Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
darf Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plät-
zen zu erheben.
(Die Anwesenden erheben sich)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste!
Am vergangenen Freitag ist unser früherer Kollege und
Vizepräsident des Deutschen Bundestages Helmuth
Becker gestorben. Er wurde 81 Jahre alt.
Wer Helmuth Becker kennengelernt hat, traf auf eine
außerordentliche Parlamentarierpersönlichkeit. Becker
gehörte als Abgeordneter der SPD ein Vierteljahrhundert
dem Deutschen Bundestag an, dessen Arbeit er von 1969
bis 1994 in wichtigen und herausgehobenen Ämtern mit-
geprägt hat. Im Innen- und Sportausschuss sowie im
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung hat er wichtige Akzente gesetzt. Insbesondere
als langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer sei-
ner Fraktion ist er im Gedächtnis vieler geblieben.
„Münsterländische Gemütsruhe“ wurde ihm nicht nur
von seiner Heimatpresse bescheinigt, und in der Tat
zeichnete ihn eine wohltuend ausgleichende Art aus, wo-
Rede
mit er – nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners –
seinen langjährigen Chef Herbert Wehner in der Frak-
tionsleitung eindrucksvoll ergänzte.
Von 1980 bis 1982 übernahm Helmuth Becker in der
Regierung Helmut Schmidt als Parlamentarischer Staats-
sekretär beim Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen auch Regierungsverantwortung – eine Auf-
gabe, die ihn zurück zu seinen beruflichen Anfängen
führte. Denn von 1951 bis zu seiner ersten Wahl in den
Bundestag 1969 war er als Elektroingenieur bei der Bun-
despost beschäftigt gewesen, wo er sich aktiv für die In-
teressen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte.
Besonders am Herzen lagen Helmuth Be
ziehungen zu unserem östlichen Nachba
Jahrzehnte setzte er sich in zahlreichen In
bei ungezählten Reisen für die Versöhnu
Deutschen und Polen ein, etwa in der Deutsch-Polni-
tzung
, den 26. Mai 2011
.30 Uhr
schen Gesellschaft und in der Deutsch-Polnischen Parla-
mentariergruppe – ein Engagement, für das er mit der
Ehrendoktorwürde der Universität Breslau ausgezeich-
net wurde.
Wir alle, die wir mit ihm zusammenarbeiten durften,
kannten Helmuth Becker als einen Meister des politi-
schen Pragmatismus. Er war über alle Parteigrenzen hin-
weg sehr geschätzt. Ein waches Gerechtigkeitsempfin-
den, verbunden mit der Fähigkeit zum Ausgleich und der
Bereitschaft zum Kompromiss, Zuverlässigkeit und
Hilfsbereitschaft zeichneten Helmuth Becker in beson-
derer Weise aus. Der Respekt und die Anerkennung, die
ihm zuteil wurden, kamen besonders 1990 zum Aus-
druck: Damals wählte ihn der erste gesamtdeutsche Bun-
destag nahezu einstimmig – mit 97 Prozent der abgege-
benen Stimmen – zu seinem Vizepräsidenten. Die Wahl
bedeutete die Krönung einer bemerkenswerten Parla-
mentarierkarriere.
Dem Hohen Haus blieb Helmuth Becker auch nach
seinem Ausscheiden aus dem Parlament eng verbunden,
nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung ehemaliger
Mitglieder des Deutschen Bundestages von 1995 bis in
das Jahr 2000.
Mit Helmuth Becker verlieren wir einen leidenschaft-
text
lichen Parlamentarier, der sich bleibende Verdienste um
den Deutschen Bundestag, den Parlamentarismus und
die Demokratie in unserem Land erworben hat. Wir wer-
den sein Andenken in Dankbarkeit und Ehren bewahren.
Ich danke Ihnen.
Bevor ich die Abgabe einer Regierungserklärung auf-
rufe, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen.
Der Kollege Ruprecht Polenz feiert heute seinen
65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des gan-
zen Hauses besonders herzlich.
(Beifall)
vergangenen Mittwoch begingen die Kol-
artina Bunge und der Kollege Karl
cker die Be-
rland. Über
itiativen und
ng zwischen
Bereits am
legin Dr. M
Schiewerling ihre 60. Geburtstage. Auch diesen beiden
12604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (C)
(D)(B)
Jubilaren übermittle ich auf diesem Wege noch einmal
alle guten Wünsche.
(Beifall)
Der Kollege Peter Friedrich hat am 23. Mai 2011 auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich-
tet. Für ihn ist der Kollege Stefan Rebmann nachge-
rückt. Für den am 25. Mai 2011ausgeschiedenen Kolle-
gen Alexander Bonde hat der Kollege Harald Ebner die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im
Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neuen Kolle-
gen herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit.
(Beifall)
Die CDU/CSU-Fraktion teilt mit, dass der Kollege
Ingo Wellenreuther aus dem Kuratorium der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausschei-
det. Als neues ordentliches Mitglied wird die Kollegin
Karin Maag vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kol-
legin gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchun-
gen zu möglichen antisemitischen und israel-
feindlichen Positionen und Verhaltensweisen
in der Partei DIE LINKE
(siehe 110. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 30
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum
Wintersemester 2011/12 jetzt starten
– Drucksache 17/5899 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transparenz bei Rückstellungen im Kernener-
giebereich schaffen
– Drucksache 17/5901 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schnelles Internet für alle – Flächendeckende
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
Impulse für eine dynamische Entwicklung set-
zen
– Drucksache 17/5902 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre-
men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
– Drucksache 17/5908 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
– Drucksache 17/5909 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver-
kehrspolitik in Deutschland und Europa nut-
zen
– Drucksache 17/5906 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg),
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12605
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (C)
(D)(B)
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß-
ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell-
schaftspolitisch nutzen
– Drucksache 17/5907 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und
die Folgen für Versicherte
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
– Drucksachen 17/4192, 17/5962 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Heinrich
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch
hierfür Ihr Einverständnis feststellen? – Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deau-
ville
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute und morgen wird im französischen Deauville der
G-8-Gipfel stattfinden. Wir treffen uns dort, während
uns gleichzeitig aus Nordafrika und Teilen der arabi-
schen Welt aufrüttelnde Bilder und Nachrichten errei-
chen. Die Region befindet sich im Umbruch. Politische
und gesellschaftliche Verkrustungen werden aufgebro-
chen. Wir werden Zeugen von Veränderungen in einer
Dimension, die wahrscheinlich auch nachfolgende Ge-
nerationen als Zeitenwende in der arabischen Welt be-
werten werden.
Auf den Straßen und Plätzen tunesischer und ägypti-
scher Städte nehmen Männer wie Frauen ihr Schicksal in
die eigene Hand. Die Menschen sind dabei, ihren Län-
dern und zunehmend der ganzen Region ein neues Ge-
sicht zu geben. In Tunesien und Ägypten haben die frü-
heren Regierungen das Vertrauen der Bevölkerung
verloren. In Libyen und in Syrien halten sich die Führun-
gen nur noch durch rohe Gewalt gegen die eigene Bevöl-
kerung an der Macht. In der ganzen Region ist der Wille
zur Veränderung spürbar.
Die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa
kämpfen für Freiheit, für Menschenrechte und für bes-
sere Lebensbedingungen. In solchen Zeiten – wir in Eu-
ropa wissen das seit 1989 durch eigene, wenn auch in
vielen Einzelheiten andersgeartete Veränderungen –
werden Partner gebraucht. Es ist deshalb eine historische
europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in
Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit
und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu
stehen. Daher wird Deutschland beim G-8-Gipfel seinen
Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen
Stabilisierung der Länder in dieser Region leisten. Wir
wollen helfen, dass sie sich der Mehrparteiendemokratie,
dem Pluralismus und der Marktwirtschaft zuwenden.
Daher setze ich mich dafür ein, dass die G 8 ihre Unter-
stützung mit der Einhaltung genau dieser Prinzipien ver-
bindet.
Wir wissen alle, dass ein Wandel dieser Dimension
nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist. Mit einem
einzigen vermeintlich großen Wurf heute alle Probleme
lösen zu wollen, ist weder realistisch, noch ist es hilf-
reich. Nein, angesichts der Größe der Herausforderung
werden wir Geduld aufbringen und uns auch auf Rück-
schläge in den Reformprozessen einstellen müssen.
Denn es ist an den Völkern selbst, ihren Reformweg in
eigener Verantwortung zu gestalten.
Aber das, was wir zur Unterstützung des Wandels zu
Freiheit und Selbstbestimmung leisten können, das kön-
nen und das werden wir leisten. Deshalb ist es richtig,
dass beim G-8-Gipfel nicht etwa nur über die Menschen
in den betroffenen Ländern gesprochen wird, sondern
auch mit ihnen. Ich freue mich darauf, dass in Deauville
die Premierminister von Tunesien und Ägypten an den
Beratungen teilnehmen werden. So gibt uns das die Ge-
legenheit zum Gespräch.
Ich möchte mich auch bei allen Kolleginnen und Kol-
legen aus dem Deutschen Bundestag herzlich bedanken,
die in diesen Tagen Kontakte suchen zu den betroffenen
Menschen, beispielhaft bei Volker Kauder, dem Vorsit-
zenden der CDU/CSU-Fraktion, der gerade am Wochen-
ende mit einigen Kollegen in Ägypten war und sich dort
ein Bild von der Lage gemacht hat. Herzlichen Dank da-
für! Wir brauchen diese persönlichen Kontakte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, in diesen beiden Staaten,
in Ägypten und Tunesien, hat der politische Umbruch
seinen Anfang genommen. Dort ist er mit ersten Refor-
12606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) (C)
(D)(B)
men und Entscheidungen für Wahlen am weitesten fort-
geschritten. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch
andere Staaten aus der Region auf unsere Unterstützung
zählen können, wenn sie sich für den Weg hin zu freien
Gesellschaften entscheiden.
Ich möchte dem Außenminister ganz herzlich danken,
der gerade in diesen Stunden im UN-Sicherheitsrat ge-
meinsam mit anderen an einer Resolution gegen die Ge-
walttaten in Syrien arbeitet. Syrien ist ein Riesenpro-
blemfall. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die
Gewalt dort ganz eindeutig zu verurteilen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland hat bereits im Rahmen der Transforma-
tionspartnerschaft ganz konkrete Angebote gemacht. Die
Bundesregierung wird aus bestehenden Mitteln noch in
diesem Jahr über 30 Millionen Euro speziell zur Unter-
stützung des demokratischen Wandels einsetzen. In den
nächsten Jahren sollen insgesamt 100 Millionen Euro
zusätzlich bereitgestellt werden.
Wir müssen dazu beitragen, dass die ersten politi-
schen Fortschritte nicht durch wirtschaftliche Instabilität
gefährdet werden. Denn die Arbeitslosigkeit und der
Mangel an Perspektive gerade junger Menschen sind in
diesen Ländern teilweise erschreckend hoch. Die Bevöl-
kerungszusammensetzung in diesen Ländern ist eine an-
dere als bei uns. Ein großer Teil der Menschen ist unter
25 Jahre alt. Diese jungen Menschen suchen Hoffnung
und wirtschaftliche Perspektiven.
Wir brauchen dabei das Rad nicht neu zu erfinden.
Uns stehen schon heute mit den internationalen Fi-
nanzinstitutionen und den multilateralen Entwicklungs-
banken alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung.
Mit den Spitzen von IWF und Weltbank werden wir in
Deauville darüber sprechen, wie wir ein bedeutendes
und wirkungsvolles Maßnahmepaket schnüren können.
Ansatzpunkte gibt es in Tunesien und Ägypten auch
für ein Engagement der Europäischen Bank für Wieder-
aufbau und Entwicklung; denn der Privatsektor ist in
beiden Ländern bereits relativ gut entwickelt. Die Bank
hat den Übergangsprozess in Osteuropa nach dem Fall
des Eisernen Vorhangs erfolgreich unterstützt und
könnte an diese Erfahrung anknüpfen und in der nord-
afrikanischen Region unterstützend tätig werden.
Zu den drängendsten Herausforderungen in Ägypten
und Tunesien zählen die Arbeitslosigkeit und die wenig
entwickelten Ausbildungsstrukturen. Die Arbeitslosig-
keit in Ägypten beträgt offiziell 9 Prozent, in Tunesien
sogar 14,4 Prozent. Deshalb setzen wir uns dafür ein,
dass die G 8 mit den Reformstaaten der Region eine so-
genannte Partnerschaft für Beschäftigung schließt. Diese
soll nach unserer Vorstellung aus Berufsbildung, be-
schäftigungsfördernden Maßnahmen und Investitionen
bestehen. Dabei ist mir wichtig, nicht nur die Regierun-
gen, sondern auch die Unternehmen und Gewerkschaf-
ten auf beiden Seiten einzubeziehen.
Wir wollen vor allen Dingen das Engagement der
Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft – das
muss gemeinsam geschehen – im Ausbildungsbereich
verstärken. Hierbei können wir auf frühere Initiativen
der deutschen Wirtschaft in der Region bauen. Deutsch-
land verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über
ein erfolgreiches und international anerkanntes Modell
der beruflichen Bildung. Wir streben daher gemeinsam
mit der deutschen Wirtschaft an – wir werden das natür-
lich mit unseren Partnern besprechen –, Ägypten bei der
Schaffung von 5 000 neuen Arbeitsplätzen zu unterstüt-
zen, die Ausbildungsstrukturen zu stärken mit dem Ziel,
dass in Ägypten jährlich bis zu 10 000 Jugendliche zu-
sätzlich ausgebildet werden können, Tunesien bei der
Qualifizierung und Vermittlung von arbeitslosen Akade-
mikern gezielt zu unterstützen und den Aufbau eines
wettbewerbsfähigen Sektors kleiner und mittlerer Unter-
nehmen durch Beratung und Finanzierung voranzubrin-
gen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dies wird uns möglich, indem wir Schuldenumwand-
lung in Höhe von 300 Millionen Euro auf vier Jahre ge-
streckt ins Auge fassen. Dann haben wir für die Pro-
gramme, die bei den Menschen ansetzen, Spielräume.
Ich glaube, genau das wird jetzt in der Region gebraucht:
konkrete Hilfe für Menschen, die eine Perspektive brau-
chen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dafür werden Bundesminister Niebel und auch der Bun-
desaußenminister gemeinsam mit der deutschen Wirt-
schaft die entsprechenden Gespräche in der Region füh-
ren. Wir werden dafür werben, dass diese Programme
schnell in Gang kommen; denn Zeit zählt in dieser Re-
gion.
Die Entwicklungen sind für alle eine historische
Chance, für die Menschen in Nordafrika und in der ara-
bischen Welt, aber auch für uns als Nachbarn dieser Re-
gion. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die
Chance, eine neue Partnerschaft für Demokratie und
wirtschaftliche Entwicklung zu begründen, nicht ver-
streichen darf.
Wir sehen, dass der politische Umbruch in Nordafrika
und im Nahen Osten die geopolitische Tektonik einer
ganzen Region in Bewegung bringt. Bewegung ist auch
für den Prozess zur Lösung des israelisch-palästinensi-
schen Konflikts erforderlich, und zwar eine Bewegung
in die richtige Richtung. Einseitige Maßnahmen, von
welcher Seite auch immer, führen dagegen in eine Sack-
gasse. Das gilt für eine Fortsetzung des Siedlungsbaus
Israels genauso wie für eine einseitige und unabge-
stimmte Ausrufung eines palästinensischen Staates. Ja,
man muss es so sagen: Der gegenwärtige Zustand ist
völlig unbefriedigend. Der Stillstand muss überwunden
werden. Auch wenn es noch so mühselig ist, auch wenn
es noch so viel Zeit und Geduld erfordert, am Ende führt
kein Weg daran vorbei, alles dafür zu tun, dass die Ver-
handlungen wieder aufgenommen werden.
Das Ziel sind zwei Staaten: ein jüdischer und demo-
kratischer Staat Israel und ein eigener Palästinenserstaat;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12607
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) (C)
(D)(B)
zwei Staaten, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite
leben. Dazu muss – das gilt auch für die jetzt zu bildende
neue Übergangsregierung in Ramallah – jede palästinen-
sische Regierung der Gewalt abschwören und das Exis-
tenzrecht Israels anerkennen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Deshalb unterstützen wir den Vorschlag Präsident
Obamas, ohne weiteren Zeitverlust die Friedensverhand-
lungen wieder aufzunehmen, und zwar zunächst über die
Schlüsselfragen Grenzen und Sicherheit. Mit der Rege-
lung der Grenzfragen kann das Problem des Siedlungs-
baus gelöst werden; dies ist ein wichtiges Anliegen der
Palästinenser. Mit der Regelung der Sicherheitsfragen
kann der Hauptsorge Israels begegnet werden. Wir kön-
nen also das, worum es geht, in einem Satz zusammen-
fassen – er ist auch schon von anderen gesagt worden –:
Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt, insbe-
sondere den Palästinensern, das ist der beste Schutz Is-
raels.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die internationale Gemeinschaft – ich sage das aus-
drücklich auch für Deutschland – ist bereit, alles in ihren
Möglichkeiten Stehende zu tun, um Israel und den Paläs-
tinensern auf dem Weg zur Lösung ihres Konflikts zu
helfen. Dazu müssen aber die Verhandlungen beginnen
und der gegenwärtige Stillstand überwunden werden.
Meine Damen und Herren, dass Nordafrika und der
Nahe Osten derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerk-
samkeit stehen, ist richtig und nachvollziehbar. Das darf
aber nicht dazu führen, dass die G 8 ihr besonderes En-
gagement für Subsahara-Afrika aus den Augen verliert.
Es ist daher wichtig, dass wir uns in Deauville mit afri-
kanischen Staats- und Regierungschefs treffen, um über
zukünftige Entwicklungen in Afrika zu sprechen. Ich
halte die Partnerschaft mit Afrika für unerlässlich, um
die Beteiligung und Verantwortung der afrikanischen
Staaten im Hinblick auf die zahlreichen Krisen in Afrika
zu stärken.
Die Entwicklungspolitik gehört zu den zentralen The-
men der G 8. Als bedeutendster Impulsgeber und durch
wichtige finanzielle Unterstützung hat die G 8 ihren Bei-
trag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Dyna-
mik geleistet. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden von
den weltweiten Entwicklungshilfeleistungen, den ODA-
Leistungen, in Höhe von knapp 130 Milliarden US-Dol-
lar allein durch die G 8 über 89 Milliarden US-Dollar
aufgebracht. Ich werde mich in Deauville dafür einset-
zen, dass die G 8 weiterhin eine treibende Kraft bei der
Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bleibt.
Das Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich jedoch
grundlegend verändert, nicht nur in den Empfängerlän-
dern, sondern auch in der internationalen Geberland-
schaft. Dem müssen wir Rechnung tragen, und dem
trägt die Bundesregierung Rechnung. Deshalb ist es
wichtig – das macht Minister Niebel ganz eindrucksvoll –,
(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit – –
(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Es ist aber gut, dass Sie Humor
haben, Frau Bundeskanzlerin!)
– Ja, gut; es ist Ihnen unbenommen. Schauen Sie sich
einmal die organisatorischen Neuordnungen an. Ich
glaube, dass die Effizienz der Entwicklungshilfe in den
vergangenen Monaten wirklich entschieden besser ge-
worden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Trittin, das findet übrigens auch international sehr
viel Anerkennung. Ich meine zum Beispiel die Umstruk-
turierung der GTZ, all das, was dort in Gang gebracht
wurde.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Da müssen Sie mal genauer hinsehen!)
