wicklungsfonds sollen weitere Mittel mobilisiert wer- den: fast 1 Milliarde Euro für Regierungen, die aus Militärputschen hervorgegangen sind, und für deren Streitkräfte, welche die eigentliche Macht im Staate dar- stellen. Das ist eine Nachricht, die sehr wohl verstanden wurde: Vergangene Woche haben die Außenminister Al- geriens, Nigers, Malis und Mauretaniens in Bamako zu- gesagt, bis zu 75 000 Soldaten für den Krieg gegen den Terror bereitzustellen. Die Nachricht kam auch bei der jeweiligen Opposition an, die bereits eindringlich vor einer weiteren Militarisierung des Sahel warnt. 1 Mil- liarde Euro und 75 000 Soldaten gegen 300 mutmaßli- che Al-Qaida-Kämpfer, das ist unglaubwürdig. Offen- sichtlich geht es hier um die militärische Stabilisierung autoritärer Regime. Finanziert werden soll diese aus denselben Töpfen, die in der Mitteilung der Kommission dem Katastrophenschutz und der humanitären Hilfe die- nen sollen. Damit entlarvt sich endgültig, was hier unter Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu verstehen ist. Die Linke lehnt nach wie vor die Unterstützung von autoritären Regimen ab! Im Gegensatz zu allen anderen hier vertretenen Frak- tionen lehnt die Linke das Konzept der vernetzten Sicherheit, das den Vorschlägen der Kommission zugrunde liegt, ab. Die Linke ist ebenso gegen die In- strumentalisierung humanitärer Hilfe für sicherheits- politische und wirtschaftliche Interessen wie gegen die zunehmende Militarisierung des Bevölkerungsschutzes innerhalb der EU, die beide untrennbar mit diesem Kon- zept verbunden sind. Die Linke ist für die strikte Tren- nung von militärischen und zivilen Kapazitäten und den konsequenten Abbau Ersterer zugunsten Letzterer. Nur durch den Ausbau rein ziviler und unabhängiger Kapa- zitäten des Bevölkerungsschutzes und deren möglichst bevölkerungsnahe – das heißt kommunale und föderale – Kontrolle kann ihre Instrumentalisierung verhindert und ihre Effizienz gewährleistet werden. Denn der Schutz und die Hilfe für Menschen in Not ist kein Mittel zum Zweck, sondern reiner Selbstzweck – und so muss es auch bleiben. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir begrüßen den Vorstoß der Europäischen Kom- mission für Verbesserungen der Zusammenarbeit im Ka- tastrophenschutz. Menschen unmittelbar, schnell und wirksam Soforthilfe bei Katastrophen zukommen zu las- sen, ist ein vorrangiges Ziel der Solidargemeinschaft EU. Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal mehr und auf ganz brutale Weise aus dem täglichen Ver- drängen der Möglichkeit einer derartigen, vorher in die- sem Ausmaß für uns alle unvorstellbaren Katastrophe gerissen. Schmerzhaft vor Augen geführt wurde uns, in welchem Ausmaß unser gewohnter Alltag durch kata- strophische Entwicklungen bedroht ist, die zudem oft- mals in vielerlei Hinsicht menschengemacht und damit grundsätzlich vermeidbar erscheinen. Und so muss nach Zu Protokoll Fukushima auch für den Katastrophenschutz gelten: Business as usual geht nicht mehr. Wer von einer veränderten Sachlage bei der Bewer- tung der Atompolitik ausgeht, wie dies die Bundesregie- rung nunmehr von sich behauptet, muss auch beim Ka- tastrophenschutz konsequent sein. Die Risiken von Großschadenslagen – das hat Japan gezeigt – können kumulativ eintreten, und sie sprengen alle unsere bishe- rigen Übungs- und Einsatzszenarien. An die Politik gewendet gilt hier stets die Frage: Haben wir alles Men- schenmögliche getan, um die etwaigen Folgen derarti- ger Katastrophen bestmöglich abzumildern oder sie gar im Vorfeld zu verhindern? Das Undenkbare denken und Vorsorge treffen, darin besteht die Herausforderung des Bevölkerungsschutzes, auch wenn und gerade weil wir wissen: Katastrophen sind per se das zumeist nicht Planbare, das Unvorhersehbare. Und: Das Ereignis selbst muss noch nicht automatisch zu einer Katastrophe werden. Tatsächliche Katastrophen, die im Grunde genommen ja nichts anderes sind als die Überforderung einer Ge- sellschaft, mit einer bestimmten Bedrohung adäquat um- zugehen, entstehen oftmals erst durch das Zusammen- spiel vielfältiger Faktoren, von denen die einen mehr beeinflusst, die anderen weniger beeinflusst werden kön- nen. Sicher ist: Die Vulnerabilität unserer modernen Gesellschaften auf einem möglichst geringen Niveau zu halten, ist wohl die größte Herausforderung für den Ka- tastrophenschutz. So wissen wir alle: Der technologi- sche Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits ermöglicht er uns, frühzeitig potenziell katastrophale Entwicklungen einzuschätzen und sie zu bekämpfen, an- dererseits sind die Folgen einer erst einmal eingesetzten Katastrophe durch die Abhängigkeit moderner Gesell- schaften von kritischen Infrastrukturen hoch. Wir wis- sen: Für eine möglichst effektive Begegnung der Aus- wirkungen eines potenziell katastrophalen Ereignisses ist eine koordinierte Vorgehensweise aller hieran Betei- ligten von immenser Bedeutung. Wir wissen auch: Kata- strophen kennen keine Grenzen. Daher begrüßen wir es, dass die EU mit ihrer Mitteilung Vorschläge für notwen- dige Einzelschritte einer verbesserten EU-Krisenab- wehr vorgelegt hat. Anstrengungen in dieser Richtung reichen bereits einige Jahre zurück, darunter hervorzu- heben insbesondere der Barnier-Report. Der Ansatz der Kommission ist in seinen wesentli- chen Punkten zu begrüßen. Besonders wichtig und her- vorzuheben ist, dass die Katastrophenvorsorge seitens der Kommission auch als primäre Prävention von Risi- koherden mitgedacht wird und hier weitere konkrete Schritte angekündigt werden. Denn wir müssen vor al- lem an die Ursachen von Krisen, an die Risikoherde ran. Als gutes Beispiel hierfür mag die neueste TAB-Studie des Deutschen Bundestages dienen, die mit Blick auf das besonders gefährliche Szenario breitflächiger und län- ger andauernder Stromausfälle eine Abkehr von zentra- lisierten Stromnetzen und eine Hinwendung zu erneuer- baren Energien empfiehlt, mit denen robustere dezen- trale Stromnetze auch in Katastrophenfällen aufrecht- erhalten werden können. Gleichwohl gilt der alte Spruch, wonach bei aller Prävention die nächste Kata- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12771 gegebene Reden 12772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Dr. Konstantin von Notz (A) (C) (D)(B) strophe bestimmt kommen wird, auch hier bei uns in ei- nem vermeintlich besonders sicheren und gut organi- sierten Gemeinwesen. Sie wird uns auf dem falschen Fuß erwischen, und sie wird natürlich – verzeihen Sie mir diese von vielen schon als Phrase empfundene Wendung – vor allem eines nicht machen, nämlich an nationalen Grenzen innehalten. Diese Erfahrung kennen wir zur Genüge bei den typischen Hochwasserkatastrophen, die unser Land immer wieder treffen. Zum Glück kennen wir sie noch nicht für anders gelagerte Fälle, zum Beispiel Terroranschläge mit katastrophischen Auswirkungen, oder gar Atomkatastrophen. So unwahrscheinlich diese Möglichkeiten immer noch vielen erscheinen mögen, die Aufgabe des Katastrophenschutzes muss diese Szenarien aufnehmen und verarbeiten. Genau deshalb ist es überhaupt nicht zureichend, wenn die Koalitionsfraktionen beantragen, weiterhin nahezu ausschließlich auf nationale Bewältigungs- und Koordinationskapazitäten der Mitgliedstaaten zu setzen und der Europäischen Union lediglich eine reaktive Rolle zuzuweisen. Damit wird einmal mehr eine Heran- gehensweise im Bevölkerungsschutz perpetuiert, die noch immer meint, gesetzliche Aufgabenverteilungen und Befugnisse zum Maßstab für die Bewertung der Realität sprich: konkrete Krisenszenarien nehmen zu können. Als trauriges Ergebnis zu besichtigen ist unter ande- rem deshalb ein nationales System des Krisenmanage- ments, das sich keinem Laien mehr erschließt und bei einer schweren Katastrophe vermutlich völlig unzurei- chende Koordinierungsleistungen erbringen würde. Umgekehrt hingegen würde ein Schuh draus, denn erst in der konkreten Auswertung realistischer Krisenszena- rien und Übungen erschließt sich induktiv der Bedarf bei den Bewältigungsstrukturen. Die Vorschläge der Kommission sind ein schlüssiger Schritt für die Bewälti- gung grenzüberschreitender Szenarien hier bei uns in Europa, aber auch für den Einsatz von EU-Mitteln in Drittstaaten. Einig sind wir uns hier im Bundestag offenbar, was die Notwendigkeit der Planung auch auf EU-Ebene für bestimmte Szenarien, die Inventarisierung von nationa- len Ressourcen und die beschleunigte Mobilisierung der Ressourcen angeht. Die Sorge der Linken, dass die Pläne der Kommission eine Militarisierung des Bevölkerungsschutzes einläuten könnten, teilen wir nicht. Auch wir würden derartige Entwicklungen selbstverständlich ablehnen. Die Mittei- lung bekennt sich jedoch eindeutig zu den Oslo-Leit- linien und damit zu dem Grundsatz, dass nur im absolu- ten Ausnahmefall eine entsprechende Heranziehung mi- litärischer Kräfte infrage kommt. Die Zusammenlegung der Krisenstellen des MIC, Monitoring and Information Centre, und der GD ECHO, Generaldirektion Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission, ist konsequent, weil es zahlreiche Über- schneidungen zwischen den Katastrophenschutzanfor- derungen und der humanitären Hilfe – Schutz und Ver- sorgung, die über Erstversorgung hinausgeht – gibt und es aus unserer Sicht durchaus Sinn macht, die notwen- dige Vorbereitungs- und Planungsarbeit von den rein re- aktiven, auf die Ad-hoc-Zurufe der Mitgliedstaaten an- gewiesenen Maßnahmen zu lösen, um so die rasche und effiziente Handlungsfähigkeit in Notfällen aufzubauen und zu gewährleisten. Die Behauptung der Koalitions- fraktion, damit würde das bundesdeutsche bewährte System der Präsenz von Millionen von Helferinnen und Helfern in der Fläche infrage gestellt, teilen wir explizit nicht, zumal sie auch nicht näher begründet wird. Viel- mehr wird unser bewährtes System insbesondere der eh- renamtlichen Mitarbeit in einer Vielzahl von Hilfsorga- nisationen weiterhin neben und kumulativ zu den Koordinierungsaufgaben auf nationaler wie auch euro- päischer Ebene zur Anwendung kommen. Den Einwand der fehlenden Rechtsgrundlage für eine derartige Verbindung bereits bestehender und zulässiger Kompetenzen sehen wir nicht, wenn bei der rechtlichen Ausgestaltung entsprechend präzise festgelegt wird, wo- rin die konkreten Aufgaben und Befugnisse liegen kön- nen und sollten. Fragen des Bevölkerungsschutzes sind mit einer besonders hohen Verantwortung verbunden und geben Anlass, von kurzfristigen politischen Überle- gungen abzusehen sowie auch bei bestimmten abstrakte- ren Leitlinien des eigenen politischen Handelns Vorsicht walten zu lassen. Mögen die oft vorgetragenen Beden- ken hinsichtlich eines sich verselbstständigenden Aus- baus des europäischen Agenturwesens in Einzelfällen durchaus ihre Berechtigung haben, so dürfen diese doch nicht zu einer pauschalen Ablehnung notwendiger und in der Sache gerechtfertigter Erweiterungen europäi- scher Handlungsmöglichkeiten führen. Die Vorbereitung auf und die Unterstützung bei Katastrophen, die an un- seren Landes- wie auch Staatsgrenzen nicht haltmachen und deren Bewältigung außerordentliche Anstrengungen erfordern, zählt zu diesen notwendigen Erweiterungen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses auf Drucksache 17/5809. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5194 mit dem Titel „Katastro- phenabwehr in Europa effektiv gestalten“. Es handelt sich hier um eine Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Par- lament und den Rat „Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Kata- strophenschutz und humanitärer Hilfe“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions- fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/4672 zu der eben genannten Mitteilung der Kommission. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialde- mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12773 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) Fraktion Die Linke. Enthaltungen somit keine. Die Be- schlussempfehlung ist angenommen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi- Unterlagen-Gesetzes – Drucksache 17/5894 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Mir sind eine Reihe von Rednerinnen und Rednern gemeldet. Ich gehe der Reihenfolge nach vor. Erste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Philipp. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beatrix Philipp (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Alle wissen es: Kaum ein Gesetz verlässt den Deut- schen Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Weil jetzt und heute schon feststeht, dass es eine Anhörung zum Stasi-Unterlagen-Gesetz geben wird, die wir als CDU/CSU-Fraktion besonders ernst nehmen werden, weil die Betroffenen dort in großer Anzahl anwesend sein werden und angehört werden sollen, weil wir jetzt schon Änderungsbedarf kennen, der aus den Fraktionen angemeldet wurde, und weil wir in einer so sensiblen Angelegenheit wie der des Umgangs mit Stasiunterlagen auf eine breite Mehrheit in diesem Hohen Hause hoffen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) wären wir bereit gewesen, unsere Reden heute zu Proto- koll zu geben, so wie es im Übrigen im Ablaufplan vor- gesehen war. Auch der Verlauf der Beiratssitzung am Montag die- ser Woche war ein so eindeutiger und einstimmiger Beweis des Vertrauens für Roland Jahn über alle Par- teigrenzen hinweg – ich unterstreiche das ganz aus- drücklich; alle wissen, warum ich das tue –, dass dem ei- gentlich nichts mehr hinzuzufügen ist, außer dass man Roland Jahn vielleicht ermuntern könnte und sollte, auf seinem Weg fortzuschreiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, jedem, der es bisher noch nicht wusste, sage ich: In einer Aktuellen Stunde am 28. Januar 2010 wurde besonders deutlich, dass die Überprüfungsfristen im Stasi-Unterlagen-Gesetz würden verlängert werden müssen. Denn im Brandenburger Landtag, der im September 2009 gewählt worden war, hatten 7 von 88 Abgeordneten eine Stasivergangenheit, entweder als offizielle oder als inoffizielle Mitarbeiter. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ein Skandal! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Was? Wie ist denn das passiert?) Diese 7 Abgeordneten waren von der Linksfraktion. Ein Abgeordneter wurde daraufhin sogar aus der Linksfrak- tion ausgeschlossen – etwas, das wir Ihnen gestern in ei- nem anderen Zusammenhang nahegelegt hatten, an- scheinend aber erfolglos. So weit die Vergangenheit, von der manche vielleicht schon glaubten, man müsse sich damit in dieser Hinsicht nicht mehr befassen. Auch heute, da wir in erster Lesung die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten, gibt es in Bran- denburg wieder eine Stasidiskussion. Ich finde sie ei- gentlich empörend. Der Justizminister, Dr. Volkmar Schöneburg von der Linkspartei, (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ein Justiz- minister von der Linkspartei? Das ist doch ein Widerspruch in sich!) musste Anfang Mai dieses Jahres bekannt geben, dass bei 13 Brandenburger Richterinnen und Richtern eine haupt- bzw. nebenamtliche Stasitätigkeit bekannt sei oder bekannt gewesen sei. Mehr noch: Bei insgesamt 152 Angehörigen der Brandenburger Justiz gibt es Hin- weise auf eine frühere Stasitätigkeit. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Unglaublich!) Die sich daraus ergebende Konsequenz, alle Richterin- nen und Richter auf eine frühere Stasitätigkeit hin zu überprüfen, zieht der Justizminister nicht einmal in Be- tracht. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das kann doch wohl nicht angehen!) Ich zitiere aus einem Interview mit dem brandenbur- gischen Justizminister, zu lesen in der Märkischen Allge- meinen vom 18. Mai dieses Jahres: Ich halte das – er meint eine Überprüfung – für unverhältnismäßig. Es kann nicht darum gehen, allein die Neugierde zu befriedigen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja schlimm! Es gibt wirklich schlimme Menschen in dieser Partei!) Befriedigung von Neugier? Man kann es gar nicht glau- ben. Welche Auffassung vom Richteramt spricht aus ei- ner solchen Aussage, welcher Anspruch an den eigenen Stand? Welche – ich formuliere es einmal etwas locker – Dickfälligkeit – „mangelnde Sensibilität“ beschreibt es zu wenig – in Bezug auf die Integrität des öffentlichen Dienstes und der Richterschaft in Besonderheit spricht daraus? Glauben Sie, dass die Opfer dafür Verständnis haben? Glauben Sie, dass es in einem Rechtsstaat akzep- tabel ist, wenn ein Richter, der nach einem Bericht des RBB-Magazins Klartext zu DDR-Zeiten Haftbefehle ge- 12774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Beatrix Philipp (A) (C) (D)(B) gen Ausreisewillige erlassen hat, sein Amt ausüben kann? (Zuruf von der CDU/CSU: Oh! Oh!) Konkret ging es um den Fall der Filmemacherin Sibylle Schönemann und ihres Mannes. Beide waren für die DEFA tätig und stellten einen Ausreiseantrag. Mit der Begründung „Beeinträchtigung staatlicher oder ge- sellschaftlicher Tätigkeit“ wurden die beiden inhaftiert. Den beiden damals sechs- und achtjährigen Töchtern wurde bei der Festnahme der Eltern gesagt, sie seien am Nachmittag zurück. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist ja schlimm!) Die Familie sah sich nach einem Jahr im Westen wieder. Die Familie war freigekauft worden. Der Richter, der da- mals die Haftbefehle erlassen hat, ist heute immer noch als Richter in Potsdam tätig. Ich finde das unglaublich. (Reiner Deutschmann [FDP]: Das ist ja ein Skandal! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Was? Nicht zu fassen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Ekelhaft! – Un- glaublich!) Das ist eigentlich unzumutbar, nicht nur für Stasiopfer, sondern auch für jeden anderen, der dort vor Gericht steht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da spricht ein Justizminister von Unverhältnismäßig- keit, wenn Richterinnen und Richter überprüft werden sollen, und von Neugier. Ist es nicht eher unverhältnis- mäßig, die Biografien der vielen Stasiopfer zu missach- ten und zu verdrängen? Nicht nur bei der Brandenburger Justiz, sondern auch bei der Brandenburger Polizei ka- men aktuell drei Stasifälle ans Licht. Aber auch dies bleibt wohl ohne Konsequenzen. Die Menschen sind ir- ritiert, die Opfer empört und erneut verletzt. Dieser Jus- tizminister, so meinen wir, ist untragbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, warum novellieren wir das Stasi-Unterlagen-Gesetz nun schon zum achten Mal? Abgesehen davon, dass die Chronologie dieses Gesetzes sehr interessant ist, zeigt sie deutlich, wie sensibel mit diesem Gesetz auf unterschiedliche Entwicklungen re- agiert wurde, indem man es aktualisierte, das heißt no- vellierte. Unser Kollege Hartmut Büttner hat bereits am 14. November 1991 im Deutschen Bundestag angedeu- tet, dass es bei den Novellierungen immer wieder um Anpassungen an die Realität gehen wird. Ich habe leider nicht genug Zeit, das ausführlicher vorzutragen, aber im Wesentlichen geht es um folgende Neuerungen: Erstens. Die Überprüfungsfrist soll bis zum 31. De- zember 2019 verlängert werden. Zweitens. Der überprüfbare Kreis soll erweitert wer- den. Drittens. Auch für nahe Angehörige soll der Zugang zu den Akten Verstorbener und Vermisster erleichtert werden. Meine Damen und Herren, ich habe eben darauf hin- gewiesen, dass wir für die bereits anberaumte Anhörung sehr offen sind. Deswegen kann ich mich an dieser Stelle kurzfassen. Ich möchte damit schließen, dass der SPD-Vordenker Egon Bahr jüngst wieder einmal einen Schlussstrich ge- fordert hat. Seine Rede zum 75. Geburtstag des ehemali- gen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe ist so unglaublich, dass man einfach fassungslos davor steht. Zu den unglaublichen Passagen gehört auch seine Beurteilung des Bemühens von Roland Jahn, nach einer Lösung für die 47 ehemaligen Stasimitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde zu suchen. Wir sollten Roland Jahn bei seiner Suche nach Lösungen unterstützen, statt ihn mit böswilligen Unterstellungen zu beleidigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie gesagt: Wir hoffen diesmal auf einen breiten Konsens bei der Novellierung und meinen, dass wir das den Opfern schuldig sind. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Philipp. Ich will jetzt Folgendes geschäftsleitend sagen: Der Kollege Wolfgang Thierse hat seine Rede für die Sozial- demokraten zu Protokoll gegeben. Des Weiteren haben unser Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und auch die Frau Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen ihre Reden zu Protokoll gege- ben1). Auf Wunsch der Fraktionsgeschäftsführung der Linken weise ich darauf hin, dass sie wegen Krankheit hier nicht anwesend sein kann. (Iris Gleicke [SPD]: Deswegen haben die an- deren ihre Reden auch zu Protokoll gegeben! Darauf weise ich jetzt hin! So viel zum An- stand in diesem Hause!) Somit machen wir jetzt in der Reihenfolge weiter, die mir vorliegt. – Das Wort hat jetzt zunächst der Kollege Reiner Deutschmann für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Reiner Deutschmann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Reiner Deutschmann (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung des Stasi- unrechts ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leis- tungen infolge der friedlichen Revolution von 1989. Ich bin stolz darauf, dass es gelungen ist, die Akten der Stasi im Interesse der Opfer, aber auch im Interesse der Bür- gerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch der Nachwelt zu sichern und aufzuarbeiten. Inzwischen liegt es 21 Jahre zurück, dass beherzte Frauen und Männer mit der Besetzung der Stasizentrale 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12775 Reiner Deutschmann (A) (C) (D)(B) in Berlin-Lichtenberg und anderer regionaler Stasiein- richtungen, wie beispielsweise auch in Leipzig und Er- furt, die Akten sicherten. Garant für die Aufarbeitung der damals gesicherten Akten ist das 1991 beschlossene und heute zur Novellierung vorliegende Stasi-Unterla- gen-Gesetz. Der darin geregelte sehr sensible und transparente Umgang mit den Akten entspricht dem Gerechtigkeits- empfinden der Menschen. Wenn bei der Aufarbeitung in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Großes geleistet wurde, so besteht doch noch immer ein riesiger Hand- lungsbedarf bei der Erschließung der Akten. Mit der uns heute vorliegenden Novelle des Stasi-Un- terlagen-Gesetzes verlängert die christlich-liberale Ko- alition eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzes bis zum Jahre 2019. Die Überprüfung von Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes und anderer sensibler öffentlicher Bereiche bleibt damit möglich. Zugleich ha- ben wir uns ganz bewusst entschlossen, den überprüfba- ren Personenkreis wieder auszuweiten, nachdem er 2007 eingeschränkt worden ist. Warum tun wir das? Es geht nicht darum, den zuletzt geschätzten über 90 000 offiziellen und über 150 000 in- offiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit ein erfolg- reiches Berufsleben und ihren Platz in der Gesellschaft zu verwehren. Wir wollen nur nicht, dass ehemalige Sta- simitarbeiter in sensible Positionen des öffentlichen Dienstes und anderer staatsnaher Einrichtungen gelan- gen können. (Beifall bei der FDP) Die Staatssicherheit hat Karrieren verhindert, Exis- tenzen vernichtet und Lebensläufe negativ beeinflusst. Was die Stasi ihren Opfern anzutun in der Lage war, kann man sehr gut im ehemaligen Untersuchungsgefäng- nis der Staatssicherheit in der jetzigen Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen erleben. Es ist den Opfern nicht zuzumuten, dass die Täter ungehindert in der öf- fentlichen Verwaltung des wiedervereinigten Deutsch- land Karriere machen, während die Opfer bis heute unter den Folgen der Drangsalierung zu leiden haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wie aktuell das Thema ist, zeigen die jüngsten Stasi- fälle aus Brandenburg. Meine liebe Kollegin Beatrix Philipp hat dazu ja schon einiges im Detail erläutert. Hier ist es über Jahre hinweg versäumt worden, diese Dinge aufzuarbeiten. Ich denke, es ist manches nachzu- holen. Man kann Herrn Platzeck nur empfehlen, endlich tätig zu werden. Aber auch in den alten Bundesländern herrscht Nach- holbedarf. Schließlich waren dort 3 000 IM für die Aus- landsspionageabteilung tätig, und zwar insbesondere in Bundesministerien und Bundesbehörden. Viele von ih- nen leben heute unenttarnt. Für uns bleibt klar: In der Aufarbeitung darf nicht zwischen Ost und West unterschieden werden. Diese Novellierung darf als bewusstes Signal der Koalitions- fraktionen, der CDU/CSU und der FDP, verstanden wer- den, dass es zur Aufarbeitung des Stasiunrechts keine Alternative gibt. Auch in diesem Sinne stellen wir uns voll und ganz hinter Roland Jahn. Mit uns wird es keine Schlussstrichdebatte geben. Danke. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Rainer Deutschmann. – Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Wanderwitz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Margit Funk, Anne Gabel, Hanni und Helmi Geyer, Elisabeth Garske, Jutta Giersch, Helgard Göttert, Margot Jann, Magda Müller, Martel Oerthel, Sigrid Seime und Maria Stein kennen Sie vielleicht nicht – noch nicht. Diese Frauen sind die Gründungsmitglieder des Frauen- kreises der ehemaligen Hoheneckerinnen, der sich am 26. April 1991 gegründet hat. Warum spreche ich das heute an? Ich glaube, die meisten von uns wissen, was sich abgesehen davon, dass es ein Ortsteil einer schönen erzgebirgischen Stadt in meinem Wahlkreis ist, alles hinter Hoheneck verbirgt, nämlich das berüchtigte Frauenzuchthaus der ehemali- gen DDR, in dem viele Tausend der über 180 000 poli- tischen Gefangenen der ehemaligen DDR jahrelang ge- sessen haben. 34 000 von ihnen sind im Übrigen für rund 3,5 Milliarden DM freigekauft worden: organisierter Menschenhandel der SED. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig! Genau so! – Zuruf von der LINKEN: Und der Bun- desrepublik!) – Ich denke, den Zuruf „Und der Bundesrepublik!“ von einer Kollegin, den ich eben gehört habe, können wir gerne ins Protokoll aufnehmen. Dem brauchen wir nicht mehr viel hinzuzufügen, um deutlich zu machen, dass Sie immer noch nichts verstanden haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Wir haben am 13. Mai – das war am Freitag der vor- vergangenen Woche – einen Festakt zum 20. Jahrestag der Gründung des Frauenkreises in Hoheneck begangen, unter anderem im Beisein unseres Bundespräsidenten, der eine beeindruckende Rede gehalten hat, wie auch vieler der betroffenen Frauen, die dort anwesend waren, und auch im Beisein unseres Stasiunterlagenbeauftrag- ten, Roland Jahn, und des ARD-Vorsitzenden und SWR- Intendanten Peter Boudgoust. Er war dort, weil am 9. November um 20.15 Uhr der große SWR-Fernsehfilm Hoheneck war gestern ausgestrahlt wird. Auf der Homepage des SWR findet sich eine Kurzzu- sammenfassung: Carola Weber erschrickt bis ins Mark, als sie den neuen Kollegen ihres Mannes Jochen zum ersten Mal hört – diese Stimme kennt sie aus der 12776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Marco Wanderwitz (A) (C) (D)(B) schlimmsten Zeit ihres Lebens. Carola ist über- zeugt, dass Dr. Limberg Arzt im Dienst der Stasi war und sie während ihrer Haftzeit im DDR-Frau- engefängnis Hoheneck misshandelte. Carola kon- frontiert den Arzt mit ihrer Erinnerung, doch Limberg streitet ab. Getrieben von dem Bedürfnis, ein Bekenntnis des Arztes zu hören, versucht Carola alles, um Limbergs Identität zu beweisen. Eine Geschichte aus dem wahren Leben der ehemaligen DDR. Besonders bedrückend finde ich den Teil, der nach der friedlichen Revolution spielt und den es leider so auch nicht nur einmal gegeben hat. Deswegen möchte ich heute der ARD herzlich für dieses Programm am 9. November danken, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu dem mehr als nur der Spielfilm gehört. Beispiels- weise wird noch eine Dokumentation über Hoheneck ge- zeigt, und es sollen Diskussionen stattfinden. Erinnerung darf nie zu Ende sein. Denn zum einen sind die Täter unter uns und viele noch immer uner- kannt. Zum anderen ist es für zukünftige Generationen wichtig – gerade das ist das Anliegen der Frauen von Ho- heneck –, nicht zu vergessen und die richtigen Lehren aus den Problemen der Vergangenheit zu ziehen. Die Opfer fühlen sich häufig – Kollegin Philipp hat das schon angesprochen – allein gelassen, unverstanden, nicht ausreichend rehabilitiert und vor allen Dingen im Verhältnis zu den Tätern nicht hinreichend gewürdigt. Das alles ist völlig verständlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der politischen Verantwortung, in der sich viele in diesem Haus stehen sehen, kommen wir unter anderem mit der vorliegenden Novelle nach; auch das hat Beatrix Philipp schon angesprochen. Roland Jahn steht dieser Tage in der Kritik. Er hat heute der Leipziger Volkszei- tung ein, wie ich finde, schönes Interview gegeben. Auf die Frage, warum er aus der Beschäftigung der 47 ehe- maligen Stasimitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Be- hörde ein so großes Thema macht, hat er eine beeindru- ckende und einfache Antwort gegeben: „Ich verstehe die Sicht der Opfer.“ Ich denke, dem ist nichts mehr hinzu- zufügen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. – Jetzt spricht für die Fraktion der Freien Demokraten unser Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth. (Beifall bei der FDP) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, dass wir noch zu so später Stunde über dieses Thema reden. Ich finde es wichtig und richtig, dass wir darüber eine Aus- sprache führen. Formal gesehen würden wir in dieser Legislaturperiode noch einmal über die Staatssicherheit reden, nämlich dann, wenn die nächsten Lesungen anste- hen. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch mehrfach über das Thema reden werden. Es wird genügend Anlass dafür geben. Das Thema ist trotz der vielen anderen Themen so wichtig, weil die Stasi-Unterlagen-Behörde und das Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Erfolgsgeschichte sind. Wir wissen um die Entstehung und die Diskussionen, aber auch um die Befürchtungen und die Kritik, die die Stasi-Unterlagen-Behörde über die Jahre begleitete. Aber als Zwischenresümee können wir ziehen, dass es sich hier um eine Erfolgsgeschichte handelt. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht im Mittel- punkt, genauso wie die Opferaufklärung, Gewissheit für diejenigen zu schaffen, die mutig waren, aber auch für Unschuldige. Wir wollen verstehen, wie dieser Geheim- dienst funktionierte. Über die Jahre kommt immer mehr ans Tageslicht. Die Sicherung von Akten und Beweisen ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Eine solche Aufar- beitung hätte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Nazidiktatur, geben müssen. Sie hat es nun nach der SED-Diktatur gegeben. Wenn es nach Ihnen ge- gangen wäre, meine Damen und Herren von der Linken, hätten wir eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt, sondern das, was wir in den 50er-Jahren gemacht haben, wiederholt. Ich finde es richtig, dass wir, das Parlament, der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem Stasi-Unterla- gen-Gesetz Rückhalt geben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat mithilfe des Stasi- Unterlagen-Gesetzes rechtsstaatlich sehr sauber und für die Opfer nachvollziehbar gut gearbeitet. Die Zahlen der Opfer, die sich jetzt melden, mehren sich; denn die Be- treffenden haben das Erlebte endlich verarbeitet. Zahl- reiche Akten sind noch nicht aufbereitet und nicht wie- derhergestellt. Die Aufdeckung zahlreicher Stasifälle, die wir immer wieder erleben, geht nicht zuletzt auf das Wirken der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück. Die furchtbare Geschichtsvergessenheit der Linken spricht für sich. Wenn aber Herr Wiefelspütz von der SPD, der sein gesamtes Leben und seine politische Kar- riere auf einem freiheitlichen System aufgebaut hat, den Stasi-Unterlagen-Chef Jahn, der für genau diese Freiheit gekämpft hat und dafür von der Uni geworfen, von sei- ner Familie getrennt, inhaftiert und unter Zwang ausge- wiesen wurde, einen Menschenjäger und einen Eiferer mit Schaum vor dem Mund nennt, (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Unglaublich!) dann muss ich sagen, dass eine Grenze erreicht ist, die nicht zu tolerieren ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Dennoch sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass er sich entschuldigt hat!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12777 Patrick Kurth (Kyffhäuser) (A) (C) (D)(B) Auf die Geschichte der Stasi und auf das DDR-Un- recht kann niemand stolz sein. Auf die Aufarbeitung und die Bearbeitung der Stasiaktivitäten können wir Deut- schen alle sehr stolz sein. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterla- gen-Gesetzes wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Erfolgsgeschichte der Unrechtsaufarbeitung fortgeführt werden kann. Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk- samkeit und für Ihre zahlreiche Teilnahme. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/5894 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und weiterer Abgeordneter Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ – Drucksache 17/5885 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Alle Reden sind, so sagt mir die Verwaltung, zu Pro- tokoll gegeben worden. Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Sie sind also damit einverstanden.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5885 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) – zu dem Antrag der Fraktion der SPD Die Revision der OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei- 1) Anlage 5 terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen – Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756 – Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Ullrich Meßmer Serkan Tören Annette Groth Volker Beck (Köln) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen liegen uns vor. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Ver- braucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem etwas nicht passt, zum Beispiel, wenn einem nicht ge- fällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden große, meist global agierende Konzerne ihre Waren pro- duzieren und verkaufen. Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meis- tens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Da- ran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbraucher- macht einsetzen und Macht auf große Konzerne und manchmal sogar ganze Länder ausüben – wenn sie sich zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden überdacht und geändert haben. Ich möchte zwei Beispiele nennen, in der sich die westliche Verbrauchermacht durchgesetzt hat. Beispiel Südafrika: in den 80er-Jahren demonstrierten viele em- pörte Menschen überall auf der Welt gegen das grau- same Apartheidregime in Südafrika, das Schwarze wie Menschen zweiter Klasse behandelt und oft grausam un- terdrückt hat. In Deutschland riefen vor allem evangeli- sche Frauenverbände dazu auf, südafrikanische Waren konsequent zu meiden. Mit Erfolg: Viele Verbraucher beteiligten sich an diesem sogenannten Früchteboykott. Viele Waren aus Südafrika blieben bei den Händlern lie- gen. Bis in die 90er-Jahre flammten die Proteste immer wieder auf. Weltweite Demonstrationen und massive Wirtschaftssanktionen brachten Südafrika schließlich an den Rand des Staatsbankrotts. Beispiel FCKW: Ende der 80er-Jahre machten Wis- senschaftler als Ursache für das 1985 entdeckte Ozon- loch sogenannte Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz: FCKW, aus. Dieses Treibgas wurde vorwiegend in Kühl- Jürgen Klimke (A) (C) (D)(B) schränken und Spraydosen verwendet. Und wieder zeig- ten Verbraucher und Aktivisten ihren Einfluss. Sie mie- den FCKW-haltige Produkte konsequent. Greenpeace- Aktivisten in Deutschland besetzten ein Werk von Hoechst, einem der größten FCKW-Produzenten welt- weit. Die Verbraucherproteste hatten Erfolg: Kühl- schränke durften kein FCKW mehr enthalten, und auch Spraydosen ließen sich bald nur noch „ohne Treibgas“ verkaufen. 1989 wurde die Produktion von FCKW EU- weit verboten. Jetzt ist es wieder an der Zeit, dass die deutschen Ver- braucher sich gegen multinationale Konzerne wehren, denn fast monatlich hören wir in den Medien, dass Tex- tilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum der deutschen Textilproduktion, auf die Straße gehen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Lan- des, in denen auch zahlreiche westliche Firmen, wie zum Beispiel H & M und Levi Strauss, produzieren lassen, protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Ver- sammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar ge- sagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzepta- bel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtli- chen Grundsätze unserer westlichen Industriegesell- schaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwor- tung deutscher und internationaler Unternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verant- wortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deut- schen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unterneh- mensverantwortung positiv auch für die Arbeits- bedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunter- nehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die neue Form des „Social Business“ einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg be- reits kräftig eingeschlagen. Ich möchte an dieser Stelle unter anderem die Otto AG, Puma, hessennatur oder Adidas nennen. Diese Unternehmen haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die Otto AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von „Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangla- desch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die Otto AG gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“- Vorhaben in Afrika, Vorhaben, bei denen für Baumwoll- farmer Know-how-Transfer geleistet wurde, damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei de- nen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe Zu Protokoll gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen- rechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit die- sem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervor- zuheben. Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder im Ge- genteil des öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger- Stellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK gesche- hen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen, und würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu orga- nisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verant- wortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deut- schen Mittelstand immer wieder grundsätzlich mora- lisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegen- teil. Dies sollte sich die Opposition endlich mal hinter die Ohren schreiben. Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse- ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna- tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu- sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar- beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht, mit dem Aktionsplan CSR einen neuen Benchmark für die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen. Ziel der Initiative ist, verstärkt kleine und mittelstän- dische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerken- nung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregie- rung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unter- nehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor- getragen, und damit ist klar, welchen Weg die Bundesre- publik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bun- desregierung und die internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion, auch in dem gesamten Haus, sehr un- terschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der Leitlinien, bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Ver- besserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung die Überarbeitung der Leitsätze mit der OECD weiter aufgeschlossen vorantreibt. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung globaler Unterneh- mensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leit- linien sein – gerade auch was die Vorbildfunktion ge- genüber anderen Partnern betrifft. Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/ CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis- kussionsprozess angesprochen werden müssen: Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formu- lierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in ei- 12778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Jürgen Klimke (A) (C) (D)(B) nem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu disku- tieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Un- ternehmens ausgeweitet werden können. Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aus- sehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen, die nicht nach- haltig wirtschaften, von staatlichen Förderinstrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundes- ministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes für Geschädigte gegenüber den internationalen Unter- nehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungs- politik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Aus- land ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsbera- tung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwick- lungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungs- verhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in den produzieren- den Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssys- teme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, wenn deutsche und internationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationa- len Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht neh- men, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnor- men in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffas- sung, dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverant- wortung erkennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen füh- ren, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhält. Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lau- ten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstan- dards zwischen importierenden deutschen und interna- tionalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung Zu Protokoll nimmt sich dieser Maxime an. Es ist der moralische An- spruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu fol- gen. Ullrich Meßmer (SPD): 2011 ist ein wichtiges Jahr, was die Verantwortung globaler Unternehmen für soziale, ökologische und vor allem menschenrechtliche Fragen anbelangt. Die OECD-Leitsätze, die Erklärung der ILO über multina- tionale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der UN Global Compact stecken hierfür den Rahmen ab. Die OECD-Leitsätze gelten in diesem Kontext als das am weitesten reichende Instrument zur Stärkung der Unternehmensverantwortung. Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuer- ehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz. Für die Mitgliedstaaten der OECD sowie für elf weitere Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben, sind diese Vorgaben verbindlich. Sie müssen über sogenannte Nationale Kontaktstellen die Leitsätze implementieren, deren Einhaltung überwa- chen sowie Beschwerden über mögliche Verstöße gegen die Leitsätze entgegennehmen. Das bedeutet, dass die Leitsätze für die weltweite Tätigkeit aller multinationa- len Unternehmen gelten, die in diesen Staaten beheima- tet sind. Für Unternehmen allerdings sind sie freiwillig, das heißt, die Leitsätze sind rechtlich nicht bindend. Sie beziehen sich außerdem nur auf Unternehmen aus den Unterzeichnerstaaten und erfassen damit eine ganze Reihe von international agierenden Unternehmen nicht. Die Leitsätze verfügen außerdem über keinerlei Sank- tionsmechanismen bei Verstößen gegen die selbst aufer- legten Standards seitens der Unternehmen – sieht man von einer möglichen Rufschädigung für das Unterneh- men einmal ab. Und bei einem strittigen Verlauf eines Beschwerde- verfahrens gibt es keinerlei Revisionsmechanismen für die Opfer. Dies wirkt sich besonders gravierend bei Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aus. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ha- ben darüber hinaus die häufig mangelhafte Umsetzung der Leitsätze kritisiert. Daher eröffnet die Überarbei- tung der OECD-Leitsätze die große Chance, sie zu ei- nem schlagkräftigen Instrument der globalen Unterneh- mensverantwortung – besonders hinsichtlich der menschenrechtlichen Verantwortung – zu machen. Wir begrüßen es als SPD daher außerordentlich, dass die überarbeiteten Leitsätze ein eigenes Kapitel über Men- schenrechte haben werden. Wir wünschen uns, dass die Einhaltung der Menschenrechte in diesem Zusammen- hang für Unternehmen gleichsam zur Pflicht erhoben wird. Die Nationalen Kontaktstellen, NKS, die Anlauf- punkte für Beschwerden gegen Unternehmen, sollen un- seren Vorstellungen nach zu unabhängigen Gremien um- gestaltet und auf Mindeststandards verpflichtet werden. Auf diesem Weg sollen gravierende Qualitätsunter- schiede zwischen den NKS verschiedener Nationen ver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12779 gegebene Reden Ullrich Meßmer (A) (C) (D)(B) mieden und Beschwerden vor einem neutralen Gremium im Sinne der Opfer behandelt werden. In diesem Zusammenhang spielt auch der sogenannte Investment Nexus eine entscheidende Rolle: Beschwer- den vor den NKS können mit dem Hinweis auf einen feh- lenden direkten Investitionsbezug häufig abgewiesen werden. Auf diese Weise werden die Zulieferbetriebe oft von den Leitsätzen nicht erreicht. Wir wünschen den Wegfall des Investment Nexus, damit die Schutzwirkung der Leitsätze für mögliche Opfer von Menschenrechts- verletzungen insgesamt erhöht wird. Gleichzeitig sind wir uns aber bewusst, dass eine solche Forderung nur praktikabel ist, wenn das jeweilige Unternehmen kon- krete Einwirkungsmöglichkeiten auf seine Zulieferbezie- hungen hat. Wir fordern weiter, dass Verstöße gegen die Leitsätze für Unternehmen zukünftig Konsequenzen ha- ben sollen. Denkbar wäre ein zeitweiliger Ausschluss von Exportgarantien oder die grundsätzliche Koppelung der Leitsätze (und ihrer Einhaltung) an die Vergabe staatlicher Kredite, Bürgschaften und anderer staatli- cher Unterstützungsmaßnahmen für Auslandsinvestitio- nen. Verbessert werden sollten darüber hinaus die Offen- legungspflichten für multinationale Unternehmen. Hier sollten die Leitsätze zukünftig eine länderbezogene Rechnungslegungspflicht fordern, damit problematische Transaktionen – zum Beispiel über Steueroasen – sicht- bar werden. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich dafür einzusetzen, dass Staaten, die nicht Mitglied der OECD sind, sich den Leitsätzen für multinationale Unternehmen anschließen, das Menschenrechtskapitel auch den Stand der internationalen Diskussion wider- spiegelt, die Lieferkette so weit wie möglich in den Gel- tungsbereich der Leitsätze integriert wird, die Kern- arbeitsnormen der ILO eingehalten werden, die Arbeit der NKS unabhängig und auf einheitliche Mindeststan- dards verpflichtet wird, eine juristische Berufungsin- stanz und ein Sanktionsmechanismus für die Leitsätze geschaffen werden, länderbezogene Rechnungspflichten in den Leitsätzen verankert und die Akzeptanz und die Bekanntheit der Leitsätze erhöht werden. Dann können die Leitsätze tatsächlich ihre Schutzfunktion für die Menschenrechte in global tätigen Unternehmen voll ent- falten. Serkan Tören (FDP): In der heutigen abschließenden Beratung der Be- schlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten An- trag der Fraktion der SPD und den Antrag der Fraktion Die Linke. Aus Sicht der FDP sind die Anträge weder substanziiert noch bieten sie inhaltlich etwas Neues. Worum geht es genau? Es wurden die OECD-Leit- sätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. Bei diesen Leitlinien handelt es sich um den weltweit einzigen multilateralen und umfassend anerkannten Kodex zur Förderung glo- baler Unternehmensverantwortung. Der Abschluss des Verfahrens ist für Mitte 2011 geplant. Zu Protokoll Die SPD nimmt dies zum Anlass für einen Antrag, der folgende Kernforderungen enthält: Die Leitsätze sollen im Rahmen der Revision verschärft werden, indem Sank- tionsmöglichkeiten für den Fall ihrer Verletzung vorge- sehen sind. Für die Nationalen Kontaktstellen, welche in Deutschland beim BMWi angesiedelt sind, sollen ein- heitliche Mindeststandards gelten. Der bisherige Gel- tungsbereich der OECD-Leitsätze soll über den Investi- tionsbezug hinaus ausgeweitet werden. Ferner soll bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze geworben werden. Diesen Forderungen der SPD ist aus Sicht der FDP wie folgt zu entgegnen: Die christlich-liberale Koalition strebt an, die OECD-Leitsätze in erster Linie zu verbrei- ten, statt zu vertiefen. Bislang haben sich alle 31 OECD- Staaten und 12 weitere Industrienationen zu den OECD- Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung in Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger Schritt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang China und Indien. Eine Vertiefung bzw. Verschärfung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken und darüber hinaus Unternehmen aus Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnach- teile verschaffen. Sanktionsmöglichkeiten stellen eine deutliche Verschärfung der OECD-Leitsätze dar, die für das Ziel kontraproduktiv sind, ihre Akzeptanz zu erhö- hen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermu- tigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze sind die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung der Nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung der SPD hinfällig. Die christlich-liberale Koalition strebt in den derzeitigen Revisionsverhandlungen an, den Investmentnexus beizubehalten. Das heißt, Be- schwerden können nur dann zugelassen werden, wenn ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Dies ist vor dem Hintergrund des Ziels, eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben, auch nur logisch und da- her sachgerecht. Die Forderung der SPD nach dem Wer- ben bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze widerspricht den zentralen Forderungen des SPD-An- trags nach einer Verschärfung der OECD-Leitsätze und ist daher nicht schlüssig. Der Antrag der SPD wird da- her von der FDP abgelehnt. Vollkommen abstrus sind zum Teil die Forderungen der Linken in ihrem Antrag. So fordert die Linke unter anderem, dass in der EU ansässige Unternehmen „wahrheitsgemäße Informationen über die Auswirkun- gen ihrer aktuellen und geplanten Geschäftstätigkeit auf Menschen und Umwelt veröffentlichen sollen“; Forde- rung 7. Aus Sicht der FDP ist dies vehement zurückzu- weisen. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von In- formationen ist vielleicht in einer Planwirtschaft realisierbar. Unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs ist dies jedoch völlig weltfremd, insbeson- dere wenn über geplante Geschäftsaktivitäten Auskünfte offengelegt werden müssen. Im Lichte dieser Ausführun- gen ist der Antrag der Linken abzulehnen. 12780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden (A) (C) (D)(B) Annette Groth (DIE LINKE): Mit der Debatte über die OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen greift der Deutsche Bundestag endlich die Forderungen vieler entwicklungspolitischer Organisationen nach Überarbeitung der seit 1976 gel- tenden Leitsätze auf. Schon 1976 haben die entwick- lungspolitischen Organisationen darauf hingewiesen, dass durch die fehlende Verbindlichkeit der Leitsätze die Gefahr besteht, dass es zu keiner substanziellen Verän- derung der Arbeit der multinationalen Unternehmen kommen wird. Diese Befürchtungen der entwicklungs- politischen NGOs haben sich leider bestätigt. Die Frak- tion Die Linke unterstützt die Aussage des UN-Sonder- beauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte, John Ruggie, der in seinem Abschlussbericht von einer „Re- gelungslücke“ bezüglich internationaler Unternehmen spricht. Organisationen wie Germanwatch weisen zu Recht darauf hin, dass „die Umsetzung der OECD-Leit- sätze in Deutschland, insbesondere bei der Bearbeitung von Beschwerdefällen, enorm verbesserungsbedürftig ist“. So haben in Deutschland Nichtregierungsorganisa- tionen und Gewerkschaften seit der Revision der Leitli- nien im Jahr 2000 bislang elf Beschwerden eingereicht. Von diesen Beschwerden waren Firmen wie Adidas, Bayer, Continental, Ratiopharm sowie Siemens und Daimler-Chrysler betroffen. Von der deutschen Kontakt- stelle, NKS, wurden von diesen elf vorgetragenen Fällen lediglich drei Beschwerden angenommen. Diese restrik- tive Arbeit der deutschen Kontaktstelle zeigt eine nicht akzeptable und äußerst restriktive Interpretation der OECD-Leitsätze durch die deutsche Nationale Kontakt- stelle. Für die Fraktion Die Linke ist deutlich, dass die OECD-Leitsätze nur dann zu einem wirksamen Instru- ment gegen unternehmerisches Fehlverhalten weiterent- wickelt werden können, wenn sie verbindlich festge- schrieben werden und klare Anforderungen an nationale Kontaktstellen enthalten. Zurzeit müssen wir feststellen, dass selbst bei schwerem unternehmerischem Fehlver- halten durch transnationale Konzerne eine konkrete Ver- urteilung dieses Verhaltens durch die Nationalen Kon- taktstellen häufig nicht stattfindet. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards verbunden werden muss. Wir wol- len erreichen, dass durch solche verbindlichen Anforde- rungen an Umweltschutz- und Verbraucherschutzkrite- rien alle Betroffenen gegen unternehmerisches Handeln vorgehen können, wenn die vorgeschriebenen Standards nicht eingehalten werden. Auch wollen wir erreichen, dass menschenrechtliche Forderungen als einklagbarer Bestandteil unternehmerischen Handelns beachtet wer- den müssen und alle Unternehmen, die gegen menschen- rechtliche Standards verstoßen, mit konkreten Sanktio- nen rechnen müssen. Hierfür wollen wir die OECD- Leitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Einhaltung von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen weiterentwickeln. Nur unser Antrag fordert, dass hierfür eine funda- mentale Veränderung der bisherigen Rechte von Betrof- fenen notwendig ist. Eine grundlegende Voraussetzung Zu Protokoll dafür ist eine deutlich bessere personelle Ausstattung der Nationalen Kontaktstellen. Bisher stehen riesige Ab- teilungen und Anwaltskanzleien von Großkonzernen ein- zelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kon- taktstellen gegenüber. Wir wollen die Chancengleichheit zwischen Kontaktstellen und transnationalen Konzernen verbessern. Bislang ist die deutsche NKS im Bundeswirtschafts- ministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen angesiedelt. Dies halten wir für eine unabhängige Über- prüfung von transnationalen Unternehmen für nicht an- gebracht. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig organisiert werden. Wir wollen erreichen, dass die Na- tionalen Kontaktstellen paritätisch zwischen Vertrete- rinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen be- setzt werden. Nur wenn es gelingt, unabhängige Vertre- terinnen und Vertreter von Gewerkschaften und NGOs als gleichberechtigte Mitglieder in die nationalen Kon- taktstellen zu integrieren, ist eine bessere, von Regie- rungsinteressen unabhängigere Kontrolle der trans- nationalen Unternehmen durchsetzbar. Notwendig ist auch die Durchsetzung der Forderung, dass multinationale Unternehmen für die Verstöße ihrer Subunternehmen und Zulieferer haften müssen. Alle selbständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe müssen in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüber- schreitende Investitionstätigkeiten, auf alle Investitio- nen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unter- nehmen erweitert werden. Die Leitsätze werden erst dann eine größere Wirk- samkeit erzielen, wenn Betroffene die Möglichkeit erhal- ten, bei Zuwiderhandlungen von Unternehmen ihre For- derungen individuell vor den jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen. Dies setzt voraus, dass alle Bür- gerinnen und Bürgern einen ungehinderten und kosten- freien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhal- ten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger sind. Die Linke möchte die Chance nutzen, mit der Revi- sion der OECD-Leitsätze einen wirklich qualitativen Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen- über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Bis- her sieht es jedoch so aus, dass sich die Bundesregie- rung einem solchen qualitativen Schritt verweigert. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Fürth habe ich seit geraumer Zeit viel mit einem deutschen Vorzeige- unternehmen zu tun. Adidas – ein Global Player im Sportartikelbereich, der laut Selbstaussage auch in den Bereichen Umwelt und Soziales richtungsweisend sein möchte, „um das Leben der Menschen zu verbessern“. „Adidas is all in“ – so der Slogan des Unternehmens. Auch die Arbeitsstandards und die Bezahlung? Man muss ja nicht gleich davon ausgehen, dass man es bei ei- ner internationalen Aktiengesellschaft mit einer karitati- ven Einrichtung zu tun hat. Erschreckend ist jedoch, wie weit im Falle Adidas die Selbsteinschätzung von der Wirklichkeit entfernt liegt. Gerade einmal 72 Cent Stun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12781 gegebene Reden 12782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Uwe Kekeritz (A) (C) (D)(B) denlohn verdienen die Näherinnen und Näher in der Fa- brik „Ocean Sky“, einer Adidas-Zulieferfabrik in El Sal- vador. Selbst mit Prämien kommen die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht über 175 Euro im Monat. Und das bei einem Unternehmen, das seinen Umsatz im ersten Quar- tal 2011 um über 22 Prozent auf 3,27 Milliarden Euro steigern konnte. Hier geht es nicht mehr um Betriebs- wirtschaft! Das ist menschenunwürdig! Aber das Problem geht weit darüber hinaus, dass ein Unternehmen den eigenen Standards nicht gerecht wird. Das Problem ist ein strukturelles. Seit 1976 gelten in Deutschland und in allen anderen 30 OECD-Mitglied- staaten die sogenannten Leitsätze für multinationale Un- ternehmen. Allerdings zeigen diese bislang kaum Wir- kung. Sie sind in keiner Form bindend, sondern basieren auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der jeweiligen Konzerne. Es gibt weder die Möglichkeit, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, noch die, Fehlverhalten mit Sanktionen zu bestrafen. Ganz offensichtlich reicht es nicht, sich auf den guten Willen und das moralische Ver- antwortungsbewusstsein der Unternehmer zu verlassen oder lediglich mit der Veröffentlichung von Fehlverhal- ten zu drohen. Wir freuen uns, dass die OECD-Leitsätze seit der ge- rade abgeschlossenen Überarbeitung ein eigenes Men- schenrechtskapitel erhalten haben. Das ist aber kein Grund zum Ausruhen. Jetzt beginnt die Arbeit erst! In der Vergangenheit wurde deutlich, dass, selbst wenn Menschenrechtsverstöße ans Licht kamen, keiner- lei Maßnahmen ergriffen wurden. Eigentlich war die so- genannte Nationale Kontaktstelle, NKS, eingerichtet worden, bei der Missachtungen der Leitsätze gemeldet werden können. Allerdings stellte sich die NKS als äu- ßerst nachsichtiges, um nicht zu sagen, den Leitsätzen gegenüber gleichgültiges Organ heraus, das über Jahre hinweg einen Großteil der Beschwerden lapidar zurück- wies. Das jüngste Beispiel stammt vom Ende des letzten Jahres, als verschiedene NGOs Beschwerde gegen das Unternehmen Otto Stadtlander GmbH einreichten, da dieses Baumwolle aus Usbekistan bezog, die von Kin- dern geerntet wurde. Die Reaktion der NKS war nichts- sagend. Ich möchte an die Adresse die Bundesregierung sagen: Wir beobachten diese Vorgänge, und Sie können sicher sein, wir lassen hier nichts einfach unter den Tisch fallen! Die Kontaktstelle muss grundlegend reformiert wer- den. Sie ist alles andere als unabhängig. Während an- dere Länder, wie beispielsweise die Niederlande, ihre Kontaktstelle mit Experten aus unterschiedlichen Fach- bereichen besetzen, ist das deutsche Pendant im Wirt- schaftsministerium angesiedelt, und dort zu allem Über- fluss auch noch im selben Referat, das für die Außenwirtschaftsförderung zuständig ist. Das ist eine unsägliche Konstruktion und programmiert Interessen- konflikte vor, die bisher zum Nachteil der Beschwerde- führer gelöst wurden. Diese Konstruktion zeigt auch, dass ein ernsthafter Wille, bei Beschwerden zu einer fai- ren Lösung zu kommen, nicht vorhanden ist. Eine weitere Schwachstelle der Leitlinien besteht da- rin, dass sich Unternehmen regelmäßig hinter dem Ar- gument verstecken, dass es unmöglich sei, die gesamte Produktionskette zu überwachen. Gerade multinationale Konzerne verweisen auf die schier endlosen Netzwerke aus Tochter- und Zulieferfirmen, sodass die Leitlinien sich bis dato nur auf einen recht eng gefassten Investi- tionsbezug, Investment Nexus, anwenden lassen. Dies ist praktisch ein Freifahrschein für all jene, die jenseits al- ler ethischen Bedenken menschenunwürdige Beschäfti- gungsverhältnisse in aller Welt schaffen. Ein Aspekt ist mir zum Abschluss noch besonders wichtig. Wir, die Politik und die öffentliche Verwaltung, stehen auch ganz direkt in der Pflicht. Der Bund, die Länder und Kommunen kaufen jedes Jahr Waren für viele Milliarden Euro ein. Allein die deutschen Kommu- nen kommen jedes Jahr auf Beträge zwischen 250 und 300 Milliarden Euro. Hier müssen wir sofort agieren. Bei Unternehmen, die die OECD-Leitsätze nicht beach- ten, darf die öffentliche Hand nicht einkaufen! Faire Be- zahlung und menschenwürdige Arbeitsplätze sind Men- schenrechte. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/5756. Der Aus- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung, den Antrag der Fraktion der Sozialdemo- kraten auf Drucksache 17/4668 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali- tionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialde- mokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfrak- tion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.1) Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/4669. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Linksfraktion. Ent- haltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschluss- empfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- trag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli- che stärken – Drucksachen 17/4546, 17/4954 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Christel Humme Florian Bernschneider Jörn Wunderlich Kai Gehring 1) Anlage 2 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kollegin- nen und Kollegen liegen mir vor. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Es ist nun das zweite Mal, dass wir uns in diesem Hause mit der Lebenssituation schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendlicher beschäftigen. Ich darf mich zunächst einmal für die sachliche Atmosphäre bedan- ken, in der wir in der zurückliegenden Ausschusssitzung über das Thema diskutieren konnten. Ich denke, dieser Stil ist dem Thema angemessen. Einig waren wir uns, dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche Klima homosexuellen und transsexuellen Menschen ge- genüber positiv gewandelt hat. Viele Prominente aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen be- kennen sich heute offen zu ihrer Homosexualität. Die Sorgen und Nöte von Schwulen und Lesben finden Be- achtung und sind Gegenstand des öffentlichen Diskurses und alltäglicher Betrachtungen. Mit großer Überein- stimmung haben die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen den Wandel nachgezeichnet, den die Bundes- republik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, wo- durch sie Diskriminierungen schrittweise abbauen konnte. Auch die christlich-liberale Regierung ist seit dem Regierungsantritt diesen Weg konsequent weitergegan- gen und hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Gleichstellung von schwulen, lesbischen und trans- sexuellen Menschen zu verbessern. Ich möchte dies im Einzelnen nicht noch einmal wiederholen; die Bilanz un- serer Regierung lässt sich dem Plenarprotokoll zur vo- rausgegangenen Debatte entnehmen. Es erscheint mir vielmehr geboten, zwei aus meiner Sicht zentrale Aspekte an dieser Stelle noch einmal auf- zugreifen. Wer trotz aller getroffenen Maßnahmen und des beschriebenen Wandels Diskriminierung erfährt, der wird durchaus zu Recht sagen, dass ihm die bisheri- gen Schritte nicht reichen. Ob Sticheleien, böse Worte und verächtliche Kommentare gegenüber homosexuel- len Menschen je ganz aus unserer Gesellschaft ver- schwinden werden, bleibt abzuwarten, ja ist vielleicht sogar fraglich. Entscheidend ist etwas anderes: Ent- scheidend ist, dass die Gesellschaft dies nicht mehr ak- zeptiert. Was diese grundsätzliche Akzeptanz und Aner- kennung betrifft, sind wir – so meine ich – einen großen Schritt vorangekommen in den letzten Jahren. Ich per- sönlich bin auch der Meinung, dass sich Toleranz und Respekt nicht verordnen lassen. Sie muss bewusst gelebt werden – von jedem Einzelnen. Dabei helfen selten Ge- setze, sondern eher Vorbilder. Nicht selten wird Politikern in der Jugendpolitik vor- geworfen, sie machen es sich gerne allzu leicht, indem sie die Verantwortung für die gesellschaftliche Imple- mentierung von Verhaltensweisen auf die Schulen ab- wälzen. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Richtig ist aber auch: Ohne die tatkräftige Unterstützung, ohne die Courage jedes einzelnen Lehrers und jeder einzelnen Lehrerin sind alle Bemühungen der Politik wertlos. Viel- mehr sollte man all jene, die sich allzu leicht der be- Zu Protokoll kannten homophoben Ausdrücke bedienen, einmal fra- gen, ob sie sich denn bewusst sind, was sie eigentlich von sich geben. Es ist nämlich mehr als zweifelhaft, dass dies der Fall ist. Es bringt meiner Meinung nach mehr, im täglichen Umgang – jeder an seiner Stelle – deutliche Grenzen aufzuzeigen, wenn Homophobie zutage tritt, anstatt auf abstrakter Ebene in Aktionismus zu verfallen. Und vor allen Dingen muss in der Schule über die The- men Homosexualität und Transsexualität gesprochen werden. Auch würde es uns weiterbringen, wenn bei den Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes Bewusst- sein geweckt werden könnte, um noch immer bestehende Argumentationsmuster, die darauf basieren, dass der ho- mosexuelle Lebensstil ein Affront gegen die Gesellschaft ist, zu erkennen und in der Diskussion offen zu entlar- ven. Machen wir uns dabei nichts vor: Eine Gesell- schaft, in der die Diskriminierung von Homosexuellen und Transsexuellen vollständig der Vergangenheit ange- hört, ist ein Generationenwerk. Dass es sich lohnt, wei- terzumachen, zeigt die Entwicklung in den zurückliegen- den Jahren. Ich bin der Bundesregierung in diesem Zusammen- hang sehr dankbar dafür, dass dieser Bereich nach wie vor umfassend gefördert wird und trotz aller notwendi- gen Sparbemühungen keine Kürzungen bei der Förde- rung stattgefunden haben. Die Hoffnung auf eine weit- gehend tolerante und von gegenseitigem Respekt geprägte Gesellschaft werden wir nur dann umsetzen können, wenn wir jungen Menschen schon frühzeitig da- bei helfen, tradierte Argumentationsmuster zu entlarven und ein Problembewusstsein für Diskriminierungen zu schaffen. Einer der größten Problemkreise ist aus meiner Sicht nach wie vor der Bereich der muslimischen Jugend- lichen. Homophobe Einstellung gehören hier vielfach zur Normalität. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen deutet dies ja ganz vorsichtig an. Diese Vorsicht finde ich nicht angebracht. Den Betroffenen hilft es eher, die mitunter nach wie vor krassen Einstellungen auch deut- lich zu benennen und anzuprangern. Gibt es bei vielen Menschen mittlerweile wenigstens das Bewusstsein, Vorurteile für sich zu behalten, weil die Gesellschaft sie nicht mehr toleriert, ist es bei dieser Gruppe nicht selten noch ein Zeichen von „Stärke“, „hart und brutal“ gegen Homosexuelle aufzutreten und vorzugehen. Dies darf unsere Gesellschaft auf keinen Fall hinnehmen; das sind wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Das, was in anderen Ländern der Welt nach wie vor noch immer möglich ist, darf in Deutschland nicht pas- sieren. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Poli- tik. Die christlich-liberale Regierung ist sich dieser Ver- antwortung sehr bewusst. Daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe bereits im Rahmen der zurückliegenden De- batte ausführlich Stellung dazu genommen, weshalb wir dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zustimmen werden. Ich möchte mich bei der Be- gründung nicht wiederholen, zumal sich an dem Antrags- text seit der letzten Befassung nichts geändert hat. Auch bleibt unsere grundsätzliche Kritik an der Aussage der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12783 gegebene Reden Dr. Peter Tauber (A) (C) (D)(B) Grünen in dem Antrag, dass die Bundesregierung mit Ignoranz und Desinteresse homosexuellen Jugendlichen gegenüberstehe. Den Nachweis für diese vermessene Aussage sind Sie bislang schuldig geblieben. Es wird Ih- nen auch nicht gelingen, denn sie hat mit der Realität einfach nichts zu tun. Auch wäre es dringend nötig ge- wesen, in Ihrem Antrag bei der Frage der Kulturhoheit der Länder nachzubessern. Viele der in dem Antrag ge- machten Forderungen fallen schlichtweg nicht in die Zu- ständigkeit des Bundes. Hier wäre etwas mehr Sorgfalt nötig gewesen. Auch wenn wir uns auf dem Weg zu einer diskriminie- rungsfreien Gesellschaft nicht in der Frage des „Wie“ in allen Details einig sein mögen, denke ich jedoch, dass es großer Konsens der demokratischen Fraktionen dieses Hauses ist, so schnell wie möglich dahin zu kommen, im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang unterschiedliche Lebensentwürfe anerkannter zu ma- chen. Dies ist eine erfreuliche Übereinstimmung, zu der es in einer freien und demokratischen Gesellschaft keine Alternative gibt. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Es ist ein wichtiges Anliegen, gegen Benachteiligung und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung anzugehen. Hier sehe ich einen breiten Konsens im Hin- blick auf den Grundtenor des Antrags, den wir heute de- battieren. In der Unionsfraktion stehen wir darüber in einem guten, konstruktiven Gedankenaustausch mit dem Verband LSU, Lesben und Schwule in der Union. Ich nutze gerne die Gelegenheit, LSU und vor allem dem Bundesvorsitzenden Alexander Vogt dafür zu dan- ken, dass sie als fester Bestandteil der schwul-lesbi- schen Community dazu beitragen, dass in der Union die Anliegen und die Sichtweise von homosexuellen oder transsexuellen Menschen authentisch eingebracht und geschildert werden können, und – genauso wichtig – dass sie auch in der anderen Richtung dem einen oder anderen Vorurteil gegenüber der Haltung der Union ent- gegentreten. Schwul bzw. lesbisch und konservativ? Das muss kein Gegensatz sein. Ich weiß, dass das nicht immer ganz ein- fach ist, wenn sich LSU-Mitlieder zum Beispiel auf dem CSD mit eigenem Stand als CDU-Mitglied outen. Aber das ist gut so! Ich möchte an den Anfang stellen, dass wir eine Ge- sellschaft wollen, in der jeder Mensch in seiner indivi- duellen Einzigartigkeit mit gleicher und unbedingter Wertschätzung angenommen wird – mit gerade den Fä- higkeiten, den Defiziten, den Anlagen und eben auch mit der sexuellen Orientierung, die ihm mitgegeben worden ist. Wir wollen ein Klima, in dem Menschen unterschied- licher sexueller Orientierung unbefangen miteinander umgehen und dass dieses Thema dabei nicht alle ande- ren Themen überlagert. Ich weiß auch, dass das noch nicht erreicht ist. Es gibt immer wieder gelegentlich ein unpassendes und är- gerliches Schenkelklopfen, überflüssige Anspielungen, blöde Witze. Das dürfen wir nicht durchgehen lassen. Zu Protokoll Wer das mitbekommt – im privaten Kreis, im Beruf, in der Politik, wo auch immer – muss dem entgegentreten. Das muss nicht immer mit Drama sein; aber einfach sa- gen oder zeigen, dass man das nicht mag, dass das nicht witzig, nicht cool ist, das muss schon sein. Wo es zu sol- chen Äußerungen oder Kommentaren kommt, kann man als Erwachsener damit zumeist umgehen. Aber für Ju- gendliche, die mitten in der Phase der Selbstfindung ste- cken und solche Äußerungen plötzlich auf sich beziehen, die mit Beleidigungen und Mobbing konfrontiert wer- den, stellt das eine extreme Belastung dar. Wir sehen mit großer Sorge die hohen Selbstmordraten bei Jugend- lichen, die eine homosexuelle Orientierung bei sich fest- stellen. Es ist bedrückend, dass sie offenbar allein aus diesem Grund eine solch extreme Belastung empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Freitod. Es ist bedrückend, dass es die Gesellschaft dann nicht geschafft hat, die unbedingte Wertschätzung jedes Men- schen in seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck zu brin- gen, auf die ein jeder einen Anspruch hat. Jeder junge Mensch, der sich in dieser Phase der Selbstfindung be- findet und Hilfe braucht, muss hier Unterstützung fin- den. Das ist ein gemeinsames Anliegen, das ja auch dem Antrag zugrunde liegt, den wir heute debattieren. In vie- len Punkten beschreibt der Antrag zu Recht die schwie- rige Lage von Jugendlichen in dieser Situation. In einem hat der Antrag jedoch nicht recht, und schon deshalb kann dem auch nicht zugestimmt werden: Die Bundesregierung zeigt keineswegs Ignoranz und Des- interesse, wie dort formuliert ist. Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und schwule Jugendliche“, Drucksache 17/2588, hat sie eine ausführliche Bestandsaufnahme vorgelegt, die aufzeigt, dass in diesem Bereich bereits umfangreich gefördert und unterstützt wird. Die Bundesregierung unterstützt über das Förderinstrument Kinder- und Jugendplan des Bundes, aber auch über den gemeinsamen Haushalts- titel der Abteilungen Familie, Chancengleichheit und Ältere Menschen eine Vielzahl von Projekten und Initia- tiven zugunsten schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendlicher, angefangen bei Konferenzen, Handrei- chungen und Fortbildungen bis hin zur Verbandsförde- rung des Jugendnetzwerk Lambda e. V., dem lesbisch- schwulen Jugendverband in Deutschland. Die Arbeit der Verbände trägt aus meiner Sicht be- sonders dazu bei, die Benachteiligung von gleichge- schlechtlichen Jugendlichen abzubauen und ein Klima von gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu schaf- fen. Lambda e. V. erhält bereits seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans Fördermittel, die für das Jahr 2011 sogar aufgestockt wurden. Auch im Bereich der sportlichen Bildung haben Akti- vitäten zugunsten von lesbischen, schwulen und trans- sexuellen Jugendlichen bereits heute einen hohen Stel- lenwert. So sind Veranstaltungen gegen Homophobie im Fußballsport regelmäßiger Bestandteil des Programms der vom Bundesfamilienministerium und dem Deutschen Fußballbund geförderten Koordinationsstelle „Fanpro- jekte“. Auch in den anderen Jugendbildungssparten fin- det sich vergleichbares Engagement. 12784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) (C) (D)(B) In den Medien der Bundeszentrale für gesundheit- liche Aufklärung zur Sexualaufklärung und Familien- planung sind interessierende Themen wie sexuelle Orientierung, Coming- out usw. bereits heute angemes- sen berücksichtigt und finden selbstverständliche Be- rücksichtigung sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Eltern. In allen Aufklärungsangeboten, vor al- lem in ihren Broschüren, verfolgt die BZgA einen den Selbstwert stärkenden Ansatz und wendet sich ausdrück- lich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Zur Prä- vention von Suizidversuchen und Suiziden fördert das Bundesgesundheitsministerium Initiativen des Nationa- len Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, NASPRO, bei dem sich eine Arbeitsgruppe speziell mit der Thematik Suizidprävention bei Kindern und Jugend- lichen befasst. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Thema Homosexualität gerade in jüngster Zeit umfang- reich sowohl aus zeitgeschichtlicher als auch aus sozial- und politikwissenschaftlicher Perspektive gewürdigt. Besonders schwierig ist sicher die Situation für He- ranwachsende mit muslimischem Migrationshinter- grund. Gerade hier sind homosexuellenfeindliche Ein- stellungen wesentlich stärker verbreitet als in der deutschen Vergleichsgruppe. Zu diesem Ergebnis kam die vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie „Lebenssituationen von Lesben und Schwulen mit Mi- grationshintergrund in Deutschland“ im Auftrag des Lesben- und Schwulenverbandes, LSVD. Die Studie zeigt, dass sich viele Lesben und Schwule mit Migra- tionshintergrund in Deutschland zwar gut integriert füh- len und das gesellschaftliche Klima gegenüber Homo- sexuellen hier als positiver als in ihren Herkunftsländern erleben. Innerhalb ihrer Familien und Migrationscom- munities allerdings erfahren sie mehr Diskriminierung und verzichten deshalb oft auf ein offenes homosexuelles Leben. Homosexuelle ohne Migrationshintergrund hat- ten der Studie zufolge ein positiveres Selbstbild und eine höhere Lebenszufriedenheit und mehr soziale Unterstüt- zung. An dieser Stelle müssen auch Verbände wie zum Beispiel der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit- helfen, indem sie auch einen Beitrag zur Aufklärung ge- gen Homosexuellenfeindlichkeit leisten. Über die Anregung, interkulturelle Angebote für ho- mosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Nationalen Aktionsplan aufzunehmen, werden wir sicher diskutieren. Die verschiedenen Angebote und Bei- träge haben bisher auf vielfältige Weise mitgeholfen, dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positi- ven gewendet hat, wie der Antrag ja auch feststellt. Auf diesem Weg muss es weitergehen. Christel Humme (SPD): Im Januar haben wir bereits im Plenum über den vor- liegenden Antrag der Grünen „Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken“ debattiert. Im zuständigen Familienausschuss wurde deutlich, dass die Vertreter der christlich-liberalen Koalition auch bei diesem Thema meinen, die Hände nun in den Schoß legen zu können, und darauf verweisen, Schwulen Zu Protokoll und Lesben gehe es heute schließlich so gut wie nie. Schauen wir uns die Situation einmal an: Der unsägliche § 175, der so viel Leid und Ungerech- tigkeit über homosexuelle Männer brachte, ist aus dem Strafgesetzbuch getilgt. Die Weltgesundheitsorganisa- tion WHO hat Homosexualität aus ihrem Katalog psy- chischer Krankheiten entfernt. In Deutschland hat die rot-grüne Bundesregierung mit der eingetragenen Le- benspartnerschaft schwulen und lesbischen Paaren die Möglichkeit geschaffen, ihrer Beziehung einen rechtli- chen Rahmen zu geben. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, ver- bietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung aufgrund der sexuellen Identität. Daher stimme ich der Einschät- zung der Regierungsfraktionen in diesem einen Punkt durchaus zu: Die rechtliche Gleichstellung und der Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und Transsexuelle – gleich welchen Alters – war noch nie so weit gediehen wie jetzt. Obwohl noch einige wichtige Schritte zur völligen Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe fehlen – ich nenne hier nur die Beispiele Adoption und Steuerrecht –, können wir dank einer guten rot-grünen Antidiskriminierungspolitik feststellen: Es hat sich sehr viel zum Positiven gewandelt! Aber dies reicht nicht. Denn die tatsächliche Lebens- situation von gesellschaftlichen Minderheiten lässt sich nicht nur mit Blick auf bestehende Gesetze oder Statisti- ken alleine bestimmen. Was wir brauchen, ist eine breit angelegte Studie, die uns ein realistisches Bild der Le- benswirklichkeit von schwulen, lesbischen und transse- xuellen Jugendliche vermittelt. Wie der Presse aktuell zu entnehmen war, hat sich der Kollege Jens Spahn von der CDU an seine Parteifreundin Kristina Schröder ge- wandt und sie als zuständige Ministerin an das Thema erinnert. Nun soll offenbar eine Machbarkeitsstudie klä- ren, ob eine bundesweite Untersuchung durchgeführt werden soll. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, und ich denke, eine Bundesregierung, die sich im Koalitions- vertrag auf die Fahnen geschrieben hat, für Chancen- gerechtigkeit für alle – unabhängig von der individuel- len sexuellen Orientierung – zu sorgen, sollte ebenfalls ein besonderes Interesse daran haben! Denn eines ist klar: Rechtliche Gleichstellung und wirksamer Antidiskriminierungsschutz ist das eine, ge- lebte und erlebte Toleranz und Gleichberechtigung im Alltag das andere! Und dennoch: Gesetzliche Regelun- gen sind unverzichtbar und wichtig. Denn sie setzen den Rahmen, damit eine Kultur der Akzeptanz und des Re- spekts von Minderheiten weiter reift und gestärkt wird. Daher bedaure ich es sehr, dass Union und FDP die Chance ausgeschlagen haben, sich einem breiten Bünd- nis zur Ergänzung des Art. 3 unseres Grundgesetzes an- zuschließen, um über alle Parteigrenzen hinweg zu zei- gen, dass Lesben und Schwule ausdrücklich in den Diskriminierungsschutz unserer Verfassung aufgenom- men werden sollten. Das wäre gerade im Hinblick auf die Lebenssituation der jungen Menschen, über die wir heute diskutieren, ein wichtiges Signal! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12785 gegebene Reden Christel Humme (A) (C) (D)(B) In der Frage, wie wir lesbische, schwule oder trans- sexuelle Jugendliche stärken können, darf es kein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern ge- ben. Gerade beim zentralen Bereich Schule und Bildung können wir als Bundespolitiker vorrangig an die Länder appellieren, sich des Themas der sexuellen Vielfalt couragierter anzunehmen, als das heute teilweise noch der Fall ist. Denn noch allzu oft kommt es in der Schule zu Be- schimpfungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen und Jungen werden gemobbt, von der Klassengemein- schaft ausgeschlossen oder sogar tätlich angegriffen. Hier müssen wir ansetzen! Dazu brauchen wir Schulen, die für Lehrende und Lernende einen diskriminierungs- freien Raum garantieren. Mein Heimatland NRW zeigt mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt“ ebenso wie Berlin mit der Initiative „Berlin steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“, welche konkreten Verbesserungen im Bil- dungsbereich möglich und nötig sind, um wirksamen Antidiskriminierungsschutz an Schulen zu verankern. Dazu brauchen wir zum einen engagierte Lehrerin- nen und Lehrer, die das Thema (sexuelle) Vielfalt und Diversity positiv und nicht etwa ausschließlich im Kon- text Aufklärung oder HIV-Prävention behandeln. Dabei dürfen wir auch nicht aus dem Blick verlieren, dass nicht nur Jugendliche auf dem Weg zu ihrer selbstbewussten sexuellen Identität Unterstützung und Beratung benöti- gen. Genauso gibt es schwule Lehrer oder lesbische Lehrerinnen, die vor der Frage stehen, ob sie sich vor Schülern oder Kollegium „outen“ sollen, oder die nicht wissen, wie sie mit mehr oder weniger offenen Anfein- dungen umgehen sollen. Doch erst, wenn schwule Leh- rer und lesbische Lehrerinnen selbstverständlich und of- fen mit ihrer Homosexualität umgehen können, sehen Schülerinnen und Schüler, dass dies ebenso normal ist wie Heterosexualität. Neben der Schule brauchen Jugendliche natürlich auch noch andere Anlaufstellen. Neben dem Internet als wichtiger Informationsquelle ist eine kompetente Ver- trauensperson in der Nähe unerlässlich. Hier sind sowohl die Länder in der Pflicht als auch der Bund. Wir wollen, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes auch in Zukunft finanziell gut ausgestattet bleibt, um neben ihrer Aufklärungs- und Beratungstätig- keit vor allem auch die Vernetzung mit Beratungsstellen vor Ort weiter voranbringen zu können. Außerdem steht die Bundesregierung in der Pflicht, den Nationalen Ak- tionsplan gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus um das Problemfeld Homophobie zu er- weitern und das Thema Akzeptanz von Homo-, Bi- und Transsexualität im Nationalen Integrationsplan zu ver- ankern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Be- reicherung und Normalität wahrgenommen wird. Stefan Schwartze (SPD): Heute entscheiden wir abschließend über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das Zu Protokoll ist ein wichtiges Anliegen und verdient unsere volle Un- terstützung. Insbesondere fordert Bündnis 90/Die Grünen eine umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugend- arbeit. Hier sind die Gelder, die für schwule und lesbi- sche Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgege- ben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und Jugendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro, die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgege- ben hat. Ganze 186 Millionen Euro gibt die Bundes- regierung dagegen insgesamt für den Kinder- und Ju- gendplan aus. Der hier vorliegende Antrag wurde mit der Begrün- dung abgelehnt, man habe bereits die Mittel für die schwule und lesbische Jugendarbeit erhöht, indem die Mittel für das Projekt Lambda um 7 Prozent im Jahr 2011 erhöht worden seien. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt außerordentlich, dass die Mittel für das Projekt Lambda um 2 000 Euro erhöht worden sind. Aber damit ist natürlich nicht der Forderung Genüge getan, eine umfassende Förderung von schwuler und lesbischer Ju- gendarbeit zu gewährleisten. Wer eine umfassende För- derung will, der muss Geld in die Hand nehmen, und zwar einen angemessenen und gerechten Betrag. Was wäre nun angemessen und gerecht? Auch wenn ich jeden Tag an dem Kunstwerk von Thomas Locher vorbeigehe, das mich und alle anderen Politiker ironisch mahnt „Gerecht ist nur die Gerechtigkeit“, so sind doch 2 000 Euro mehr keine gerechte Verteilung der Mittel. Wenn man von einer niedrigen Rate von schwulen und lesbischen Jugendlichen ausgeht – und die niedrigste Schätzung bewegt sich hier bei 5 Prozent –, dann müss- ten etwa 900 000 Euro für schwule und lesbische Ju- gendarbeit ausgegeben werden. Das ist jedoch nicht der Fall. Stattdessen fehlen in diesem Bereich diese Mittel, und das, obwohl es schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche in unserer Gesellschaft schwer haben. Oft sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht si- cher und werden gehänselt, gemobbt und drangsaliert, oder sie werden sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugend- lichen müssen vor Diskriminierung wirksamer geschützt werden. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartner und -partnerinnen, die beraten und helfen können. Ins- besondere brauchen wir aber Programme, die die Ak- zeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken. Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können, soll in einer breit angelegten bundesweiten wissen- schaftlichen Studie zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bun- destagsfraktion auch schon damals unterstützt haben. Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Studie ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssituation von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung abzu- leiten. Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskri- minierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den 12786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Stefan Schwartze (A) (C) (D)(B) Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an ei- nem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Bei- trag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbü- chern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbil- dung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie Schulun- gen zur Vorgehensweise bei und zum Umgang mit diskri- mierenden Situationen und diskriminierendem Verhalten von Schülern und Schülerinnen. Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und in- tersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert wer- den. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachtei- ligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die recht- liche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir brauchen ein öffentliches und deutliches Bekenntnis, dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine unglei- che Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bun- destag eingebracht, die bereits in den Ausschüssen von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind. Die abschließende Lesung steht hier noch aus. Aber schon heute ist klar, dass wir in dieser Frage wieder einmal nicht vorankommen. Es ist absolut unverständlich, wa- rum die schwarz-gelbe Koalition in dieser Frage so zögerlich ist, zumal wir seit 2009 in der EU-Grund- rechtscharta den Diskriminierungsschutz für Lesben, Schwule und Transgender verankert haben. Florian Bernschneider (FDP): Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute abschließend beraten, richtet unser Au- genmerk auf die Lebenssituation von schwulen, lesbi- schen und transsexuellen Jugendlichen, und das zu Recht. Es ist nicht zu bestreiten, dass Homosexuelle und Transsexuelle – unabhängig von ihrem Alter – noch im- mer Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch wenn gleichstellungs- und gesellschaftspolitisch schon viel er- reicht wurde. Wir müssen nicht allzu weit zurückgehen, um uns dies zu vergegenwärtigen. Ich möchte Sie nur an den § 175 StGB erinnern, der sexuellen Kontakt zwi- schen Männern unter Strafe stellte. Im Volksmund sprach man statt von Homosexuellen gar von „175ern“. Und auch heute treffen offen lebende Homosexuelle und Transsexuelle noch auf Vorbehalte. Deshalb ist es nach wie vor unsere Aufgabe, gegen die Diskriminierung von gleichgeschlechtlich orientierten Mitgliedern unserer Gesellschaft vorzugehen und anzuarbeiten. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP nimmt sich dieser Aufgabe an. Die durch uns erreichte Gleichstel- lung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Zu Protokoll Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erb- schaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht be- legt dies eindrucksvoll. Zugleich senden wir mit diesen Rechtsänderungen ein klares Signal für mehr gesell- schaftliche Liberalität und Vielfalt in unsere Gesell- schaft hinein. Seit der ersten Beratung des vorliegenden Antrages hat sich auch einiges getan. So hat unsere liberale Jus- tizministern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, end- lich erreicht, wozu weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot in den letzten Jahren imstande waren: In diesem Jahr werden 10 bis 15 Millionen Euro für die Gründung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung als Startkapital bereitge- stellt. Das ist ein wichtiger, aber auch überfälliger Schritt, für den sich meine Fraktion seit langem mit Nachdruck eingesetzt hat. Die Stiftung wird sich unter anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Lesben und Schwulen wenden und durch Bildung und Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entge- genwirken. Im Zuge dieser Aufgabe wird die Fortbil- dung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren in der Schul- und Jugendarbeit mit Sicherheit zu den Aufgaben der Stiftung gehören. Dies ist uns Liberalen besonders wichtig, weil wir hier an einem Punkt ansetzen, der die Lebenswirklich- keit der Jugendlichen tatsächlich erreicht. Wo findet denn ein Großteil der Sozialisierung Jugendlicher statt? Wo spielt sich ein Großteil ihres Lebens ab? Richtig, in der Schule. Deshalb ist es der Bundesregierung und ins- besondere meiner Fraktion ein Anliegen, gerade in die- sem Umfeld dafür zu sorgen, dass diejenigen, die täglich mit Jugendlichen zu tun haben – Lehrer, Pädagogen, Ju- gendarbeiter – stärker sensibilisiert werden und das nö- tige Handwerkszeug erhalten, um noch besser gegen die Diskriminierung von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen vorgehen zu können. Aber wir müssen auch bei diesem Thema ehrlich mit- einander umgehen. Aktuell wird ja über das Koopera- tionsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen diskutiert, auch in meiner Partei. Unabhängig davon, wie diese Diskussionen ausgehen, steht trotzdem außer Frage, dass der Bund nicht alles leisten kann. Für das Schulwesen sind und bleiben in erster Linie die Länder zuständig. Daher muss ich den Kolleginnen und Kolle- gen von den Grünen auch sagen, dass Sie sicherlich in ihrem Antrag viele gute Forderungen aufführen, aber dass Sie sich hier in vielen Punkten leider den falschen Adressaten ausgesucht haben. Wenn Bildungspolitik einen höheren Stellenwert er- halten und im Umfeld von Bildungseinrichtungen mehr für die Gleichstellung von homosexuellen und trans- sexuellen Jugendlichen erreicht werden soll, müssen wir – und damit meine ich ausdrücklich die Mitglieder aller Fraktionen – die Länder und unsere Kollegen in den Landesparlamenten stärker in die Verantwortung neh- men. Nur um es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen – ich hatte bereits in der ersten Lesung des Antrages da- rauf hingewiesen –: Uns Liberalen ist es zwischen 2005 und 2010 in NRW trotz harter Sparpolitik gelungen, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12787 gegebene Reden Florian Bernschneider (A) (C) (D)(B) Fördermittel für die schwul-lesbische Selbsthilfe zu er- halten. Aus diesen Mitteln wurde unter anderem das Schulaufklärungsprojekt SCHLAU NRW finanziert. Da- mit haben wir bewiesen, dass es selbst in einer schwieri- gen Finanzlage möglich ist, eigene Schwerpunkte zu set- zen. Darüber hinaus möchte ich betonen, dass der Bund seine Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendpla- nes hervorragend wahrnimmt. Die Förderung von Pro- jekten, Programmen und Institutionen, die sich für die Gleichstellung und Unterstützung von schwulen, lesbi- schen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, sind schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bun- des, und sie werden es auch bleiben. Zum Jahr 2011 wurden beispielsweise die Mittel für den Jugendverband Lambda um 7 Prozent erhöht, was dies nochmals unter- streicht. Im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen schwingt der Vorwurf mit, dass sich diese Regierung nicht um homosexuelle und transsexuelle Jugendliche bzw. Homosexuelle und Transsexuelle insgesamt küm- mere. Ihr dem Thema völlig unangemessenes Auftreten im Zuge der Ausschussberatung des Antrages hat dazu beigetragen, dass sich dieser Eindruck bei mir, aber si- cherlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen ver- festigt hat. Daher möchte ich diese Möglichkeit nutzen und nochmals öffentlich klarstellen, dass sich die FDP unvermindert für gesellschaftliche Vielfalt und die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Trans- sexuellen einsetzt. Auf Erfolge im Inland, wie die längst überfällige und notwendige Unterstützung der Magnus- Hirschfeld-Stiftung, die die Grünen in der Vergangen- heit sträflich vernachlässigt haben, habe ich schon hin- gewiesen. Ich möchte Ihren Blick aber auch auf die Außenpoli- tik lenken. So sind es Liberale wie Entwicklungsminister Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle, die international Flagge zeigen und klar gegen Homopho- bie eintreten. Das Auswärtige Amt fördert in diesem Jahr erstmals zwei Schwulen- und Lesbenprojekte im Ausland. Im Fall Malawis wurde wegen Strafverschär- fungen gegen Homosexuelle erstmals Entwicklungsgel- der durch das zuständige Ministerium eingefroren – ein Novum. In Uganda wurde die Entwicklungshilfe für die kommenden Jahre an die Bedingung geknüpft, dass Pläne im ugandischen Parlament zur Verschärfung der Homosexuellengesetze nicht realisiert werden. Unter Rot-Grün, mit dem ehemaligen Außenminister Josef Fischer, über dessen Rückkehr auf die politische Bühne als Kanzlerkandidat hinter vorgehaltener Hand disku- tiert wird, hat es ein solch entschiedenes Eintreten für die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich orientier- ter Menschen im Ausland jedenfalls nicht gegeben. All dies beweist: Die Gleichstellungspolitik ist in gu- ten Händen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Antrag ist ein sehr gutes Beispiel da- für, wie man diskriminierte Jugendliche konkret unter- Zu Protokoll stützen kann. Diskriminierungen jeglicher Art sind in ei- nem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Hier sind wir ein erhebliches Stück vorangekommen. In der ersten Lesung teilten alle Parteien die Intention des Antrags und bestätigten, dass Handlungsbedarf besteht. Doch die Vertreter der Regierungskoalition verwie- sen lapidar auf die Verantwortung der Länder und Kom- munen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, und lassen Sie lesbische, schwule, transsexuelle, transgender und intersexuelle Jugendliche nicht im Regen stehen! Diskri- minierte junge Menschen benötigen unsere Hilfe. Die Diskriminierung junger Menschen schreibt in deren Bio- grafie eine bleibende Lebenserfahrung ein. Statt des Wegschiebens von Verantwortung benötigen sie konkrete Unterstützung. In dem Antrag wurde auf die konkret nutzbaren Handlungsspielräume auf Bundesebene hin- gewiesen. Wir benötigen eine gesamtgesellschaftliche Strategie. Diese Strategie müssen wir hier entwickeln und koordinieren. Dies ist unsere Aufgabe. Es darf nicht sein, dass nur einzelne Länder und Kommunen Notfall- hilfe anbieten, positive Beispiele, die isoliert dastehen wie ein Fels in der Brandung. Ein Beispiel für das konkrete Handeln vor Ort ist das letzten Monat in Berlin eröffnete Zentrum „Queer le- ben“. Es ist Europas erstes Zentrum für queer lebende und transidente Jugendliche. Bei der Eröffnung stellte die Leiterin Mari Günther klar, dass die Notwendigkeit zur Einrichtung dieses Zentrums vorhanden ist. Jugend- liche Menschen aus ganz Deutschland wandten sich an Beratungsstellen in Berlin. Sie flüchteten vor ihren El- tern, sie wandten sich anonym an Sozialberater oder waren obdachlos. Sie berichteten von schwerwiegenden Ausgrenzungen in der Schule, durch Verwandte und El- tern sowie Bekannte. Die zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zen- trums haben es rund um die Uhr mit schwerwiegenden Problemen zu tun. Jugendliche werden gemobbt, drang- saliert und auch geschlagen, nur weil sie scheinbar an- ders sind. Das Land Berlin hat hier eine konkrete Hilfe geleistet, und sie ist dringend notwendig. Homophobie und Transphobie sind kein vorüberge- hendes Phänomen. Es sind sehr reale Ängste einer Mehrheitsbevölkerung, die gegenüber den Betroffenen in Abwehr und Ausgrenzung münden. Es ist nicht hin- nehmbar, dass bedrohte Jugendliche verängstigt der Schule fernbleiben, dass sie an der Schule keine An- sprechpartner für ihre Probleme finden, dass sie aus der elterlichen Wohnung flüchten, da die Eltern sie nicht ak- zeptieren, nur wegen ihrer Sexualität bzw. ihrer Ge- schlechtlichkeit. Wir müssen die Betroffenen konkret un- terstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, sodass Eltern, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler Ängste abbauen. Schwul, lesbisch, transsexuell, trans- gender und intersexuell sollten weder hier noch in der Gesellschaft Beschreibungen sein, vor denen man sich fürchtet. Die sexuelle Vielfalt ist eine Realität, und sie ist eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Hier muss der Bundesgesetzgeber seine Verantwortung wahr- nehmen. Wir werden diesem Antrag zustimmen, denn die 12788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12789 Dr. Barbara Höll (A) (C) (D)(B) Betroffenen verdienen nicht warme Worte, sondern kon- krete Unterstützung. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es freut mich, dass wir mit unserem Antrag eine bun- desweite Debatte über die Lebenslage von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen anstoßen konnten. Ich bin stolz darauf, dass die rot-grüne Regie- rung in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen die Bekämpfung von Homophobie als Querschnittsaufgabe aktiv angeht und im Landesjugendplan die Unterstüt- zung schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendli- che absichert. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jah- ren auf den ersten Blick offener und toleranter geworden – nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung und durch rot-grüne Reformen wie die eingetragene Lebenspart- nerschaft. Auf den zweiten Blick bleibt das Coming-out für viele junge Schwule und Lesben auch im Jahr 2011 ein belastender und schwieriger Prozess, weil sie damit Ablehnung oder Anfeindungen riskieren – in der Fami- lie, in der Schulklasse oder im Ausbildungsbetrieb. Schwule und lesbische Jugendliche leiden in beson- derer Weise unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Mob- bing und brauchen daher dringend Unterstützung und Solidarität. Mir ist unverständlich, wie dies von Teilen der Union weiterhin ignoriert werden kann. Wenn „du schwule Sau“ zur meistgenutzten Beschimpfung auf un- seren Schulhöfen zählt, dann sind wir meilenweit davon entfernt, dass alle ohne Angst verschieden sein können und Vielfalt wertgeschätzt wird. Alle Jugendlichen ver- dienen Respekt und haben ein Recht auf beste Bedingun- gen für ein selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies Aufwachsen. Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportstät- ten, Vereine und Verbände müssen daher endlich aller- orts zu Orten ohne Homophobie werden. Geradezu alar- mierend ist das vielfach höhere Suizidrisiko von schwulen und lesbischen Jugendlichen im Vergleich zu ihren heterosexuellen Altersgenossen. Die Bundesregie- rung hat uns trotzdem mehrfach mitgeteilt, dass sie hierzu „keinen Handlungsbedarf“ sieht. Wir halten das für einen gesellschaftspolitischen Skandal. Obwohl vom Bundestag schon 2005 beschlossen, gibt es immer noch keine Studie, die ein umfassendes Ge- samtbild über die Lebenslagen homosexueller Jugendli- cher liefert. Die beiden zuständigen CDU-Jugendminis- terinnen sind in dieser Hinsicht sechs Jahre lang untätig geblieben. Ich fordere Ministerin Schröder auf: Erleben Sie end- lich Ihr jugendpolitisches Coming-out, und werden Sie aktiv! Sie müssen Ministerin für alle Jugendlichen in diesem Land sein, nicht nur für die heterosexuelle Mehr- heit. Es wäre schön, wenn infolge unserer Initiativen end- lich ein Umdenken beginnen würde. Frau Schröder ant- wortete mir dieser Tage, dass die Regierung eine Mach- barkeitsstudie zur Studie prüfe. Wir hoffen, dass sie dabei bald zu einem positiven Ergebnis kommt und den Widerstand gegen eine fundierte Datenbasis aufgibt. Eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Stu- die zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher muss neben einem aktuellen Gesamtbild auch Hand- lungsempfehlungen zur Überwindung homosexuellen- feindlicher Einstellungen beinhalten. Hierbei sollten un- ter anderem Formen und Orte der Diskriminierung, gesundheitliche Belastungen und die Verbreitung homo- phober Einstellungen eine Rolle spielen. Es darf nicht sein, dass schwule, lesbische und trans- sexuelle Jugendliche ausgeblendet bleiben. Damit sie als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft aner- kannt und akzeptiert werden, bedarf es eines umfangrei- chen Handlungs- und Aktionsplans von Bund und Län- dern. Unser Antrag zeigt hierzu verschiedene wirksame Maßnahmen auf: Es ist unerlässlich, eine umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit zu ver- ankern und die wenigen sowie mit mickrigen 200 000 Euro völlig unterfinanzierten Angebote im Kinder- und Jugendplan des Bundes systematisch auszubauen. Ju- gendliche benötigen bundesweit flächendeckend Bera- tungsstellen, in denen sie konkrete Unterstützung, An- sprechpartner und Vertrauenspersonen finden. Gegen Herabwürdigungen und Mobbing braucht es nachhal- tige Präventionsstrategien, die gemeinsam mit den Län- dern ergriffen werden müssen. Wir brauchen in allen Bundesländern verbindliche Rahmenrichtlinien, damit in Bildungs- und Jugendeinrichtungen die Vielfalt der sexuellen Identitäten vermittelt wird. Lehrer und Ju- gendleiter müssen in ihrem Studium und in Weiterbil- dungen für sexuelle Vielfalt und den Umgang mit Homo- sexualität sensibilisiert werden. Auch die verschiedenen Medien bis hin zu Schulbuchverlagen sind dazu aufge- fordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und unter anderem über die Vielfalt der Fami- lienformen, verschiedene sexuelle Identitäten sowie die Geschichte der Homosexuellenverfolgung und -bewe- gung in Deutschland zu informieren. Der nationale Inte- grationsplan ist um interkulturelle Angebote zu den The- men sexuelle Vielfalt sowie Homo- und Transphobie zu erweitern. Dazu gehören auch Angebote für schwule und lesbische Jugendliche mit Einwanderungsge- schichte, deren Familien zum Beispiel aus Herkunftslän- dern mit Homosexuellenverfolgung stammen. Sie sind als Migranten und Homosexuelle von doppelter Diskri- minierung bedroht – das muss sich endlich ändern. Not- wendig sind zudem zusätzliche zielgruppengerechte In- formationen und Angebote für alle Jugendlichen und ihre Angehörigen. Dafür müssen in der Bundeszentrale für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesund- heitliche Aufklärung, dem Bundesfamilienministerium sowie den schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechts- verbänden Ressourcen zur Verfügung gestellt und krea- tive Strategien gegen Homophobie etabliert werden. Es gibt also noch viel zu tun, damit sich Jugendliche problemlos und sorgenfrei outen können. Die Bundes- regierung muss sich den genannten Herausforderungen endlich bewusst werden und dementsprechend handeln! Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4954, den 12790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/4546 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Regierungsbank weise ich darauf hin, dass wir gerne die Abstimmungen konzentriert zu Ende führen wollen. Ich wollte damit nur darauf aufmerksam ma- chen, dass die Regierungsbank noch besetzt ist. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zeitnahe Information des Deutschen Bundes- tages über die Ergebnisse des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsordnung – Drucksache 17/5898 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wert- stofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung – Drucksachen 17/5484, 17/5886 – Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Ralph Lenkert Dorothea Steiner Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, liegen bei uns vor. – Sie sind damit einverstanden. Michael Brand (CDU/CSU): Zum Antrag der SPD „Zeitnahe Information des Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Plan- spiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverord- nung“ kann kurz und knapp festgehalten werden: Nie- mandem ist verboten, sich bei den Beteiligten über ebendiese Ergebnisse des sogenannten Planspiels kun- dig zu machen, und ganz sicher werden weder die Bun- desregierung noch die Länder noch die Kommunen noch die Verbraucher- und Umweltverbände noch die Entsor- gungs- und Recyclingwirtschaft noch der Handel und die Industrie die Auskunft darüber verwehren, wie sie diesen Prozess und die Ergebnisse beurteilen. Zudem ist das BMU für die SPD auch nach dem Abgang des Kolle- gen Gabriel nach wie vor auskunftsbereit, gerade in der Abteilung Abfallwirtschaft, wie wir alle annehmen dür- fen. Ist es nicht überhaupt vornehmste Aufgabe der Parla- mentarier, sich nicht alles von der Regierung vorsetzen zu lassen, sondern eigene Bewertungen vorzunehmen, um diese der Regierung mitzuteilen als den Willen der vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter? Und ist dies nicht noch weit mehr die Aufgabe der Opposi- tion, zumal aus den Reihen der beantragenden Fraktion mit dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und dem Par- teivorsitzenden Gabriel, gerade zwei ehemalige Kabi- nettsmitglieder, einer zudem mit unmittelbarer Verant- wortung als hier zuständiger Umweltminister? Offen gesprochen verstehe ich die Befassung des Par- laments in Form eines Antrages hier nicht. Es gibt wirk- lich wichtigere und gehaltvollere Anträge als die Bitte um bereits gegebene Information wie im zuständigen Fachausschuss des Parlaments, die sicherlich unter dem neuen Bundesumweltminister Röttgen weit offener ge- handhabt wird als unter seinem Vorgänger Gabriel und dessen Staatssekretären. Zur Sache selbst darf ich anführen, dass ich über erste Kenntnisse und Bewertungen des Planspiels beim UBA in Dessau aus diesen Tagen schon verfüge – und dass ich mir diese Informationen als Teil meiner parla- mentarischen Arbeit geholt habe, so wie dies andere si- cherlich auch tun können. Dass neben den politisch re- alistischen und praktisch umsetzbaren beiden Modellen beim Planspiel zur Wertstofftonne auch noch die „Wol- kenschieber-Modelle“ einer Vollprivatisierung oder Vollkommunalisierung geprüft werden sollen, reiht sich in diese seltsame Antragstellung der SPD ein. Warum sollen wertvolle Ressourcen und viel Zeit von Experten und Betroffenen in die Evaluierung von Modellen ge- steckt werden, die mutmaßlich nie zum Tragen kommen? Als Abgeordneter mit einem vollen Kalender verstehe ich sehr gut, dass von den Beteiligten aus den Modellen diejenigen für ein Planspiel ausgewählt wurden, die eine Basis für eine zukünftige Regelung zum Wohle aller bil- den können. Dass es dabei ein „Hauen und Stechen“ um Platzvor- teile bei der Verteilung von Wertstoffen geben wird, ist angesichts der veränderten Rohstoffbasis und der zu er- wartenden Gewinne und zähen Verteidigung von Markt- positionen keine Überraschung mehr; das haben wir jedes Mal erleben müssen, wenn wir bei der Verpa- ckungsverordnung im Dschungel der Interessen von Handel, Kommunen und Entsorgern die Kämpfe um den Müll und dessen möglichst preisgünstiger Entsorgung gesehen haben. Während die einen die anderen bei den Preisen drücken, um Margen zu optimieren, und die an- deren um ihre angestammten oder angestammt geglaub- ten Plätze in der Stoffstromwirtschaft kämpfen, muss niemand befürchten, dass der Bundestag und diese Bun- destagsmehrheit eine vollstaatliche oder marktradikale Lösung tragen werden. Wir werden im Umweltaus- schuss, mit den Ländern und Kommunen sowie mit den Betroffenen und Beteiligten den bereits begonnen Dia- log eng halten, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kom- men. Michael Brand (A) (C) (D)(B) Allerdings rate ich zu Sachlichkeit statt zu Panik: Das Planspiel ist ein Plan und ein gedankliches Spiel, keine Ergebnisvorwegnahme. Entscheiden wird nicht eine Ab- teilung im BMU, sondern der Bundestag gemeinsam mit dem Bundesrat. Wie wir alle wissen, bilden das BMU in seiner neuen Führung und zudem unser föderaler Me- chanismus solide Grundlagen dafür, dass zur Panik über angeblich nicht erfolgende Unterrichtung nun in der Tat kein Grund besteht. Die Erörterungen lassen sich nach meinen Informationen gut an, bei bekannt unterschiedli- chen Positionen der Beteiligten. Nichts Neues unter der Sonne in Dessau. Bis Jahresende wird jeder, der wissen will, wie es wirklich war, dies auch wissen können – in- klusive der Kolleginnen und Kollegen von der Partei, die bis vor kurzem noch den Bundesumweltminister stellte. Ich wünsche uns allen den Fleiß und die Gelas- senheit, um dies ohne große Anträge auf Selbstverständ- lichkeiten im Plenum zu erreichen. Ich helfe gerne dabei mit, dass alle den notwendigen Informationsstand erhal- ten. Gerd Bollmann (SPD): Die Umsetzung und Durchführung des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung verwun- dert mich sehr. Im Rahmen der 5. Novelle der Verpa- ckungsverordnung wurden die unterschiedlichsten Mög- lichkeiten, insbesondere bezüglich Organisation und Zuständigkeit, kontrovers diskutiert. Genau wie bei der heutigen Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz vertraten Kommunen und öffentlich-rechtliche Entsor- ger einerseits und Teile der privaten Entsorgungswirt- schaft andererseits unterschiedliche Positionen. In der teilweise heftig geführten Diskussion gab es aber einen Konsens: Sämtliche Modelle sollten in einem Planspiel vorbehaltlos untersucht werden. Alle Beteiligten haben sich in den damaligen Gesprächen dafür ausgespro- chen, dass alle, auch unkonventionelle, neue Modelle überprüft werden sollen. Dies hatte das Bundesumwelt- ministerium damals zugesagt. Das Gegenteil ist aber jetzt passiert. Das Bundesum- weltministerium hatte Gutachten über vier mögliche Modelle zur Zuständigkeit einer Wertstofftonne verge- ben. Beim Planspiel werden aber nur zwei Modelle un- tersucht. Die Gutachter stellten zum Modell 4, Wertstoff- tonne in kommunaler Trägerschaft, fest, dass dieses Modell eine Überlegung zu einer grundlegenden Neu- orientierung der Abfallwirtschaft darstellt. Daher, so die Gutachter, müsse es noch weiter konkretisiert und ge- prüft werden. Und genau dies müsste in dem Planspiel passieren. Neue Wege sollten überprüft werden und nicht nur die Auswirkungen eines Weiter-so, verbunden mit weiteren Privatisierungen. In der jetzt durchgeführten Form ist das Planspiel keine vorurteilsfreie Prüfung, sondern ein Placebo, mit welchem Teile der Regierungsparteien ihre Privatisie- rungspläne in der Entsorgungswirtschaft tarnen. Es ist ähnlich wie bei der Novelle der Kreislaufwirtschaft und des Abfallrechts. Öffentlich wird erklärt, die Daseins- vorsorge der Kommunen soll gestärkt werden, in Wirk- lichkeit findet genau das Gegenteil statt. Zu Protokoll Meine Damen und Herren von FDP und Union, es ist Ihr gutes Recht, sich für eine weitere Privatisierung der Hausmüllentsorgung einzusetzen. Aber dann sagen Sie ehrlich, was Sie anstreben. Hören Sie auf, zu behaupten, Ihre Pläne in der Abfallpolitik führen zu einer Stärkung der kommunalen Zuständigkeit. Noch ein kurzes Wort zu unserem zweiten Antrag zur zeitnahen Information des zuständigen Ausschusses über die Ergebnisse des Planspiels. Eigentlich sollte dies selbstverständlich sein. Die bisherigen Äußerungen aus dem Ministerium lassen mich aber das Gegenteil be- fürchten. Ich hoffe jedoch, dass Sie alle einem Antrag, welcher die Rechte des Parlaments einfordert, zustim- men werden. Horst Meierhofer (FDP): Die SPD zeigt mit dem Antrag nur allzu deutlich ihre Scheinheiligkeit: Der Titel ihres Antrags lautet: „Vorur- teilsfreie Prüfung der Modelle zur Werstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpa- ckungsverordnung“. Vorurteilsfrei sind sie nicht, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor Wochen schon ließ die SPD-Fraktion über eine Pressemitteilung ver- lautbaren, die künftige Wertstofftonne gehöre in kommu- nale Zuständigkeit. Sie erwarten mit Ihrer Forderung, dass die Regierung ohne politische Vorgaben ein Plan- spiel umsetzt und sich nach Beendigung des Planspiels für den sinnvollsten Weg entscheidet. Hiergegen ist ja erst einmal nichts einzuwenden. Nur: Lassen Sie sich an Ihrem Maßstab messen. Sie haben für sich ja schon längst entschieden, wo Sie hinwollen, und zwar ganz un- abhängig vom Ausgang von Gutachten, ganz unabhän- gig von Ressourcenschonung, von mehr Recycling, von mehr Innovationen und ganz unabhängig von der Exis- tenz unseres Mittelstandes. Sie sind dermaßen von Ihrer fixen Idee einer Rekommunalisierung getrieben, dass Sie maßlos über das Ziel hinausschießen. Drei Gutachten hat das Bundesumweltministerium im Vorfeld dieses Planspiels erstellen lassen: Das erste war eine Evaluierung der Verpackungsverordnung, das zweite handelt von der idealen Zusammensetzung einer Wertstofftonne, und das dritte dreht sich um die Mög- lichkeit der Finanzierung. Im ersten Gutachten wurden zwei empfohlene Modelle für ein mögliches Planspiel vorgeschlagen. Nach dem ersten Modell fällt die Wert- stofftonne in die kommunale Hand, nach dem zweiten wird über die Produktverantwortung die Wertstofftonne dem Markt frei zugänglich gemacht. Nun gibt es jede Menge Mischformen, je nachdem, ob öffentlich-rechtli- che oder private Entsorger für Erfassung, Sortierung und Finanzierung zuständig sein. Genau diese Misch- formen waren nun Gegenstand des letzten Gutachtens, weshalb es naturgemäß zu mehr untersuchten Modellen kam. Das Planspiel konzentriert sich nun auf die beiden Varianten kommunale bzw. private Trägerschaft der Wertstofftonne. Insofern ist selbst die von Ihnen präfe- rierte Lösung Gegenstand des Planspiels. Wir machen damit etwas, was Sie uns umgekehrt sicherlich niemals zugestanden hätten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12791 gegebene Reden Horst Meierhofer (A) (C) (D)(B) Ich halte unabhängig davon Ihre Position und totale Befürwortung einer Rekommunalisierung für den fal- schen Weg in der Abfallpolitik. Erkennen Sie endlich an, dass gerade auch die breit aufgestellte mittelständische Entsorgungswirtschaft für den rasanten Schub im Recycling verantwortlich ist. Hier sind viele kreative, in- novative und neue Ideen angesiedelt. Fast alle Sortier- anlagen sind in privater Hand. Schlagen Sie nicht den Weg ein, all diese Erfolge kaputtzureden, indem Sie mei- nen, mit den Kommunen durch Ihr Verhalten schlagkräf- tige Verbündete und Stimmen zu gewinnen. Es besteht jedenfalls eine Notwendigkeit, das System zu reformieren. Eine Lösung kann nur darin bestehen, einen vernünftigen Ausgleich zwischen kommunalen und privaten Interessen, aber auch zwischen Ressourcen- schonung und möglicherweise entgegenstehenden ord- nungspolitischen Bedenken zu finden. Uns geht es primär allerdings darum, das System zukunftsfest zu ma- chen. Im Fokus muss dabei die maximal mögliche Wie- derverwertung stehen: Weg vom Verbrauch, hin zum Ge- brauch. Das Denken in Kreisläufen müssen wir stärken. Der erste Schritt dabei kann nur sein, möglichst viele Materialien aus der Verbrennung herauszubekommen und dem Recycling zuzuführen. Wann ist dies der Fall? Dies ist der Fall, wenn wir über eine einheitliche Wert- stofftonne 600 000 Tonnen jährlich mehr in der Wieder- verwertung haben. Dabei schaffen wir Einheitlichkeit und Transparenz, indem wir die gelben Tonnen und Sä- cke abschaffen und eine auf Ressourcenschutz ausge- richtete Wertstofftonne aufstellen. Wie wir die Wertstoff- tonne organisieren und finanzieren, ist dann natürlich die entscheidende Frage, um die bloße Menge auch tat- sächlich in eine hohe Recyclingqualität umzusetzen. Und um das zu erreichen, brauchen wir Wettbewerb und keine Monopole. Wir wollen eine faire Gleichbehandlung. Eigens da- für ist auf unser Drängen die neutrale Stelle in die Ge- setzesbegründung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz ge- kommen. Nur das schafft Wettbewerb. Wettbewerb schafft Umwelt- und Ressourcenschutz. Daraus folgen Marktführerschaft und Arbeitsplätze. Übrigens: Wenn die Kommunalunternehmen das bessere Angebot ma- chen, werden sie auch den Zuschlag erhalten. Von einer „kommunalfeindlichen“ Haltung sind wir meilenweit entfernt; das läge mir als Stadtrat ohnehin fern! Mit Ihrem Denken, sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, sind Sie alle nur davon beseelt, sich gegenseitig in scheinbaren Wohltaten gegenüber den Kommunen zu überbieten. Wir machen einen schwieri- gen Gesetzgebungsprozess durch, in dem die Interessen der Kommunen genau wie alle anderen Interessen Be- rücksichtigung finden, und lassen uns vom gesellschaft- lichen Interesse leiten. Einen derartigen Ansatz kann ich bei Ihrem Antrag leider nicht erkennen. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die EU-Abfallrahmenrichtlinie legt den Schwerpunkt auf die Abfallhierarchie. Dies bestimmt, dass man ers- tens Abfall vermeidet. Geht dies nicht, folgt eine nächste Stufe, die beinhaltet wiederverwenden, abgestuft folgen Zu Protokoll stofflich verwerten und thermisch verwerten und als letze Möglichkeit entsorgen. Damit sollen zukünftig Kunststoffe, Metalle, Elektronikschrott und andere Ab- fälle einer besseren Verwertung zugeführt werden, Die aktuellen Verwertungsquoten zeigen auch in Deutsch- land: Hier besteht noch ein beträchtliches Potenzial. Zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie setzt die Regierung auf Wertstofftonnen. Es soll das beste System gefunden werden. Scheinbar objektiv wurden vier Modelle der Samm- lung, der Verwertung und der Trägerschaft diskutiert. Keines der Modelle betrachtete jedoch ein System, wel- ches die Verantwortung in öffentlicher Hand sieht. Drei rein privatwirtschaftliche Modelle wurden betrachtet und ein Modell mit kommunaler Beteiligung. Jetzt wurde die Betrachtung auf zwei Modelle redu- ziert, FDP-mäßig blieben nur rein private Modelle üb- rig. Gegen diese Reduzierung der Betrachtung steht der Antrag der SPD. Das duale System ist ein Erfolg, deshalb muss die Wertstofferfassung privatisiert werden. So die Regie- rung. Für wen ist das duale System ein Erfolg? Für den Bürger – nein. Statt mit der Müllgebühr die Entsorgung zu bezahlen, zahlt er diese jetzt bereits an der La- dentheke. Zusätzlich zu den Gewinnen aus der Theken- gebühr kassieren die privaten Entsorger gute Gewinne aus der Verwertung der Verpackungen. Jetzt sollen noch die Wertstoffe aus den Mülltonnen in die Wertstofftonnen und damit zu den privaten Entsor- gern. Die Einnahmen für diese zusätzlichen Wertstoffe kassiert wer? Klar, die privaten Entsorger. Die Müllabfuhr bleibt jedoch bei den Kommunen. Bisher flossen die Erlöse aus verwertetem Müll an die Kommunen und senkten die Müllgebühren. In meinem Thüringer Wahlkreis beträgt die Entlastung zum Bei- spiel durch Altpapier und Metallschrottverkauf etwa 10 Prozent. Fehlen den Kommunen die Wertstoffe im Abfall, so werden die Müllgebühren trotz geringerer Müllmenge steigen. Das alte Spiel läuft – Gewinne wer- den privatisiert, Verluste zahlen die Bürger. Das lehnt die Linke ab. Wir befürworten dagegen die Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie mit kommunaler Verantwortung. Die Erfassung aller Abfälle und Wert- stoffe liegt dann in der Hand der Kommunen. Dies ge- schieht über die bereits eingeführten Systeme für den gelben Punkt für Papier, Glas und Restmüll. Zusammen mit dem gelben Punkt werden zukünftig auch alle ande- ren Kunststoffabfälle von Kommunen erfasst. Metalle werden bereits heute sicher aus dem Restmüll aussor- tiert. Da muss man nichts Neues, Teures erfinden. Für Elektronik ist ein Pfandsystem einzurichten. Kaufe ich ein Mobiletelefon, dann bezahle ich zum Bei- spiel 5 Euro Pfand. Dieses Pfand erhalte ich bei der Ab- gabe des Gerätes in kommunalen Wertstoffhöfen zurück. Diese entscheiden dann, ob sie selbst oder Dienstleister die Entsorgung entsprechend der Abfallhierarchie über- nehmen. Mit unserem System verbleiben die Gewinne 12792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12793 Ralph Lenkert (A) (C) (D)(B) aus den Wertstoffen bei den Kommunen und damit bei den Bürgern. Für die Linke gehört die Abfallwirtschaft als Teil der Daseinsfürsorge zur öffentlichen Hand. Es wurden den Konzernen schon viel zu viele öffentliche Aufgaben überlassen, die dann ihre Profite auf Kosten der Bürger maximierten. Weil der Antrag der SPD zum Planspiel aber immer- hin ein Modell unter Beteiligung der Kommunen einbe- zieht, stimmen wir mit Enthaltung. Den Antrag der SPD nach einer möglichst zeitnahen Veröffentlichung der ge- wonnen Informationen unterstützen wir. Wir meinen: Transparenz ist eine der Grundvoraussetzungen für eine Demokratie überhaupt. Um es nicht zu Missverständnis- sen kommen zu lassen: Wir unterstützen damit nicht das Planspiel, sondern ausschließlich die Forderung nach Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine moderne Abfallpolitik muss an Ressourceneffi- zienz und hohen ökologischen Anforderungen ausge- richtet sein. Nur so kann die deutsche Vorreiterrolle in Abfallwirtschaft und -technologien in Europa und der Welt langfristig erhalten und ein Innovationsschub für die deutsche Wirtschaft hin zu einer stärkeren Ressour- cenorientierung erreicht werden. Wir müssen weg von einer Einwegwirtschaft, die der Erde in großen Mengen Rohstoffe entnimmt und diese nicht wieder in den Wirt- schaftskreislauf zurückführt. Die Auswirkung dieser Wirtschaftsweise ist vor allem aus Sicht des Umwelt- und Klimaschutzes fatal. Es braucht Regelungen, die so- wohl bei den Verpackungen als auch bei den Produkten selbst ansetzt. Die Verpackungsverordnung kämpft jedoch seit Jah- ren mit gravierenden Problemen. Ziel der Produktver- antwortung ist es eigentlich, hohe Recyclingstandards in Verantwortung der Hersteller zu erreichen. Die jetzige Praxis ist nicht nur sehr teuer, sie erreicht zudem weder hohe ökologische Standards bei der Wiederverwertung der Verpackungen noch ist wirklich nachvollziehbar, was letztlich mit den Verpackungen geschieht. Immer weniger Verpackungen werden lizenziert – was mit dem Rest passiert, ist völlig unklar. Auch die diversen Müll- skandale der letzen Jahre und unzählige Gerichtsverfah- ren zeigen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf durch bessere gesetzliche Regelungen. Dass die Verpackungsverordnung dringend und um- gehend novelliert werden muss, steht für mich außer Frage. Dabei soll nach Vorstellungen der Bundesregie- rung auch die Einführung der Wertstofftonne festge- schrieben werden. Wir fordern seit langem die zeitnahe flächendeckende Entwicklung einer leicht verständ- lichen und somit verbraucherfreundlichen Wertstoff- sammlung in Deutschland. In diesem Zusammenhang ist es für mich völlig un- verständlich, warum die Überlegungen der Bundesre- gierung zur Wertstofftonne nicht bereits viel weiter fort- geschritten sind. Schon im Koalitionsvertrag wurde die Prüfung der Einführung der Wertstofftonne verspro- chen. Es gibt wertvolle Erfahrungen aus Pilotprojekten in zahlreichen Städten und Kommunen. Diese wurden je- doch nie systematisch ausgewertet, um zu sehen, wel- ches Modell sich am besten bewährt. Die Einführung der Wertstofftonne könnte und müsste meiner Ansicht nach bereits im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz gere- gelt werden, das sich derzeit im Bundesrat befindet. Im Gesetzentwurf steht bisher nur eine Ermächtigungs- grundlage. Der Vorschlag zur zukünftigen Ausgestaltung der Verpackungsverordnung soll nach Vorstellung der Bun- desregierung auf Grundlage des Planspiels des Umwelt- bundesamtes erarbeitet werden. Es steht für mich völlig außer Frage, dass die Ergebnisse des Planspiels umge- hend an den Bundestag weitergeleitet werden müssen, wie von der SPD in ihrem Antrag gefordert. Denn über die neue Verpackungsverordnung wird nicht alleine die Bundesregierung entscheiden, sondern auch der Bun- destag. Frühzeitige Information ist für mich daher eine Selbstverständlichkeit. Auch ist völlig klar: Das Planspiel muss alle Optio- nen der Wertstoffsammlung prüfen – nicht nur die der Bundesregierung genehmen –, also auch: Erfassung al- ler Wertstoffe – auch Verpackungen – unter kommunaler Kontrolle. Ergebnisoffenes Planspiel muss heißen: Alle Möglichkeiten werden geprüft. Sonst ist das Ergebnis wenig aussagekräftig. Ich würde aber noch weiter gehen als die SPD in ih- ren Anträgen und fragen: Warum sollen so viele wich- tige Entscheidungen zur Zukunft der Abfallpolitik per Regierungsverordnung festgelegt werden und nicht im Abfallgesetz, wo sie einem demokratischen Prozess mit Beteiligung unterliegen würden? Diese Frage wird uns sicherlich auch bei unseren Diskussionen zum neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz beschäftigen. Der Bundesumweltminister verspricht immer gerne einen Aufbruch hin zu mehr Ressourceneffizienz. Die Einführung der Wertstofftonne ist nur ein Beispiel, wo es die Bundesregierung aber völlig verschlafen hat, recht- zeitig praktikable und ambitionierte Konzepte zu erar- beiten, die mehr wertvolle Rohstoffe in die Wirtschaft zu- rückführen. So werden Chancen für mehr Umwelt- und Klimaschutz leichtfertig vertan. Wir können gespannt sein auf die kommenden Monate, in denen das neue Ab- fallrecht in Bundestag und Bundesrat debattiert wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5898 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Tagesordnungspunkt 22 b. Der Ausschuss für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5886, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5484 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Sozial- demokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? 12794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Vizepräsident Eduard Oswald (A) (C) (D)(B) – Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom- men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syri- schen Rückübernahmeabkommens – Drucksache 17/5775 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Reden werden zu Protokoll genommen; so war es auch in der Tagesordnung ausgewiesen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Michael Frieser (CDU/CSU): Die Syrer haben keine Angst mehr. In den Städten Hama, Banias, Homs und Latakia gehen sie auf die Straße, um gegen das sozialistische Baath-Regime unter Baschar al-Assad zu demonstrieren. Sie tun dies in aller Öffentlichkeit – sie demonstrieren für ihre Freiheit vor der Weltöffentlichkeit. In der zentralsyrischen Stadt Hama fanden in den ersten drei Februarwochen im Jahr 1982 schwere Häuserkämpfe zwischen der syrischen Ar- mee und der rebellierenden Bevölkerung statt. Das Baath-Regime unter Präsident Hafis al-Assad rächte sich an den Aufständischen, indem die Stadt erst mit Granaten beschossen und dann die Stadtteile von Bull- dozern eingeebnet wurden. Obwohl das Hama-Massa- ker weltweite Aufmerksamkeit fand, gelang es dem syri- schen Regime, die Zahlen der Opfer und den genauen Hergang zu verschleiern. Auch Hafis al-Assads Sohn Baschar al-Assad will heute seine Macht sichern, indem er wie sein Vater Sicherheitskräfte in die aufständischen Städte schickt. Sie sollen die friedlichen Demonstrationen auflösen. Doch ihm gelingt es nicht, den Einsatz der Sicherheits- kräfte zu verschleiern. Das Verhalten der Soldaten, Poli- zisten und Geheimdienstler gegen die Bevölkerung wird heute dokumentiert durch Tausende Tweets, durch Fotos und Filme, die mit Mobiltelefonen aufgenommen wer- den. Sie sind ein Zeugnis für die Angst des Regimes vor der eigenen Bevölkerung, vor den Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten. Die Bilder und Filme zeigen gleichzeitig, dass die Syrer keine Angst mehr haben. Wir sehen, dass der Aufbruch in der arabi- schen Welt auch vor dem Polizeistaat Syrien nicht halt- macht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestags- fraktion verfolgen das Vorgehen des sozialistischen Baath-Regimes in Syrien mit großer Sorge. Wir verurtei- len das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demon- stranten, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung die Wahrung der Menschenrechte auf das Schärfste einfor- dern. Das syrische Regime muss sofort die Übergriffe gegen Demonstranten einstellen. Diejenigen, die für die Toten und Verletzten verantwortlich sind, müssen sich vor Gericht verantworten. Doch die Demonstrationen und die Reaktion des Baath-Regimes können nicht dazu führen, den deutsch-syrischen Vertrag über die Rück- kehr von syrischen Staatsbürgern aufzukündigen oder auszusetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffas- sung der Bundesregierung, dass gegenwärtig aus asyl- politischer Sicht die allgemeine Lage in Syrien nicht neu beurteilt werden muss. Es gibt gegenwärtig keine An- haltspunkte, dass Rückkehrer von den syrischen Behör- den als oppositionelle Regimegegner betrachtet werden. Die Sicherheitsapparate des Regimes richten sich gegen die aufständische, innerstaatliche Opposition. Wir wis- sen, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Syrien von staatlichen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund der Abschiebung befragt werden. Danach wird ihnen die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet. Es gibt lediglich Berichte, dass in vereinzelten Fällen Rückkehrer für die Dauer einer Identitätsüber- prüfung durch die Einreisebehörden festgehalten wer- den. Die Pflichten zur Ausreise durchzusetzen, gehört zu den zentralen Aufgaben der Ausländerbehörden in den Bundesländern und Kommunen. Es ist notwendig, dass die Bundesrepublik die Zuwanderung nach Deutschland steuert und Ausländer zu einer Rückkehr bewegt, die sich entweder illegal in unserem Land aufhalten oder bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf Dauer in Deutschland zu leben. Dies dient in allererster Linie der Integration der rechtmäßig in Deutschland le- benden Ausländer. Aus diesem Grunde hat die Bundes- republik Deutschland ein großes Interesse daran, dass Ausländer in ihre Heimatstaaten zurückkehren, die nicht nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko darstellen. Wir haben ein nicht geringes Interesse da- ran, dass diese Menschen – unter Beachtung der huma- nitären und Menschenrechtsstandards – wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren. Um es deutlich zu sagen: Oppositionelle oder poli- tisch Verfolgte, die in Deutschland politisches Asyl be- antragt haben, müssen nicht nach Syrien zurückkehren. Grundsätzlich gilt, dass Ausländer Asyl in der Bundes- republik erhalten, wenn ihnen in ihrer Heimat die politi- sche Verfolgung, konkrete Gefahren für Leib und Leben oder die Folter drohten. In der Überprüfung eines Asyl- antrages berücksichtigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg immer auch die allgemeine Menschenrechtslage im dem jeweiligen Herkunftsland. Auch ausreisepflichtige syrische Staatsbürger – also Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde – sind in Deutschland ohne eine Aussetzung oder gar eine Auf- kündigung des Abkommens ausreichend geschützt. Denn die zuständigen Behörden in den Bundesländern und in den Kommunen vergewissern sich in jedem einzelnen Fall, ob aufgrund der aktuellen Lage in Syrien eine Ab- schiebung nach dem Aufenthaltsgesetz ausgesetzt wer- den muss. Die Zustimmung des Bundesinnenministe- riums ist erst dann einzuholen, wenn ein Bundesland einen Abschiebungsstopp von mehr als sechs Monaten Michael Frieser (A) (C) (D)(B) anordnen will. Doch hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei einer Eskalation der humanitären oder politischen Situation in Syrien die Kompetenzen, auch kurzfristig Entscheidungen über die Rückkehr- pflicht nach Syrien auszusetzen. Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen ab. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Es ist schlicht erschreckend, wenn man die Auslands- seiten der Tageszeitungen aufschlägt oder die Nachrich- ten einschaltet und sieht, wie die Menschen bei friedli- chen Demonstrationen für mehr Demokratie in Syrien angegriffen, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet wer- den. Menschenrechtsorganisationen gehen heute davon aus, dass in Syrien seit Anfang März, also dem Beginn der Demonstrationen, über 1 000 Menschen getötet wurden. Die meisten Demonstranten waren dabei unbe- waffnet. Zudem werden circa 8 000 Menschen nach Aus- sagen der syrischen Opposition vermisst. Das nenne ich mehr als nur eine Zuspitzung der Si- tuation in Syrien. Von daher begrüßen wir als SPD- Fraktion ausdrücklich den vorliegenden Antrag der Grünen, das seit Januar 2009 bestehende Rückübernah- meabkommen zwischen Deutschland und Syrien unver- züglich auszusetzen und Abschiebungen nach Syrien so- fort zu stoppen. Angesichts der Bilder, die uns aus Syrien täglich er- reichen, ist das in meinen Augen mit sofortiger Wirkung umzusetzen. Wir brauchen jetzt eine eindeutige Bot- schaft an die Regierung in Damaskus. Systematische Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Syrien gesche- hen, dürfen wir nicht hinnehmen. Daher begrüße ich das Engagement deutscher Diplomaten, gemeinsam mit Großbritannien, Frankreich und Portugal eine Resolu- tion in den UN-Sicherheitsrat einzubringen, die das Ver- halten des syrischen Regimes scharf verurteilt. Gleich- zeitig muss aber auch das Rückübernahmeabkommen ausgesetzt werden; sonst macht sich Deutschland ange- sichts der jetzigen diplomatischen Bemühungen auf in- ternationaler Ebene wieder einmal unglaubwürdig. Einerseits setzen wir uns für eine Resolution ein, ande- rerseits schieben wir aber nach Syrien ab – wohl wis- send, was an Qual und möglicher Folter dort bevorsteht. Deutschland benötigt hier eine eindeutige Linie. Da- rum unterstützen wir den vorliegenden Antrag und kön- nen Sie von den Koalitionsfraktionen nur auffordern, nachzuziehen. Denn auch die EU hat bereits Konse- quenzen gezogen und für Präsident Baschar al-Assad ein Einreiseverbot in die EU und obendrein die Sper- rung seiner Konten veranlasst – höchste Zeit auch für Deutschland, zu handeln. Angesichts von Massakern an Demonstranten oder der Inhaftierung von Menschen- rechtsaktivisten dürfen in unseren Augen Abschiebungen aktuell nicht durchgeführt werden. Wenn ich allein an ei- nen Artikel von heute aus dem „Tagesspiegel“ denke, in dem beschrieben wurde, wie syrische Sicherheitskräfte von Augenzeugen dabei beobachtet wurden, mit Leichen gefüllte Container im Meer versenkt zu haben, oder dass bereits erste Massengräber in der Unruheprovinz Daraa Zu Protokoll entdeckt wurden, wird mir schlecht. Wir können nicht se- henden Auges syrische Staatsbürger zurückschicken und sie diesen Gewalttätigkeiten, Verhaftungen und Tötun- gen aussetzen. Angesichts der aktuellen Menschen- rechtslage und der ungeklärten weiteren Entwicklung sind Abschiebungen derzeit nicht zu verantworten. Gleichzeitig stellt sich für mich aber auch die Frage, ob und inwiefern die Innenministerien der Länder von der Möglichkeit Gebrauch machen, Abschiebungen vo- rübergehend auszusetzen, bis sich die Lage vor Ort ge- klärt hat. Da würde mich einmal interessieren, wie hier die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Län- dern im Konkreten aussieht. Die Entwicklung in Syrien wie in den anderen von Unruhen erschütterten nordafrikanischen Staaten macht uns aber auch noch etwas anderes sehr deutlich, näm- lich: Deutschland darf nicht wegschauen, wenn Hun- derttausende auf der Flucht sind. Derzeit sind insbeson- dere Tunesien und Ägypten vom Flüchtlingsstrom betroffene Staaten, die dringend unsere Unterstützung beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau benö- tigen. Deutschland steht in der Verantwortung. Ein starkes Signal wäre jetzt, ein Resettlement-Programm aufzulegen. Das wäre ein gutes Signal, auch an die De- mokratiebewegungen in Nordafrika, dass Deutschland sie nicht im Stich lässt. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle festgestellt: Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig. Mei- nungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausge- setzt. Dies hat die Bundesregierung ebenso wie ihre Vor- gängerin deutlich benannt. Inzwischen hat sich die Lage dramatisch verschärft. Die syrische Regierung bekämpft ihr eigenes Volk. Des- halb hat der Bundesinnenminister den zuständigen Län- dern empfohlen, derzeit nicht nach Syrien abzuschieben. Mehr kann auch eine „Aussetzung des Abkommens“ nicht bewirken. Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des Bundesinnenministers. Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhandlung heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen nach Syrien schon früher generell abgelehnt. Die Vor- gängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden. Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instru- ment des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu ef- fektivieren. Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blanko- schecks für die Ausländerbehörden; vielmehr ist weiter- hin – wie immer – genau zu prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Ge- währung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur Ausreise verpflichtet ist. Für einen Abschiebestopp sind in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12795 gegebene Reden Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) (C) (D)(B) Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes Mittel für eine besonders eskalierte Situation sein. Der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise aufgrund der in Syrien tatsächlich zugespitzten Situa- tion die Länder gebeten, von Abschiebungen nach Sy- rien derzeit abzusehen. Wir werden selbstverständlich die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin kritisch und regelmäßig beobachten und, wenn nötig, entsprechend reagieren. Die Grünen fordern wie schon in ihrem letzten dies- bezüglichen Antrag, dass das Schicksal der bisher nach Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung auf- geklärt wird und der Bundestag darüber unterrichtet wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang möglich, auch schon geschehen, und es gibt keinen Grund, dies nicht auch fürderhin zu tun. Auch wünschen die Grünen zum wiederholten Male, die Bundesregierung möge die Erkenntnisse über den Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Aner- kennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist erneut zu sa- gen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die Bewertung mit einbezogen. Ob das permanente Wieder- holen von sachlich unstrittigen und gegenstandslosen Anträgen sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Inhalt- lich sind das Schaufensterforderungen, die durch den Bundesinnenminister im Ergebnis längst berücksichtigt werden und keiner weiteren Erörterung bedürfen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Jeden Tag erreichen uns derzeit neue Schreckensmel- dungen aus Syrien. Nach Angaben von Menschenrechts- organisationen sind dort seit Anfang März 900 Men- schen von Sicherheitskräften des Regimes ermordet worden. 9 000 sitzen in Gefängnissen, wo ihnen Folter und Misshandlung drohen. Derzeit ist nicht absehbar, wie die Eskalation zwischen dem Regime in Damaskus und der Opposition ausgehen wird. Leider ist diese Entwicklung alles andere als überra- schend. Folter, Misshandlungen und das Verschwinden- lassen von missliebigen Personen sind in Syrien schon seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Unter dem Siegel der nationalen Einheit werden insbesondere die Kurdin- nen und Kurden im Nordosten des Landes entrechtet. Hunderttausende haben keine Staatsangehörigkeit; sie werden enteignet und vertrieben. Opposition dagegen wurde schon immer mit den Mitteln eines Geheimdienst- und Folterstaates unterdrückt. Das alles hat aber die Bundesregierung nicht davon abgehalten, mit diesem Staat ein Abkommen über die sogenannte Rücknahme von Menschen aus Syrien – ob mit oder ohne Staatsan- gehörigkeit –, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten, abzuschließen. Die Logik dahin- ter: Wer in Deutschland nicht als Flüchtling anerkannt wurde, der braucht auch keine Befürchtungen zu haben, nach seiner Rückkehr verfolgt zu werden. Dass das Ge- genteil der Fall ist, zeigen die zahlreichen Beispiele von abgeschobenen Syrerinnen und Syrern und staatenlosen Kurdinnen und Kurden aus Syrien, die nach ihrer Ab- Zu Protokoll schiebung vom Sicherheitsdienst inhaftiert, zum Teil auch gefoltert wurden. Abschiebungen nach Syrien sind also schon immer ein Malus in der Menschenrechtsbilanz der Bundes- regierung. Zu dieser Feststellung kommt auch ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Das Gericht hat mit Urteil vom 6. Mai dieses Jahres die Ab- schiebung eines Kurden wegen der Gefahr unmenschli- cher oder erniedrigender Behandlung verboten. Das Gericht stützt sich auf mehrere Argumente: Schon vor Beginn der aktuellen Auseinandersetzungen sei es in Sy- rien zu willkürlichen Verhaftungen gekommen, wobei sich kein Verfolgungsmodus erkennen lasse. Mit anderen Worten: Bei keinem der ausreisepflichtigen Menschen aus Syrien in Deutschland lässt sich mit Sicherheit sa- gen, dass sie im Einzelfall vor Verfolgung sicher sind. Das Gericht führt weiter aus, dass sich die Lage nach Ausbruch der Unruhen noch weiter verschärft hätte, der Kläger in diesem Fall also noch mehr als zuvor auf- grund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seines in Deutschland betriebenen Asylverfahrens gefährdet sei, Opfer willkürlicher Verhaftung und menschenrechts- widriger Behandlung in der Haft zu werden. Vor diesem Hintergrund will ich für die Fraktion Die Linke ganz klar sagen: Die einfache Aussetzung des Rückübernahmeabkommens reicht nicht aus; es muss umgehend gekündigt werden. Und selbst das reicht nicht aus. Wie aus den Zahlen hervorgeht, die meine Fraktion bei der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage er- fragt hat, finden nur die Hälfte aller Abschiebungen nach Syrien auch tatsächlich unter Rückgriff auf das Ab- schiebeabkommen statt. Demnach scheint es so zu sein, dass gerade die Staatenlosen auf dem üblichen Wege ins Flugzeug gesetzt und nach Damaskus verfrachtet wer- den. Einen ausreichenden Schutz gibt es nur, wenn die Betroffenen ein Bleiberecht erhalten. Denn allen, die ja als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind, droht bei einer Rückkehr das gleiche Schicksal, wie es das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil be- schrieben hat. Der Antrag der Grünen geht an dieser Stelle aus unserer Sicht nicht weit genug. Auch die ande- ren Forderungen des Antrags beschreiben nur, was bereits getan wird oder wozu die Behörden ohnehin verpflichtet sind. So soll das Bundesamt in seiner Ent- scheidungspraxis berücksichtigen, wie der Umgang mit Abgeschobenen in Syrien ist. Das reicht nicht aus. Das Bundesamt braucht die klare politische Ansage, dass Menschen aus Syrien einen Schutzbedarf haben. Sie ha- ben ein Recht auf eine sichere Bleibeperspektive in Deutschland, wo mehr als zwei Drittel von ihnen seit über sechs Jahre leben. Dafür wird sich die Linke wei- terhin einsetzen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Menschenrechtssituation in Syrien spitzt sich dramatisch zu. In den letzten Wochen demonstrierten in zahlreichen Städten in Syrien Zehntausende gegen Prä- sident al-Assad. Dabei kam es auch zu Massakern mit vielen Toten und Verletzen, weil syrische Sicherheits- kräfte friedliche Demonstranten angegriffen haben. 12796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12797 Josef Philip Winkler (A) (C) (D)(B) Viele Oppositionelle wurden inhaftiert. Ihnen drohen Verhöre, Folter und langjährige Haftstrafen. Menschen- rechtsorganisationen berichten von mehr als 1 000 To- ten, die die Brutalität des syrischen Regimes gegen Oppositionelle bisher gefordert hat. Vor diesem Hinter- grund ist es ein menschenrechtlicher Skandal, dass das Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und der Regierung der Arabischen Re- publik Syrien über die Rückführung von illegal aufhälti- gen Personen weiterhin in Kraft ist. Der vorliegende Antrag fordert daher die sofortige Aussetzung des Abkommens, den Erlass eines förmli- chen Abschiebungsstopps für syrische Staatsangehörige und unterstreicht die Notwendigkeit, Erkenntnisse über soll denn bitte schön noch passieren, damit auch bei der Bundesregierung ankommt, dass das syrische Regime die Menschenrechte mit Füßen tritt? Denn das brutale Vorgehen der syrischen Regierung gegen jedwede Opposition ist doch die Fortsetzung ei- ner langjährigen Politik, die schon immer geprägt war von intensiven Geheimdienstaktivitäten, willkürlichen Inhaftierungen und Folter. Ein bloßer Entscheidungs- stopp über Asylanträge ist deshalb nicht akzeptabel. Sy- rische Asylbewerberinnen und Asylbewerber brauchen jetzt Schutz und eine Perspektive. Bündnis 90/Die Grü- nen haben schon früh vor den Gefahren für Abgescho- bene gewarnt und darauf hingewiesen, dass abgescho- bene Personen nach ihrer Ankunft in Syrien Gefahr das Schicksal Abgeschobener bei Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge endlich zu berücksichtigen. Die bisher vom BMI ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen sind der Situation nicht angemessen: Das Bundesminis- terium des Innern hatte in einem Rundschreiben an die Bundesländer am 28. April 2011 einen Entscheidungs- stopp für Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verkündet und weiter erklärt, Abschie- bungen nach Syrien seien derzeit nicht „ratsam“. Dies ist kein formaler Abschiebungsstopp, sondern nur eine windelweiche Empfehlung, die überdies nicht gewähr- leistet, dass die entstehenden Zeiten des Aufenthaltes für die Betroffenen zum Beispiel im Fall künftiger Bleibe- rechtsregelungen berücksichtigt werden. Schon in der Vergangenheit wurden abgeschobene sy- rische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr routinemä- ßig festgenommen und vom syrischen Geheimdienst ver- hört. Dies musste auch die Bundesregierung in Antworten auf parlamentarische Anfragen zugeben. Umso größer ist die Gefahr für Abgeschobene in der derzeitigen Situation. Angesichts der verstärkten Re- pression in Syrien können Abschiebungen dorthin längst nicht mehr verantwortet werden. Statt halbherziger Re- gelungen in einzelnen Bundesländern bedarf es eines klaren Signals vonseiten des Bundes: Das deutsch-syri- sche Rückübernahmeabkommen ist unverzüglich auszu- setzen, und Abschiebungen nach Syrien sind bundesweit sofort zu stoppen. Besonders zu kritisieren ist der von der Bundesregierung verhängte Entscheidungsstopp für Entscheidungen bei syrischen Asylantragstellern. Was laufen, inhaftiert und misshandelt zu werden (Drucksa- che 17/68). Zwischenzeitlich ist die Liste der betroffenen Personen länger geworden. Die Beratungen über unseren erneuten Antrag kön- nen ein Anstoß für die Regierungskoalitionen sein, ihre Haltung zur Menschenrechtssituation in Syrien endlich zu ändern. Ich hoffe sehr, dass es im weiteren parlamen- tarischen Verfahren gelingt, dass die Bundesregierung adäquate Regelungen trifft, darunter den notwendigen förmlichen Abschiebungsstopp und die Aufhebung des Entscheidungsstopps für Asylanträge aus Syrien. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5775 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. Man wird es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind da- mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung ange- kommen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gut gemacht, Herr Präsident!) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 27. Mai 2011, 9 Uhr, ein und würde mich freuen, Sie alle hier wieder begrü- ßen zu dürfen. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22:41 Uhr) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12799 (A) (C) (D)(B) sengeld II Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 26.05.2011 (Tagesordnungspunkt 14 a bis d)Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 26.05.2011 – Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Be- hieherinnen und Beziehern von Arbeitslo- Reichenbach, Gerold SPD 26.05.2011 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.05.2011 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ahrendt, Christian FDP 26.05.2011 Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 26.05.2011 Dr. Danckert, Peter SPD 26.05.2011 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.05.2011 Ehrmann, Siegmund SPD 26.05.2011 Ernst, Klaus DIE LINKE 26.05.2011 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 26.05.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 26.05.2011 Granold, Ute CDU/CSU 26.05.2011 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.05.2011 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 26.05.2011 Koch, Harald DIE LINKE 26.05.2011 Kopp, Gudrun FDP 26.05.2011 Liebich, Stefan DIE LINKE 26.05.2011 von der Marwitz, Hans- Georg CDU/CSU 26.05.2011 Meßmer, Ullrich SPD 26.05.2011 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.05.2011 Nietan, Dietmar SPD 26.05.2011 Nink, Manfred SPD 26.05.2011 Pau, Petra DIE LINKE 26.05.2011 Pieper, Cornelia FDP 26.05.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Karin Binder (DIE LINKE) zur Beratung des Antrags: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unterneh- men als Chance für einen stärkeren Menschen- rechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 20) Hiermit erkläre ich im Namen der Fraktion Die Linke, dass unser Votum „Enthaltung“ lautet. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Versorgung der privat Versicherten im Basistarif sicherstellen – Beschlussempfehlung und Bericht: Gesetzli- che Krankenversicherung für Solo-Selbst- ständige bezahlbar gestalten – Beschlussempfehlung und Bericht: Private Krankenversicherung und Pflegeversiche- rung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebedürftige Schmidt (Aachen), Ulla SPD 26.05.2011* Dr. Schröder (Wiesbaden), Kristina CSU/CSU 26.05.2011 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 26.05.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.05.2011 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 26.05.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.05.2011 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 12800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Karin Maag (CDU/CSU): Wir reden heute über ei- nen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, mit dem sie erreichen wollen, dass eine Beitragslücke von privat versicherten Hilfsbedürftigen durch eine Ände- rung im Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, zulasten der PKV geschlossen wird. Bündnis 90/Die Grünen be- gründen dies damit, dass eine angebliche Subventionie- rung der PKV aus Steuermitteln abzulehnen sei. Gesetz- lich und privat versicherte Hilfebedürftige müssten gleich behandelt werden, und dies sei nur über eine Ab- senkung des Basistarifes auf die Höhe des Beitrages zur GKV möglich. Des Weiteren reden wir über drei Anträge der Frak- tion Die Linke: „Private Kranken- und Pflegeversiche- rung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe- dürftige“; „Gesetzliche Krankenversicherung für Solo- Selbstständige bezahlbar gestalten“ und „Versorgung der privat Versicherten im Basistarif sicherstellen“. Vorab ist mir eines wichtig: Mit dem damals von der große Koalition beschlossenen GKV WSG ist es seit dem 1. Januar 2009 überhaupt erst möglich, allen Men- schen in Deutschland Versicherungsschutz zu bezahlba- ren Konditionen zu bieten, ohne jemanden unverhältnis- mäßig zu belasten. Seither müssen alle Unternehmen der privaten Krankenversicherungen einen sogenannten Ba- sistarif anbieten. Im Basistarif ist die Höhe des Beitrages begrenzt. Er darf den Höchstbeitrag der GKVen nicht überschreiten. Allerdings übernahmen die Grundsiche- rungsträger die Aufwendungen bei hilfebedürftigen pri- vat Versicherten, unter Berufung auf eine Regelung im VAG, nur in der Höhe des Betrages, der auch für gesetz- lich Versicherte bezahlt wurde – 131,34 Euro zuzüglich 18,04 Euro. Der von den Versicherten zu zahlende Bei- trag im Basistarif war jedoch höher. Im Basistarif ist er auf den hälftigen Höchstbetrag der GKV-Versicherten begrenzt – 287,72 Euro zuzüglich Pflegeversicherung 36,20 Euro. Für die Betroffenen liefen so Beitragsrück- stände auf. Nochmals: Eine Versorgungslücke entstand, weil ein im Basistarif Versicherter im Falle der Hilfsbe- dürftigkeit nur einen Anspruch auf Übernahme der Bei- träge seiner PKV in der Höhe hatte, welche für einen in der GKV versicherten ALG-II-Bezieher bezahlt wurden, ohne dass er sich gegenüber seiner privaten Versiche- rung auf diese Begrenzung beruhen konnte. Klarstellen will ich aber auch, dass der Krankenversicherungsschutz trotz ausstehender Beiträge stets sichergestellt war. Die privaten Versicherer blieben zur Leistung verpflichtet. Konkret rede ich heute von 22 501 Versicherten im Basistarif – Stand 18. Mai 2011 –, das sind 0,2 Prozent aller privat Versicherten. Davon sind 7 902 hilfebedürf- tig, und rund 2 200 Menschen haben im Basistarif Bei- tragsrückstände von drei oder mehr als drei Monaten. Wir reden von circa 5 Millionen Euro pro Jahr, die die Träger der Grundsicherung bislang nicht bezahlt haben. Dass es für eine ordnungspolitisch saubere Lösung kei- ner Absenkung des Basistarifes bedarf, sondern die Trä- ger der Grundsicherung für den Basistarif insgesamt auf- zukommen haben, hat am 18. Januar 2011 das BSG entschieden. Es stellte schlicht fest, dass der Zuschuss für privat krankenversicherte ALG-II-Bezieher vom Trä- ger der Grundsicherung kostendeckend sein muss. Das BSG löst den Konflikt dahin gehend, dass für die Bezie- her von ALG II für die Dauer des Leistungsbezuges der Beitrag über eine analoge Anwendung des § 26 Abs. 2 SGB II ohne höhenmäßige Begrenzung übernommen werden muss. Die Verfassungswidrigkeit der vorhandenen Regelung wurde damit entgegen dem Vorwurf von Bünd- nis 90/Die Grünen gerade nicht festgestellt. Das heißt, der Zuschuss ist von den Grundsicherungsträgern zu übernehmen. Damit ist das Problem der Beitragslücke für die Zukunft gelöst. Ich begrüße es, dass das Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales unmittelbar im Ja- nuar aus dem Urteil die Konsequenzen gezogen und die Bundesagentur für Arbeit angewiesen hat, privat versi- cherten ALG-II-Beziehern einen Zuschuss bis zum hal- bierten Beitrag im Basistarif zu gewähren. Der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, aus Gründen angeblicher Gleichbehandlung den Basistarif der PKV einfach zu senken, würde im Übrigen nicht etwa, wie sie formulieren, einen verfassungswidrigen Zustand beenden, sondern erst einen solchen schaffen. Das BVerfG hat bereits in seinem Urteil zur Zulässigkeit des Basistarifs festgestellt, dass der Tarif wenigstens ein Mindestmaß einer Kalkulation aufweisen muss. Dem würde eine absolute Festlegung in der Höhe sicher nicht genügen. Hinsichtlich der Schulden aus abgeschlossenen Zeiträumen, für die keine Rechtsmittel eingelegt wur- den, werden sich das BMG, die Träger der Grundsiche- rung und der Verband der PKVen im Sinne der Aussage, dass niemand durch seine Krankenversicherten unver- hältnismäßig belastet werden darf, noch einigen. Übrigens würde auch die Einführung einer Bürgerver- sicherung nach Lesart von Bündnis 90/Die Grünen, auf die sie auch hier wieder gebetsmühlenhaft verweisen, nichts ändern. Sie weisen in ihrem Parteitagsbeschluss vom Herbst 2010 zu Recht darauf hin, dass bei der Einbeziehung der privat Krankenversicherten in die Bür- gerversicherung deren verfassungsrechtlich geschützte Ansprüche zu beachten wären. Es bräuchte also Über- gangsmodelle für die nächsten circa 50 Jahre! Darauf möchte ich die 2 200 Betroffenen nicht vertrösten! Zu den weiteren Nachteilen, wie dem gigantischen Verwaltungsaufwand bei der Einbeziehung von Einkom- men aus Zins und Kapitaleinkünften – der SPD-Entwurf sieht dies nicht umsonst nicht vor –, der Kapitalflucht ins Ausland oder der weiteren Belastung der mittleren Ein- kommen, brauche ich mich da gar nicht zu äußern. Fest- zuhalten bleibt, dass eine gesetzliche Lösung sicher nicht notwendig ist. Es herrscht durch die höchstrichter- liche Rechtsprechung Rechtssicherheit und Klarheit. Zu den Anträgen der Linken gilt kurz: Existenzmini- mum: Hier verweise ich auf das zum Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen Gesagte. Solo-Selbstständige: Hier gilt, dass besondere Min- destbeiträge für Selbstständige sinnvoll sind, weil das Steuerrecht den Selbstständigen, anders als Arbeitneh- mern, eine gewisse Gestaltbarkeit des eigenen Einkom- mens erlaubt. Der Begriff „hauptberuflich selbstständige Tätigkeit“ ist überdies von der Rechtsprechung eindeutig definiert. Es ist Aufgabe der gesetzlichen Kassen, zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12801 (A) (C) (D)(B) prüfen, ob eine selbstständige Tätigkeit im Einzelfall hauptberuflich ausgeübt wird. Versorgung der Versicherten im Basistarif sicherstel- len: Richtig ist, dass die KVen und KZVen verpflichtet sind, die Versorgung der Versicherten im Basistarif si- cherzustellen, § 75 Abs. 3 a SGB V. Eine Behandlungs- pflicht für den einzelnen Vertragsarzt wird damit, sofern es sich nicht um einen Notfall handelt, nicht begründet. Die Versorgung ist meines Wissens aber gewährleistet. So haben zum Beispiel KVen und KZVen abgefragt, welche Ärzte oder Zahnärzte eines Bezirkes freiwillig bereit sind, zum Basistarif zu behandeln. Einige Hundert Zahnärzte zum Beispiel in Baden-Württemberg haben sich gemeldet. Bei der KZVBW findet sich die entspre- chende Hotline für die Versicherten, um einen Zahnarzt zu erfragen. Nochmals: Mit dem Urteil des BSG sind die von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linken problematisier- ten Fälle gelöst. Anlass für gesetzgeberisches Handeln besteht nicht. Stephan Stracke (CDU/CSU): Die Anträge der Op- position befassen sich im Wesentlichen mit Themen, die überholt und damit als erledigt anzusehen sind. Bekannt- lich hat das Bundesozialgericht in einem viel beachteten Urteil entschieden, dass bei Beziehern von Arbeitslosen- geld II in der privaten Krankenversicherung die bisher entstandene Beitragslücke nicht vom Versicherten zu tra- gen ist, sondern im notwendigen Umfang von dem Trä- ger für Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese rich- terliche Klarstellung ist zu begrüßen; denn sie zieht einen Schlussstrich unter eine im Einzelfall mögliche unzumutbare wirtschaftliche Belastung privat versicher- ter SGB-II-Leistungsempfänger. Freilich hat das Bundessozialgericht auch Fragestel- lungen offengelassen, die es zu beantworten gilt. Dazu gehört das Problem, wie mit den aufgelaufenen Alt- schulden der Versicherten bei ihren Krankenkassen zu verfahren ist. Dazu gehört auch, wie hoch der maximal für die Beiträge in der privaten Krankenversicherung zu zahlende Zuschuss ist. All diese Punkte sind von Bedeutung, vor allem für die Betroffenen selbst. Und natürlich würde es sich loh- nen, hierüber auch in dieser öffentlichen Debatte zu rin- gen. Aber das ist nicht die Intention der Anträge der Oppo- sition. Die Opposition will keine Lösung für diese drän- genden Probleme, sondern sie will vor allem eines: Die Belastungen von ALG-II-Beziehern in der privaten Krankenversicherung werden wieder einmal als Vehikel genutzt, um die Lieblingsdebatte der Opposition anzu- heizen. Es geht um die Bürgerversicherung. Die Bürger- versicherung ist nichts anderes als ein Kampfinstrument, ein Kampfinstrument, das befeuert wird von Neid und Missgunst, das Solidarität predigt und verschleiert, dass unser hervorragendes Gesundheitswesen in das trübe Gewässer von Staatsdirigismus und Einheitsmedizin driften soll. Das ist der Kern der Bürgerversicherung, nichts anderes! Wir erleben hier ja ein seltenes Schauspiel: Da kün- den die Knappen der SPD seit Jahr und Tag an, dass die SPD die Öffentlichkeit mit einem blitzsauber durchge- rechneten Gesundheitskonzept überzeugen werde. Auch von der SPD-Parteizentrale wurden in den letzten Mona- ten entsprechende Trommelwirbel intoniert. Und da seht ihn euch an: Ritter Lauterbach betritt den parlamentari- schen Kampfplatz, kraftstrotzend, auf hohem Rosse sit- zend mit seinem durchgerechneten Gesundheitskonzept als Schild und Schwert in der Hand – eine wahrlich be- eindruckende Vorstellung! So schön hat sich die SPD das ausgemalt und vorgestellt. Aber in Wahrheit er- scheint Lauterbach nicht als strahlender Held, sondern – wie könnte es anders sein? – als Ritter der traurigen Gestalt. Denn nichts passt an diesem Konzeption. Von wegen durchgerechnet! Von wegen solide! Ihr Konzept, Herr Lauterbach, ist unsolide und falsch gerechnet. Es fehlen rund zwei 2 Milliarden Euro! Ich frage Sie: Durch welche Maßnahme wollen Sie das ausgleichen? Wollen Sie Beiträge erhöhen? Oder wollen Sie Leistungskürzungen, Rationierungen und Priorisierungen? Was wollen Sie? Ich sage Ihnen: Ihr ge- samtes Konzept passt nicht, weil ihre Grundhaltung falsch ist. Diese Grundhaltung beginnt mit einem fal- schen Verständnis von Freiheit, Eigentum und Solidari- tät. Ist es wirklich unsolidarisch, wenn Einzelne ab einer gewissen Einkommenshöhe für ihre Gesundheit selbst aufkommen müssen? Ist das unsolidarisch oder nicht vielmehr Ausdruck richtig verstandener, verantworteter Freiheit? Es ist diese verantwortete Freiheit, die jetzt die Opposition umzudeuten versucht, eine Umdeutung, die ich nicht durchgehen lasse. Bei der Opposition geht es aber nicht nur um falsch verstandene Freiheit, sondern auch um ein gestörtes Ver- hältnis zum Eigentum. Das Konzept der Bürgerversiche- rung aller Oppositionsparteien hat vor allem einen Ge- danken zum Inhalt: Ran an die Töpfe, ran an die Altersrückstellungen der PKV, ran an rund 145 Milliar- den Euro! Das ist die eigentliche Motivation. Und damit wird auch klar, dass die Bürgerversicherung insbeson- dere eines ist: ein Enteignungsinstrument! Das kann man nicht dadurch kaschieren, dass man privat Versicherten innerhalb eines bestimmten Zeit- raums die Wahl lässt, unter Mitnahme der Altersrück- stellungen in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln. Denn diese scheinbare Großzügigkeit hat die Wirkung von Zwang. Denn für die, die sich entscheiden, in der PKV zu bleiben, werden ihre Tarife immer teurer, da ihre Altersgruppen vergreisen. Dieser Effekt ist kein zufälliger, sondern ein gewollter. Ziel ist es ja, der PKV den Boden zu entziehen. Aber was passiert mit den Al- tersrückstellungen? Sollen diese in den Gesundheits- fonds einfließen und dann auf alle Krankenkassen ver- teilt werden? Das hat nichts mehr mit Eigentumsrechten zu tun! Ich kann hier nur einen enteignungsgleichen Ein- griff erkennen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen! Nicht Neid, Missgunst und Eingriff in Eigentum sollte die Triebfeder unseres Gesundheitswesens sein. Triebfeder ist für uns, die im weltweiten Vergleich beste Gesundheitsversorgung zu erhalten und noch besser zu machen. Daher stellen wir den Patienten in den Mittel- 12802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) punkt, in den Mittelpunkt, wenn es um Patientenrechte geht, in den Mittelpunkt, wenn es um den wirksamen Schutz vor gefährlichen Keimen im Krankenhaus geht, und in den Mittelpunkt, wenn es um die Sicherstellung der flächendeckenden, wohnortnahen Patientenversor- gung geht. Deshalb bringen wir ein Versorgungsgesetz auf den Weg, das auch in Zukunft die ärztliche Versor- gung gerade im ländlichen Raum gewährleistet und die Bedürfnisse und Interessen vom Patienten her definiert. Deshalb kämpfe ich auch für eine Reform der Pflegever- sicherung, die die Geißel des Alters, nämlich die De- menz, stärker berücksichtigt und pflegende Angehörige mit ihren Belastungen noch ernster nimmt. Das ist der richtige Weg, der Weg der christlich-libe- ralen Koalition, ein Weg, der sich an den konkreten Bedürfnissen der Patienten ausrichtet und nicht an ideo- logischen Debatten. Wir stellen den Menschen in das Zentrum. Das unterscheidet uns von der Opposition. Und das ist auch gut so! Bärbel Bas (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion ist fest überzeugt: Gesundheit braucht Solidarität. Seit über 100 Jahren ist sie die tragende Säule der gesetzlichen Krankenversicherung: die Solidarität der Gesunden mit den Kranken und der Starken mit den Schwachen. Nie- mand kann von sich sagen, ob er morgen noch auf der Seite der Gesunden oder Starken ist. Deshalb ist es gut, dass sich die Menschen bis heute auf die Solidarität in der Krankenversicherung verlassen können. Nicht nur uns beschleicht aber der Eindruck, dass diese Solidarität bedroht ist. Sie wird politisch von au- ßen angezählt und auch von innen unter Druck gesetzt. Eigenverantwortung stärken, so die gesundheitspoliti- sche Maxime der amtierenden Bundesregierung, bedeu- tet im Umkehrschluss: Solidarität schwächen. Da passt es natürlich ins Kalkül, dass die Solidarität in der gesetz- lichen Krankenversicherung auch durch die Schließung der City BKK infrage gestellt wird. Dabei braucht es nicht weniger, sondern mehr Solidarität. Ein Beispiel sind die heute zu beratenden Vorlagen. Sie betreffen die Probleme von Menschen, die in Not- lagen geraten, weil sie ihre Krankenversicherungsbei- träge und -prämien nicht bezahlen können. Wir sind heute glücklicherweise so weit, dass diese Menschen im Krankheitsfall behandelt werden und die Behandlung nicht auch noch aus eigener Tasche zahlen müssen. Aber ihre Schulden wachsen trotzdem weiter, so lange wie sie die Prämien nicht bezahlen können. Bei diesen und einer ganzen Reihe weiterer Probleme handelt es sich aber nur um die Symptome des grundsätzlichen Problems der Krankenversicherung in Deutschland: ihre Spaltung in einen solidarisch finanzierten und gesetzlich organisier- ten Teil auf der einen Seite und einen individuell finan- zierten und privat organisierten Teil auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Teilen soll nach dem Wil- len der Bundesregierung ein Wettbewerb stattfinden, der in Wirklichkeit niemals funktionieren kann. Zudem lei- det die GKV darunter, dass sich insbesondere die Gesun- den und Leistungsstarken der Solidarität durch Wechsel in die PKV entziehen können. Die PKV hingegen wäre ohne die Leistungserbringerstruktur, welche die 90 Pro- zent der GKV-Versicherten finanzieren, nutzlos. Die amtierende Bundesregierung verschärft die Pro- bleme: Sie machen die GKV durch Beitragserhöhungen, Kopfpauschale und Vorkasse unattraktiv. Sie gehen nicht gegen die Diskriminierung im Wartezimmer vor. Und gleichzeitig verkürzen Sie die Wartezeit für den Wechsel in die PKV. Wenn sich die Bundesregierung anlässlich der City-BKK-Schließung Sorgen um den Zustand der GKV macht, kann ich nur sagen: Sparen Sie sich die Krokodilstränen! Anstatt uns weiter mit der Beseitigung der Folgen dieser Spaltung in der Krankenversicherung zu beschäftigen, sollten wir unsere kostbare Zeit endlich der Ursache der Probleme widmen. Etwas, was sich auch die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger wünscht: eine solidarische und leistungsfähige Bürgerversiche- rung für alle Menschen. Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch, die Vorteile sind nicht von der Hand zu wei- sen. Und ganz nebenbei würden die Probleme, die Ge- genstand der heutigen Beratungen sind, gelöst. Lassen Sie mich anschließend etwas zu den Vorlagen sagen: Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem ersten An- trag, dass im Basistarif Versicherte von den Leistungs- erbringern nicht schlechter behandelt werden. Außerdem sollen diese Leistungen genauso bezahlt werden wie Leistungen an PKV-Vollversicherten. Zudem soll die PKV abgeschafft werden. Die SPD-Bundestagsfraktion hält es für eine Selbst- verständlichkeit, dass alle Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrem derzeitigen Versichertenstatus gleich schnell und gleich gut versorgt werden. Allein die Schwere der Erkrankung und die medizinische Dring- lichkeit darf entscheidend sein, wer zuerst behandelt wird. Alles andere ist ein Verstoß gegen das Berufsethos und die Berufsordnung der Heilberufe. Dass eine Un- gleichbehandlung dennoch Realität ist, ist schlimm ge- nug. Entsprechende Verstöße sind daher zuallererst von der Selbstverwaltung und den Kammern zu ahnden. Ge- sundheitspolitisch sollten auch hier nicht die Symptome behandelt werden, also die Zwei-Klassen-Medizin, son- dern die Ursache: Es darf keinen Anreiz für Ärzte geben, Patienten wegen eines besseren Honorars bevorzugt zu behandeln. Eine Angleichung der Vergütungen zwischen GKV und PKV ist dringend geboten. Dies ist Bestandteil unseres Konzepts einer solidarischen Bürgerversiche- rung. Dem Antrag der Fraktion Die Linke zu den Solo- Selbständigen kommt der Verdienst zu, dass er ein häu- fig unterschätztes Problem aufgreift. Die Linke schlägt vor, die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage für Selbst- ständige auf die allgemeine Mindestbeitragsbemes- sungsgrundlage für freiwillig Versicherte von 300 Euro abzusenken. Auch hier bietet das Konzept der Bürger- versicherung aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion eine Lösung an: In ihrem Zuge soll die Mindestverbeitragung für Selbstständige auf 400,01 Euro festgelegt werden. Damit werden angestellte und selbstständige Geringver- diener in der Krankenversicherung gleich behandelt. Für die Versicherten hieße das, dass ihre Beitragsbelastun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12803 (A) (C) (D)(B) gen besser kalkulierbar sind. Sie geraten nicht mehr in die Gefahr, durch ausstehende Beiträge in die Verschul- dung zu rutschen. Die Fraktion Die Linke hat weiterhin einen Vorschlag zur Schließung der Finanzierungslücke von im PKV-Ba- sistarif versicherten Hilfsbedürftigen vorgelegt. Sie for- dert im Prinzip nichts anderes, als dass die ALG-II- und Sozialgeldleistungsträger den Zuschuss für Krankenver- sicherung auf die Höhe der Prämien für den PKV-Basis- tarif erhöhen sollen. Letztendlich müssen diese Mehr- kosten aus Steuermitteln beglichen werden. Meine Fraktion geht davon aus, dass dies die falsche Schlussfolgerung aus dem Urteil des Bundessozialge- richts ist. Es ist falsch, wenn mit den knappen finanziel- len Ressourcen die relativ hohen Beiträge im Basistarif der PKV finanziert würden. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Auch in diesem Fall wäre eine solidarische Bürger- versicherung für meine Fraktion die einzig sinnvolle Lösung. Da wir die Solidarität der Versicherten unter- einander für das wichtigste Element in der Krankenver- sicherung ansehen, plädiert die SPD-Bundestagsfrak- tion für eine Lösung, wie sie auch der Gesetzentwurf der Grünen vorsieht. Wir teilen die Auffassung, dass gesetz- lich und privat versicherte Hilfebedürftige gleichberech- tigt zu behandeln sind. Es ist daher richtig, die Prämien der PKV für diese Personengruppe zu senken. Würden die Zuschüsse für Hilfsbedürftige auf die Höhe der Ba- sistarifprämien angehoben, bedeutete dies eine Subven- tion der PKV einschließlich ihrer ruinösen Provisions- und undurchsichtigen Vertriebsmethoden aus Steuermit- teln. Es darf keine Steigerung der Gewinne privater Ver- sicherungsunternehmen auf Kosten der Allgemeinheit geben. Das Urteil des Bundessozialgerichts in dieser Frage ist allein aus Sicht des betroffenen Personenkrei- ses zu begrüßen. Ich freue mich für jeden Einzelnen, der aus der Schuldenfalle herauskommt. Dennoch muss die Politik weiter an einer grundsätzlichen Lösung des Pro- blems arbeiten. Der Streit zwischen der Bundesarbeits- ministerin von der Leyen und dem damaligen Bundesge- sundheitsminister (wider Willen) Rösler um die Frage, wessen Haushalt die Kosten dafür trägt, hat nicht dazu beigetragen, das Vertrauen in die Politik zu stärken. Zudem bin ich der Auffassung, dass die Erhöhung des Beitrags für ALG-II-Empfänger geprüft werden sollte, da der bisher von den Leistungsträgern an die GKV überwiesene Beitrag zu niedrig ist. Allerdings muss da- rauf geachtet werden, dass das Solidarprinzip der GKV nicht ausgehebelt wird. Der Beitrag muss sich an der finanziellen Leistungskraft und nicht an den durch Krankheit verursachten Kosten orientieren. Zum Abschluss noch einmal der Appell an die Mit- glieder der Regierungsfraktionen: Gebieten Sie dem Treiben des Gesundheitsministers Einhalt! Diese Bun- desregierung betreibt aus ideologischen Gründen eine systematische Schwächung der solidarischen Kranken- versicherung. Sie macht den Versicherten die GKV ma- dig, sei es durch Kopfpauschalen, Vorkasse oder Chaos in der Apotheke. Sie lässt Kassen in Notlage sehenden Auges gegen die Wand fahren und insolvent gehen. Und sie zieht politischen Profit aus der Verunsicherung der Versicherten nach der City-BKK-Pleite. Der Gesund- heitsminister sollte Anwalt der gesetzlich Versicherten sein. Er sollte ihnen Vertrauen in die GKV geben und al- les dafür tun, dass die Leistungen der GKV bezahlbar und erreichbar bleiben. Jens Ackermann (FDP): Gesundheit ist ein hohes Gut, ja, wenn nicht sogar das wichtigste im Leben. Wir alle wollen möglichst lange gesund und mobil sein, möchten das Leben und seine Chancen aktiv genießen und gestalten können. Leider ist dieser hehre Wunsch, das Ziel eines selbstbestimmten Lebens bei bester Ge- sundheit, nicht immer planbar. Wir alle können unerwar- tet krank werden, und jeder kann plötzlich auf fremde Hilfe angewiesen sein. Dann ist es gut, einen Arzt aufsu- chen zu können, um sich professionell und bestmöglich behandeln zu lassen, damit Leid gelindert und Krankhei- ten behandelt werden können. Wir wissen, dass wir in Deutschland ein Gesundheitssystem haben, um das uns andere Länder beneiden: Die Patienten genießen eine sehr gute medizinische Versorgung bei im internationa- len Vergleich moderaten Ausgaben. Vieles ist heute me- dizinisch machbar, und die Menschen im Land haben Zugang zu bester Versorgung. Dass den Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglicht wird, liegt neben dem immer weiter entwickelten medizinischen Wissen und zahlrei- chen Innovationen vor allem auch und gerade an der Ab- sicherung der Menschen durch eine Krankenversiche- rung. Da wir im Land eine Pflichtversicherung haben, können folglich auch alle Kranken behandelt werden. In Deutschland können die Menschen prinzipiell zwi- schen zwei verschiedenen Versicherungsarten wählen: zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenver- sicherung. Mit Blick auf die heute zu behandelnden An- träge zum Existenzminimum für Hilfebedürftige – und hier dem Wunsch der Linken nach einer Gleichbehand- lung von GKV und PKV – sei an dieser Stelle vielleicht nochmals der Hinweis erlaubt, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Systeme handelt. Ich glaube, dass diese kurze Vorwegnahme mit Blick auf die heute zu dis- kutierenden Anträge wichtig ist. Denn: Die Forderung nach einer Gleichbehandlung von GKV und PKV mag aus der Sicht der Linken zwar zunächst einsichtig sein, da aus ihrer Sicht ja gerne alles gleichgemacht wird. Aber dieser Versuch kann nicht gelingen, die Kollegin- nen und Kollegen der Linken vergleichen – mal wieder – Äpfel mit Birnen. Diese Forderung berücksichtigt eben nicht die system- immanenten Unterschiede beider Krankenversiche- rungssysteme. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nut- zen und Ihnen die Differenzen noch einmal nahebringen: Das System der GKV ist beispielsweise eines, welches über ein Umlageverfahren und überwiegend durch ein- kommensorientierte Beiträge finanziert wird. In der PKV hingegen werden die Beiträge der Versicherten auf der Grundlage privatrechtlicher Verträge nach einem abge- stuften versicherungsmathematisch-kalkulatorischen Prä- miensystem erhoben. Dies orientiert sich am individuel- 12804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) len Risiko des Versicherten beim Eintritt in die PKV und berücksichtigt Altersrückstellungen. In Deutschland sind die Menschen also für den Krankheitsfall abgesichert. Das ist gut und wichtig und kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Schließlich haben wir nur dieses eine Leben, es sollte also im Inte- resse von uns allen liegen, dass wir gesund bleiben. Es sollte uns aber auch einiges wert sein, ein gesundes Le- ben zu führen und im Notfall die notwendige Behand- lung erhalten zu können. Gesundheit ist deshalb der geldwerteste Vorteil überhaupt! Wir müssen den Menschen deshalb ehrlich sagen, dass ihre Ausgaben für den Gesundheitsschutz hoch sind, dass Gesundheit mit Sicherheit nicht billiger, son- dern eher noch teurer wird. Jedem muss klar sein, dass die Kosten eher steigen als sinken werden. Aber wir müssen ihnen im gleichen Atemzug auch sagen: Es lohnt sich! Denn: Ein gesundes Leben ist ein gutes Leben. Ein Leben mit Gesundheitsschutz, mit einer Absicherung für den Notfall, ist ein entspanntes Leben. Macht euch keine Sorgen, ihr seid abgesichert! Bei aller Bedeutung für die Gesundheit müssen wir trotzdem im Auge behalten, dass die Ausgaben bezahlbar bleiben. Dies ist die entschei- dende und zentrale Herausforderung der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Mit dem demografischen Wandel und dem medizinisch-technischen Fortschritt steht die- ses Gesundheitswesen vor großen Veränderungen und einem enormen Anpassungsdruck. Für Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr und für die Bundesregierung im Ganzen ist dabei eines unbe- streitbar: Das Gesundheitswesen braucht eine solide Ba- sis, um für diese Herausforderungen gewappnet zu sein. Wir wollen nicht irgendwann zu Abstrichen bei Leistun- gen und Qualität gezwungen sein, sondern den Men- schen konkrete Perspektiven geben. Hierzu hat die Ko- alition mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Kranken- versicherung die richtigen Weichen gestellt. Das Gesetz ist ein guter Kompromiss für ein zukunftsfestes und leis- tungsstarkes Gesundheitssystem. Wir verbinden damit eine strukturelle Neuordnung des Gesundheitswesens mit fairen und gleichmäßig verteilten Ausgabenbegren- zungen. Dabei wird die Qualität der Versorgung nicht gefährdet und Leistungen werden nicht beschränkt. Zugleich führen wir den einkommensabhängigen Kas- senbeitrag auf das Niveau vor der Wirtschafts- und Finanzkrise zurück. Die Absenkung des einkommensab- hängigen Beitrages auf Pump ist nun nicht mehr erfor- derlich. Es ist uns gelungen, die Finanzierung der Ge- sundheitskosten von den Arbeitskosten abzukoppeln und damit auf eine stabile und verlässliche Grundlage zu stellen. Gerade vor dem Hintergrund der hier zur Dis- kussion stehenden Anträge erscheint es mir wichtig, den Rahmen auch nochmals einzubeziehen und zu sagen: Wir sind hier auf einem guten Weg. Natürlich gibt es auch Menschen, die auf finanzielle Hilfe angewiesen sind: jene, die beispielsweise unver- schuldet ihren Arbeitsplatz verloren haben und nun der Unterstützung bedürfen. Deshalb wird ja auch ALG-II- Empfängern konkret geholfen, wenn es um die Finanzie- rung ihrer Gesundheitsrisiken geht. Die Menschen ste- hen füreinander ein, und so haben auch Bezieher von Ar- beitslosengeld II Anspruch auf Übernahme ihrer vollen Krankenversicherungsbeiträge durch die Träger der Grundsicherung. Das ist richtig. Es ist eine besondere Leistung, dass wir es als selbstverständlich ansehen, den Menschen in Not zu helfen – ganz gleich, ob sie gesetz- lich oder privat versichert sind. Das Signal ist klar: Der Staat lässt euch in der Not nicht allein! Die Botschaft, dass Menschen in Not nicht alleine gelassen werden, ist ein guter Aufhänger, um zu verdeutlichen, dass die An- träge vor allem eines sind: veraltet. Sie entsprechen schlicht nicht mehr dem Ist-Stand. Es ist doch völlig of- fensichtlich, dass hier mit den Anträgen versucht wird, vermeintliche Probleme zu skizzieren, die so nicht exis- tieren. Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken bauen hier ein Problemszenario auf, das so nicht mehr erkennbar ist. Denn die Anträge beziehen sich auf die sogenannte Beitragslücke von privat versicherten Hilfebedürftigen, ohne die Entscheidung des Bundesso- zialgerichts zu berücksichtigen – im Übrigen eine Ent- scheidung vom 18. Januar dieses Jahres, also über fünf Monate alt. Da einige die Entscheidung offenbar noch nicht ken- nen, will ich sie nochmals wiederholen: Das Bundesso- zialgericht hat entschieden, dass privat krankenversi- cherte Bezieher von Arbeitslosengeld II Anspruch auf Übernahme ihrer vollen Krankenversicherungsbeiträge durch die Träger der Grundsicherung haben. Das sind in 2011 monatlich maximal 287,72 Euro. Dies ist im Übri- gen der halbe Höchstbeitrag der GKV. Natürlich wurde sofort auf dieses Urteil reagiert. So hat die Bundesagen- tur für Arbeit bereits am 27. Januar 2011 eine Verfahrens- information erlassen. Darin werden die gemeinsamen Einrichtungen angewiesen, ab dem 18. Januar 2011, also rückwirkend, die Beiträge für eine private Krankenversi- cherung bis zur Höhe des halben Basistarifs zu überneh- men. Die laufenden Fälle werden von der Bundesagentur von Amts wegen umgestellt. Die Betroffenen, die ohne- hin genügend Sorgen haben, müssen dabei nicht tätig werden; sie werden also doppelt entlastet. Für privat versicherte Bezieher von Leistungen nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch gilt, dass die Träger der Sozialhilfe angemessene Beiträge für eine private Kran- kenversicherung im Falle von Hilfebedürftigkeit zu übernehmen haben. Das Gericht hat also für die nötige Klarheit gesorgt. Das Urteil und die Folgen sind unbestreitbar wichtig für die Betroffenen im Land. Aber gerade deshalb gilt eben auch: Die Problematik der Beitragslücke in der PKV ist seit Januar 2011 faktisch gelöst und die – in unterschiedli- cher Ausprägung aufgegriffenen – inhaltlichen Schwer- punkte der hier zu behandelnden Anträge sind somit weitgehend weggefallen. Dabei möchte ich betonen, dass der auf den Höchstbeitrag zur gesetzlichen Kran- kenversicherung begrenzte Beitrag im Basistarif, der im Übrigen bei Hilfebedürftigkeit auf den halben zu ver- mindern ist, von der Bundesregierung als angemessen angesehen wird. Natürlich möchte ich auch eingestehen, dass das Bundessozialgericht mit Blick auf den Umgang mit den durch die Beitragslücke aufgelaufenen Altschul- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12805 (A) (C) (D)(B) den keine Antworten gegeben hat. Diese wird es jedoch auch in Kürze geben; hier prüft beispielsweise das Bun- desministerium für Arbeit und Soziales, wie mit diesen verfahren werden soll. Gestatten Sie mir aber, nochmals auf eine Forderung der Linken im Antrag „Private Kranken- und Pflegever- sicherung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfe- bedürftige“ einzugehen, die nach kostendeckenden Beiträgen für ALG-II-Bezieher in der GKV. Hier ist fest- zustellen, dass entsprechend höhere Beiträge mit erheb- lichen Belastungen für den Bundeshaushalt verbunden würden. Dieses Ansinnen in dem Antrag würde also die Bemühungen um Haushaltskonsolidierung konterkarie- ren. Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag der Linken zu einer geforderten gesetzlichen und bezahl- baren Krankenversicherung für Solo-Selbstständige ein- gehen. Die besonderen Mindestbeiträge für Selbststän- dige sind im gegenwärtigen System der gesetzlichen Krankenversicherung sinnvoll, weil das Steuerrecht nun mal den Selbstständigen – anders als Arbeitnehmern – eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt. Diese steuerrechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber nicht in Form ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf die gesetzliche Krankenversicherung auswirken. Zudem müssen wir doch eines bedenken: Versicherte, die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, belasten die übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei- tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri- gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Dies ist aus unserer Sicht nicht tragbar. Deswegen können wir dem Antrag auch nicht zustimmen. Das ist schlicht unso- zial. Auch ist es doch so, dass die gesetzlichen Regelun- gen derzeit schon vorsehen, dass Selbstständige, die nur ein geringes Einkommen haben, 30 Prozent weniger Bei- träge als im Normalfall zahlen. Eine weitere Beitrags- ermäßigung lehnen wir daher ab. Sie sehen also, dass die Sorgen einzelner Kolleginnen und Kollegen mit Blick auf eine vermeintliche Benach- teiligung von privat versicherten ALG-II-Beziehern durch die Realität in Gestalt eines Gerichtsurteils ent- kräftet werden können. Diese Probleme bestehen so seit mehreren Monaten nicht mehr. Gleichwohl möchte ich Sie darin unterstützen, auch weiterhin für die beiden Versicherungssysteme zu kämpfen, wie Sie dies ja in Ih- rem Ansinnen durch die Anträge bereits getan haben. Harald Weinberg (DIE LINKE): Drei unterschiedli- che Themen stehen hier zur Debatte, vier Minuten habe ich dafür. Kein leichtes Unterfangen. Erstens geht es um privat krankenversicherte Selbst- ständige oder ehemalige Selbstständige, deren Einkom- men nicht zum Leben reicht und die deshalb Hartz IV be- ziehen müssen. Diese Menschen dürfen seit 2009 nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurück. Ge- setzlich wurde damals geregelt, dass die privaten Versi- cherungskonzerne zwar rund 290 Euro von den Betroffe- nen verlangen dürfen. Davon werden aber nur rund 130 Euro von den Ämtern erstattet. Diesen gesetzgeberi- schen Unsinn prangert die Linke schon seit zweieinhalb Jahren an. Die Bundesregierungen seitdem sind zerstrit- ten zwischen den Koalitionsparteien und zwischen den Ministerien, und es passiert nichts. Außerdem – so wurde argumentiert – sei es auch verfassungsgemäß, wenn die Betroffenen von ihrem Regelsatz mehr als die Hälfte selbst an ihre Krankenversicherung zahlen müssen. Mitt- lerweile hat das Bundessozialgericht geurteilt – und der Bundesregierung für die bestehende Regelung eine Ohr- feige erteilt. Die Linke fordert die Bundesregierung noch- mals auf, hier zu handeln – auch rückwirkend – und den betroffenen Menschen einen Funken Perspektive zurück- zugeben. Dass auch die Grünen hier nun eingesehen haben, dass es eine Lösung geben muss, begrüße ich natürlich, wenngleich es eine andere Lösung ist als unsere. Weil es aber eine Lösung ist, die den Betroffenen nutzen würde, werden wir diesen Vorschlag auch nicht ablehnen. Ein wenig verwundert kann ich nur über die Position der SPD sein, die nun zwar mit ihrer Zustimmung zu dem Grünen-Gesetzentwurf etwas anderes fordert, als sie mit Ulla Schmidt in der Regierung 2007 durchgesetzt hat. Dennoch lehnt die SPD mit an den Haaren herbeige- zogenen Argumenten unseren Antrag ab, ohne zu würdi- gen, dass damit ein nicht zuletzt von der SPD hergestell- ter verfassungswidriger Zustand beseitigt würde. Dass die schwarz-gelbe Koalition ablehnt, war vo- rauszusehen. Ich hoffe, dass sich unsere Gedanken in ei- nigen Monaten in einem Regierungsvorschlag wieder- finden werden und dass den Betroffenen dann endlich geholfen wird. Was mich an der ganzen Angelegenheit am meisten ärgert: Wenn mir ein Betroffener sagt, dass die Politik in diesem Punkt seit Jahren unfähig ist, eine Lösung auf den Weg zu bringen, dann muss ich ihm Recht geben. Der Umgang der Bundesregierung mit die- sem Problem ist ein Förderprogramm für Politikverdros- senheit. Das will die Linke ändern. Zweites Problem: Basistarif in der PKV. Es geht bei diesen Privatversicherungen nicht um Luxusversicherun- gen, sondern in der Regel erhalten Privatversicherte im Basistarif weniger Leistungen als gesetzlich Krankenver- sicherte. Sie hören richtig: Die private Krankenversiche- rung ist nicht in der Lage, für überdurchschnittliche Beiträge – mindestens etwas mehr als der Durchschnitts- beitrag, oft der Maximalbeitrag der GKV – wenigstens die gleiche Leistung zu bieten wie die gesetzliche Kran- kenversicherung. Weil die privaten Versicherungen den Ärzten oft weniger zahlen als die gesetzlichen, sind oft nur wenige Ärzte überhaupt bereit, die privaten Basista- rifversicherten zu behandeln. Das ist ein Skandal! Kranke erhalten in Deutschland nicht die notwendige Versor- gung! Die Linke teilt die Menschen nicht in privat und ge- setzlich ein. Die Linke will, dass alle Menschen die not- wendige Behandlung erhalten. Deshalb bringen wir heute einen Antrag ein, mit dem die Versicherten im Ba- sistarif mit den gesetzlich Versicherten gleichgestellt werden sollen. 12806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Drittes Thema: Solo-Selbstständige in der gesetzli- chen Krankenversicherung. Auch dies ist ein Problem, das dadurch entsteht, dass es sowohl das System der ge- setzlichen als auch das der privaten Krankenversiche- rung gibt. Selbstständige haben per Gesetz die Möglich- keit, sich für eines der Systeme zu entscheiden. Im Falle von Vorerkrankungen und von geringem Einkommen fällt die Wahl auf die gesetzliche Krankenversicherung. Die wäre aber mit den relativ kranken und relativ gering- verdienenden Selbstständigen überfordert. Um diese Überforderung zu vermeiden, gibt es ein angenommenes Mindesteinkommen, das allerdings häufig deutlich hö- her ist als das tatsächliche Einkommen. Das führt zu teils absurd hohen Beitragssätzen von über 30 Prozent. Das ist kein theoretischer Wert: Gerade letzte Woche habe ich mich mit Lehrkräften der Integrationskurse getrof- fen, die überwiegend ihre wichtige Arbeit als selbststän- dige Honorarkräfte leisten, und zwar für Stundensätze, die selten über 15 Euro, aber häufig unter 10 Euro lie- gen. Bei denen kommen diese 30 und mehr Prozent schnell zustande. Die Linke will keinen Unterschied machen, ob je- mand selbstständig oder aus einem sonstigen Grund frei- willig versichert in der gesetzlichen Krankenversiche- rung ist. Daher fordern wir die Herabsetzung auf den allgemeinen Mindestbeitrag in Höhe von gut 130 Euro als Untergrenze. Besser wäre natürlich eine Abschaffung der privaten Krankenversicherung als Vollversicherung und die Einbeziehung aller in eine echte Bürgerversiche- rung. Da wäre die Linke die erste Fraktion die laut „Ja!“ ruft. Aber dazu ist derzeit leider keine andere Fraktion bereit. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ei- nes steht fest: Mit der Bürgerversicherung wäre das nicht passiert! Keines der Probleme, die wir heute diskutieren, bestünde, wenn in Deutschland ein einheitlicher Kran- kenversicherungsmarkt existieren würde. Aber Deutsch- land spielt mal wieder – gemeinsam mit Belgien – eine europäische Sondernummer und leistet sich zwei nach unterschiedlichen Prinzipien funktionierende Systeme. Die grüne Bürgerversicherung – konkret, schlüssig und durchgerechnet – würde alle Probleme lösen. Die SPD diskutierte monatelang und legte Eckpunkte vor, die keinen Beitrag zur nachhaltigeren Finanzierung des Solidarsystems leisten. Sie hält an der Bezugsgröße Arbeitseinkommen fest. Die Linke verzichtet in ihrem neuen Antrag sogar gleich ganz darauf, das Wort Bürgerversicherung zu er- wähnen. Sie spricht nur noch davon, dass alle gesetzlich versichert werden sollen. Zwei Jahre – erst durch das Bundessozialgericht im Januar 2011 beendet – bestand der skandalöse Zustand, dass privat krankenversicherte Arbeitslosengeld-II-Be- zieher und -Bezieherinnen für den Basistarif rund 290 Euro zahlen mussten, vom Jobcenter jedoch nur etwa 125 Euro erhielten: inklusive Pflegeversicherung eine monatliche „Finanzierungslücke“ von rund 180 Euro. Den Betroffenen blieb die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder zahlten sie die Prämie und hatten monatlich nur noch 180 Euro zum Leben, oder sie ver- schuldeten sich bei ihrer Krankenversicherung, was ei- nen beruflichen Neustart massiv behinderte. Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb haben den Streit zwi- schen Arbeits- und Gesundheitsministerium jahrelang auf Kosten der Betroffenen geführt. Dabei betrieben die Gesundheitspolitiker der jetzigen Koalition unerschüt- terlich Politik zugunsten der PKV. Sie stellten sich damit nicht nur gegen unseren seit etwa eineinhalb Jahren vor- liegenden grünen Gesetzentwurf – diesen Reflex kennen wir ja –, sondern auch gegen die Vorschläge der Arbeits- ministerin. Es besteht keine Bereitschaft, für hilfebedürf- tige Privatversicherte die Beiträge im PKV-Basistarif auf das entsprechende Niveau der GKV abzusenken. Bis 2009 war diese Gleichbehandlung auch die Posi- tion der Linken. Nun fordern sie für beide Versiche- rungssysteme deutlich mehr – aber, wie üblich, verlieren sie kein einziges Wort darüber, wo die dafür notwendi- gen jährlich 6 Milliarden Euro Steuermittel herkommen sollen. Daher enthalten wir Grünen uns beim Antrag der Linken. Das BSG hat entschieden, dass privat versicherte Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen nun vom Jobcenter den vollen Betrag für den abgesenkten Basis- tarif erhalten. Politisch betrachtet bedeutet dies eine massive Ungleichbehandlung: Die PKV erhält für die gleichen Leistungsansprüche wie in der GKV mehr als doppelt so viel Geld vom Jobcenter. Der Spruch des BSG war jedoch notwendig für die Betroffenen. Aber nicht alle profitieren rückwirkend. Nur die, die geklagt haben, erhalten den Differenzbetrag und können ihre Schulden begleichen. Für die anderen wurde der rechts- widrige Verwaltungsakt nur für die Zukunft aufgehoben. Die Koalition darf das BSG-Urteil nicht nutzen, um weiter untätig zu bleiben. Es braucht eine gesetzliche Regelung, bei der GKV und PKV identische Beiträge für identische Leistungen erhalten. Für die Betroffenen muss gelten: Egal ob einer den Mut hatte, zu klagen, oder still gelitten hat: Für alle Betroffenen müssen rück- wirkend die vollen Prämien übernommen werden. Beim Antrag der Linken zur Senkung der Beiträge für Solo-Selbstständige enthalten wir uns. Die Intention des Antrags, Selbstständige mit geringen Einkommen zu entlasten, unterstützen wir. Daher sieht die grüne Bür- gerversicherung vor, Beiträge strikt einkommensbezo- gen zu erheben. Mindestbeiträge würden überflüssig. Zugangsbeschränkungen und Mindestbeiträge in der GKV für Selbstständige sind der Preis für die Zweitei- lung unseres Krankenversicherungssystems. Anderen- falls würden Selbstständige mit geringen Einkommen und hohen Krankheitsrisiken sich für die GKV entschei- den, alle anderen weiterhin für die PKV. Dies würde zu enormen Belastungen des Solidarsystems führen, die die jetzigen Versicherten über Zusatzbeiträge zu finanzieren hätten. Das würde abhängig Beschäftigte mit kleinen Einkommen überproportional belasten. Der Vorschlag der Linken ließe sich nicht umsetzen, da eine adäquate Abgrenzung von Solo-Selbstständigen nicht möglich ist. Er würde Solo-Selbstständige und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12807 (A) (C) (D)(B) Selbstständige mit einem oder mehreren Beschäftigten und identischem Einkommen unterschiedlich behandeln. Die Bürgerversicherung ist die Lösung. Auf dem Weg dahin – oder gerade dann, wenn man, wie die Regierung, das Nebeneinander von GKV und PKV gutfindet – muss man solche Probleme lösen. Wegducken zulasten der so- zial Schwachen gilt nicht! Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset- zes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Geset- zes (Tagesordnungspunkt 18) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die Gründung der Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, BStU, vor mehr als 20 Jahren diente vor allem einem Ziel: der Öffentlichkeit, insbesondere den Stasiopfern die schrift- liche Hinterlassenschaft des SED-Regimes zugänglich zu machen. Die Existenz dieser Behörde stellt einen we- sentlichen Erfolg der friedlichen Revolution von 1989/ 1990 dar. Mit viel Leidenschaft wurde sie erkämpft. Die erste frei gewählte Volkskammer hat es gewollt, und der Deutsche Bundestag hat dann ein Gesetz beschlossen, auf dessen Grundlage die BStU entstanden ist. Seit 1991 wurde es mehrfach novelliert. In der gültigen Fassung ist die Regelüberprüfung bis 2011 befristet und läuft nun aus. Die Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf zur Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgelegt. Grundsätzlich ist dies zu begrüßen. Denn damit zeigt sich, dass sich auch bei CDU/CSU und FDP die Einsicht durchgesetzt hat, dass die BStU weiterhin gebraucht wird. Es gab ja gelegentlich andere Stimmen aus Ihren Reihen! Der Andrang zu den Akten und die Anzahl der An- träge auf Einsichtnahme sind ungebrochen hoch. In Deutschland und international erfährt die Behörde große Anerkennung. Weltweit gilt sie als Vorbild für einen an- gemessenen Umgang mit der eigenen Diktaturge- schichte. Die Erforschung der SED-Geschichte macht Fort- schritte, doch sie ist noch lange nicht am Ende. Die his- torisch-politische Bildung wird mit zunehmendem zeitli- chem Abstand von den Ereignissen um 1989/90 immer wichtiger. Mit ihren drei Schwerpunkten in der Aufklä- rung, der Forschung und der Bildung über Funktions- weise und Struktur der SED-Herrschaft erfüllt die BStU nach wie vor gesellschaftlich wichtige Aufgaben, sodass der Fortbestand der Behörde bis 2019 ausdrücklich zu unterstützen ist. Viele Änderungen des Koalitionsentwurfes sind rich- tig und vernünftig und zwischen uns einvernehmlich be- sprochen. So kann es für das unbedingt notwendige Ver- trauen in die politisch Handelnden nur von Vorteil sein, wenn auch ehrenamtliche Bürgermeister, Kommunalver- treter und Bewerber für ein Wahlamt auf eine hauptamt- liche oder informelle Stasimitarbeit überprüft werden können. Ebenfalls richtig ist die Vereinfachung des Zugangs zu den Unterlagen für Wissenschaftler und Journalisten. Immer unter dem Vorbehalt der Wahrung schutzwürdi- ger persönlicher Belange – keinesfalls dürfen Opfer von Stasibespitzelungen erneut Eingriffen in ihre Persönlich- keitsrechte ausgesetzt sein – ist eine größtmögliche Offenheit der Akteneinsicht anzustreben. Dazu trägt die geplante Erleichterung der Einsichtnahme in Akten bei, die sich nicht auf natürliche Personen beziehen. Auch die Möglichkeit der Verkürzung von Schutzfristen in ge- prüften Einzelfällen ist in diesem Sinne zu begrüßen. Gegen die geplante Neuregelung bei der Kostenver- ordnung ist ebenfalls nichts einzuwenden, allerdings nur, solange sichergestellt bleibt, dass damit keine Gebühren- erhöhung verbunden wird. Die Einsicht in und die Arbeit mit den Akten muss für alle Interessierten erschwinglich bleiben! In einem Punkt allerdings kann ich dem Gesetzent- wurf der Koalition nicht zustimmen: bei der geplanten Ausweitung der anlasslosen Überprüfung. Behördenlei- ter und Angestellte mit vergleichbar verantwortungsvol- len Aufgaben können bereits heute überprüft werden. Ich frage Sie: Weshalb sollten Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in „leitender Funktion“ ab 2012 bis hinab zu Angestellten der Besoldungsgruppen E 13 bzw. A 13 überprüfbar sein? Und mehr noch: sogar Angestellte und Beamte „in Einrichtungen, die sich mehrheitlich in öffentlicher Hand befinden“? Niemand, auch Sie selbst nicht, wissen zu sagen, wen und wie viele Personen Ihr Vorschlag eigentlich treffen würde. Ist für Sie also ein einfaches Mehr an Überprü- fung schon genug? Geht es nicht um die Qualität der Tä- tigkeit, die eine anlasslose Überprüfung rechtfertigt? Was genau ist mit „leitender Funktion“ gemeint? Und sollen nun auch Mitarbeiter der Deutschen Bahn über- prüft werden? Hier sollten Sie noch einmal nachdenken. Auch wenn Sie bereits abgelehnt haben, auf einen vermittelnden Vorschlag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu die- sem Punkt einzugehen, möchte ich Ihnen doch zu Be- sonnenheit raten. Grenzen Sie zumindest den Begriff der „leitenden Funktion“ ein, und beschränken Sie die Aus- weitung der Überprüfung auf Fälle, in denen tatsächliche Anhaltspunkte, also echte Verdachtsmomente, für eine hauptamtliche oder inoffizielle Stasimitarbeit vorliegen. Denn so vage und ausufernd Ihr Vorschlag in diesem Punkt ist, so wenig steht er im Einklang mit den Überle- gungen und Zielen, aus denen heraus die BStU einst ge- gründet worden ist. Ein zentrales Anliegen war und muss auch heute die Befriedung unserer Gesellschaft sein. Hierzu gehört die Aufklärung – und die BStU stellt dazu ihr Instrumentarium bereit. Aber sie ist kein Selbst- zweck. Denn auch das rechtsstaatliche Prinzip der Verjährung dient der Befriedung und ist zu wahren. Wer sich über 20 Jahre lang persönlich nichts hat zuschulden kommen 12808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) lassen, für den ist eine erfolgreiche Bewährung in unse- rer Gesellschaft anzuerkennen. Auch in Zukunft werden Wissenschaftler oder Jour- nalisten mit ihren Recherchen Personen als Stasimitar- beiter enttarnen. Das ist auch richtig so, und das StUG bietet das Instrumentarium, um darauf angemessen zu reagieren und Konsequenzen zu ermöglichen. Solche Fälle wird es geben, solange ehemalige Stasimitarbeiter in unserer Gesellschaft leben. Wir müssen lernen, damit umzugehen, und dürfen uns gerade angesichts des SED- Unrechts nicht hinreißen lassen, unsere eigenen Prinzi- pien zu verraten. Deshalb appelliere ich an die Kollegen der Koalitionsfraktionen: Halten Sie Maß! Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Jahr 2011, bei der inzwischen achten Novelle des Stasi-Un- terlagen-Gesetzes, ist es an der Zeit, grundsätzlich zu werden, was die Position der Linken zu diesem Gesetz betrifft. Am 24. August 1990 gab es einen nahezu ein- stimmigen Beschluss der Volkskammer der DDR, die Stasiunterlagen zu archivieren und für die Aufarbeitung zugänglich zu machen. Die PDS hat diesem Gesetz, der Einrichtung einer Stasiunterlagenbehörde und der Wahl von Joachim Gauck als erstem Leiter der Behörde zuge- stimmt. Wir vertraten die Auffassung, dass die Stasi- opfer ein Recht auf Akteneinsicht und Wahrheit haben. Unsere Zweifel richteten sich immer gegen die Metho- den der Regelüberprüfung und die Fristen. Nur ein Jahr später, 1991, hat im Bundestag eine große Debatte über das Stasi-Unterlagen-Gesetz stattge- funden. Ein prominentes Mitglied dieses Hauses, das nicht zur PDS gehörte, hat dabei folgendes gesagt: Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer Rechtstradition widerspricht, einem Täter über ei- nen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzu- halten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbar- mungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sa- gen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuch- tung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein indi- viduelles Opfer Klage oder Anklage erhebt. Das war Burkhard Hirsch von der FDP. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat den Gesetzentwurf abgelehnt. Sie kritisierte, dass bei der Feststellung einer Stasimitarbeit der Täter- bzw. Mitarbeiterbegriff zu un- differenziert bleibe und der Kreis der zu überprüfenden Personen dadurch nahezu uferlos ausgeweitet werde. Der politischen Willkür bei der Beurteilung werde da- durch Tür und Tor geöffnet. Als diese 15 Jahre vorüber waren, wurden im Jahr 2006 die Fristen der Überprüfungen bis 2011 weiter ver- längert. Die Linke hat diese Neuregelung abgelehnt. Zitat aus meiner Rede vom 30. November 2006: Es ist unser Credo als Linke: Ja, wir sind für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, und zwar je vertiefter und dif- ferenzierter, desto besser; aber wir sagen Nein zu weite- ren Überprüfungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir haben schon die Überprüfungsfristen über 2006 hinaus abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der Verhältnis- mäßigkeit verletzt sehen. In der Präambel des Programms der Linken von 2003 wird eine „rückhaltlose Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kom- munismus begangen wurden“ gefordert und „der unum- kehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie und politischen Freiheitsrechten“ als das die Linke eini- gende Fundament beschrieben. Und wo sind wir heute? Nun soll die Frist zur Über- prüfung bis 2019 verlängert werden. Und nicht nur das, völlig unbegreiflicherweise wird nun auch der Personen- kreis, der 2006 mit gutem Grund eingeschränkt worden war, wieder ausgeweitet. Die Linke spricht sich – auch mit der Erfahrung der letzten 20 Jahre – gegen eine Verlängerung der zum 31. Dezember 2011 auslaufenden Überprüfungsmöglich- keiten bis zum Ende des Jahres 2019, also eine Verlänge- rung um weitere acht Jahre, aus, genau wie auch gegen eine Erweiterung des zu überprüfenden Personenkreises um Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die eine lei- tende Funktion ausüben, Beamte und Tarifbeschäftigte, die eine weniger hochrangige, aber leitende Funktion wahrnehmen, wie zum Beispiel Referatsleiter in der Bundes- und Landesverwaltung oder Leiter von Grund- und Hauptschulen, und, wie es in der Begründung heißt, auch um Bewerber um Wahlämter – Abgeordnete, Mit- glieder kommunaler Vertretungen, kommunale Wahlbe- amte sowie ehrenamtliche Bürgermeister usw., usw. In unserem Rechtssystem spielt bei Fragen der Schuld die Zeit eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Köperverletzung, der schweren Verge- waltigung oder der schweren Freiheitsberaubung verjäh- ren nach zehn Jahren. Es kann nicht sein, dass die Ver- jährungsfrist, die bei allen anderen Tatbeständen gilt, hier keine Geltung haben soll. In der BRD gab es 1973 ein aufsehenerregendes Ur- teil, das Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. In ihm wurden Persönlichkeitsrechte, auch von Tätern, eindeutig höher bewertet als das Recht der Medien, zeit- lich uneingeschränkt über die Person eines Straftäters und seine Privatsphäre zu berichten. Es ging um Männer, die 1969 bei einem Überfall auf eine Kaserne vier Solda- ten im Schlaf getötet hatten. Das Bundesverfassungsge- richt urteilte: 14 Jahre nach der Tat kann dem Täter der Totschlag nicht mehr vorgehalten werden. Die Opfer der Ausspähungen durch die Stasi müssen auch in Zukunft ein Recht auf Akteneinsicht haben. Auch muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garan- tiert sein, ja sogar erweitert und vertieft werden. Wieder- holt haben wir den Vorschlag gemacht, die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit ins Bundesarchiv zu überführen, um eine schnellere, eine bessere, vor al- lem aber eine weniger zufällige, also wissenschaftliche Aufklärung zu garantieren. Eine Zusammenführung dort hätte größere Effekte für Forschung und Bildung als in der jetzigen Behörde. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12809 (A) (C) (D)(B) Wir sagen: Es gibt ein Recht auf Wahrheit. Aber 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die fortgesetzte Überprüfung eines Teils der Gesellschaft auf fast 30 Jahre auszudehnen, dient dem Rechtsfrieden nicht und auch nicht dem inneren Frieden! Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grundsätzlich sind sich alle Parteien mit Ausnahme der Linken darüber einig, dass Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter im öffentlichen Dienst länger als bisher vorgese- hen auf eine inoffizielle Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit überprüft werden können. Die Mög- lichkeit dazu soll bis 2019 verlängert werden. Die schwarz-gelben Koalitionsfraktionen wollen, dass jede und jeder ab der Besoldungsgruppe A 13 und der Entgeltgruppe E 13 auf eine frühere Stasitätigkeit über- prüft werden kann. Einen Anlass oder Verdacht auf eine Stasitätigkeit brauchen sie dafür nicht. Vielmehr soll es schon genügen, dass eine Person eine „leitende Funk- tion“ im öffentlichen Dienst wahrnimmt. Wann eine „lei- tende Funktion“ vorliegt, wollen CDU/CSU und FDP aber nicht bestimmen. Ausdrücklich greifen sie nicht auf die bereits existierende Definition im Beamtenrecht zu- rück. Damit ist unklar, wer künftig überprüft werden kann: nur der Schulleiter oder auch die Fachbereichslei- ter? Nur der Dienststellenleiter einer Polizeiinspektion oder auch der Wachleiter? Eine solche Unbestimmtheit öffnet Willkür und Ungleichbehandlung Tür und Tor. Trotz monatelanger Verhandlungen und einem Kom- promissvorschlag von Wolfgang Thierse und mir haben CDU/CSU und FDP sich in der Frage der Ausweitung des zu überprüfenden Personenkreises nicht bewegt. Sie haben eine fraktionsübergreifende gemeinsame Einbrin- gung der Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes so un- möglich gemacht. Wir haben einen Kompromiss ange- boten, weil uns ein gemeinsames parlamentarisches Vorgehen wichtig ist. Wolfgang Thierse und ich schla- gen vor, dass Personen mit der Besoldungsgruppe A 13 und der Entgeltgruppe E 13 dann überprüft werden dür- fen, wenn sie eine leitende Funktion im Sinne des Beam- tengesetzes wahrnehmen. Außerdem müssen tatsächli- che Anhaltspunkte für eine Stasitätigkeit vorliegen. Das bedeutet nicht, dass alle anderen Personen gar nicht mehr überprüft werden können. Im Verdachtsfall können Journalisten und Historiker immer noch Einsicht in Ak- ten nehmen. Damit wird dem öffentlichen Interesse an Aufklärung Genüge getan. Ich meine, dass eine darüber hinausgehende Überprü- fung nicht geboten ist. Nach mehr als 20 Jahren ohne Beanstandung der Tätigkeit im öffentlichen Dienst kann regelmäßig auf eine Bewährung in der demokratischen Grundordnung geschlossen werden. Selbst wenn eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit vorge- legen haben sollte, so muss doch in die gesellschaftliche Bewertung einbezogen werden, dass dieses Fehlverhal- ten mittlerweile lange zurückliegt. Das ist im Übrigen in unserer Gesellschaft auch nicht unüblich. Wir schätzen den Frieden in der Gesellschaft hoch genug, um den Rechtsfrieden durch das Instrument der Verjährung zu gewährleisten. Wir nehmen dafür in Kauf, dass Strafta- ten nicht mehr verfolgt werden. Einzig Mord und Völ- kermord verjähren nicht. Unsere Rechtsordnung ist da- mit klar vom Prinzip der zweiten Chance geprägt. Das verlangt die Achtung der Menschenwürde. So hat es das Bundesverfassungsgericht selbst für Mörder entschie- den, die die Chance haben müssen, einmal wieder in Freiheit zu gelangen. Wir sehen also viel Erörterungsbe- darf, auch mit den Opferorganisationen und den Aufar- beitungsinitiativen. Einer Expertenanhörung sehen wir mit Spannung entgegen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Erweiterung der An- zahl der Sachverständigen in der Enquete- Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens- qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozia- len Marktwirtschaft“ (Tagesordnungspunkt 19) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): In dem von weib- lichen Abgeordneten aus mehreren Fraktionen gestellten Antrag geht es darum, entgegen dem Einsetzungsantrag für diese Kommission, weitere Sachverständige in die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens- qualität“ zu entsenden. Vorrangiges Kriterium für diese zusätzlichen Sachverständigen soll sein, dass es sich da- bei um Frauen handelt. Die Enquete-Kommission lautet mit vollem Namen „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Greifen wir uns den Begriff des Fortschritts aus dem Titel unserer Kommis- sion heraus und beleuchten ihn ein wenig. Was wird seit dem 18. Jahrhundert als Fortschritt bezeichnet? Die fort- schreitenden wissenschaftlichen, technischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Errungenschaf- ten, der zivilisatorische Wandel einzelner Gesellschaften, Handlungs- und gesellschaftlicher Teilbereiche, aber auch der Menschheit als Ganzes. Als theoretisches Konzept hat der Begriff des Fort- schritts mit dem neuzeitlichen Geschichtsoptimismus die Bedeutung eines „geschichtsphilosophischen Universal- begriffs“, wie der bekannte deutsche Historiker Reinhart Koselleck ihn beschreibt, erlangt. Fortschritt bedeutet hier eine durch menschliches Handeln bewirkte Zu- standsveränderung zum Besseren im Sinne einer Höher- oder Weiterentwicklung. Diese Höherentwicklung kann dabei auf einen end- lich gedachten Vollkommenheitszustand zielen oder als fortlaufende Annäherung an einen letztlich unerreichba- ren Zustand imaginiert werden, da durch den Fortschritt selbst Ziele und Zwecke immer neu und weitergehend entworfen werden können. Hier müssen der Deutsche Bundestag und seine Mit- glieder einsehen, dass auch wir einen Vollkommenheits- zustand nie erreichen werden und auch unser „Fort- schritt“ nur eine Annäherung an einen unerreichbaren 12810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Zustand beschreiben kann. Denn dieser heutige Antrag wird nur deshalb behandelt, weil wir allesamt es zu- nächst versäumt haben, darauf zu achten, dass unter den 17 Sachverständigen auch Frauen berücksichtigt wer- den. Ich denke, als sich die einzelnen Fraktionen Gedan- ken darüber gemacht haben, welche Sachverständigen sie für diese Kommission benennen, haben sie sich ein- zig von der Sache her leiten lassen. Diese Enquete-Kom- mission hat den Auftrag erhalten, über das tagespoliti- sche Klein-Klein hinauszublicken. Die Lebensqualität der Menschen ist über Jahrzehnte hinweg mit dem ökonomischen Produktionsniveau von Gesellschaften gleichgesetzt worden. Lange Zeit galt das BIP, also der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft, als Gradmesser nicht nur für Wachstum, sondern auch für das Wohlergehen und damit die Lebenszufriedenheit der Menschen. Dieses Verständnis wandelt sich. Die Enquete-Kommission soll Vorschläge erarbeiten, wie wir Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in un- serem Land verbessern, vereinbaren und sogar ablesbar machen können. Für diese wichtige Aufgabe wollten die Fraktionen auch wichtige Köpfe aus ihren Reihen und aus den Reihen der Wissenschaft in diese Kommission entsenden. Dass unter den Sachverständigen bislang kein einzi- ges weibliches Mitglied zu finden war, liegt nicht an mangelnder Kompetenz, sondern auch an dem exponier- ten Fachwissen der vielen anderen Sachverständigen, die unsere Kommission so wunderbar bereichern. Aber es liegt auch daran, dass man entweder nicht an Männer und Frauen gedacht hat oder sich auf die anderen verlas- sen hat. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat für den ausge- schiedenen Sachverständigen Professor Dr. Herbert Buchner eine weibliche Sachverständige benannt: näm- lich Frau Professor Dr. Beate Jochimsen. Die Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht ist eine ausgewiesene Expertin im Finanzwesen. Ich bin sehr froh, dass wir eine solche Fachfrau für die Arbeit in der Kommission gewinnen konnten. Ich möchte an dieser Stelle, weil ich genau weiß, dass dies auch im Sinne von Frau Professor Dr. Jochimsen ist, eindeutig klarstellen, dass wir sie – noch vor dem heuti- gen Antrag – als Sachverständige benannt haben, nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie eine anerkannte Autorität in ihrem Fachgebiet ist. Besonders froh bin ich, dass Frau Jochimsen Angehö- rige der Projektgruppe 2 ist, der ich vorsitze. In dieser Projektgruppe beschäftigen wir uns mit der Messbarkeit und Vergleichbarkeit von vielen Faktoren neben dem Bruttoinlandsprodukt, die wichtig und aussagekräftig für ein Land sind. So werden gerade ehrenamtliche Arbeit, Pflegeleis- tungen und Kindererziehung, die daheim stattfinden und überwiegend von Frauen ausgeübt werden, im BIP gar nicht berücksichtigt. Dass diese Tätigkeit unsere Gesell- schaft und unsere Familien in einem enormen Maß be- reichern, ist uns allen bewusst. Diesen Aspekt haben wir in der Projektgruppe auch ohne einen weiblichen Sach- verständigen im Auge gehabt. Aber ich bin sicher, dass wir mit unserer neuen Fachfrau ihre Expertise mit ein- fließen lassen können. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass diese Enquete-Kommission alles andere als eine frauenfeind- liche Veranstaltung ist. Unter den 17 Mitgliedern aus den Reihen des Bundestages finden sich acht Frauen, also fast die Hälfte. Damit sind die Frauen sogar überreprä- sentiert, denn die „Frauenquote“ innerhalb aller Parla- mentarier liegt wiederum nur bei einem Drittel. Ebenso gehören dieser Kommission gleich drei Obfrauen unter dem Vorsitz einer Frau, der Kollegin Daniela Kolbe, an. Zwei der bisher drei Arbeitsgruppen der Kommission werden von Frauen geleitet. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion halten am überparteilichen Einsetzungsbeschluss für diese En- quete-Kommission vom November 2010 fest. Dort ist die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie die Anzahl der Sachverständigen geregelt, die die- ser Kommission angehören sollen. In keinem der beiden Einsetzungsanträge – nicht in dem von CDU/CSU, SPD, Grünen, FPD und auch nicht in dem von der Linken – ist die Rede davon, dass die Sachverständigen nach ihrem Geschlecht auszuwählen seien. Ich hielte das auch für ein falsches Kriterium. Die Fraktionen sollten frei aus- wählen, wen sie als Sachverständige benennen möchten. Das haben alle Fraktionen getan. Bis auf die CDU/CSU- Fraktion hat niemand eine Frau benannt. Die einzelnen Fraktionen werden dafür auch ihre Gründe haben. Aber vielleicht folgt ja die eine oder andere dem guten Bei- spiel der CDU/CSU. Elke Ferner (SPD): Im Januar dieses Jahres hat die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens- qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirt- schaft“ ihre Arbeit aufgenommen. Jeweils 17 Abgeord- nete und 17 Sachverständige diskutieren diese Fragen um die Zukunft unserer Wirtschaft und unserer Gesell- schaft in der Enquete-Kommission. Während die Frak- tionen mit ihren Benennungen dafür gesorgt haben, dass die Seite der Bundestagsabgeordneten mit 52,94 Prozent Frauen vorbildlich besetzt ist, wurden Frauen auf der Sachverständigenbank völlig ausgeblendet. Aus dem Blick politischer Fairness ist das ein Skandal! Der Frauenanteil bei der Einsetzung der Kommission betrug insgesamt 24 Prozent. Nachdem ich in der Debatte zum 100. Internationalen Frauentag das Versagen aller Fraktionen bei der Beset- zung der Sachverständigenbank angeprangert habe, hatte ich den Eindruck, dass auch die Kolleginnen in Unions- und FDP-Fraktion meine Auffassung teilen. Deshalb wollte ich mit diesem fraktionsübergreifenden Gruppen- antrag zusammen mit möglichst vielen Kolleginnen im Bundestag dafür sorgen, dass die Sachverständigenbank um weitere acht weibliche Mitglieder erweitert werden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12811 (A) (C) (D)(B) soll. Anfangs schien auch bei der Union Interesse zu be- stehen, ein frauenpolitisches Zeichen zu setzen. Allerdings scheinen sich die gleichstellungspoliti- schen Ambitionen der Unionsfrauen darin zu erschöp- fen, dass sie sich mit dem Einwechseln einer einzigen Frau bei den von der Union zu benennenden Sachver- ständigen zufriedengeben. Das ist kein Erfolg, sondern ein Armutszeugnis. Die Unionsfraktion hat eine einzige Frau von immerhin sechs MdBs und jetzt neuerdings auch noch eine Frau bei sechs Sachverständigen – also zwei von zwölf: Das entspricht einem Anteil von sagen- haften 16,7 Prozent. Damit hat die Union auch weiterhin die rote Laterne. Die SPD hat derzeit drei Frauen von acht Enquete-Mitgliedern, also 37,5 Prozent. Die FDP hat derzeit zwei Frauen von sechs, also 33,3 Prozent. Die Grünen haben derzeit eine Frau von vier, also 25 Pro- zent, und die Linke hat derzeit zwei Frauen von vier Mit- gliedern, also 50 Prozent. Auch der Hinweis, die anderen Fraktionen könnten ja auch jeweils eine Frau auf der Sachverständigenbank einwechseln, hilft nicht weiter. Zwar würde sich der Frauenanteil auf der Sachverständigenbank auf 29 Pro- zent erhöhen – wäre damit aber immer noch niedriger als mit unserem Vorschlag. Bleibt das Argument: Unser Vorschlag verschiebt die Parität zugunsten der Sachverständigenseite. Das stimmt, allerdings ist nicht zu befürchten, dass sich die Sachver- ständigenseite gegen die Abgeordnetenseite verbünden und diese überstimmen würde. Es ist schade, dass Sie, liebe Kolleginnen von der Union, sich lieber mit einem Spatz in der Hand abspeisen lassen, als um die Taube auf dem Dach zu kämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam ein gleichstellungspolitisches Zeichen setzen, damit in Zu- kunft auch die Gremien des Bundestages paritätisch be- setzt werden. In einer Zeit, in der wir öffentlich über Frauenquoten für Führungspositionen diskutieren, in der wir eine Kanzlerin und mehrere Ministerinnen als selbst- verständlich ansehen, in einer Zeit, in der sowohl das Gleichstellungsgebot als auch das Bundesgremienbeset- zungsgesetz die politischen Akteure verpflichten, die Gleichstellung von Frauen und Männern und die Strategie des Gender-Mainstreaming zu fördern bzw. die gleichbe- rechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien zu schaffen – in so einer Zeit kann doch ein 17-köpfiges Sachverständigengremium nicht ohne Frauen eingesetzt werden! Mit einem derart eingeschränkten männlichen Blick werden fundamental wichtige Perspektiven ausge- klammert und Wirtschaft leider wieder zur alleinigen Männerdomäne erklärt. Dabei ist es seit jeher Anliegen der Frauenbewegung, der Frauenverbände und der feministischen Ökonomie- kritik, Antworten auf die Frage nach Indikatoren wirt- schaftlichen Wachstums zu finden. Ihre Kritik liegt vor allem darin, dass nur das Bruttoinlandsprodukt als Indi- kator für wirtschaftliches Wachstum gilt. Gesellschaftli- che Arbeit wird demnach mit bezahlter Arbeit gleichge- setzt. Dass so aber die unbezahlte soziale Arbeit – die einen Großteil gesellschaftlicher Arbeit ausmacht – nicht wertgeschätzt wird, wird in der Debatte ebenso verges- sen wie Bildung, Verteilungsgerechtigkeit oder politi- sche Teilhabe. Unbezahlte Tätigkeiten wie zum Beispiel die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern wer- den seit jeher von Frauen erbracht und ebenso seit jeher nicht als „Arbeit“ geschätzt. Das Volumen der unbezahl- ten Arbeit in Deutschland ist mit 96 Milliarden Stunden signifikant höher als die 56 Milliarden Stunden bezahlter Arbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Arbeit be- trägt 684 Milliarden Euro. Allein anhand dieser wenigen Zahlen erkennt man schnell, wie wichtig die Einbindung der weiblichen Per- spektive ist: Seit Jahren forschen Ökonominnen und Soziologinnen auf den Gebieten von Wachstum und Wohlstand in Verbindung mit dem Wandel der Ge- schlechterverhältnisse. Es gibt sie, die weiblichen Exper- tinnen! Wir können es uns nicht leisten, ohne den Sachver- stand der Frauen über die Zukunft unseres Landes zu diskutieren und zu entscheiden. Daher appelliere ich an alle – vor allem aber an alle weiblichen Abgeordneten –, die Effizienz des Gremiums zu erhöhen und größere Chancengleichheit herzustellen, indem wir unser Ver- säumnis zu schmälern versuchen und acht weitere – aus- schließlich weibliche – Sachverständige in die Enquete- Kommission berufen. Claudia Bögel (FDP): Am 17. Januar dieses Jahres hat sich auf Antrag der Regierungsparteien sowie der SPD und der Grünen die Enquete-Kommission konstitu- iert mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensquali- tät – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesell- schaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft! Auf Wunsch der Opposition ist diese Enquete-Kom- mission personell sehr umfangreich ausgefallen. Die Koalition hat letztlich zugestimmt, dass 17 Politiker und 17 Sachverständige den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft untersuchen. Als Obfrau der FDP für die Enquete-Kommission gehöre ich diesem Kreise an. Wir entwickeln Vorschläge, wie in Zukunft Lebensqualität und soziale Sicherheit in Verbindung mit ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsgrundsätzen in Deutschland optimiert werden können. Seit über vier Monaten arbeiten wir nun schon in dieser Kommission zusammen. Daher wundert es mich umso mehr, dass die SPD jetzt in ihrem Antrag gemeinsam mit den Grünen und der Linken fordert, erstens die Zahl der Sachverstän- digen um acht Sachverständige zu erhöhen und zwei- tens, dass die zusätzlich zu benennenden Sachverständi- gen ausschließlich Frauen sein sollen. Sowohl die SPD als auch die Grünen und die Links- partei hätten bereits im Vorfeld die Möglichkeit gehabt, weibliche Sachverständige zu benennen. Dies haben sie nicht getan. Aus ihrer Antragsbegründung geht hervor, dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktio- nen bei der Benennung der Sachverständigen für die En- quete-Kommission ausschließlich männliche Sachver- ständige benannt haben. Jetzt ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um dies auf einmal korrigieren zu wollen. Als 12812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Obfrau der FDP in der Enquete-Kommission und Vorsit- zende der Projektgruppe 1, die sich mit dem „Stellen- wert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ be- fasst, sehe ich keinen Grund für eine Aufstockung der Zahl der Sachverständigen. Die Kommission tagt bereits seit einigen Monaten. Es haben schon fünf Sitzungen stattgefunden. Die Mitglieder haben sich auf Konventio- nen, Definitionen und Schwerpunkte geeinigt. Eine nachträgliche Erweiterung des Kreises der Sachverstän- digen würde die bereits fortgeschrittene Diskussion in den Projektgruppen zurückwerfen. Das ist kontrapro- duktiv. Hinzu kommt, dass eine einseitige Aufstockung der Sachverständigen um acht Personen die paritätische Besetzung, also die gleiche Anzahl von Sachverständi- gen und Abgeordneten, aus dem Gleichgewicht bringen würde. Diese Besetzung hat sich aber bei vergangenen Enquete-Kommissionen des Bundestages bewährt. Daran sollte auch in Zukunft festgehalten werden. Denn sie hat einen wichtigen Grund: Eine einseitige Er- höhung würde die Sachverständigen theoretisch in die Lage versetzen, die Abgeordneten überstimmen zu kön- nen. Das kann nicht im Sinne des Parlaments sein. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich be- grüße ich es, wenn im Kreise der Sachverständigen auch weibliches Know-how vertreten ist. Mir ist es wichtig, dass auch die Erfahrungen und Sichtweisen der Frauen in die politische Arbeit einbezogen werden. Deshalb finde ich es sehr erfreulich, dass in der Enquete-Kom- mission zahlreiche Frauen vertreten sind. Seitens der Abgeordneten besteht die Enquete zu gut der Hälfte aus Frauen. Insgesamt sind zehn der 34 Mit- glieder weiblich. Erst kürzlich haben wir beschlossen, den ausscheidenden Sachverständigen Dr. Buchner durch eine Frau – nämlich Professorin Beate Jochimsen – zu er- setzen. Hinzu kommt, dass innerhalb der Enquete-Kommis- sion wichtige Positionen mit Frauen besetzt sind: Den Vorsitz der Kommission hat die Abgeordnete Frau Kolbe inne, die Projektgruppen 1 und 2 werden ebenfalls von Frauen geleitet, nämlich von Frau Vogelsang und von mir. Die Tatsache, dass der Frauenanteil bei den Sachver- ständigen so gering ist, spiegelt lediglich die Realität wi- der: Die allermeisten der hochqualifizierten Experten aus Wissenschaft und Praxis, die für die Enquete-Kom- mission infrage kommen, sind nun einmal männlich. Und hier appelliere ich an Ihre Vernunft. Es sollte im Interesse des Parlaments liegen, dass die Enquete-Kommission in allererster Linie qualitativ hochwertige Ergebnisse lie- fert. Wir brauchen also gute Sachverständige, die ihre Ideen in die Enquete-Kommission einfließen lassen. Das Geschlecht sollte dabei nicht der ausschlaggebende Fak- tor sein. Und denken Sie nicht, dass Sie von eigenen Versäumnissen ablenken könnten, indem Sie versuchen, den Regierungsparteien den Schwarzen Peter zuzuschie- ben! Auch Sie, liebe Kolleginnen von der Opposition, haben nur Sachverständige männlichen Geschlechts be- nannt. Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Der vorliegende fraktionsübergreifende Antrag hat das Ziel, einen schwerwiegenden Fehler wiedergutzumachen. Einen Fehler, den wir alle gemeinsam gemacht haben: In einer Kommission, die das Parlament zu den wichtigsten Zu- kunftsfragen – Wachstum, Wohlstand und Lebensquali- tät – beraten soll, sitzen ausschließlich männliche Exper- ten, von denen keiner migrantische Erfahrungen oder Wurzeln hat. Sie spiegelt damit in keiner Weise unsere gesellschaftliche Realität wider, über deren Weiterent- wicklung sie beraten soll. Das war so nicht geplant und beabsichtigt, jedenfalls nicht durch die Linke. Für meine Fraktion war bei der Auswahl der Sachverständigen die geschlechterpoliti- sche Kompetenz natürlich ein Kriterium. Und insgesamt sind wir als Linke in der Kommission trotz männlicher Sachverständiger zu 50 Prozent quotiert. Aber da alle an- deren Fraktionen – aus welchen Gründen auch immer – ebenfalls nur männliche Sachverständige benannt haben, stehen wir jetzt vor einer 100 Prozent männerquotierten Expertengruppe. Das ist falsch und muss umgehend kor- rigiert werden. Und weil man aus Fehlern lernen soll, sollten wir bei zukünftigen Beschlüssen über derartige Gremien in den Einsetzungsbeschluss schon die paritäti- sche Besetzung durch Frauen und Männer hineinformu- lieren. Denn man sieht – eine freiwillige Selbstverpflich- tung funktioniert nicht einmal im Deutschen Bundestag. Wir brauchen klare Quoten. Die Notwendigkeit einer pa- ritätischen Besetzung der Kommission mit Frauen und Männern ergibt sich inhaltlich bereits aus der besonderen Verantwortung des Parlaments für den im Grundgesetz verankerten Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern und die Beteiligung beider Geschlechter an politischen Entscheidungsprozessen. Ein Parlament kann nicht von anderen gesellschaftli- chen Gruppen, zum Beispiel von den Unternehmen, die stärkere Beteiligung von Frauen an Entscheidungspro- zessen fordern, wenn es selbst seine Gremien einseitig männlich besetzt. Wir haben eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft zu erfüllen. Wenn wir an unsere Entschei- dungen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an die anderer, sind wir unglaubwürdig und die Verdrossenheit der Bevölkerung gegenüber den Politikerinnen und Poli- tikern nimmt zu Recht weiter zu. Aber nicht das Glaubwürdigkeitsproblem des Parla- ments ist das entscheidende Argument für eine Änderung der Zusammensetzung der Kommission, sondern deren Ziele, die im Einsetzungsbeschluss formuliert sind. Ich will aus Zeitgründen hier nur zwei herausgreifen: Im Juli soll die Frage des Wachstums und der Geschlechterge- rechtigkeit in der Kommission diskutiert werden. Prak- tisch heißt das, dass männliche Sachverständige aller Fraktionen die Perspektive und die Probleme von Frauen in der Wachstumsfrage bewerten und daraus Handlungs- vorschläge für politische Veränderungen erarbeiten sol- len, während die eigentlichen Expertinnen für diese Frage – die Frauen selber – außen vor sein werden. Die Exper- tengruppe soll außerdem Vorschläge und konkrete politi- sche Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Lebensqualität durch Arbeitsumfelder und Arbeitsorga- nisation machen und untersuchen, wie die vielfältiger ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12813 (A) (C) (D)(B) wordenen Erwerbsbiografien besser berücksichtigt wer- den können. teiinternen Gleichstellungspolitik haben wir einen Frau- enanteil von über 50 Prozent in unserer Bundestagsfrak- Und da macht es schon einen gewaltigen Unterschied, ob bei dieser Frage nur das sogenannte männliche Nor- malarbeitsverhältnis im Blick ist, also 40 Stunden Er- werbsarbeit und eine geringe Beteiligung an Familien- und Hausarbeit, oder die Lebenswirklichkeit der Frauen mit einbezogen wird und ob nur die Organisation der Ar- beit im Betrieb oder auch die in Haushalt und Familie berücksichtigt wird und entsprechende Umverteilungs- vorschläge unterbreitet werden. In ihrem offenen Brief gegen die Kommissionsbeset- zung haben das mehr als 170 Wissenschaftler und Wis- senschaftlerinnen so ausgedrückt: Darüber hinaus ist es unseres Erachtens jedoch un- erlässlich, Genderkompetenz in den Sachverstand der Kommission zu integrieren, weil die Frage nach zukunftsfähigen Konzepten von Wachstum, Wohl- stand und Lebensqualität eng mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse und damit verbundenen Themen, wie etwa dem Arbeitsbegriff oder auch dem Verhältnis zwischen „Arbeit“ und „Leben“, verknüpft ist. Wir haben in der Enquete-Kommission vorgeschla- gen, dass sich frühzeitig eine Enquete-Sitzung der The- matik aus einer Frauenperspektive widmen wird. Außerdem ist verabredet, dass die Linke der Projekt- gruppe „Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile“ vorsitzen wird. Genau in dieser Arbeitsgruppe werden wichtige Fragen zum Arbeitsbegriff und zur Schnittstelle zwischen Arbeit und Leben diskutiert. Und wir werden parlamentarisch und außerparlamentarisch dafür sorgen, dass feministische, internationalistische und migranti- sche Perspektiven beim Thema „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ berücksichtigt werden. Für die zukunftsfähige Gestaltung der Gesellschaft brauchen wir die Erfahrung und das Wissen von Frauen und von Männern. Deshalb fordere ich Sie auf, für den vorliegenden fraktionsübergreifenden Frauenantrag zu stimmen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Benennung von ausschließlich männlichen Sachver- ständigen für die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ hat sich keine der Fraktionen im Deutschen Bundestag mit Ruhm bekleckert. Auch Bündnis 90/Die Grünen sind ihrem eigenen Anspruch, sich konsequent für die Gleichstellung von Frauen ein- zusetzen, an dieser Stelle nicht gerecht geworden. Das war ein Fehler, und für uns wirkt dieser Fehler schwer, weil es zu unserem Selbstverständnis gehört, bei der Gleichstellung Vorbild und Vorreiter zu sein. Unser grü- nes Frauenstatut sichert seit 1986 den Frauen mindestens die Hälfte aller Mandate. Dank dieser konsequenten par- tion. Daher können und wollen wir uns vor Selbstkritik bei der Auswahl der Sachverständigen für die Wachs- tums-Enquete nicht drücken. Auch inhaltlich spielt bei der Enquete die Genderper- spektive eine gewichtige Rolle: So gehen beispielsweise die in der sogenannten Care-Ökonomie hauptsächlich von Frauen erbrachten Leistungen bisher nicht in die Be- rechnung der Wirtschaftskraft eines Landes ein, was bei der Entwicklung einer neuen Messgröße für Wirtschafts- wachstum berücksichtigt werden muss. Meine Fraktion hat den Missstand frühzeitig erkannt und sich für eine Erweiterung des Gremiums eingesetzt. Ein entsprechender Antrag im Ältestenrat zur Änderung des Einsetzungsbeschlusses scheiterte aber leider an den Koalitionsfraktionen. Daher freue ich mich, dass nun die drei Fraktionen von SPD, Grünen und Linken mit diesem Gruppenantrag eine gemeinsame Initiative zur Erweiterung der Enquete gestartet haben. Wir hatten gehofft, mit einem reinen Frauenantrag wenigstens die weiblichen Mitglieder der Koalitionsfraktionen – trotz Ablehnung ihrer Fraktions- führungen – mit ins Boot zu holen. Es wäre ein wichti- ges Signal an alle frauenpolitisch Engagierten gewesen, dass die weiblichen Abgeordneten des Deutschen Bun- destages in der Lage sind, für ein wichtiges Anliegen der Geschlechtergerechtigkeit über Parteigrenzen hinweg an einem Strang zu ziehen. Dass eine parteiübergreifende Initiative selbst bei diesem Thema nicht möglich ist, finde ich sehr schade. Es zeigt wieder einmal deutlich die Zerrissenheit insbesondere der Union in frauenpoliti- schen Fragen. Das kennen wir von der Diskussion um die Frauenquote für die Wirtschaft. Während Frau von der Leyen einen Modernisierungskurs anmahnt, zeigt sich Frauenministerin Schröder offen uninteressiert an der Gleichstellung von Frauen und dem Dialog mit den frauenpolitischen Akteurinnen. Liebe Kolleginnen von der Union, vor diesem Hinter- grund bin ich enttäuscht, dass Sie jene 18 Unterschriften zur Unterstützung des Gruppenantrags, die aus Ihrer Fraktion bereits vorlagen, zurückgezogen und sich dafür entschieden haben, einen Ihrer Sachverständigen auszu- wechseln. Es scheint eine willkommene Gelegenheit ge- wesen zu sein, eine Fehlbesetzung zu korrigieren und gleichzeitig das „linke Lager“ im Deutschen Bundestag unter Zugzwang zu setzen, wobei Sie nichtvorhandene Geschlossenheit demonstrieren wollen. Kollegin Laurischk teilte mit, dass die FDP-Fraktion unser Anliegen grund- sätzlich unterstützt. Daher finde ich es umso bedauerli- cher, dass die Initiative in Ihren Reihen schlicht versandet zu sein scheint. Ich möchte an Sie alle appellieren, die parteipolitische Taktiererei sein zu lassen und dem Grup- penantrag zuzustimmen. Nachträglichen Ruhm für den von uns allen begangenen Fehler können wir damit zwar nicht erwarten. Aber wir haben die Möglichkeit, für die erfolgreiche Arbeit der Enquete-Kommission gemeinsam eine wichtige Voraussetzung zu schaffen. 111. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5