Ich nenne gerne die fünf Leitprinzipien:
Erstens. Wir brauchen einen neuen Schwerpunkt der
Förderung von Entwicklung, statt bloß Hilfe zu leisten.
In der Vergangenheit haben wir uns oft zu sehr auf die
Weiterentwicklung allein des Instrumentariums der Ent-
wicklungshilfe konzentriert und anderen Rahmenbedin-
gungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt.
Zweitens. Die Entwicklung in Nordafrika zeigt uns,
dass eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Ent-
wicklung ohne Einhaltung der Menschenrechte und ohne
politische Beteiligung nicht möglich sein wird. Die Ein-
haltung der Menschenrechte ist deshalb eine unerlässli-
che Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Drittens. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung der
Regierungen der Entwicklungsländer. Dazu gehört für
mich ausdrücklich auch die Mobilisierung eigener Ein-
nahmen. Die Geber wiederum müssen ihrerseits bereit
sein, mehr Raum für nationale Politiken und Programme
zuzulassen und die nationalen Institutionen zu stärken;
das ist ganz wichtig. Wenn man sich die Eigeneinnahme-
quoten, die einige Entwicklungsländer zu verzeichnen
haben, anschaut, muss man feststellen: Das ist absolut
nicht befriedigend. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe
sein, auch was die Tragfähigkeit staatlicher Institutionen
in diesen Ländern anbelangt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Viertens. In der Vergangenheit haben wir viel zu sehr
ausschließlich darüber geredet, wie viel Geld wir für
Entwicklung zur Verfügung stellen, und dabei den Blick
auf die Ergebnisse manchmal vernachlässigt.
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja, leider!)
Genau sie müssen aber im Mittelpunkt stehen. Denn für
die Menschen zählen nur die Ergebnisse des Handelns.
Die Finanzierung muss stärker mit den Ergebnissen ver-
12608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A)
(D)(B)
knüpft werden. Gleichzeitig wird so ein zusätzlicher An-
reiz geschaffen, klare Ziele und Ergebnisse zu formulie-
ren und sie tatsächlich zu erreichen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Fünftens. Wirtschaftliches Wachstum ist die Grund-
lage jedes Entwicklungsprozesses; dies hat die G 20 in
Korea ausdrücklich anerkannt. Genau dieses Verständnis
müssen wir stärken.
Meine Damen und Herren, Deauville bietet mir auch
die Gelegenheit, meinen japanischen Kollegen, den Mi-
nisterpräsidenten Kan, zu treffen. Naoto Kan wird uns
zum ersten Mal persönlich die Situation in Japan nach
dem verheerenden Erdbeben, dem furchtbaren Tsunami
und der unfassbaren Nuklearkatastrophe schildern. Die
nukleare Bedrohung durch die Schäden am Kernkraft-
werk Fukushima hält unvermindert an. Die Kette
schlechter und besorgniserregender Nachrichten reißt
nicht ab. Vom ersten Moment an haben wir gespürt: Die
Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima, in einem
Hochtechnologieland, stellen einen Einschnitt von glo-
baler Tragweite dar.
In Deutschland haben wir vor diesem Hintergrund be-
schlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für drei
Monate vom Netz zu nehmen und in dieser Zeit eine Si-
cherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke
vorzunehmen. Die ersten Ergebnisse der Reaktor-Sicher-
heitskommission liegen Ihnen vor. Die Ethikkommission
wird mir am 30. Mai 2011 ihren Bericht übergeben. We-
nige Tage später werden wir die notwendigen Entschei-
dungen in der Bundesregierung, im Deutschen Bundes-
tag und Anfang Juli schließlich im Bundesrat treffen.
Ich möchte hier nicht auf die derzeit laufenden Bera-
tungen eingehen. Wohl aber müssen wir im Auge behal-
ten, dass die Sicherheit der Nutzung der Kernenergie
nicht allein mit nationalen Entscheidungen sicherzustel-
len ist. Wir brauchen eine Überprüfung der Sicherheits-
standards auch auf internationaler Ebene.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dazu besteht in der G 8 trotz aller Unterschiede bei der
Bewertung der Kernenergie ein breiter Konsens. Die G 8
muss deshalb eine führende Rolle bei der Verbesserung
der nuklearen Sicherheit einnehmen. Gerade darüber
werden wir heute und morgen beraten.
Dabei geht es um eine kritische Überprüfung beste-
hender und in Planung befindlicher kerntechnischer An-
lagen. Auf europäische Initiative hin soll auch auf inter-
nationaler Ebene ein sogenannter Stresstest für
kerntechnische Anlagen durchgeführt werden. Ich setze
mich im Kreis der G 8 dafür ein, bei den Sicherheits-
überprüfungen höchste Standards zugrunde zu legen.
Gleichzeitig entwickeln wir die erneuerbaren Ener-
gien zu einer tragenden Säule unserer Energieversor-
gung. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Ener-
gien beschleunigt erreichen. Damit leisten wir auch
einen Beitrag dazu, die beschlossenen ehrgeizigen Kli-
maziele umzusetzen. Alle Industrieländer haben sich auf
der Klimakonferenz in Cancún im letzten Jahr verpflich-
tet, Strategien für das sogenannte Low Carbon Develop-
ment umzusetzen. Die Entwicklungsländer werden dazu
ermutigt. Wir gehen voran, damit andere unserem Bei-
spiel folgen.
Die in Cancún beschlossene Vereinbarung gibt den
Klimaverhandlungen neue Dynamik. Sie legt das Funda-
ment für ein neues Klimaabkommen, wenngleich der
Weg dahin noch weit ist. Genauso klar ist aber auch: Um
das jetzt beschlossene 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen
wir weit konsequenter handeln, als das bis jetzt verein-
bart wurde.
Auf dem Weg zur nächsten Konferenz in Durban in
Südafrika sind noch viele schwierige Fragen zu beant-
worten. Der südafrikanische Staatspräsident Zuma wird
beim G-8-Gipfel über den Stand der Verhandlungen be-
richten. Es ist klar: Deutschland ist und bleibt Vorreiter
in der Klimapolitik. Wir halten an unserem Ziel fest, ein
neues, umfassendes UN-Klimaabkommen zu verab-
schieden. Das war schon ein wichtiges Anliegen unserer
G-8-Präsidentschaft in Heiligendamm. Man muss sagen:
Der Fortschritt ist hier an manchen Stellen wirklich eine
Schnecke; aber es gibt nur die Möglichkeit, auf diesem
Weg weiterzugehen.
Meine Damen und Herren, wir werden in Deauville
auch über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft beraten.
Der G-8-Gipfel ist ja von Anfang immer ein Weltwirt-
schaftsgipfel gewesen. Er ist dies auch unter französi-
scher Präsidentschaft. Die französische Präsidentschaft
hat das Thema „Internet – Chancen und Risiken“ zu ei-
nem Schwerpunktthema gemacht. Sie hat dazu einen
großen Vorgipfel durchgeführt, dessen Ergebnisse uns
auf dem G-8-Gipfel präsentiert werden. Auf der einen
Seite sehen wir die riesigen Chancen des Internets, ge-
rade wenn es um Demokratie, Transparenz und Informa-
tionsfreiheit geht. Auf der anderen Seite ist der Schutz
von Eigentum, auch von geistigem Eigentum, und per-
sönlichen Rechten natürlich ein Problem.
Die Weltwirtschaft insgesamt steht besser da, als wir
das noch vor einiger Zeit erwarten konnten. Der Auf-
schwung festigt sich, und Deutschland leistet dazu einen
spürbaren Beitrag. Das heißt, wir können sagen: Mit all
dem, was wir politisch unternommen haben, haben wir
einen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaftskrise
schnell zu überwinden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unsere Wirtschaft wächst 2011 um mindestens
2,6 Prozent; die Zahlen gehen eigentlich nach oben. Die
Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt auf un-
ter 3 Millionen sinken. Was ganz interessant ist und was
ich besonders den internationalen Partnern sagen werde:
Nachdem unser Aufschwung anfänglich sehr stark ex-
portgetrieben war, können wir heute feststellen, dass
zwei Drittel des gesamten Wachstums durch eine wach-
sende Binnennachfrage zustande kommen. Das ist auch
an die Weltwirtschaft eine wichtige Mitteilung.
Wir haben aber natürlich von offenen Märkten und
von unserer Exportkraft profitiert. Es gehört zu den un-
gelösten Problemen, dass wir bei der Doha-Runde der
WTO bis jetzt nicht weitergekommen sind. Wir werden
(C)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12609
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) (C)
(D)(B)
das wieder besprechen. Ich kann nur sagen: Deutschland
wird sich mit aller Kraft dafür einsetzen, gemeinsam ins-
besondere mit Großbritannien, dass diese Doha-Runde
zum Ende gebracht wird. Freier Welthandel ist der beste
Marktmotor und Wachstumsmotor, den wir uns vorstel-
len können. Das ist unsere Überzeugung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir werden auch über Konsolidierungsstrategien
sprechen. Deutschland hat mit der Schuldenbremse den
richtigen Weg eingeschlagen; denn nachhaltiges Wachs-
tum ohne solide Staatsfinanzen ist nicht möglich. Des-
halb werden wir auch dies noch einmal deutlich machen.
Meine Damen und Herren, die Verantwortung für die
nationale Wirtschaftspolitik trägt jeder von uns allein.
Aber die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns sind
weltweit spürbar, nicht nur für uns jetzt, sondern auch
für kommende Generationen. Das müssen wir stets im
Blick haben, und das muss auch der Geist der Diskussio-
nen in Deauville sein.
In der G 8, aber genauso auch in der G 20 müssen wir
alles daransetzen, gemeinsame Lösungen für die anste-
henden Probleme und Krisen zu suchen. Dafür bitte ich
um Ihre Unterstützung, und dafür werde ich bei den Dis-
kussionen in den nächsten beiden Tagen werben.
Herzlichen Dank.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache.
Erster Redner ist der Kollege Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen,
heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Par-
lament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Re-
chenschaftsbericht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie,
aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der ara-
bische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht,
dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf
Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA.
Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des
größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen ha-
ben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet
mehr von uns.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen ha-
ben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapoli-
tischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten
von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch
keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deau-
ville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem
französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den
Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute
die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag
in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch,
meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Poli-
tik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientie-
rungslosigkeit in Europa geworden.
Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch
nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, res-
pektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die
Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Ba-
lance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer
Nation geworden, die an die europäische Peripherie ge-
raten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen
nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an
unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und
Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei.
Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin.
Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein
ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis
zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Re-
spekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht
nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung.
Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch
dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir
unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es
Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in ir-
gendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben ha-
ben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie
wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und
Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gip-
fel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen
Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unter-
stützen, beitragen, begrüßen – das waren die meistge-
brauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber
genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in al-
len Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat,
dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren
wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu
12610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (C)
(D)(B)
den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es
sehr verwundern
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da haben Sie al-
len Grund, auf Amerika einzugehen!)
– passen Sie auf! –, wenn in den letzten Tagen die
Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und
Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzwei-
felte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen
Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem
Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass
es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen
die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab
heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann
aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die
deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr
Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst
zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war
das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethar-
gisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen
dämmern dahin. Das ist der traurige Befund.
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
CSU]: Das wird der Vorwärts geschrieben ha-
ben, aber keine seriöse Zeitung! – Gegenruf
des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]: Nichts gegen
den Vorwärts! Der ist älter als Ihre Partei!)
Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen
wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße aus-
drücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen
in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich
noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im
Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin,
hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Moder-
nisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu
bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer
treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Rou-
tine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden
Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie
weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch
wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visa-
thema – das steht im Grunde genommen jeder Entwick-
lung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Berei-
chen entgegen – mit einer gemeinsamen Initiative aus
dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden
zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen
zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die
gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den
Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist
der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann
ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutsch-
land sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein
amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedens-
lösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen.
Da kämpft Herr Obama – Sie haben das in den letzten
Tagen gesehen – mit der Autorität seines ganzen Amtes,
und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich
mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikani-
schen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initia-
tive Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt
eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel,
kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstim-
mung über ein unabhängiges Palästina in der General-
versammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es
noch nicht gewesen sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich:
Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja an-
kündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht
weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb
ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen
Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejeni-
gen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das
falsch, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Os-
ten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng
zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene
diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika er-
leben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in
der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das
passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den
südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engs-
ten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist
außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu
geben – Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von all-
gemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für
Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsi-
dent die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschrei-
ben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das
zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner
Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas
Aufgabe gewesen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief hal-
ten, man kann den Namen für falsch halten, aber natür-
lich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Quali-
tät eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der
Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der
Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort
den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere
Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die
Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demo-
kratie braucht Demokraten – das weiß aufgrund seiner
Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen
wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft
haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber
es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort
bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokra-
tie dort weiter beschritten wird.
(Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12611
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (C)
(D)(B)
Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in
den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das
beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Ant-
wort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartner-
schaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der
Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung
über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungs-
strukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das
betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht
werden, aber auch – auch das darf nicht tabuisiert wer-
den – die Öffnung der europäischen Märkte für Waren
und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen An-
kündigungen war davon nichts zu hören, und das ist ein-
deutig zu wenig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer
Gelegenheit reden. Reden müssen wir – zum Beispiel
darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten
in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um
das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten
im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wi-
der besseres Wissens schürt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi-
derspruch bei der CDU/CSU)
Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz
anderer Aspekt eine Rolle.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aus-
verkauf deutscher Interessen!)
– Das ist ein bisschen Ihr Problem.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Ihres!)
– Ich glaube nicht.
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Deswegen
sind Sie jetzt auch still!)
– Warten Sie es ab.
Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein
Land in der Außenpolitik erarbeitet – hören Sie bitte zu –,
hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das
ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann
zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Per-
sonal in internationalen oder europäischen Institutionen
gefragt ist.
(Beifall bei der SPD)
In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit
dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf
den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade
erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie
jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefge-
hen würde, und präsentieren damit wir als größte Volks-
wirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den
IWF-Posten.
(Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, wir sollen
nicht nationalistisch vorgehen!)
Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Lan-
des sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was
wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwar-
ten.
(Beifall bei der SPD)
Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Au-
genblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der
Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick
tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; da-
rauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum
letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und
die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten
Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Ener-
giewende.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das
ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie
jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein
durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit
in diesem Land nicht durchgehen lassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaub-
würdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie
abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Vol-
ten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen,
über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer
wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der
Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich
doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von
Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rah-
men der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass
man dann eine glaubwürdige Initiative im internationa-
len Rahmen von G 8 startet. Wir werden – das weiß auch
ich, das wissen auch wir – nicht den Rest der Welt von
heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir
auf Atomkraft verzichten – trotz Fukushima. Aber was
ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage
und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche
Initiative – hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert –
zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraft-
werken weltweit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen
Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu we-
nig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erich G.
Fritz [CDU/CSU]: Sehr billig!)
Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen
erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außen-
politik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das ge-
nau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit
Sorge.
Herzlichen Dank.
12612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (C)
(D)(B)
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:
Mannomann!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die FDP-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege
Rainer Brüderle.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Steinmeier, Sie haben heftig die Regierung kriti-
siert. Aber was Sie und die SPD anders machen wollen,
haben Sie nicht gesagt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Gustav Herzog [SPD]: Sie haben nicht zuge-
hört!)
Ihre größte außenpolitische Anstrengung derzeit scheint
zu sein, Ihren Konkurrenten als Kanzlerkandidaten,
Herrn Steinbrück, wegzuloben,
(Heiterkeit bei der FDP – Dr. Frank-Walter
Steinmeier [SPD]: Wohin?)
und nicht, konkrete Wege aufzuzeigen, wie anders ge-
handelt werden kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, der G-8-Gipfel in Deau-
ville steht im Zeichen des Kampfes für die Freiheit. Die
G 8 muss sich als Wertegemeinschaft, als moralische
Autorität verstehen. Die Kraft der Freiheit bricht sich im
Norden Afrikas und im Nahen Osten Bahn. Menschen
riskieren Leib und Leben für Freiheit und Selbstbestim-
mung. Wir müssen diese Freiheitsbewegung mit aller
Kraft unterstützen.
Deshalb ist es richtig, den alten Machthabern ihre
Grundlagen zu entziehen. Die EU hat zu Recht ein Ein-
reiseverbot und Vermögenssperren über den syrischen
Präsidenten verhängt. Die EU hat zu Recht starke Zei-
chen gesetzt und in Bengasi ein Verbindungsbüro eröff-
net, wie es Außenminister Westerwelle auch für
Deutschland getan hat. Die EU verschärft zu Recht die
Sanktionen gegen den Iran und andere Unrechtsregime.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Staatsterrorismus
Freiheiten mit Füßen tritt. Wer brutal seine eigene Be-
völkerung in Geiselhaft nimmt, muss mit harten Maß-
nahmen rechnen. Da muss Deutschland stehen, da muss
Europa stehen, da muss die G 8 stehen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
In Tunesien und Ägypten können die Menschen die
Kraft der Freiheit schon stärker spüren. Freiheit ohne
Marktwirtschaft ist nicht denkbar. Wir müssen und kön-
nen helfen, die dortigen Kommandowirtschaftsstruktu-
ren auf Marktwirtschaft umzustellen. Wenn wir dies
nicht schaffen, gibt es eine Abstimmung mit den Füßen.
Eine ungesteuerte Migration ist nicht im Interesse der
Europäischen Union. Wir müssen rasch Angebote für
partnerschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg brin-
gen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium und das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getan
haben.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent-
wicklung ist ein gutes Instrument. Sie hat beim Fall des
Eisernen Vorhangs und bei der Osterweiterung geholfen;
sie kann jetzt in Nordafrika helfen. Deutschland und die
osteuropäischen Mitgliedstaaten haben besondere Erfah-
rungen mit Transformationsprozessen. Wir sollten des-
halb das Wissen früherer Manager und vielleicht auch
pensionierter und aktiver Beamter mit einbringen und
Projektteams bilden, die diesen Prozess vor Ort konkret
unterstützen können, und zwar im Interesse dieser Län-
der, aber auch im Interesse von Deutschland und Europa.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das Leitprojekt Desertec, das nicht nur eine Zusammen-
arbeit im Energiesektor darstellt und eine Brücke zu un-
seren Nachbarn in Nordafrika schlagen kann, ist ein Zei-
chen, dass wir es mit der Hilfe ernst meinen, zu
Marktstrukturen, zu Entwicklungsprozessen und zu
Chancen der Freiheit vor Ort zu kommen.
Freiheitsbewegungen brauchen eine Ergänzung durch
freien Handel. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht auf den
Doha-Prozess, auf die Welthandelsrunde, hingewiesen.
Da müssen einige Gipfelteilnehmer auch in Kauf neh-
men, dass es im Agrarsektor und in der Textilindustrie
vielleicht Probleme gibt, und sich dazu durchringen,
dass die Welthandelsrunde noch ein Erfolg wird. Markt-
zugang und Verbesserung des Welthandels sind eine
Chance, Armut zu bekämpfen. Freiheitsbewegungen
brauchen Ergänzung durch freien Handel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die G 8 sollte den Generalsekretär der WTO, der Welt-
handelsorganisation, beauftragen, ein Kompromisspa-
pier zu erarbeiten. Das ist die einzige Chance, den Pro-
zess noch zu retten. So hat man es auch bei der Uruguay-
Runde mit Erfolg gemacht.
Inzwischen ist das Kraftzentrum der Weltwirtschaft
die G 20; die G 8 ist das nicht mehr wie in der Vergan-
genheit. Zur G 20 gehören China, Indien und Brasilien.
Damit die G 8 nicht eines Tages zu einem Veteranentref-
fen wird, muss Europa wieder mehr Power entfalten und
mehr Kraft einbringen. Nicht Europa aufzuhübschen,
sondern es aufzufrischen, ist die Aufgabe. Deshalb müs-
sen wir uns für den gemeinsamen Markt, offene Grenzen
und eine starke Währung in Europa einsetzen, auch
wenn wir nicht für jede Maßnahme, die notwendig ist,
sofort den Beifall aller Nachbarn bekommen. Es gilt
jetzt, das Richtige zu tun, damit Europa den richtigen
Weg geht, wieder stärker wird und mehr Gewicht ein-
bringen kann. Es geht nicht darum, kurzfristig den Bei-
fall von einigen zu bekommen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12613
Rainer Brüderle
(A) (C)
(D)(B)
Das Aussetzen des Schengener Abkommens wäre ein
Zeichen der Schwäche, kein Zeichen der Stärke. Europa
muss zu seinen Werten stehen und sie verteidigen; Eu-
ropa darf nicht zur Festung werden. Offene Grenzen und
freier Verkehr sichern die Zukunftsfähigkeit Europas.
Ein starkes Europa ist deutsche Staatsräson, und auch
die Stabilität der Währung, des Euros, ist deutsche
Staatsräson. Die Menschen in Deutschland haben zwei-
mal Währungsschnitte erleben müssen. Deshalb sitzt das
Empfinden um Geldwertstabilität quasi im Gencode un-
seres Landes. Diese Stabilität ist ein tiefes Anliegen der
Menschen, und sie ist auch notwendig, damit Europa
sich richtig entwickeln kann.
In der Marktwirtschaft steuert man Produktion und
Entscheidungsprozesse über die Knappheitsgrade, die in
Preisen widergespiegelt werden. Wenn die Preise nicht
stimmig sind, steuern wir falsch. Deshalb ist der deut-
sche Kampf um einen richtigen Rahmen beim ESM, bei
der Entwicklung des Euros so entscheidend, auch wenn
dies nicht sofort – ich wiederhole es – Beifall von jedem
bringt.
Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Stabiler
Geldwert ist für die Gerechtigkeit notwendig; Inflation
ist eine soziale Ungerechtigkeit. Deshalb muss Deutsch-
land diesen klaren Kurs des ESM beibehalten. Der euro-
päische Stabilitätsmechanismus darf kein neokeynesia-
nischer Weichmacher werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich erinnere an Folgendes: Es war Gerhard Schröder,
der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet
hat. Das möchte ich all denen ins Stammbuch schreiben,
die uns Europopulismus vorwerfen. Herr Schröder hat in
seiner Regierungszeit versucht, zu erreichen, dass sich
seine Prophezeiung erfüllt. Es war Rot-Grün, das die
Aufweichung der Maastricht-Kriterien möglich gemacht
hat, und es war Rot-Grün, das Griechenland in die Euro-
Zone aufgenommen hat. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die griechischen Berechnungen zur Erfüllung der
Maastricht-Kriterien beruhten nicht auf Pythagoras, son-
dern eher auf Alexis Sorbas.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
Rot-grüne Währungspolitik fasst man am besten folgen-
dermaßen zusammen: Note in Sparen: 4 bis 5; Note in
Statistik: 5 bis 6. Schwarz-Gelb macht das anders.
(Zuruf von der SPD: Oberlehrer!)
– Oberlehrer? Sie wollen doch dem deutschen Wesen
Geltung verschaffen; das haben wir doch gerade gehört.
Alle Welt soll sich nach deutschen Kriterien entwickeln
– das hat Herr Steinmeier doch vorgetragen –, sei es in
der Energiepolitik oder in der Wirtschaftspolitik. All das
soll von Deutschland bestimmt werden. Er ist der deut-
sche Oberlehrer, der lehrt, dass am deutschen Wesen die
Welt genesen soll.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sie haben
nicht zugehört!)
Schwarz-Gelb macht das anders. Für uns ist Deutsch-
land der Währungshüter in der Europäischen Union.
Hinsichtlich Griechenlands ist mittlerweile von der sanf-
ten Umschuldung die Rede. Die griechischen Wirt-
schaftszahlen sprechen für sich. Da braucht man nicht
Pythagoras; da genügt Adam Riese.
Der Bundesfinanzminister hat Bedingungen für eine
sanfte Umschuldung genannt, etwa die Beteiligung pri-
vater Gläubiger. Ich sage: Der Bundesfinanzminister hat
die FDP-Fraktion an seiner Seite, wenn er eine sanfte
Umschuldung hart, aber fair umsetzt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, Deauville kann und muss
das Signal der Freiheit sein. Man kann sie nicht unter-
drücken. Man kann sie verzögern, aber nicht verhindern.
Wir haben in unserer Nachbarschaft, im Nahen Osten, in
der arabischen Welt, eine Entwicklung, von der wir vor
kurzem nicht zu träumen gewagt hätten. Deshalb gilt es
jetzt, Farbe zu bekennen, Partnerschaft auszuüben, mit
dabei zu sein, klare Positionen zu beziehen, im Dialog
die Möglichkeiten zu schaffen, damit die Wünsche und
Vorstellungen Realität werden. Dazu muss man aber
auch den Mut haben, in Europa selbst Fesseln abzulegen,
indem man hier die Behinderungen der europäischen
Entwicklung beseitigt, indem man auf das Beispiel setzt,
dass eine Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische
Union ist, erfolgreich wirtschaftliche Kraft entfalten
kann und dass unser Weg, unser Modell in Europa über-
zeugend ist. Die Entwicklungen in Nordafrika und ande-
ren Regionen der Welt, diese Freiheitsbewegungen, wä-
ren ohne das Beispiel des europäischen und auch des
deutschen Weges, mit Freiheit Kraft zu entfalten und da-
durch Arbeit und Zukunft zu schaffen, nicht auf den Weg
gekommen. Wir haben mit unserem Beispiel die Kraft
der Freiheit freigesetzt. Deshalb sind wir aus Überzeu-
gung dabei, dies in die Realität umzusetzen.
Herr Kollege Steinmeier, dabei sollten alle mitma-
chen. Das ist ein Thema, das sich nicht für Parteitags-
oder Wahlkampfreden eignet, sondern hier muss das Par-
lament solidarisch hinter der Kanzlerin stehen. Sie hat
einen klaren Weg aufgezeigt. Die Regierungsfraktionen
unterstützen sie dabei. Ich bin sicher, sie wird auch mit
guten Ergebnissen aus Deauville zurückkommen.
Deauville bietet die Chance, dass wir in der Technologie,
in der Freiheitsbewegung, in der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit vorankommen.
Ohne Armutsbekämpfung wird die Freiheitsbewe-
gung auf Dauer keinen Erfolg haben. Deshalb ist es not-
wendig, das Richtige zu tun. Man kann nicht für jede
Maßnahme jeden Tag Beifall bekommen. Entscheidend
ist, dass am Schluss eines Entscheidungsprozesses das
richtige Ergebnis steht, dass wir die richtige Einstellung
haben, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen, dass
wir für die richtigen Werte kämpfen und arbeiten. Nicht
kurzfristiger Beifall, sondern klarer Kurs ist das, was wir
12614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Rainer Brüderle
(A) (C)
(D)(B)
in Europa, was wir in der Welt brauchen. Dafür steht
diese Regierung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das hat sich bei der hervorragenden Wirtschaftsent-
wicklung Deutschlands gezeigt. Das ist der Markenkern
der schwarz-gelben Regierung.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Ja, die ganze Welt beneidet uns um diese wirtschaftli-
che Entwicklung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi-
derspruch bei der SPD)
Die Einzigen, die lachen, sind die, die nicht ertragen
können, dass eine deutsche Regierung erfolgreich ist.
Das sind Sie!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
rufe von der SPD)
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, erinnere ich noch
einmal an den Überbau der Regierungspolitik der
schwarz-gelben Koalition: Kurs halten, durchsetzen,
nicht irritieren lassen. Das setzt sich durch. Klare Orien-
tierung bringt Erfolg.
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wie bei
der Kernenergie! – Weiterer Zuruf von der
SPD: Mit dem Kopf durch die Wand!)
– Ach, die SPD hat ja so viele Probleme. Schreien Sie
mal nicht so laut. Sie sind ja froh, wenn Sie noch Junior-
partner der Grünen sind.
(Zurufe von der SPD und der LINKEN)
Also: Kopf hoch! Wir halten weiter Kurs. Freuen Sie
sich, dass Sie in Deutschland dabei sein dürfen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, ich habe Ihnen wie immer gerne zugehört.
Zum Inhalt sage ich besser nichts. Ich habe aber eines
festgestellt: Nur in unserer Altersgruppe kommt wirklich
Leidenschaft hoch.
(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)
Das war deshalb so angenehm, weil Ihre Rede, Frau
Bundeskanzlerin, völlig leidenschaftslos war. Das hing
übrigens auch mit dem Inhalt zusammen.
Das Problem beim G-8-Gipfel besteht ja schon darin,
dass Sie dort wesentliche Entscheidungen für die ganze
Erde treffen wollen. Ich frage mich immer: Mit welcher
Legitimation?
(Beifall bei der LINKEN)
Wer hat eigentlich acht Regierungschefs und Präsidenten
berufen, Entscheidungen für die ganze Erde zu treffen?
Sie lassen die Schwellen- und Entwicklungsländer aus.
Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen?
Mit der Lage der Weltwirtschaft und mit den demokrati-
schen Bewegungen in Tunesien, in Libyen, in Ägypten,
in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Letzteres ist wirk-
lich ein in jeder Hinsicht interessantes, aufwühlendes
und spannendes Thema. Ich sage hier im Namen der
Linken, dass wir all den demokratischen Bewegungen in
diesen Ländern größte Sympathie und unsere Solidarität
entgegenbringen.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ent-
schieden, in Libyen Krieg zu führen. Die NATO-Staaten
tun das. Diese Regierung hat vernünftigerweise dafür
gesorgt, dass sich Deutschland der Stimme enthalten hat.
Ich hätte mir gewünscht, dass sie sogar mit Nein ge-
stimmt hätte. Aber immerhin, sie hat sich der Stimme
enthalten und damit nicht Ja gesagt und nimmt an die-
sem Krieg auch nicht teil.
Ich habe festgestellt, dass jetzt zwei Länder ständig
den Krieg kritisieren, nämlich China und Russland, die
aber vergessen, zu erwähnen, dass sie Vetomächte sind.
Wenn sie es nicht gewollt hätten, wäre der Beschluss des
Sicherheitsrates überhaupt nicht zustande gekommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt erleben wir, dass schwerste Luftangriffe geflo-
gen werden. Dabei werden auch unschuldige Menschen
getötet. Die Kriegslogik dominiert. Der Krieg wird im-
mer härter. Von Anfang an haben wir bei diesem Krieg
wie auch bei den anderen Kriegen gesagt: Krieg löst
keine Probleme; er schafft nur neue Probleme. Das wird
jetzt täglich in Libyen bewiesen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen: Die
Grünen und die SPD hätten für den Krieg gestimmt.
Cem Özdemir hat mir bei Hart aber fair ganz klar ge-
sagt, er hätte im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt.
Die fünf großen Friedensforschungsinstitute in
Deutschland haben jetzt ein Friedensgutachten 2011 vor-
gelegt. Darin sagen sie: Es gibt eine unkalkulierbare Es-
kalation des Krieges. Sie fordern sofortige Verhandlun-
gen ohne Vorbedingungen, um die Gewalt zu beenden.
Ich habe eine weitere Frage. Die Regierung in Libyen
hat viele unschuldige Demonstranten erschossen. Aber
das macht doch auch die Regierung in Syrien, das macht
auch die Regierung im Jemen, und das macht auch die
Regierung in Bahrain. Warum kommen Sie eigentlich
nur bei Libyen auf die Idee, Bomben zu werfen, aber bei
den anderen Ländern nicht? Wenn Bomben den Demon-
stranten angeblich helfen – das bezweifle ich energisch;
aber das scheint Ihre Auffassung zu sein; Cem Özdemir
hat klar gesagt, er sei für diesen Krieg gewesen –, warum
gilt das dann nicht für die anderen Länder?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12615
Dr. Gregor Gysi
(A) (C)
(D)(B)
Hier kommen mir doch üble Gedanken, und zwar der-
gestalt, dass Libyen viel Öl hat. Syrien und Jemen haben
kein Öl. In Bahrain liegt ein strategisch wichtiger Mili-
tärstützpunkt der USA. Daraus erklärt sich die unter-
schiedliche Herangehensweise. Das ist höchst unglaub-
würdig. Krieg darf nie das Mittel unserer Politik werden.
(Beifall bei der LINKEN)
In Bahrain sind saudi-arabische Truppen einmar-
schiert und schießen dort auf Demonstranten. Ich habe in
diesem Zusammenhang eine Frage ans Fernsehen. Ich
sehe Bilder aus dem Jemen, ich sehe Bilder aus Syrien,
und ich sehe viele Bilder aus Libyen, aber nie Bilder aus
Bahrain. Warum eigentlich sollen unsere Fernsehzu-
schauerinnen und -zuschauer nicht sehen und erfahren,
was dort passiert?
Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine andere Politik auch
in Bezug auf Nordafrika und in Bezug auf die arabische
Welt. Die Unterstellung, die es früher immer gab, arabi-
sche Völker wollten keine Demokratie, ist jetzt wider-
legt. Überall gibt es starke demokratische Bewegungen,
die wir unterstützen müssen. Ich sage noch etwas: Wer
endlich Frieden im Nahen Osten will, muss die Zwei-
staatenlösung unterstützen. Wir brauchen einen lebens-
fähigen Staat Palästina und einen sicheren Staat Israel.
Wer das eine oder das andere nicht will, will auch keinen
Frieden im Nahen Osten.
(Beifall bei der LINKEN)
Hier hat Herr Steinmeier völlig recht, Frau Bundes-
kanzlerin: Es geht nicht, dass Sie sich bei dieser Frage
– Sie haben hier nur ganz beiläufig die Rede Obamas er-
wähnt – heraushalten. Nein, wir müssen sagen: Es ist
richtig, der Staat Palästina muss in den Grenzen von
1967 gegründet werden. Wenn es einen Gebietsaus-
tausch gibt, dann muss er zwischen Israel und Palästina
vereinbart werden. Wer jetzt diesen Weg nicht gehen
will, der schadet nicht nur den Palästinenserinnen und
den Palästinensern, der bringt auch den Israelis keinen
Frieden. Deshalb brauchen wir für beide Völker diesen
Weg.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen auch unsere Rüstungsexportpolitik neu
durchdenken; ich komme wieder einmal darauf zurück.
Mit Genehmigung der Bundesregierung gab es Rüs-
tungsexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen
Euro, an Ägypten im Wert von 144 Millionen Euro, an
Bahrain im Wert von 184 Millionen Euro und an Saudi-
Arabien im Wert von 441 Millionen Euro, und zwar in
der Zeit von 2006 bis 2009. Der Spitzenreiter sind übri-
gens die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie bekamen
Rüstungsexporte im Wert von 846 Millionen Euro.
Ich sage es noch einmal ganz klar: Die libysche Ar-
mee hat gegen Demonstranten aus dem eigenen Volk
auch mit deutschen Waffen gekämpft. Die saudische Ar-
mee kämpft mit deutschen Waffen in Bahrain gegen De-
monstrantinnen und Demonstranten.
Wir haben jetzt einen Antrag eingebracht, die Rüs-
tungsexporte in diese Länder zu verbieten. Ich bin sehr
gespannt, wie Ihre Fraktionen darüber entscheiden. Wir
werden darüber namentlich abstimmen lassen, weil mich
interessiert, ob wir immer noch keine Schlussfolgerun-
gen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben und tat-
sächlich noch Geschäfte mit Krieg machen wollen, an-
statt endlich damit aufzuhören.
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Dummes Zeug!)
Nun wollen Sie weiter über die Lage der Weltwirt-
schaft sprechen. Das ist übrigens ohne China sehr
schwer; ich weiß gar nicht, wie Sie das machen wollen.
Außerdem gehören auch Länder wie Brasilien und In-
dien dazu; aber das lasse ich einmal weg. Es gibt zwei
Themen, die Sie erörtern wollen, nämlich zum einen die
weltweiten Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen
und zum anderen die gigantische öffentliche Verschul-
dung von Staaten auch infolge der Finanz- und Banken-
krise. Da sind wir wieder beim Thema Griechenland.
Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit,
kurzum: am Rande der Pleite. Nun hatten Sie doch lauter
Maßnahmen beschlossen und haben gesagt, sie seien alle
so genial und damit seien alle Probleme gelöst. Nun sind
die Probleme aber nur verschärft worden. Wann nehmen
Sie das denn einmal zur Kenntnis und korrigieren diese
Politik?
Was wären denn die alternativen Wege, die wir dies-
bezüglich gehen könnten? Ich halte nichts davon, dass
Sie immer wieder versuchen, Griechenland – genauso
wie Spanien, Portugal, Irland und andere Länder – unter
Druck zu setzen, indem Sie sagen: Es muss Sozialabbau
betrieben werden; die Löhne müssen gesenkt werden;
das ganze öffentliche Eigentum muss verkauft werden.
Ich glaube, dass das nicht geht. Ich glaube auch, dass
man einen Staat so gar nicht sanieren kann; denn Sie sor-
gen damit dafür, dass die Steuereinnahmen ständig zu-
rückgehen. Das heißt, Griechenland wird dadurch nur
noch – wenn es eine Steigerung von „pleite“ gäbe –
„pleiter“.
(Zuruf von der FDP: Nein!)
Genau diesen falschen Weg gehen Sie bei all diesen
Staaten.
(Zuruf von der FDP: Nochmals nein!)
– Ja, was denn? Bei Griechenland ist es ganz einfach:
Die sollen jetzt die Flughäfen, die Seehäfen, die Telefon-
gesellschaften, die Post verkaufen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da können Sie
mal Ihre veruntreuten Gelder anlegen!)
Wenn man das alles privatisiert, dann gehört der öffentli-
chen Hand gar nichts mehr. Glauben Sie ernsthaft, da-
durch die Probleme Griechenlands lösen zu können?
Ganz im Gegenteil: Sie verschärfen damit die Probleme.
(Beifall bei der LINKEN)
Es kommt aber etwas hinzu: Weder die Bevölkerung
Griechenlands noch die Bevölkerung Spaniens ist bereit,
sich das bieten zu lassen. Werfen Sie doch einmal einen
Blick nach Spanien! Wer von Ihnen will mir eigentlich
sagen, was dabei herauskommt? Wer von Ihnen kann
12616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Gregor Gysi
(A) (C)
(D)(B)
überhaupt einschätzen, welche gesellschaftspolitischen
Entwicklungen dort stattfinden? Wenn diese Länder aber
in immer tiefere Krisen geraten, dann doch auch
Deutschland. Wir müssen endlich einen anderen Weg für
Europa und für unser Land finden; das will ich Ihnen
gerne sagen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Weg ist klar. Sie sagen: Alles privatisieren, Löhne
runter, Renten runter, Sozialleistungen runter! Sie mei-
nen, dadurch würde Griechenland gesund werden. Was
Sie erzählen, ist albernes Zeug; das Gegenteil ist richtig.
Wir müssen folgende Wege gehen:
Erstens. Es fängt damit an, dass wir einen riesigen
Exportüberschuss auch im Verhältnis zu Griechenland
haben; wir sind Vizeweltmeister beim Export. Warum
sind wir Vizeweltmeister? Ich kann es Ihnen sagen: Weil
nur in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn
Jahren um 4,5 Prozent gesenkt worden sind, weil nur in
Deutschland die Realrenten in den letzten zehn Jahren
um 8,5 Prozent gesenkt worden sind, weil hier so viel
privatisiert worden ist. Dadurch sind wir im Angebot bil-
lig geworden. Das aber hat Griechenland mit ruiniert;
denn es kann sich nicht mehr mit der Abwertung seiner
Währung wehren, weil wir gemeinsam mit Griechenland
den Euro haben. Wir müssen einmal begreifen, dass wir
einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung haben. Da
muss man anders miteinander umgehen, als Sie das ge-
tan haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens. Wir brauchen einen Marshallplan. Ich sage
Ihnen einmal, was die EU hatte: Sie hatte einen Sozial-
und Strukturfonds für ärmere Regionen. Darüber bekom-
men auch heute noch die ostdeutschen Bundesländer,
Berlin und Bremen Geld; aber dieser Fonds läuft im
Jahre 2013 aus. Frau Bundeskanzlerin, wo bleibt denn
Ihre Initiative, um klarzustellen, dass wir in der Europäi-
schen Union wieder einen Solidaritätsfonds benötigen,
und zwar einen Fonds, der noch größer ist und auch an-
deren Ländern helfen kann. Im Übrigen sind auch die
ostdeutschen Länder, Berlin und Bremen nach wie vor
darauf angewiesen. Es gibt aber keine Initiative dazu; da
wird einfach dichtgemacht.
Hier kann ich einen zweiten Schritt nennen. Die Euro-
päische Zentralbank darf Kredite nur an Privatbanken
vergeben, nicht an Staaten. Sie müssen sich doch einmal
überlegen, welch ein Gipfel der Unverschämtheit da
stattfindet: Die Deutsche Bank erhält von der Europäi-
schen Zentralbank einen Kredit für 1,25 Prozent Zinsen,
kauft mit diesem Geld für die Dauer von zehn Jahren
Staatsanleihen bei Griechenland und erhält dann
17 Prozent Zinsen. Das ist ein Reibach, der von der Eu-
ropäischen Union organisiert und von der Bundesregie-
rung genehmigt wird. Warum sagen Sie denn nicht:
„Gut, dann ändern wir den Vertrag; die EZB – meinet-
wegen gründet man auch eine andere Bank – kann Di-
rektkredite zu günstigen Zinsen an Griechenland verge-
ben“? Das wäre eine Hilfe für das Land und nicht der
Weg, den Sie hier beschreiten.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin gleich fertig.
Ich sage nur noch: Im Übrigen gibt es in Griechen-
land auch Milliardäre und Millionäre. Sie werden steuer-
lich so herangezogen wie in Deutschland, nämlich so gut
wie gar nicht. Auch das ist ein falscher Weg. Sie denken
immer nur an die Beschäftigten. Die sollen zur Kasse ge-
beten werden.
Sie selber wollen die Schulden, die in der Finanzkrise
angehäuft wurden, abbauen. Dazu wollten Sie eine Fi-
nanztransaktionsteuer einführen. Die hat Herr Schäuble
aber gerade beerdigt. Dann haben Sie noch gesagt: Die
Brennelementesteuer ist wichtig.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist es aber
gut hier!)
Die haben Sie aber auch beerdigt. Ich sage Ihnen, wer
das Ganze bezahlt: die Arbeitslosen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Arbeitslo-
sen? Also Gregor!)
Mit dieser Politik kommen Sie nicht durch. Das werden
Sie auch bei den nächsten Wahlen erleben.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut! –
Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
– Natürlich. Sie haben das Elterngeld gestrichen. Sie ha-
ben Mittel für weitere Maßnahmen gestrichen. Sie haben
in gigantischem Maße gekürzt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Lieber Herr Kollege Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Die Kollegen reizen mich, Herr Präsident, immer
wieder zu erwidern.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das ist ja wahr.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Aber ich verstehe Sie, Herr Präsident. Sie wollen auf
die Zeit achten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wenn die wechselseitige Begeisterung zwischen Ih-
nen und Volker Kauder nur von mir zu stoppen ist, dann
muss ich das jetzt halt tun. Es ist vorbei.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie haben recht, Herr Präsident, aber Sie müssen zu-
geben: Seine Begeisterung für mich nimmt ständig zu.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12617
(A) (C)
(D)(B)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun kann der Kollege Volker Kauder diese Begeiste-
rung höchstselbst am Podium des Deutschen Bundesta-
ges zum Ausdruck bringen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der G-8-Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat ein
Schwerpunktthema, Herr Gysi. Dazu haben Sie nichts
gesagt, weil Sie zu Menschenrechten und Religionsfrei-
heiten kein richtiges Verhältnis haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat neben
Menschenrechten ein weiteres zentrales Thema, auf das
der Kollege Brüderle hingewiesen hat und zu dem Sie
auch nichts sagen können, nämlich Freiheitsbewegungen
von Menschen, die eine neue Perspektive wollen. Das
sind die Hauptthemen, um die es bei diesem Gipfel geht.
Der Fraktionschef der SPD, Herr Steinmeier, hat
heute gesagt, die Bundesregierung habe keinen richtigen
Plan.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich wäre da ganz vorsichtig – ich weiß nicht, wo Herr
Steinmeier sitzt; da hinten sitzt er –; denn die Bundes-
kanzlerin und der Bundesaußenminister haben schon
sehr früh, unmittelbar nach den Ereignissen in Nord-
afrika, in der EU die Transformationspartnerschaft auf
die Tagesordnung gesetzt.
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
Noch bevor der amerikanische Präsident das Wort in den
Mund genommen hat, hat diese Bundesregierung das
Thema in Europa auf die Tagesordnung gesetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Amt trübt zwar manchmal den Blick, Herr
Steinmeier, aber trotzdem muss man fair bleiben und die
Wahrheit sagen. Europa hat gleich den richtigen Weg
eingeschlagen. Wenn wir diese Transformationspartner-
schaft jetzt angehen, werden wir sehen, was wirklich er-
forderlich ist.
Der Kollege Polenz war vor einer Woche mit einer
Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Ägypten;
ich war am vergangenen Wochenende zu politischen Ge-
sprächen in Kairo. Dort haben wir einen ganz anderen
Eindruck gewonnen als den, den Herr Steinmeier an die-
sem Rednerpult zum Ausdruck gebracht hat. Die Men-
schen setzen auf Europa, und sie setzen vor allem auf
Deutschland. Sie haben gesagt: Das Wichtigste, was wir
jetzt brauchen, ist Bildung, weil wir dadurch eine Per-
spektive bekommen. Mehr als 50 Prozent der jungen
Menschen in Ägypten sind Analphabeten. Die Men-
schen sagen: Wir haben ohne Bildung keine Perspektive.
Im Zusammenhang mit Bildung fällt ihnen vor allem ein
Land ein, und das ist Deutschland mit seinem dualen
Ausbildungssystem, auf das sie setzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzle-
rin sagt: Das wird ein Schwerpunkt sein.
Ich möchte anregen, dass wir uns innerhalb der Bun-
desregierung mit der Frage beschäftigen, was wir tun
können, um Auslandsschulen auszubauen und sie in die
Lage zu versetzen, mehr Menschen auszubilden. Im Üb-
rigen, lieber Herr Kollege Brüderle, sage ich zu dem
Thema Fachkräfte, über das wir häufig diskutieren: Die
jungen Leute, die in deutschen Auslandsschulen ausge-
bildet worden sind, sind die besten Fachkräfte, die wir
dann auch holen können.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Rainer
Brüderle [FDP]: Jawohl!)
Schulen und Perspektiven sind zwei Punkte, die mitei-
nander verbunden werden müssen. Das brauchen wir
jetzt in Nordafrika.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass sie
morgen auch den ägyptischen Ministerpräsidenten trifft.
Wir haben uns in Ägypten mit jungen Muslimen, mit
Vertretern der Muslimbrüder und jungen koptischen
Christen getroffen. Dort ist man sich grundsätzlich da-
rüber einig, dass an erster Stelle nicht eine bestimmte
Religionszugehörigkeit steht, sondern der Wunsch, dass
Ägypter Ägypten voranbringen.
Das hindert uns natürlich nicht daran, die Situation in
Ägypten genauer zu betrachten – dazu muss an den bei-
den Tagen in Deauville ein klares Wort gesagt werden –:
Es gibt in Ägypten ein Sicherheitsvakuum. Die kopti-
schen Christen machen sich zu Recht Sorgen um ihre Si-
cherheit. Es hat erneut Angriffe auf koptische Christen
und Kirchen gegeben. Der jetzige Ministerpräsident darf
in Deauville nicht nur sagen: Wir brauchen diese oder
jene Hilfe. Er muss vielmehr bereit sein, koptische
Christen vor Übergriffen zu schützen. Das Sicherheits-
vakuum darf nicht zulasten der Christen in Ägypten ge-
hen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Natürlich nehmen wir die Entwicklung, die in Ägyp-
ten stattgefunden hat, wahr. Wir sollten dennoch nicht
die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es ist völ-
lig klar, dass man sich dort noch viele Jahre auf dem
Weg zu einer Demokratie, wie wir sie uns vorstellen, be-
findet. Deswegen sind der Rechtsstaatsdialog und der
Politikdialog mit Ländern wie Ägypten von großer Be-
deutung.
Wir werden feststellen, dass alle Muslime, auch die
moderaten, als Grundsatz formulieren: Ägypten wird ein
Staat sein, in dem die Grundlagen der Scharia die
Grundlagen des Rechts sind. Da sollten wir uns keiner
Täuschung hingeben; das wird auch in einer neuen Ver-
fassung genau so formuliert werden. Umso wichtiger ist
es, dass wir sagen: Eine solche Rechtssituation darf nicht
dazu führen, dass eine starke Minderheit – die Christen
machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung in Ägyp-
ten aus – bei einer solchen Entwicklung unter die Räder
12618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Volker Kauder
(A) (C)
(D)(B)
kommt. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen müs-
sen wir immer wieder ganz genau hinschauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In Deauville wird auch die Situation im Nahen Osten
ein wichtiges Thema sein. Auch hier muss ich sagen:
Herr Kollege Steinmeier, Sie irren sich total, was die Zu-
sammenarbeit in Europa und mit den Amerikanern anbe-
langt. Aus Ihrer Zeit als Außenminister wissen Sie doch
ganz genau, dass ohne Amerika eine Klärung der Situa-
tion im Nahen Osten gar nicht möglich ist. Nach dem
Motto zu verfahren: „Die Bundesregierung soll das Pro-
blem im Nahen Osten lösen“, ist Kinderträumerei und
hat mit der Realität ganz und gar nichts zu tun.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es bleibt dabei, dass wir unseren Einfluss ausüben
müssen. Eine gewisse Sorge bereitet es, wenn man die
jungen Menschen in Nordafrika – Christen und Muslime –
über die Situation vor Ort reden hört. Diese jungen Men-
schen sagen: Das, was uns dazu gebracht hat, auf die
Straße zu gehen – bessere Perspektiven im Leben zu ha-
ben, für Freiheit zu streiten –, das fühlen wir auch bei
den jungen Palästinensern. Deswegen erwarten wir, dass
auch sie eine Perspektive erhalten.
Ich kann nur sagen: Die Sorgen Israels sind groß im
Hinblick auf die Situation in Nordafrika. Israel sollte da-
rauf eine Antwort geben, und zwar dahin gehend, dass
man nach einer Friedenslösung sucht. Sich abzuschotten,
macht überhaupt keinen Sinn. Das werden die neuen
jungen Bewegungen in Nordafrika nicht hinnehmen.
Deswegen müssen wir als Deutsche den Transforma-
tionsprozess begleiten. Nur zu sagen, wie es Netanjahu
tut: „Wir machen weiter wie bisher“, wird diese junge,
starke, nach Freiheit strebende Generation in Nordafrika
nicht zufriedenstellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Weil wir die Sorgen Israels teilen, weil das Existenz-
recht Israels eine feste Größe für uns in der deutschen
Politik ist, müssen wir mit unseren israelischen Freun-
den darüber sprechen, wie sich die Situation verändert
hat und wie wir zu Lösungen kommen, die eine Befrie-
dung dieser ganzen Region herbeiführen können. Eine
Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn Menschen,
die jungen Leute in Nordafrika, das Gefühl haben, dass
sich etwas für sie in ihrem Land tut. Im Augenblick rich-
ten viele, die besonders stark sind, die eine gewisse
Grundausbildung haben, den Blick nach Europa. Das ist
ein großes Problem in dieser Region; denn genau diese
Menschen werden in ihrem Land gebraucht. Deswegen
ist es richtig und notwendig, dass wir Hilfe anbieten.
Ich glaube, wir müssen über die Ausgestaltung der
Strukturfonds in Europa reden. Wir haben in Griechen-
land und auch in Portugal gesehen, dass es nicht immer
sinnvoll ist, noch eine Autobahn und noch eine Brücke
zu bauen. Vielleicht müssen diese Strukturfonds in Bil-
dungsfonds umgewandelt werden, um jungen Menschen
Perspektiven zu geben. Nicht nur in Brücken, sondern in
die Köpfe muss investiert werden, auch durch Struktur-
fonds.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben also allen Grund, die Entwicklung in
Nordafrika mit Zuversicht zu betrachten, aber auch mit
dem klaren Bewusstsein, dass eine Begleitung der Ent-
wicklung dort noch viele Jahre notwendig sein wird. Vor
allem haben wir, finde ich, die Aufgabe, deutlich zu ma-
chen, dass wir darauf achten werden, dass die Christen in
diesem Land ihren Glauben leben und ihre Perspektiven
verwirklichen können. Wir dürfen, wenn wir die Men-
schenrechte ernst nehmen, nicht zulassen, dass starke
oder auch schwächere Minderheiten unter die Räder
kommen; das müssen wir allen sagen. Wir akzeptieren
natürlich, dass ein Land, in dem 90 Prozent der Bevölke-
rung Muslime sind, dort einen Schwerpunkt seiner Poli-
tik sieht, aber Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten
für Christen und Muslime. Wir werden dafür streiten,
und wir werden nicht schweigen, wenn Christen verfolgt
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich bitte darum, dass dies an den kommenden Tagen in
Deauville deutlich gemacht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, die G-8-Treffen der letzten Jahre
haben regelmäßig mit großen Zusagen für Afrika geen-
det. Große Summen wurden jedes Mal versprochen.
Fünf Jahre nach Gleneagles, direkt vor Beginn des
nächsten Gipfels, hätte ich mir eine ehrliche Bilanz der
Umsetzung gewünscht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben hier leider um das Problem der fehlenden
Zahlungen herumgeredet. Die internationale Hilfsorga-
nisation ONE hat vor kurzem eine Umsetzungsbilanz
vorgelegt. Diese fällt nicht gut aus, für die G 8 nicht und
besonders für Deutschland nicht. Deutschland hat dem-
nach seine Zusagen für Subsahara-Afrika nur zu 23 Pro-
zent erfüllt. Schlechter war nur noch Italien. Dass es
auch in schwierigen Zeiten anders geht, das zeigen die
USA, Kanada oder Japan. Diese Länder haben ihre Ziele
mehr als erfüllt. Ich kann nur sagen: Wer große Verspre-
chungen macht und sie dann nicht einhält, wird seiner
internationalen Verantwortung nicht gerecht. Dieser Ver-
trauensbruch schadet dem Ansehen und der Glaubwür-
digkeit Deutschlands.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Jetzt steht die Unterstützung für wichtige Länder in
Nordafrika und der arabischen Welt auf der internationa-
len Tagesordnung. Den mutigen Menschen dort, die für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12619
Dr. Frithjof Schmidt
(A) (C)
(D)(B)
die Freiheit aufgestanden sind, gehören unsere Hochach-
tung und Solidarität; da sind sich hier alle einig. Gerade
die Staaten der G 8 haben hier eine Bringschuld, weil
wir alle die autoritären Regime dort viel zu lange ge-
stützt haben, um vermeintliche Stabilität zu erreichen.
Jetzt, im Vorfeld, ist zu lesen, es werde eher ein Gip-
fel der Signale; das heißt auf Deutsch: ein Gipfel der
nicht ganz konkreten Versprechen. Ich frage Sie: Was
nützt all das Gerede über eine Art Marshallplan für Tu-
nesien und Ägypten, wenn noch nicht einmal klar ist,
dass der EU-Markt für diese Länder weiter geöffnet
wird? Wenig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])
Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass sich die Bun-
desregierung ganz konkret für eine Marktöffnung in al-
len G-8-Ländern einsetzt. Wenn Sie das tun, dann haben
Sie in diesem Punkt unsere volle Unterstützung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch eine Änderung der Flüchtlingspolitik gegenüber
Nordafrika ist notwendig. Hier regiert in Europa gerade
die blanke Schäbigkeit. 850 000 Menschen sind bisher
allein aus Libyen in die Nachbarländer geflohen. Nur
25 000 davon sind nach Italien, nach Europa geflohen;
das sind gerade einmal 3 Prozent. Anstatt nun zu überle-
gen, wie man diesen Menschen helfen kann, wird über
innereuropäische Grenzkontrollen diskutiert. Das ist
schlicht und einfach beschämend.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Deutschland sollte hier mit großzügigen Aufnahmeange-
boten international voranschreiten.
Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Die
Länder des demokratischen Aufbruchs in Nordafrika
brauchen eine umfassende Unterstützung, die ihre wirt-
schaftliche Situation verbessert und nicht als westliche
Bevormundung daherkommt. – Dazu gehört ein freier
Warenverkehr in die Europäische Union und in die ande-
ren G-8-Länder; das gilt insbesondere für landwirt-
schaftliche Produkte aus Nordafrika. Dazu gehören
großzügige Möglichkeiten für die Menschen aus Nord-
afrika, in der Europäischen Union zu lernen und, zumin-
dest zeitweise, zu arbeiten. Sie müssen mit der Visaver-
weigerungspolitik, die Sie in diesem Zusammenhang
betreiben, aufhören.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])
Dazu gehören auch gezielte finanzielle Hilfen durch
die G 8. Die USA haben Ägypten gerade einen Schul-
denerlass in Höhe von 1 Milliarde Dollar zugesagt.
Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Gläubiger
Ägyptens. Auch Sie sollten ganz konkret einen Schul-
denerlass zusagen.
In eine solche Agenda gehört ebenso eine umfassende
Energiepartnerschaft für erneuerbare Energien, die auch
der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Ein solches Pa-
ket wäre eine angemessene Reaktion auf die Umbrüche
in dieser Region. Leider scheint die Bundesregierung
hier als Treiber auszufallen.
Ich begrüße das Engagement der Bundesregierung
und der Bundeskanzlerin zur Lösung des israelisch-pa-
lästinensischen Konfliktes, das Eintreten für eine Zwei-
Staaten-Lösung und die Forderung nach Friedensver-
handlungen. Präsident Obama hat erklärt, dass eine Lö-
sung in den Grenzen von 1967 in Verbindung mit einem
vereinbarten Gebietsaustausch beruhen muss. Ich hätte
mir gewünscht, dass Sie diese Position heute ausdrück-
lich und vor allem wörtlich unterstützt hätten, gerade an-
gesichts der Äußerungen von Ministerpräsident Netan-
jahu in Washington.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Auf der Tagesordnung des Gipfels steht auch das
Thema „nukleare Sicherheit“. Drei Viertel aller Atom-
kraftwerke weltweit stehen in den Staaten der G 8. Es
liegt ganz wesentlich in den Händen dieser acht Staaten,
endlich die Konsequenzen aus der furchtbaren Katastro-
phe in Fukushima zu ziehen. Frau Merkel hat noch ein-
mal die Tragweite der Katastrophe von Fukushima be-
tont. Sie sollte aber auch dementsprechend handeln.
Steigen Sie schnellstmöglich und endgültig aus der
Atomkraft in Deutschland aus, und hören Sie auf, mit
Hermesbürgschaften, also deutschen Steuergeldern, den
Export von Atomtechnologie zu unterstützen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Wir erwarten, dass Sie in Deauville klare Worte an
Ihre Kolleginnen und Kollegen richten, dass es die viel
beschworene nukleare Sicherheit nicht gibt und der Aus-
stieg aus der Atomkraft deswegen notwendig ist. Ihr
Verhalten in Deauville in dieser Frage ist für uns auch
ein Test mit Blick auf Ihre Glaubwürdigkeit hier in
Deutschland.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun freuen wir uns, dass der Vorsitzende des Auswär-
tigen Ausschusses seinen heutigen Geburtstag mit einer
Rede im Plenum des Deutschen Bundestages für die
CDU/CSU-Fraktion schmücken möchte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Zunächst herzlichen Dank für die freundlichen
Glückwünsche.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede
kritisiert, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs-
erklärung so oft von Zuhören, von Beitragen und von
Unterstützen gesprochen hat. Ich bin gerade aus Tunis
12620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Ruprecht Polenz
(A) (C)
(D)(B)
und Kairo zurückgekommen, wo wir in der vergangenen
Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschus-
ses gewesen sind. Die neuen Kräfte dort, die Menschen,
die auf dem Tahrir-Platz so mutig demonstriert und Kopf
und Kragen riskiert haben und weiter riskieren, erwarten
genau das von uns, nämlich, dass wir zuhören, dass wir
beitragen und dass wir unterstützen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])
Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Revolution. Wir wol-
len nicht länger bevormundet werden – weder von unse-
rer Regierung noch vom Westen.
Deshalb war die Kritik, es sei hier zu wenig aktiv und
mit eigenen Vorschlägen vorgegangen worden, meines
Erachtens völlig neben der Sache. Mit einer besserwisse-
rischen Hoppla-jetzt-komme-ich-Außenpolitik würden
wir den Erwartungen und Hoffnungen der arabischen
Freiheitsbewegung überhaupt nicht gerecht werden.
Freiheit, Würde, Arbeit: Dafür sind Jung und Alt,
Männer und Frauen überall in der arabischen Welt auf
die Straße gegangen, und sie tun das noch – oft, wie zum
Beispiel jetzt in Syrien immer wieder, unter Einsatz ihres
Lebens. Wir bewundern diesen Mut, wir teilen diese
Werte, wir hoffen und wollen helfen, soweit wir können,
damit diese Bewegung auch Erfolg hat. Dem arabischen
Frühling müssen ein Sommer und eine Ernte folgen, es
darf keine neue Eiszeit geben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Freiheit, Würde, Arbeit: Die Menschen in Tunesien
und in Ägypten wollen frei und in Würde leben. Sie wol-
len eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem
die hohe Jugendarbeitslosigkeit drückt hier besonders.
Deshalb ist es genau der richtige Ansatz, dass jetzt auf
dem G-8-Gipfel auch auf Vorschlag der Bundesregie-
rung hierauf ein Schwerpunkt gesetzt wird.
Alle Gesprächspartner in Tunis und Kairo haben uns
gesagt, dass für den Erfolg der arabischen Revolution
neben der Schaffung demokratischer Institutionen und
rechtsstaatlicher Strukturen vor allen Dingen die Wirt-
schaft entscheidend ist. Deshalb ist es auch gut, dass Tu-
nesien und Ägypten an dem G-8-Gipfel teilnehmen. Da-
mit soll zum Ausdruck gebracht werden: Wir wollen das
partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander bespre-
chen.
Man darf aber nicht übersehen: Die beiden Minister-
präsidenten stehen einer Übergangsregierung vor. Es
sind eher technokratische Regierungen, wobei die Legi-
timation in Tunesien sicherlich ein beträchtliches Stück
höher ist als im Augenblick in Ägypten. Tunesien ist ins-
gesamt auf einem guten Weg. Dort kann man die Hoff-
nung haben, dass die Überleitung in demokratische Insti-
tutionen gelingt. Bei Ägypten muss man leider sagen:
Das ist noch nicht ganz sicher.
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Mehr-
parteiensystem, marktwirtschaftliche Strukturen und
Rechtsstaat – davon wollen wir unsere Hilfe abhängig
machen. Ich möchte nur darauf hinweisen – das muss
auch auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein –: In Ägypten
gilt noch immer der Ausnahmezustand. In Ägypten ur-
teilen Militärgerichte über Demonstranten, und sie ver-
hängen Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren.
Es gibt in Ägypten – das ist hier von fast niemandem
kommentiert worden – ein Parteiengesetz zur Registrie-
rung neuer Parteien, wonach man nicht nur 5 000 Mit-
glieder braucht – darüber lässt sich ja noch reden –, son-
dern diese Mitglieder müssen sich auch notariell
registrieren lassen, ihre Namen werden in den größten
Tageszeitungen Ägyptens veröffentlicht, und sie müssen
eine Geldsumme zahlen.
Welchen Mut es erfordert, sich in einem solchen Land
für eine neue Partei zu entscheiden und mit dem eigenen
Namen dafür einzustehen, wenn man vielleicht noch die
Sorge haben muss, dass daraus die nächste Internie-
rungsliste wird, wenn die Sache nicht so gut ausgeht, wie
man es sich erhofft, können diejenigen nachempfinden,
die sich öfter mit Systemen beschäftigen, die noch keine
Demokratien sind. All das muss, finde ich, auch auf dem
Gipfel angesprochen werden.
Der Militärrat hält in Ägypten nach wie vor das Heft
in der Hand und lässt sich nicht in die Karten schauen.
Hier ist Transparenz gefordert. Notwendig ist auch mehr
Klarheit in der Frage, wie der Übergang organisiert wer-
den soll. Es hat keinen Sinn, Geld in die alten ägypti-
schen Strukturen zu geben. Das will ich an dieser Stelle
festhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Besondere an der arabischen Revolution ist Ana-
lysen zufolge: Es gibt keinen Führer. Es gibt keine Par-
tei. Es gibt kein Programm. – Das ist jetzt ein Problem.
Man war sich einig in den Forderungen nach einem
Rücktritt von Ben Ali und Mubarak und darin, künftig in
Würde und Freiheit leben zu wollen. Das heißt, keine
Repression, keine Korruption und kein Nepotismus
mehr.
Aber wie kommt man dahin? Hier setzt die Bera-
tungsaufgabe ein. Dabei leisten die Stiftungen hervorra-
gende Arbeit. Davon haben wir uns überzeugt. Auch das
Goethe-Institut hat in beiden Ländern seine Programme
so umgestellt, dass es für die Entwicklung in Richtung
Demokratie und Rechtsstaat hilfreich ist.
Die Frage ist nun: Was hilft wirtschaftlich? Man muss
wissen, dass es in Ägypten einen gigantischen Wasser-
kopf gibt: Über 45 Prozent der Beschäftigten sind im öf-
fentlichen Dienst. Das bedeutet einen Wust an Bürokra-
tie und jede Menge Möglichkeiten zum Handaufhalten
und zur Korruption, etwa wenn es um Genehmigungen
geht. Man muss mit der Regierung auch darüber spre-
chen, wie man sich hier Änderungen vorstellt.
Aber es gibt eine Möglichkeit, wie im Grunde jeder
dazu beitragen kann, dass es in Tunesien und Ägypten
wirtschaftlich wenigstens wieder etwas aufwärtsgeht,
und zwar durch den Tourismus. Der Tourismus hat nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12621
Ruprecht Polenz
(A) (C)
(D)(B)
nur den Vorteil, dass von dieser Branche ein Großteil der
Wirtschaft abhängt. Selbst wenn vielleicht das eine oder
andere Hotel in falschem Besitz ist, gibt es über die Be-
schäftigung in der Tourismusbranche auch einen Trickle-
down-Effekt, der allen Menschen in diesen Ländern zu-
gute kommt.
Deshalb wäre es sehr wichtig, dass wir uns auch da-
rüber Gedanken machen – das richte ich auch an Ernst
Hinsken –, wie wir zum Tourismus in Richtung Tunesien
und Ägypten ermutigen können, damit er wieder in die
Gänge kommt. Denn die Sicherheitsprobleme, die zur
Zurückhaltung geführt haben, sind, glaube ich, gelöst.
Hier kann jeder, dem die arabische Revolution am
Herzen liegt, einen eigenen Beitrag leisten. Er hat auch
einen Vorteil: Es geht in schöne Länder.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn
ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deut-
schen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas
von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrü-
che nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Um-
brüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen
brauchen wir diese Debatte.
In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr
klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrü-
chen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chan-
cen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das
muss man von einer Regierungschefin erwarten können.
Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Prä-
sident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für
ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren eu-
ropäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rück-
wirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis
auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast:
Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vor-
gänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen
und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre loka-
len Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich
finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungs-
chefin nicht tun.
(Beifall bei der SPD)
Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäu-
gig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken.
Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkri-
tik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat ge-
sagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. – Das nur auf
die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss
konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will.
Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen
Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dia-
log sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt
– genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen –
begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regie-
rungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundes-
kanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht ein-
gegangen. Das ist schade.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwick-
lungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstratio-
nen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten,
was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische
Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyp-
tischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein
mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf ei-
nem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet wer-
den und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezo-
gen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die
Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf euro-
päischer Ebene unterstützend tätig werden.
Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur
die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu ma-
chen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den ver-
gangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind – ich
nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus –,
können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozia-
lere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den
Außengrenzen Europas aufgebaut werden.
(Beifall bei der SPD)
Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Rat-
schläge, sondern Zeit und Unterstützung.
Man kann über die Entscheidung der Bundesregie-
rung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolu-
tion 1973 zu Libyen – das geht quer durch das Haus –
unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt,
dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach
der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern
niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum
ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal,
dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat.
Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit ei-
nem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt.
Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Fal-
ken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen.
Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnis-
partner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl
und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde,
würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu ei-
ner ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche
Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwalt-
schaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht,
12622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Rolf Mützenich
(A) (C)
(D)(B)
Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Miss-
achtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um die-
sen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien voll-
kommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass As-
sad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der
an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit
unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich
bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzun-
gen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es
richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Euro-
päischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien voran-
gegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen ent-
sprechenden Beschluss herbeizuführen.
Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antwor-
ten diskutiert. Ich glaube – das hat gestern der Kollege
Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht –,
dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern,
den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten kön-
nen. Gleichzeitig – auch das habe ich in der Rede der
Bundeskanzlerin vermisst – brauchen wir ein klares Wort
zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu,
dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den
Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an
dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen,
würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen
in den Transformationsländern am besten unterstützen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und
gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen,
welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur
Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen
und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die
sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumen-
tarien „Wandel durch Annäherung“, „gemeinsame Si-
cherheit“ und „Entspannungspolitik in Zeiten neuer
Spannungen“ eine Menge beitragen. Ich plädiere für den
Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transforma-
tion setzen, sondern auch mit den Regierungen, die ver-
suchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation
her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und
Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn
für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der nun bevorstehende G-8-Gipfel ist der erste
seit Beginn der Unruhen in der arabischen Welt. Es tref-
fen sich acht der weltweit führenden Wirtschaftsnatio-
nen. Sowohl der Kommissionspräsident als auch der
Ratspräsident sind dabei. Wir haben die Chance, dass
von diesem Gipfel ein starkes Signal ausgeht, dass die
Demokratiebewegungen, die Freiheitsbestrebungen in
den Ländern der arabischen Welt nachhaltig unterstützt
werden.
Es ist aber bei weitem noch nicht absehbar, welche
Entwicklung diese Länder nehmen werden, denn wir ha-
ben es mit ganz unterschiedlichen Szenarien zu tun.
In Tunesien und Ägypten sind die früheren Machtha-
ber gestürzt. Es beginnt die Aufarbeitung dieser Vergan-
genheit auch auf gerichtlichem Wege. Man versucht,
demokratische Strukturen und rechtsstaatliche Verfah-
rensweisen zu etablieren. Es werden Fahrpläne für verfas-
sunggebende Versammlungen und Wahlen aufgestellt.
Dies gibt Anlass zur Hoffnung, aber wir müssen noch
eine Menge tun, damit diese Entwicklung unumkehrbar
wird.
Daneben stellen wir in Ländern wie Libyen, Syrien,
Jemen und Bahrain fest, dass die Machthaber mit roher
Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Das
sind untragbare Zustände.
Darüber hinaus ist es bislang in einer Reihe von Län-
dern, zum Beispiel in Jordanien und Saudi-Arabien, mit
politischen Zugeständnissen gelungen, Proteste zu ver-
meiden; eine Strategie, die erfolgversprechend erscheint.
Die dortigen Machthaber müssen wohl keinen unmittel-
baren Sturz befürchten, aber der Handlungsbedarf ist
gleichwohl hoch.
Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass es in
diesen Staaten eine sehr heterogene Entwicklung gibt, je
nachdem, wie legitim die Herrschaftsformen sind, wel-
che Rolle das Militär spielt und Ähnliches. Es gibt aber
in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre
auch übereinstimmende Aspekte, die diese Entwicklun-
gen kennzeichnen: Es handelt sich um Volkswirtschaf-
ten, die international kaum wettbewerbsfähig sind. Bei-
spielsweise tätigt der Nahe Osten ohne die Ölexporte
Geschäfte mit dem Ausland in einem Umfang, der sich
in etwa auf dem Niveau der Exporte der Schweiz befin-
det. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, eine junge Bevöl-
kerung, der es an wirtschaftlicher Perspektive mangelt,
sowie veraltete Bildungssysteme.
Diese länderübergreifenden Defizite müssen für uns
der Ansatzpunkt sein, Hilfe zu leisten. Die USA und
auch die Europäische Union haben erste Schritte unter-
nommen, die Vereinigten Staaten beispielsweise einen
Schuldenerlass für Ägypten in Höhe von etwa 1 Milliar-
de Euro. Bei Schulden Ägyptens in Höhe von 190 Mil-
liarden Euro ist das zwar überschaubar, aber immerhin.
Es handelt sich ja nicht nur um eine finanzielle Unter-
stützung, sondern es ist auch eine Anerkennung für die
Oppositionsbewegung, für die Jugendbewegung, die den
Wandel in diesem Land eingeleitet hat.
Wir als Europäische Union haben die Chance, die Eu-
ropäische Nachbarschaftspolitik endlich vom Kopf auf
die Füße zu stellen. Wir brauchen keine Funktionärstref-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12623
Thomas Silberhorn
(A) (C)
(D)(B)
fen, in denen man keine Antenne für das entwickelt, was
sich in den Gesellschaften vor Ort tut, sondern wir müs-
sen bilateral den Kontakt so pflegen, dass wir mitbekom-
men, welche Entwicklungen stattfinden, um wirklich
helfen zu können. Wir brauchen maßgeschneiderte Lö-
sungen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik und
nicht den Instrumentenkasten, den man über jedes dieser
Nachbarländer stülpt.
Wir leisten enorme finanzielle Hilfe, aber das allein
wird nicht reichen; wir brauchen den direkten Kontakt zur
Bevölkerung. Deswegen begrüße ich, dass es nun gelingt,
dass wir unter dem Stichwort „Mobilitätspartnerschaft“
Reiseerleichterungen gewähren, Zugang zum Arbeits-
markt gewähren, Beschäftigungsförderung betreiben,
Berufsbildung nach unseren Erfahrungen exportieren.
Das alles kann dazu beitragen, dass eine selbsttragende
Entwicklung stattfindet, die am Ende auch demokratische
Strukturen fördert.
Wir müssen sehr deutlich machen, dass wir jetzt auf
der Seite der Freiheitsbewegungen stehen, dass wir De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern wollen, aber
wir müssen auch zu sichtbaren Ergebnissen kommen;
denn Demokratie wird nach meiner Einschätzung nur
dann eine Chance haben, wenn sie sich als handlungsfä-
hig erweist, wenn deutlich wird, dass mit den neuen
Strukturen die Probleme des Landes tatsächlich besser
gelöst werden können, als das vorher der Fall war. Des-
wegen müssen wir auch die Grundlage für den wirt-
schaftlichen Erfolg in diesen Ländern legen.
In der Nahostpolitik tut sich jetzt ein Fenster auf, das
wir tunlichst nutzen sollten. Ich glaube, dass die Ent-
wicklung in der arabischen Welt jetzt nicht als Vorwand
für einen Stillstand im Friedensprozess genommen wer-
den darf, sondern im Gegenteil jetzt ganz konkrete Er-
gebnisse angestrebt werden sollten. Präsident Obama hat
sich dazu bekannt, die Grenzen von 1967 als einen Aus-
gangspunkt für eine Friedenslösung zu nehmen. Er über-
nimmt damit den Standpunkt, den die Europäische
Union seit langem vertritt. Aber es ist klar, dass Rege-
lungen zum Gebietsaustausch das Ergebnis von Ver-
handlungen sein müssen, wie in anderen offenen Fragen
auch: Sicherheitsgarantien für Israel, Rückkehrmöglich-
keit für Flüchtlinge. Wir sollten jetzt darauf dringen,
dass ohne Vorbedingungen zügig Gespräche stattfinden
und dass nicht durch einseitige Erklärungen mögliche
Verhandlungen belastet werden. Das gilt sowohl für die
Ausrufung eines palästinensischen Staates wie für den
Ausbau der jüdischen Siedlungen.
Ich glaube, dass es jetzt nicht klug wäre, auf Zeit zu
spielen. Den Umbruch in der arabischen Welt, der Aus-
wirkungen haben wird, der die Gewichte in der Region
verändern wird, sollten wir nutzen, um auch zu einer ge-
meinsamen Friedenslösung zwischen Israel und den Pa-
lästinensern zu kommen. Die jüngste Zusammenarbeit,
das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas,
sollte kein Hindernis sein. Es sollte nicht als solches ver-
standen werden, sondern als eine Chance; denn Israel hat
bisher beklagt, dass es keinen Ansprechpartner gibt. Die
Hamas sollte nicht isoliert werden, aber es muss auch
klar sein, dass wir Erwartungen an sie richten. Es ist eine
Bringschuld der Hamas, das Existenzrecht Israels anzu-
erkennen und sich von Radikalisierung und Extremis-
mus loszusagen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Silberhorn.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Wenn uns das gelingt, dann in der Tat kann eine
Zwei-Staaten-Lösung auf dem Verhandlungsweg ein
Hoffnungsschimmer sein. Ich wünsche, dass auch der
G-8-Gipfel jetzt ein Signal setzt, bei diesem Prozess vo-
ranzukommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
Beginn kurz etwas Grundsätzliches: Die G 8 ist ein Aus-
laufmodell – zumindest müsste sie es sein –, weil die
Musik zunehmend in der G 20 spielt.
(Jörg van Essen [FDP]: Das hat der Vorsitzende
der FDP-Fraktion auch schon gesagt!)
Doch auch die darf mit Skepsis betrachtet werden, weil
es nicht ausreicht, den Klub der Reichen um die Neurei-
chen zu erweitern. Auch der G 20 fehlt die Legitimation.
Deshalb wünschen wir uns in der internationalen
Strukturpolitik, in der Global Governance einen Reform-
prozess, der auch die Rolle der Vereinten Nationen
stärkt. Am Ende könnte dabei zum Beispiel eine G 25
herauskommen, eng verzahnt mit den Vereinten Natio-
nen, in der es sowohl ständige als auch nichtständige
Mitglieder gibt, die von verschiedenen Ländergruppen
gewählt werden;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])
denn auch die Repräsentanten der ärmeren Entwick-
lungsländer müssen beteiligt werden, wenn es darum
geht, die Weichen für die Weltwirtschaft zu stellen. Es
ist unwürdig, sie nach Belieben des jeweiligen Gastge-
berlandes am Katzentisch Platz nehmen zu lassen.
Nach dieser Grundsatzkritik und der Zukunftsvision
ein paar Worte zum bevorstehenden Gipfeltreffen: Ich
wünsche mir sehr, dass die G-8-Regierungschefs bei ih-
ren Beratungen zum Thema „Nordafrika und Mittel-
meerraum“ die Kraft haben, mehr Selbstkritik zu üben.
Man feiert jetzt die Demokratiebewegung auf dem
Nachbarkontinent, hat aber allzu lange Bündnisse mit
Despoten geschmiedet und ihnen sogar die Waffen gelie-
fert, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt wer-
den.
Hat man aus den Fehlern gelernt? Wenn man sich
jetzt die Gästeliste anschaut, dann darf das bezweifelt
12624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Thilo Hoppe
(A) (C)
(D)(B)
werden. Wir haben gerade gestern im Entwicklungsaus-
schuss intensiv über massive Menschenrechtsverletzun-
gen und Landgrabbing in Äthiopien diskutiert. Doch
Premier Meles Zenawi wird nach wie vor von der G 8
hofiert.
Zu den vielen leeren Versprechungen bezüglich der
Entwicklungsfinanzierung ist hier schon einiges gesagt
worden. Ich will das jetzt auch nicht weiter anprangern,
sondern ich halte es für besser, gemeinsam in die Zu-
kunft zu schauen und die Bundesregierung und den Fi-
nanzminister zu ermutigen: Haben Sie eigentlich schon
wahrgenommen, wie viel Unterstützung und Rücken-
wind Sie aus diesem Parlament haben könnten, wenn Sie
sich einen Ruck gäben und schon für den Haushalt 2012
deutlich mehr finanzielle Mittel für Entwicklungszusam-
menarbeit und humanitäre Hilfe bereitstellten?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nach dem heutigen Stand haben 349 Parlamentarier
aus allen fünf Bundestagsfraktionen einen Aufruf der
Entwicklungspolitiker zu einem entwicklungspolitischen
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels unter-
schrieben. Es gibt also eine zumindest dokumentierte
klare Mehrheit hier im Parlament, den schönen Worten
endlich Taten, das heißt auch ganz konkret, andere Haus-
haltszahlen folgen zu lassen. Das wäre ein starkes Si-
gnal, wenn es wirklich klappen könnte, noch vor der
Sommerpause zu diesem fraktions- und parteiübergrei-
fenden entwicklungspolitischen Konsens zu kommen,
und zwar auch gegenüber Afrika, dem Nachbarkonti-
nent. Das würde unsere Glaubwürdigkeit stark steigern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sibylle Pfeiffer ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
der G-8-Gipfel geplant wurde, hat noch niemand ge-
wusst, welche Veränderungen und gesellschaftlichen
Umbrüche in Nordafrika stattfinden werden. Lieber Kol-
lege Hoppe, wenn zu diesem Zeitpunkt ein G 25 oder ein
G 20 oder G 7 oder was auch immer geplant worden
wäre, wäre es nicht anders. Wichtig ist doch, dass wir
über das Thema reden und eine Möglichkeit finden, die
Menschen vor Ort zu unterstützen. Wenn es darum geht,
Selbstkritik an der Zusammenarbeit mit wem auch im-
mer zu üben, lieber Kollege Hoppe, dann sage ich Ihnen:
Wir können uns unsere Partner manchmal nicht aussu-
chen. Manchmal müssen wir über Schatten springen, die
wir vielleicht auch als Schatten erkennen. Aber um den
Menschen zu helfen, ist es manchmal vielleicht richtig,
einfach etwas zu tun.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Um Geschäfte zu machen!)
Wenn es um Selbstkritik geht, dann sollten wir alle
einfach ein bisschen ruhig sein. Ich will gar nicht da-
rüber reden, wer mit wem in der großen weiten Welt gut
Freund ist, wer mit wem in einem Zelt gesessen hat und
Ähnliches. Ich glaube, da geben wir uns alle nichts. Es
ist jetzt der falsche Zeitpunkt, darüber lange zu diskutie-
ren.
Vor einiger Zeit haben wir hier schon einmal über die
Entwicklung in Tunesien und Nordafrika insgesamt ge-
sprochen. Wir haben damals bewundert, was dort ge-
schah. Ich bin heute noch voll der Bewunderung und zolle
all den jungen Menschen meinen Respekt, die diese ge-
sellschaftlichen Umbrüche in Gang gesetzt haben. Aber
mit einem kleinen bisschen Stolz sage ich, dass wir als
großer entwicklungspolitischer Geber auch etwas dazu
beigetragen haben. Wir haben rechtzeitig mit unseren
Partnerländern entsprechende Strukturen vor Ort aufge-
baut, sei es Verkehrsinfrastruktur, seien es Krankenhäuser
oder Schulen. All dies ist schon einmal die Basis für eine
freiheitliche gesellschaftliche Entwicklung. Insofern ist
Entwicklungspolitik nicht nur eine vorbeugende Maß-
nahme, sondern sie kann auch im Nachhinein helfen. Vor-
beugend ist die Entwicklungspolitik, weil sie – ich glaube,
wir Entwicklungspolitiker sollten in diesem Punkt selbst-
bewusst genug sein – Frieden und Sicherheit in der Welt
vielleicht nicht in vollem Umfang gewährleistet, aber zu-
mindest in Gang setzt.
Die deutsche Entwicklungspolitik ist hervorragend
aufgestellt, zum einen durch ihre Durchführungsorgani-
sationen, aber zum anderen durch ihre massive Unterstüt-
zung der politischen Stiftungen und der Kirchen sowie
der Vielzahl und Vielfalt der Nichtregierungsorganisatio-
nen. Gerade die politischen Stiftungen, gerade die Kir-
chen haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu unterrichten,
sie zu informieren und sie zu stärken, gesellschaftspoliti-
sche Veränderungen zu unterstützen, sofern sie da sind,
oder sie vielleicht sogar in Gang zu setzen, um die Ent-
wicklungszusammenarbeit zum Erfolg zu führen.
Der Kampf für Freiheit verdient immer unsere Unter-
stützung. Deshalb ist die Frage: Wie richten wir unsere
Entwicklungszusammenarbeit aus, und wie kann die
Neuausrichtung der jetzigen Bundesregierung zum Bei-
spiel in den Ländern Nordafrikas wirksam sein? Ich
setze sehr darauf, dass eine Erholung der gesellschaftli-
chen Strukturen, eine Stabilisierung der demokratischen
Bewegung nur über den wirtschaftlichen Erfolg zu errei-
chen ist. Wenn wir den jungen Menschen durch Arbeits-
plätze und Ausbildung Perspektiven eröffnen, dann ist
das richtig und gut. Deshalb begrüße ich sehr, dass vor
allen Dingen die DIHK und der BDI mit den vorhande-
nen Unternehmen vor Ort Ausbildungs- und Arbeits-
plätze zur Verfügung stellen wollen.
Aber wir können in der Entwicklungszusammenarbeit
noch mehr leisten: Wir können Unternehmensgründun-
gen vor Ort unterstützen. Das gelingt uns gut mit Start-
ups, wie wir es neudeutsch nennen, mit Unternehmens-
und Existenzgründungsdarlehen und Ähnlichem. Das al-
les können wir unterstützen.
Wir Entwicklungspolitiker wissen allerdings, dass wir
ohne die Mitnahme der Gesellschaft vor Ort und ohne
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12625
Sibylle Pfeiffer
(A) (C)
(D)(B)
die Kooperation mit den entsprechenden Regierungen
kein Stück weiterkommen. Deshalb ist das, was jetzt in
Deauville geschieht – dabei hat die Frau Bundeskanzle-
rin unsere volle Unterstützung –, ein ganz wichtiger
Schritt. Ein Kommuniqué der G 8 mit den Ländern Nord-
afrikas auf Augenhöhe, wobei deren Verantwortung ge-
nauso eingefordert wird, wie wir unsere Verpflichtungen
eingehen – seien es Zusagen, seien es die Mittelbereit-
stellung und Ähnliches –, das ist der richtige Weg. Nur
in Kooperation werden wir erfolgreich sein. Wir alleine
können es nicht schaffen, aber sie allein auch nicht. Des-
halb bieten wir unsere Unterstützung beim Aufbau von
industriellen, von ökonomischen Strukturen an, die die
Freiheit unterstützen, die aber auch den jungen, zurzeit
perspektivlosen Menschen die Aussicht eröffnen, sich
und ihre Familien ernähren zu können. Damit unterstüt-
zen wir sie für die Zukunft in ihren Ländern.
Das ist Aufgabe der Entwicklungspolitik. Deshalb un-
terstützen wir die G 8 in ihren Bemühungen, dies auch
mittels Partnerschaften umzusetzen. Ich bin sicher, dass
wir erfolgreich sein werden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man als letzter Redner spricht,
dann ist eigentlich alles gesagt worden, nur noch nicht
von jedem. Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin
sowie beim Kollegen Niebel, der die Zeitenwende er-
kannt, sofort Gespräche geführt und Entscheidungen ge-
troffen hat, gerade in Bezug auf berufliche Bildung und
auf Wirtschaftspartnerschaften. Ich danke in diesem Zu-
sammenhang in ganz besonderer Form den Stiftungen
unserer Parteien, die sich dort vor Ort in diesen Monaten
außerordentlich engagiert haben, um die Demokratie-
bewegung mit zu unterstützen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich habe eben gesagt, es ist noch nicht alles von allen
gesagt worden. Deshalb richte ich meinen Blick auf
Afrika insgesamt. Der Ruf nach Freiheit und Demokra-
tie, den wir in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern
in der Region erleben, kann Auswirkungen auf den ge-
samten Kontinent Afrika haben. Die Menschen wollen
andere Lebensbedingungen. Sie wollen Teilhabe in ihren
Ländern. Diese Teilhabe wird ihnen in vielen Ländern
verwehrt. Wir haben die Verantwortung, dass wir Afrika
als Chancenkontinent in unseren Partnerschaften begrei-
fen. Chancenkontinent heißt, dass wir deutlich machen,
dass es auch afrikanische Länder gibt, die seit Jahren
vorbildliche Entwicklungen durchmachen.
Ich erinnere nur an Botsuana, das als eines der ersten
Länder seine Rohstoffe zertifiziert, damit den Haushalt in
Ordnung gebracht und in Bildung, Gesundheit und Infra-
struktur investiert hat und damit eigentlich kein Nehmer-
land mehr ist. Ich erinnere an Ghana, wo die soziale
Marktwirtschaft in Teilbereichen unter Präsident Kufuor
eingeführt worden ist, wo es einen demokratischen Wech-
sel durch demokratische Wahlen gegeben hat. Diese Län-
der können sich andere afrikanische Länder zum Vorbild
nehmen.
Eine besondere Herausforderung ist, dass wir versu-
chen, den Begriff der wertgebundenen Politik in unsere
Verhandlungen mit den Regierungen aufzunehmen. Des-
halb, lieber Kollege Hoppe, stimme ich in einem einzi-
gen Punkt nicht mit Ihnen überein. Sie haben eben das
Thema Äthiopien angesprochen und unseren Umgang
mit Meles Zenawi erwähnt. Ich und andere aus den Ko-
alitionsfraktionen und der Regierung haben ihn nicht ho-
fiert. Auch Horst Köhler hat ihn nicht hofiert. Es ging
einzig und allein darum, auch mit solchen Staatschefs
Gespräche zu führen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber welche!)
Das hat nichts mit Hofieren zu tun. Wir dürfen aber auch
nicht in Sprachlosigkeit verharren; denn nur durch Dia-
log schaffen wir es, auch dort neue Wege aufzuzeigen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg
van Essen [FDP]: Genau so ist es!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere He-
rausforderung stellt die demografische Entwicklung dar.
Schauen wir uns einmal die Bevölkerungszahlen an – ich
berufe mich dabei auf die Zahlen der Deutschen Stiftung
Weltbevölkerung –: In Afrika leben zurzeit 1 030 Millio-
nen Menschen. Es werden bereits 2025 1 412 Millionen
und im Jahr 2050 2 084 Millionen Menschen sein. Das
bringt Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Er-
nährung und damit der ländlichen Entwicklung sowie
Energieversorgung mit sich.
Lassen Sie mich bezüglich Wasser ein Beispiel heraus-
greifen – hier müssen wir auch unsere Bevölkerung mit-
nehmen –: Eine Stadt wie Lagos hat eine Kläranlage für
350 000 Einwohner, die 1950 gebaut wurde. Jetzt hat La-
gos 16 bis 18 Millionen Einwohner. Damit geht fast alles
Abwasser in die Lagunen, dann in den Atlantik und
kommt irgendwann bei uns an. Wir müssen das unserer
Bevölkerung deutlich machen, damit sie bereit ist, Ent-
wicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit Afrika
entsprechend zu unterstützen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, diese christlich-liberale
Koalition und Dirk Niebel haben ganz deutlich gesagt:
Schwerpunkte werden wir in den Bereichen Wasser,
ländliche Entwicklung und Bildung setzen. Je gebildeter
die junge Generation ist – der Anteil der jungen Genera-
tion unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Afrika
beträgt zurzeit 40 Prozent –, desto mehr Teilhabe will sie
haben und desto eher wird sie nachhaltige Entwicklung
als Chance für die eigene Heimat begreifen. Auch das ist
12626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Hartwig Fischer (Göttingen)
(A) (C)
(D)(B)
eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stel-
len müssen. Hierfür tragen wir Verantwortung. Hier
müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union
Schwerpunkte setzen.
All dies bietet Entwicklungsmöglichkeiten für den
Chancenkontinent Afrika. Ich bitte Sie einfach einmal,
die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die die Deutsche
Stiftung Weltbevölkerung ermittelt hat und die auch
Auswirkungen auf uns hat, genauer anzusehen. Dann se-
hen Sie, welche Herausforderungen sich für Afrika, aber
auch für uns als Nachbarkontinent stellen. Unterstützen
Sie dabei diese christlich-liberale Koalition!
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5951. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Geset-
zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 17/5895 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
und zur Reformierung des Wahlrechts
– Drucksache 17/5896 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Thomas Oppermann (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
vor der letzten Bundestagswahl hat das Bundesverfas-
sungsgericht das Bundeswahlgesetz überprüft und ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass es verfassungswidrig ist.
Es hat dem Gesetzgeber eine Bearbeitungsfrist von drei
Jahren eingeräumt. Diese läuft in sechs Wochen ab. Wir
stellen fest:
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nichts ist!)
Am Ende dieser drei Jahre stehen wir fast genau dort, wo
wir zu Beginn gestanden haben. Es gibt keine Mehrheit
im Deutschen Bundestag für ein verfassungskonformes
Wahlrecht. Ich finde, das ist eine grobe Missachtung der
Rechtsprechung des Gerichtes durch die Mehrheit in die-
sem Hause.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben eine Nachspielzeit von drei Jahren bekom-
men. Aber Sie haben die Uhr einfach ablaufen lassen
und haben nichts gemacht. Ich finde, das ist eine un-
glaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit, die
Sie an den Tag legen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht,
der Schönheitsfehler haben mag.
(Jörg van Essen [FDP]: Gravierende
Schönheitsfehler!)
Aber er würde uns helfen, ein verfassungskonformes
Wahlrecht zu schaffen. Die SPD legt heute einen Gesetz-
entwurf für ein verfassungskonformes Wahlrecht vor.
Sogar die Fraktion Die Linke hat einen Gesetzentwurf
eingebracht.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der gefällt
Ihnen?)
Dass Sie sich als Regierungskoalition ausgerechnet von
den Linken in Sachen Verfassung und Wahlrecht überho-
len lassen,
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Lesen Sie
doch erst einmal den Gesetzentwurf!)
spricht eindeutig gegen Sie.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimm-
gewicht beanstandet. Das ist in der Tat eine paradoxe Er-
scheinung in unserem Wahlrecht. Es hätte bei der Nach-
wahl in Dresden dazu geführt, dass die CDU, wenn sie
kräftig Zweitstimmen hinzugewonnen hätte, ein zusätz-
liches Listenmandat in Sachsen gewonnen hätte. Sie
hätte dann aber ein Mandat in Nordrhein-Westfalen ver-
loren. Allerdings wäre dieses Mandat in Sachsen gar
nicht zu Buche geschlagen; denn in Sachsen hatte die
CDU sogenannte Überhangmandate. Deshalb wäre in
der Konsequenz ein Überhangmandat lediglich in ein
Listenmandat umgewandelt worden. Unter dem Strich
hätte die Union ein Mandat, und zwar in Nordrhein-
Westfalen, verloren.
Das bedeutet: Ein Zuwachs an Zweitstimmen kann
zum Verlust von einem Mandat führen. Das Bundesver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12627
Thomas Oppermann
(A) (C)
(D)(B)
fassungsgericht sagt, dass das nicht sein darf. Wenn die
Wählerinnen und Wähler nicht mehr sicher sein können,
ob sie mit ihrer Stimmabgabe ihrer Partei nützen oder
schaden, dann ist das Vertrauen in das Wahlrecht in der
Tat beeinträchtigt und dann muss dieser Fehler korrigiert
werden.
Das negative Stimmgewicht hat aber nur eine be-
grenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit
ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr.
Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommuni-
zierende Röhren, die das immer ausgleichen.
Eine viel gravierendere Verzerrung der Wirkung von
Wählerstimmen kommt durch die Überhangmandate zu-
stande. Sie sind das eigentliche Problem. Wir kennen
Überhangmandate seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland. Vor 1990 waren es allerdings nie mehr als
sechs Überhangmandate. Seit der Vereinigung ist ihre
Zahl gewachsen. Heute haben wir bei einem Fünf-Par-
teien-System 24 Überhangmandate im Deutschen Bun-
destag, so viel wie noch nie zuvor. Diese 24 Überhang-
mandate entfielen ausschließlich auf die Union. Das
bedeutet: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen,
die man normalerweise braucht, um diese Anzahl der
Mandate zu gewinnen, musste sich die Union verdienen.
Sie hat sie extra obendrauf bekommen.
Das Bundesverfassungsgericht – das muss man natür-
lich klar einräumen – hat bisher noch nicht eindeutig die
Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate festge-
stellt,
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ganz im
Gegenteil!)
aber schon in seiner ersten Entscheidung klar ausgeführt,
dass bei Überhangmandaten die Wähler der entsprechen-
den Kandidaten ausnahmsweise ihr Stimmgewicht ver-
doppeln können und dass das nur in engen Ausnahme-
grenzen zulässig ist. In einer anderen Entscheidung hat
es gesagt: Wenn sich der Anteil der Überhangmandate
allerdings der 5-Prozent-Marke nähert, dann wird es ver-
fassungsrechtlich kritisch. Genau dahin bewegen wir
uns: 24 Mandate sind noch keine ganzen 5 Prozent, aber
wir haben hier jetzt Überhangmandate fast in Fraktions-
stärke; das ist wie eine sechste Fraktion im Deutschen
Bundestag. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass
Überhangmandate in dieser Größenordnung aus vier
Gründen verfassungswidrig sind:
Erstens. Sie verleihen manchem Wähler ein doppeltes
Stimmgewicht: Ein Teil der Wähler kann mehr Abgeord-
nete in den Deutschen Bundestag wählen als andere
Wähler. Das ist eine Wirkung, die wir schon einmal in
Deutschland hatten: beim vorkonstitutionellen Wahl-
recht in Preußen.
Zweitens. Die Überhangmandate führen zu einer mas-
siven regionalen Ungleichverteilung der Mandate und
damit zu unterschiedlichem politischem Einfluss der
verschiedenen Regionen. Die CDU in Baden-Württem-
berg hat bei der letzten Wahl mit rund 34 Prozent der
Zweitstimmen fast 50 Prozent der Mandate gewonnen,
davon zehn Überhangmandate. Das politische Gewicht
der zehn Überhangmandate ist fast genauso groß wie das
politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg
hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württem-
berg hat jetzt zwar eine gute Regierung; aber das ist noch
lange kein Grund dafür, dass diese Region hier im Deut-
schen Bundestag mit zehn Mandaten überrepräsentiert
sein sollte.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Drittens. Die Überhangmandate verletzen die Chan-
cengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Die
SPD braucht für ein Bundestagsmandat 68 500 Stimmen,
die CSU 62 000 Stimmen, die CDU nur 61 000 Stim-
men. Es ist kein faires Wahlrecht, wenn einzelne Par-
teien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen als an-
dere.
Der vierte Punkt ist im Hinblick auf die Verfassungs-
widrigkeit der Überhangmandate am gravierendsten. Die
Überhangmandate können die Mehrheiten im Deutschen
Bundestag umdrehen. Das heißt, eine Minderheit der
Stimmen kann zu einer Mehrheit der Mandate führen.
Die Überhangmandate können hierfür den Ausschlag ge-
ben. Spätestens wenn das passiert – meine Damen und
Herren, da bin ich ganz sicher –, werden die Wählerin-
nen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit
unserer Demokratie verlieren. Das kann dann eine
Staats- und Verfassungskrise auslösen, über die sich nie-
mand freuen kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE
LINKE])
Deshalb müssen wir dieses Problem ernst nehmen.
Alle Experten sagen, dass die Zahl der Überhangman-
date im Fünf-Parteien-System weiter anwachsen wird,
von 24 in Richtung 50 oder 60. Das ist eine ernstzuneh-
mende Bedrohung.
Wir müssen wissen: Das Wahlrecht ist nicht irgendein
Recht, das beliebig gestaltet werden kann. Das Wahl-
recht ist neben der Freiheit der Person und der Mei-
nungsfreiheit für die Demokratie schlechthin konstituie-
rend: In der Demokratie liegt die Macht beim Volk; der
Wahlakt ist die Übertragung dieser Macht vom Volk auf
das Parlament. Der Wahlakt muss deshalb klar, einfach
und sauber sein; vor allen Dingen muss er manipula-
tionsfrei gestaltet sein. Er ist verbunden mit dem glei-
chen Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; dieses
gleiche Wahlrecht ist im Augenblick nicht mehr gewähr-
leistet.
Wir sagen deshalb: Ein verfassungskonformes Wahl-
recht muss nicht nur das negative Stimmgewicht beseiti-
gen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren.
Hier gibt es mehrere Wege. Die Grünen wollen die Über-
hangmandate nach ihrem Entwurf mit Mandaten auf den
Landeslisten anderer Länder verrechnen. Das ist nicht
unproblematisch, weil auch das zu einer regionalen Un-
gleichverteilung des politischen Einflusses führen
würde. Außerdem könnte man CSU-Mandate nicht ver-
rechnen, weil die CSU eine eigenständige Landesliste
aufstellt.
12628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Thomas Oppermann
(A) (C)
(D)(B)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dafür haben wir auch eine Lösung!)
Man müsste dann der CSU direkt gewählte Mandate
wieder abnehmen. Auch das ist problematisch. Die Lin-
ken legen einen Entwurf vor, in dem dieses Modell mit
dem SPD-Modell kombiniert wird.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie können
alle zustimmen!)
Unser Modell sieht vor, die Überhangmandate auszu-
gleichen, sodass die Proportionalität des Zweitstimmen-
ergebnisses wiederhergestellt werden kann.
(Beifall bei der SPD)
Ausgleichsmandate gewährleisten, dass die Stimm-
abgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich
nützt. Die Wählerinnen und Wähler können bei der
Stimmabgabe dann wieder sicher sein, dass ihre Stimme
der Partei, die sie gewählt haben, im Endeffekt zugute
kommt. Wir sehen natürlich ganz klar die Gefahr, dass
der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate
größer werden kann. Wir sehen aber nicht tatenlos zu.
Dieser unerwünschte Effekt kann korrigiert werden.
Deshalb sagen wir: Vor der übernächsten Bundestags-
wahl kann man auswerten, wie sich die Ausgleichsman-
date ausgewirkt haben. Wir wären dann bereit, durch
eine maßvolle Reduzierung der Direktwahlkreise eine
Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen. Auf die-
sem Weg würden wir gleichzeitig einen Umstand her-
stellen, der die Entstehung von Überhangmandaten ten-
denziell verhindern kann.
Die Koalition überlegt immer noch. Sie hat noch im-
mer keine Einigung gefunden. Das liegt natürlich daran,
dass sie das Wahlrecht in erster Linie als Instrument zur
Machtabsicherung betrachtet.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht von
sich auf andere schließen!)
Die Union möchte um jeden Preis die Überhangmandate
behalten. Ich rufe Ihnen zu: Letztes Mal haben Sie zwar
reichlich Überhangmandate gehabt, wie das beim nächs-
ten Mal sein wird, wissen wir aber nicht.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eben!)
In der Vergangenheit hat auch die SPD von Überhang-
mandaten profitiert.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Viel
häufiger!)
Immer haben aber nur CDU und SPD davon profitiert,
nie die Grünen, nie die FDP und nie die Linkspartei.
Deshalb sagen wir: Wenn die Überhangmandate all diese
kritischen Wirkungen haben, dann wollen wir davon
nicht profitieren. Wir wollen auf diese Chance verzich-
ten, indem wir die Überhangmandate ausgleichen.
Ich kann verstehen, dass die Union sich angesichts ei-
ner laut demoskopischer Untersuchungen schrumpfen-
den Zustimmung und angesichts der schlechten Land-
tagswahlergebnisse an diesen Überhangmandaten
festklammern will. Was ich aber nicht verstehen kann,
Herr Brüderle, ist, dass die FDP in diesen Verhandlun-
gen alles tut, um der Union die Überhangmandate zu si-
chern. Die FDP hat zwar ein bisschen unter dem Image
gelitten, eine Partei der Egoisten zu sein, dass Sie jetzt
aber so altruistisch sind, dass Sie sogar zur Machtabsi-
cherung der Union beitragen wollen
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Tief
gesunken, die FDP!)
und für ein Wahlrecht eintreten, das Ihrer Partei über-
haupt nicht hilft, wundert mich sehr. Dieses Wahlrecht
hilft den kleinen Parteien gar nicht. Sie bekommen zwar
Ausgleichsmandate, aber keine Überhangmandate.
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wer redet
jetzt machtpolitisch? – Dr. Günter Krings
[CDU/CSU]: Eine machtpolitische Rede hal-
ten Sie!)
Deshalb möchte ich Sie bitten: Kehren Sie zurück
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Zur
Sache!)
an den Verhandlungstisch. Sie haben mit uns zwar Ge-
spräche geführt, aber wir hatten den Eindruck, dass die
Gespräche nur geführt wurden, um Zeit zu schinden. Da-
für stehen wir nicht zur Verfügung. Wir haben jetzt einen
Entwurf auf den Tisch des Hauses gelegt. Dazu kann es
jetzt eine Anhörung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie
noch vor Ablauf der Frist wenigstens einen Entwurf vor-
legen.
Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit vor einem Al-
leingang warnen. Ein Konsens im Wahlrecht ist für un-
sere Demokatie wichtig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihr Modell durchbringen
wollen, dann können wir nicht ausschließen, dass wir
uns in Karlsruhe wiedersehen. Dann wird das Bundes-
verfassungsgericht vielleicht final Gelegenheit bekom-
men, ein abschließendes Wort zur Verfassungswidrigkeit
der Überhangmandate zu sagen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Thomas Oppermann. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter
Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Krings.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-
tieren heute auf Antrag von SPD und Linken über das
Wahlrecht. Ich will Ihnen, Herr Oppermann, und allen
anderen Kollegen eines vorweg sagen: So weit Sie kriti-
sieren, dass die Koalitionsfraktionen zu lange brauchen,
um einen ausformulierten Gesetzentwurf zu diesem
Thema vorzulegen, gebe ich Ihnen recht. Dieser Kritik
kann und will ich nicht entgegentreten. Auch ich hätte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12629
Dr. Günter Krings
(A) (C)
(D)(B)
mir gewünscht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt deutlich
weiter wären.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr gut!)
Aber ich möchte Ihnen auch Folgendes sagen: Sie
sollten vermeiden – zum Schluss klang es ein wenig so,
als ob Sie das tun könnten –, bei diesem Thema in Oppo-
sitionsreflexe zu verfallen. Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen, dass man versuchen muss, mit allen Frak-
tionen zu sprechen. Hierfür gab es durchaus schon An-
gebote. Hier sind eben nicht nur die Regierungsfraktio-
nen, sondern alle Fraktionen in diesem Hause gefragt,
dieses schwierige Problem „negatives Stimmgewicht“ in
den Griff zu bekommen und Lösungsvorschläge zu ma-
chen. Nur: Es reicht eben nicht, irgendeinen Gesetzent-
wurf vorzulegen, wie das inzwischen alle drei Fraktio-
nen auf der linken Seite dieses Hauses gemacht haben,
sondern es muss etwas vorgelegt werden, was verfas-
sungskonform, transparent und fair ist.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir sitzen in der Mitte! Sie sind wohl
einäugig, Herr Kollege!)
Fair heißt: fair zwischen den verschiedenen Parteien und
fair zwischen den verschiedenen Regionen in Deutsch-
land. Ich kann es vorwegnehmen: Alle drei Gesetzent-
würfe erfüllen diese Mindestvoraussetzungen für Wahl-
rechtsanträge eindeutig nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben den
Antrag nicht verstanden!)
Insofern verstärkt das noch die von Ihnen geäußerte
Kritik – und auch meine Selbstkritik – daran, dass wir
als Regierungsfraktionen noch nicht geliefert haben: Wir
hätten Ihnen allen bei den Entwürfen, die Sie vorgelegt
haben, eine Blamage ersparen können. Wir hätten Sie
davor bewahren müssen, solchen Unsinn vorzulegen,
wie er von Ihnen kam.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, Versager! – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eindeutig eine
Flucht nach vorn!)
Wir haben, das bekenne ich freimütig, unsere Fürsorge-
pflicht Ihnen gegenüber nicht erfüllt.
(Thomas Oppermann [SPD]: Nichts auf der
Pfanne, aber andere heruntermachen! – Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schä-
men Sie sich und treten ab!)
Ich will Ihnen noch einmal die Probleme aufzeigen.
Ich will kurz einen Entwurf nach dem anderen an-
schauen, damit ich darlegen kann, warum diese drei Ent-
würfe allesamt untauglich sind.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und
wo ist Ihr Vorschlag?)
Meine Damen und Herren, gemeinsam können wir aus
diesen drei Entwürfen lernen, wie man es nicht macht.
Auch das ist schon ein gewisser Fortschritt.
Kommen wir zunächst zum Vorschlag der Grünen,
die ihn heute nicht zur Debatte stellen, die ihn vielmehr
vor einigen Wochen vorgelegt haben.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Schon in der letzten Legislaturpe-
riode! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Zahlreiche!)
Übrigens legen Sie Vorschläge immer nur dann vor,
wenn Sie in der Opposition sind; in Regierungszeiten ha-
ben Sie es nie geschafft, Ihren Koalitionspartner zu ei-
nem Vorschlag zu überreden. Aber das sei dahingestellt.
Sie wollen Überhangmandate auf anderen Landeslis-
ten kompensieren, sie durch Verrechnungen ausgleichen.
Im Klartext: Ihr Vorschlag geht dahin, dass an sich bereits
auf Landeslisten gewählte Abgeordnete ihr Mandat wie-
der verlieren, weil in einem anderen Bundesland Über-
hangmandate eingetreten sind. Wie die anderen Fraktio-
nen ignorieren Sie dabei, dass die Überhangmandate
überhaupt nicht das Problem sind, das das Bundesverfas-
sungsgericht uns zur Lösung aufgetragen hat.
(Gabriele Fograscher [SPD]: Und Ihr Vor-
schlag?)
Wir sind aber sehr dafür, nur die Probleme zu lösen, die
uns von Karlsruhe zur Lösung aufgetragen wurden, und
nicht irgendwelche imaginären Probleme.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie entstehen aber durch Überhang-
mandate!)
Eine weitere Verschlimmbesserung geht dahin – der
Kollege Mayer wird nachher dazu noch etwas ausführli-
cher sprechen –, dass Sie dann, wenn dieser Ausgleich
nicht ausreicht, sogar den direkt in Wahlkreisen gewähl-
ten Abgeordneten ihr Mandat wieder abnehmen wollen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir lassen sie erst gar nicht antreten!
Das ist was anderes!)
Das ist ein Vorschlag, der an Demokratiefeindlichkeit
nicht zu überbieten ist. Ein solches Wahlrecht hat es
nicht einmal – wir haben es eben erwähnt – im Preußi-
schen Landtag oder im Deutschen Reichstag gegeben.
Damit gehen Sie zurück in vordemokratische Zeiten. So
etwas werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber
gut! Selber nichts gebacken bekommen und
dann von „vordemokratisch“ reden!)
Die Folgen dieser grünen Ideen sind, dass ganze
Wahlkreise eventuell ohne jeden Vertreter im Bundestag
bleiben. Ein Land wie Brandenburg beispielsweise, in
dem 350 000 Menschen CDU wählen, stünde am Ende
eventuell ganz ohne einen CDU-Abgeordneten im Deut-
schen Bundestag da.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da
würde nichts passieren!)
12630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Günter Krings
(A) (C)
(D)(B)
Das ist demokratie- und proporzfeindlich. Bei Ihrem
Vorschlag kann so etwas durchaus passieren. Es wäre
fast schon bei der letzten Bundestagswahl passiert, wenn
Ihr Wahlrecht gegolten hätte. In Wahrheit geht es Ihnen
nicht um die Lösung des Problems des negativen Stimm-
gewichts. Es geht Ihnen darum, das Projekt „Abschaffen
der Überhangmandate“ – ein ganz anderes Projekt – zu
forcieren.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das hängt zusammen!)
Das ist, wenn man so will, ein Kapern der Gerichtsent-
scheidung für Ihre eigennützigen Zwecke.
Dass dieses Thema – Aberkennung von gewonnenen
Mandaten – offenbar doch gefährlich ist und uns das
durchaus drohen könnte, sieht man daran, dass eine
zweite Fraktion in diesem Hause, nämlich die Linksfrak-
tion, einen ähnlichen Vorschlag vorlegt. Auch dieser
Vorschlag führt dazu, dass Länder doppelt bestraft wür-
den, indem sie – das hat Herr Oppermann durchaus rich-
tig gesagt – zusätzlich benachteiligt würden, weil sie als
Steinbruch für Länder mit Überhangmandaten dienen
sollen. Das ist ein föderal ungerechtes System, das wir
nicht akzeptieren können.
Aber die Linken wären ja nicht die Linken, wenn sie
nicht diesem Unsinn noch einige absurdere Vorschläge
hinzufügen würden. Sie wollen zum Beispiel das Wahl-
alter auf 16 Jahre heruntersetzen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Was das nun mit der Karlsruher Entscheidung zu tun hat,
mag jeder für sich beurteilen. Wir sind als Union und als
Koalition der Auffassung: In unserem Land gehören
Rechte und Pflichten zusammen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es ist schon bemerkenswert, dass eine Fraktion, die
ansonsten nicht einmal den Erwachsenen mündige Ent-
scheidungen, etwa im Verbraucherrecht, zutraut,
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bitte?
Wie kommen Sie denn darauf?)
auf einmal Jugendliche und Kinder entscheiden lassen
möchte.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Bravo!)
Hören Sie endlich damit auf, Erwachsene wie Kinder
und Kinder wie Erwachsene zu behandeln!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bil-
lig!)
Auch die Linken sind offensichtlich von sinkenden
Umfragewerten alarmiert. Daher wollen sie sich offen-
bar ein neues Wahlvolk zusammenstellen.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Bei Ihnen läuft es
gut?)
Das hat ja in der DDR schon einmal gut funktioniert.
Wenn man mit dem Volk nicht einverstanden ist, löst
man das alte Volk auf und wählt sich ein neues Volk.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Er hat selber
keinen Plan und fängt hier an, abzulenken! So
eine Pfeife!)
In diesem Zusammenhang sind wohl Ihre Vorschläge
zum Ausländerwahlrecht zu sehen. Sie verlangen, dass
Ausländer, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt ha-
ben, ohne Weiteres das Wahlrecht erhalten.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Das ist verfassungswidrig und offensichtlich ein Verstoß
gegen Art. 20 des Grundgesetzes. Für eine philologisch-
juristische Nachhilfestunde fehlt mir die Zeit.
(Zurufe von der SPD: Oh!)
„Demokratie“ kommt von „Demos“, das heißt „Volk“,
„Staatsvolk“. Das Staatsvolk sind die Bürger der Bun-
desrepublik Deutschland. So steht es in Art. 20 unseres
Grundgesetzes.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Mal einen ei-
genen Vorschlag vorlegen! Ein bisschen mehr
Nachdenklichkeit!)
Sie sollten zumindest einmal in diesen Grundartikel un-
serer Verfassung schauen. Auch ich bin sehr dafür, dass
Zuwanderer bei der Bundestagswahl wählen können,
aber erst, nachdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft
beantragt und erhalten haben. Dazu haben wir geringe
Hürden. Wir haben immer noch eines der liberalsten
Einbürgerungsrechte in ganz Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bei einem dritten Vorschlag der Linken stockt einem
wirklich der Atem. Der eigentliche Schwerpunkt Ihres
Gesetzentwurfs ist – das sieht man, wenn man die Zahl
der zu ändernden Paragrafen betrachtet; Sie wollen über
20 Paragrafen ändern –, dass Sie ein flächendeckendes
aktives und passives Wahlrecht für alle verurteilten
Straftäter in Deutschland erreichen wollen. Ihr Schwer-
punkt in der politischen Agenda beim Wahlrecht ist of-
fenbar, verurteilte Straftäter wählen zu lassen.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist
eine juristische Folgeentscheidung!)
Man kann jetzt darüber spekulieren, dass eine Partei, die
aus einem Staat hervorgegangen ist, der zum Teil von
Verbrechern geführt worden ist, es für besonders demo-
kratisch hält, dass verurteilte Straftäter gewählt werden
können und wählen dürfen. Dass beispielsweise ein ver-
urteilter Mörder bei einer Bundestagswahl Wahlrecht
hat, scheint Ihnen wichtig zu sein. Auch dass ein verur-
teilter Sexualstraftäter bei der Bundestagswahl kandidie-
ren darf, scheint Ihnen wichtig zu sein. Ich will diese
Spekulationen gar nicht weiterführen; ich glaube, das
hätten Sie auch gar nicht verdient. Ich möchte nur eines
sagen: Mit dieser Fülle von Forderungen in Ihrem Ge-
setzentwurf ist klar geworden, wo verurteilte Straftäter
in Deutschland ihre politische Heimat finden, nämlich
auf der ganz linken Seite des Hauses.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12631
Dr. Günter Krings
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Lachen bei der LINKEN – Swen
Schulz [Spandau] [SPD]: Was ist denn dann
mit den ganzen Steuerleuten? Wo ist deren
Heimat?)
Daher ist es fast wohltuend, sich dem Gesetzentwurf
der SPD zuzuwenden. Das mache ich nur kurz, da auch
der Gesetzentwurf sehr kurz ist. Er ist im wahrsten Sinne
des Wortes fadenscheinig; man kann, wenn man ihn ge-
gen das Licht hält, fast hindurchschauen.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ist das alles?)
Ihr Gesetzentwurf ist sicherlich, Herr Oppermann, gut
gemeint. Aber wir alle wissen: Das Gegenteil von gut
gemeint ist gut. Er ist also nicht gut gemacht. Das
Hauptproblem ist – das haben Sie ja am Ende des Ge-
setzentwurfes etwas schamhaft erwähnt –, dass eine Um-
setzung des Gesetzentwurfes zu einem massiven Aufbla-
sen des Deutschen Bundestages in einer Größenordnung
führen würde, die unberechenbar ist. Es können einmal
20 Abgeordnete mehr sein, es können auch leicht einmal
120 Abgeordnete mehr sein. Man kann jetzt lange da-
rüber philosophieren, zu welchen zusätzlichen Kosten
für Mitarbeiter, Abgeordnetenentschädigung und ande-
rem das führen würde, aber vor allem tut es, glaube ich,
einer Demokratie nicht gut, wenn die Größe eines Parla-
ments, also des Bundestages, von Wahl zu Wahl extrem
variiert. Von daher ist es aus politischen Gründen äußerst
fragwürdig, einen solchen Antrag zu forcieren.
(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch schon
heute so wegen der Überhangmandate!)
Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie meinen, Sie könnten
das Problem mit einer Reduktion der Zahl der Wahl-
kreise lösen, greifen Sie zu kurz. Das würde im Zwei-
felsfalle sehr viele Wahlkreise in Deutschland kosten.
Vielleicht sollten Sie in Ihrer eigenen Fraktion noch ein-
mal in Ruhe darüber debattieren, ob das so gewollt ist.
Jedenfalls kann es leicht passieren, dass Sie damit der
größten politischen Flurbereinigung in Deutschland das
Wort reden, die es seit dem Reichsdeputationshaupt-
schluss gegeben hat.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Größer haben Sie es nicht?)
– Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Wieland.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich sehe die Guillotine schon vor mir! –
Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das größere Problem ist allerdings, dass der Aus-
gleich, den Sie vorschlagen, das Problem des negativen
Stimmgewichts überhaupt nicht löst. Ich zitiere wörtlich
aus Ihrer Begründung. Im jetzigen Wahlrecht ist es so,
dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Ver-
lust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der
Landeslisten führen kann …
So steht es in Ihrem Entwurf. Das stimmt. Genau das
bewirkt das geltende Wahlrecht. Sie haben das Problem
des negativen Stimmgewichts vollkommen korrekt be-
schrieben. Es ist der Auftrag des Bundesverfassungsge-
richts, dieses Problem zu beseitigen. Genau das leistet
Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle. Er reduziert nicht
einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts. Sie be-
seitigen nicht das negative Stimmgewicht, sondern Sie
gleichen es nur aus.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz?
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Sehr gerne.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Herr Kollege Krings, wenn wir rein fachlich diskutie-
ren, ist, wie ich meine, Ihre Kritik an den Entwürfen, die
vorliegen, zu respektieren.
Wir vonseiten der SPD haben nicht den Anspruch, ei-
nen allein selig machenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Ich will Ihnen freimütig sagen: Es treibt uns um – bitte
nehmen Sie das ernst; ich sage das ohne jede Polemik –,
dass wir kurz vor Ablauf einer Frist, einer sehr großzü-
gig bemessenen Frist, stehen, die uns das Bundesverfas-
sungsgericht zur Vorlage eines verfassungsfesten Wahl-
rechts eingeräumt hat. Ich könnte Ihnen fast sagen – ich
bin dazu jetzt allerdings nicht autorisiert –: Wir ziehen
alles zurück. – Das Entscheidende ist doch, dass Sie uns
endlich vor den Ohren und Augen der Öffentlichkeit ei-
nen Vorschlag unterbreiten müssen. Wie geht es weiter?
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!)
Alle Fraktionen dieses Parlaments sind jederzeit, Tag
und Nacht, bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Das hätten
wir schon früher machen können; aber sei es drum. Es ist
noch nicht zu spät. Machen Sie uns bitte einen Vor-
schlag, damit alle Fraktionen ihren Job machen und ihre
Aufgabe erfüllen können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Wenn wir dieses Thema gemeinsam angehen, dann
werden wir innerhalb von sechs, acht Wochen, nach der
Abwägung des Für und Wider, Lösungsvorschläge vor-
legen können. Dabei werden Ihre Argumente und unsere
Argumente eine Rolle spielen, sicherlich aber nicht die
Argumente, die sich auf Verbrecher beziehen. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass uns gelingt, was uns in dieser
Frage immer gelungen ist, nämlich einen Konsens zu
finden.
Das Wahlrecht – Herr Krings, das muss ich Ihnen
nicht sagen; da will ich Sie auch nicht belehren – ist von
überragender Bedeutung. Das sind die Spielregeln unse-
rer Demokratie. Dass wir die Aufgaben, die uns gestellt
12632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Dieter Wiefelspütz
(A) (C)
(D)(B)
worden sind, nicht erfüllen, bedeutet: Wir machen unse-
ren Job nicht. Sie und wir, wir alle machen unseren Job
nicht, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist
der Auftrag des Parlamentes, ein verfassungskonformes
Wahlrecht herzustellen; dies treibt uns um. Dieses Anlie-
gen ist für mich zehnmal wichtiger als der Gesetzent-
wurf der SPD. Man kann natürlich auch über ihn hinaus-
gehen. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Geben
Sie uns die Gelegenheit, uns endlich gemeinsam an den
Verhandlungstisch zu setzen!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Das war die Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Das war eine sehr lange und mir sehr willkommene
Zwischenfrage, Herr Wiefelspütz. Ich hatte schon ge-
hofft, dass ich die Grundzüge unseres Modells – nicht
auf Kosten meiner Redezeit – erläutern kann. Das tue ich
jetzt gerne und antworte Ihnen damit auf Ihre Frage.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aha!)
Wir haben schon Gespräche geführt, zum Beispiel
zum Rechtsschutz, aber auch zu anderen Aspekten.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Und was
war Ihr Vorschlag zum Rechtsschutz?)
Diese Gespräche fanden zwischen den Fraktionen statt,
auch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen.
Ich sage Ihnen ganz klar – das habe ich hier im Plenum
bereits mehrfach vorgetragen –: Die Lösung muss darin
bestehen, dass wir das Problem, das das Bundesverfas-
sungsgericht zur Lösung aufgegeben hat, nämlich das
negative Stimmgewicht, erst einmal in der Sache ernst
nehmen.
(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Christine
Lambrecht [SPD]: Dafür hatten Sie aber schon
ein bisschen Zeit! – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist kurz
vor Toresschluss! – Thomas Oppermann [SPD]:
Das war drei Jahre nicht zu erkennen!)
Wir müssen es begreifen und erkennen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das negative Stimmgewicht entsteht durch die Ver-
bindung von Landeslisten. Wie kann ein Problem, das
durch die Verbindung von Landeslisten entsteht, gelöst
werden? Durch die Trennung von Landeslisten.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Krings,
wann verhandeln wir?)
– Jetzt rede ich. Sie haben gerade geredet.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja! Wann ver-
handeln wir?)
Deshalb befürworten wir ein Modell zur Trennung von
Landeslisten; das wissen Sie. Es ist erstaunlich, dass kei-
ner der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen auf
dieses Modell eingeht. Wir alle wissen, dass es im Hin-
blick auf Gesetzesbegründungen Rationalisierungsanfor-
derungen gibt; das hat das Bundesverfassungsgericht
mehrfach festgestellt. Sie müssen sich in Ihren Gesetzent-
würfen aber zumindest mit diesem Thema beschäftigen.
Dieses Lösungskonzept, das einfachste und sicherste,
wird aber in keinem der Gesetzentwürfe der Oppositions-
fraktionen erwähnt.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das bringt
doch noch mehr negatives Stimmgewicht!)
Dieses Konzept ist allerdings das richtige.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösung besteht im We-
sentlichen in der Streichung eines einzelnen Paragrafen.
Ich sage Ihnen aber auch – das ist ein Grund für das
langsame Verfahren –: Es gibt in diesem Bereich Unter-
varianten. Man könnte die Mandate beispielsweise nach
der aktuellen Wahlbeteiligung Landeslisten zuordnen;
das ist ein wunderbares Instrument, um echte Erfolgs-
wertgleichheit herzustellen. Wenn man auch die dann
vielleicht immer noch vorhandenen inversen Effekte und
Restwirkungen des negativen Stimmgewichts ausglei-
chen will, müsste man die Mandate nach Bevölkerungs-
anteilen verteilen. Beide Varianten wären möglich.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist dem Wähler nicht zu er-
klären!)
Darüber hinaus gibt es ein, zwei weitere Untervarianten.
Das Konzept bzw. der Weg ist vorgezeichnet. Darüber
können wir sofort in Gespräche eintreten;
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas
Oppermann [SPD]: Aha! Und was ist mit der
FDP? – Gabriele Fograscher [SPD]: Sie müs-
sen sich mit der FDP einigen!)
auch über dieses Thema haben wir schon gesprochen,
auch mit Ihrer Fraktion. Wir müssen überlegen, welche
Untervarianten wir anwenden. Ich sage Ihnen: Die Lö-
sung muss mit dem Problem zu tun haben. Ihre Lösun-
gen haben nichts mit dem Problem zu tun. Das Problem
ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss
in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten beste-
hen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, noch zwei Sätze zum
SPD-Modell.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Auf die Frage haben Sie bis jetzt aber
noch nicht geantwortet!)
Wir jedenfalls nehmen das Bundesverfassungsgericht
sehr ernst und lösen das Problem des negativen Stimm-
gewichts. Bei der SPD bin ich mir nicht ganz sicher, ob
sie das Problem nicht lösen wollen oder es einfach igno-
rieren. Ausgleich von Überhangmandaten heißt nicht
Beseitigung des negativen Stimmgewichts.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12633
Dr. Günter Krings
(A) (C)
(D)(B)
Ich will zum Schluss noch einige grundsätzliche Er-
wägungen machen.
Bei aller berechtigten Kritik an der Dauer der Erörte-
rungen, auch innerhalb der Regierungsfraktionen – das
habe ich am Anfang gesagt und sage ich jetzt noch ein-
mal; diese Kritik nehme ich an –, ist es wichtiger für uns
alle, dass wir ein gründlich durchdachtes und verfas-
sungskonformes Wahlrecht vorlegen und nicht eines, das
mit heißer Nadel gestrickt ist, untauglich ist oder unfaire
Elemente enthält.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na ja!)
Interessanterweise werfen Sie sich diese Punkte ja
auch gegenseitig vor. Herr Oppermann, in Ihrem Vortrag
haben Sie ganz deutlich gesagt, dass ein internes Kom-
pensationsmodell, wie es die Grünen und Linken vor-
schlagen, offenbar nicht tauglich ist und die Ungerech-
tigkeiten föderal noch vergrößern würde.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das gefällt Ihnen nicht!)
Der eigentliche Skandal ist deshalb auch nicht, dass
wir diese Frist des Bundesverfassungsgerichts eventuell
versäumen werden – das ist ärgerlich genug –,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: „Eventuell“!)
der eigentliche Skandal ist hier, dass alle Fraktionen auf
der linken Seite dieses Hauses die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens miss-
brauchen, um nicht das Problem zu lösen, sondern ihre
alte politische Agenda nach vorne zu bringen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ist ja unglaublich! Sie tun gar nichts
und beschimpfen die Opposition!)
Sie kümmern sich um Straftäter und darum, Überhang-
mandate zu beseitigen. Das hat im Kern nichts mit dem
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu tun und ist
meines Erachtens auch eine Form von Missachtung des
Bundesverfassungsgerichts.
(Gabriele Fograscher [SPD]: Wir?)
Es ist schön, dass die Opposition mit ihren Vorlagen
in diesem Bereich die Messlatte für unseren Vorschlag
nicht so hoch legt, aber wir versichern Ihnen: Wir wer-
den nicht an diesen schwachen Gesetzentwürfen Maß
nehmen, sondern wir werden einen Gesetzentwurf vorle-
gen, der transparent, gerecht und vor allem verfassungs-
konform ist.
(Christine Lambrecht [SPD]: Wann? Wann?
Wann?)
Das kann und muss dann eine solide Basis sein.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Thomas Oppermann? Dadurch würde sich
auch Ihre Redezeit verlängern.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein! Er hat lange genug geredet!)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Das war eigentlich schon mein Schlusssatz, aber bitte
schön, Herr Oppermann.
Thomas Oppermann (SPD):
Herr Kollege, Sie sagen, die Opposition missachte
das Bundesverfassungsgericht. Das macht mich fast
sprachlos. Wir legen hier Gesetzentwürfe vor, über die
man inhaltlich in der Tat immer streiten kann, um Kon-
sequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts zu ziehen. Sie haben überhaupt keinen Entwurf
vorgelegt. Deshalb entlarvt sich das, was Sie hier sagen,
als eine blanke, dreiste Vorwärtsverteidigung. Sie wollen
von dem eigenen Versagen ablenken und beschimpfen
deshalb die Opposition.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn Sie meinen, dass das die Verantwortung einer Re-
gierungsmehrheit ist, dann mögen Sie ein solches Ver-
ständnis von Verantwortung haben. Ich teile es nicht.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe eine Frage. Sie meinen, dass Ausgleichs-
mandate verfassungsrechtlich nicht vernünftig begründ-
bar sind. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be-
kannt ist, dass unter anderem die CDU in Schleswig-
Holstein gerade Ausgleichsmandate für Überhangman-
date ins schleswig-holsteinische Landeswahlrecht ein-
gefügt hat, und zwar aus dem Grund, um das vom Bun-
desverfassungsgericht beanstandete Wahlrecht zu
reparieren. Ist Ihnen das bekannt, und wie bewerten Sie
es, dass in fast allen Landeswahlgesetzen Ausgleichs-
mandate vorgesehen sind?
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Ihre Wortmeldung wundert mich in mehrfacher Hin-
sicht, Herr Oppermann. Zunächst einmal hätte ich zu-
mindest erwartet, dass Sie meiner Rede zugehört hätten.
Ich habe am Anfang und gegen Ende meiner Rede deut-
lich gesagt, dass ich die Kritik an dem langsamen Ver-
fahren ernst nehme und auch annehme. Ich habe auch
gesagt, dass es nicht reicht, irgendeinen Vorschlag vor-
zulegen, also irgendein Papier mit irgendwelchen Buch-
staben zu bedrucken, und zu meinen, dass sei jetzt ein
Beitrag zur Lösung des Problems.
(Brigitte Zypries [SPD]: Das ist doch unver-
schämt!)
Ich habe Ihnen dargelegt und bewiesen, dass Ihr An-
satz in Bezug auf die Ausgleichsmandate nichts mit der
Lösung des Problems „negatives Stimmgewicht“ zu tun
hat. Es ist auch eine Missachtung des Bundesverfas-
sungsgerichts, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, der
nichts mit dem Problem und seiner Lösung zu tun hat,
sondern nur mit der alten politischen Agenda, auf der die
Überhangmandate stehen.
12634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Günter Krings
(A) (C)
(D)(B)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Unfug! Abtreten! Langsam reicht
es! Also ehrlich!)
Ihr damaliger Kanzler Gerhard Schröder hat in die-
sem Hause nur deshalb Vertrauensfragen gewonnen,
weil es Überhangmandate gab. Sie in persona und Ihre
ganze Fraktion haben diese Überhangmandate massiv
verteidigt. Jetzt, auf einmal, da es Ihnen nicht mehr in
den Kram passt, sagen Sie: Das alles wollen wir nicht
mehr.
Das ist eben nicht der Auftrag des Bundesverfas-
sungsgerichts. Dabei geht es nur um das negative
Stimmgewicht. Dieses Problem wollen wir lösen, zuge-
gebenermaßen zu langsam, aber wir beschäftigen uns
wenigstens mit dem Problem.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Man merkt es! – Abg. Thomas Oppermann
[SPD] nimmt Platz)
– Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer
Frage, ansonsten dürfte ich ja auch gar nicht mehr reden.
Eine weitere Anmerkung, und zwar zu Ihrer Frage
zum Problem in Schleswig-Holstein. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat in einer Entscheidung, auch zum hessi-
schen Wahlrecht, sehr deutlich gesagt, dass wir in
Deutschland von sogenannten getrennten Wahlrechts-
räumen ausgehen. Schauen Sie sich Art. 28 des Grund-
gesetzes der Bundesrepublik Deutschland an. Alle ande-
ren Artikel sagen nichts über das Wahlrecht der Länder
aus.
Wir müssen hier also von komplett und grundsätzlich
getrennten Maßstäben ausgehen. Dies sagte das Bundes-
verfassungsgericht in seiner Entscheidung von vor weni-
gen Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen
zum Kummer aufgegeben – ich glaube, in diesem Kum-
mer waren wir alle uns damals einig –, das negative
Stimmgewicht zu beseitigen. Wir haben damals in Karls-
ruhe dagegengehalten. Diese Aufgabe ist auf Bundes-
ebene zu lösen. Sie ist nur dem Deutschen Bundestag ge-
stellt. Was Sie aus Schleswig-Holstein und anderen
Ländern beschreiben, ist ein Phänomen, das damit nichts
zu tun hat. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen:
Wir sind als Regierungsfraktionen gefordert. Die Oppo-
sition ist offenbar in diesen Fragen ratlos.
(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja unver-
schämt!)
Sie haben zwar Papier bedruckt, aber keine Lösungsvor-
schläge vorgelegt. Wir werden eine Lösung bieten als
Grundlage für solide gemeinsame Gespräche.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Günter Krings. – Nun für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte
schön, Kollege Jan Korte.
(Beifall bei der LINKEN)
Jan Korte (DIE LINKE):
Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts
vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu dis-
kutieren. Das ist die Wahrheit.
Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden,
nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen,
geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man sel-
ber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie
könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und
die Vorschläge sachlich zu diskutieren.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf ei-
nige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die
Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ih-
nen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus
den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstel-
len, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demo-
kratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Men-
schen an Partizipationsprozessen zu beteiligen.
Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen
Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative
Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und
Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stim-
men bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an
Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder ver-
stehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das
Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben.
Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige
Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht,
daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch,
liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern
und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: So sind wir!)
Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim
Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf.
Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht
im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direkt-
und Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die
dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebro-
chen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten
dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Aus-
gleich erfolgen. So viel zum Thema „negatives Stimm-
gewicht“.
Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu
der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt
auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu
versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit
zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die
Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen Demo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12635
Jan Korte
(A) (C)
(D)(B)
kratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es
höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen.
Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In
Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über
die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So
weit, so gut. Interessant ist dabei – an dieser Stelle sehen
wir Handlungsbedarf –, dass im Bundeswahlausschuss
die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann
darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird
oder nicht.
Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über
„Die Partei“, deren Nichtzulassung seinerzeit die Me-
dienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter ande-
rem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen.
Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch an-
dere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei
dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dage-
gen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer
Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die be-
troffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfas-
sungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das
Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem
zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entschei-
dung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt
hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert.
Wir wollen – der Kollege Krings hat es angesprochen –
noch weiter gehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf
16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch
mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und über-
nehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahl-
alter senken, analog zu den Kommunen, in denen über-
wiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in
Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jäh-
rige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch
16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an
Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir fordern des Weiteren – darauf wurde bereits hin-
gewiesen –, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in
der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahl-
recht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen
nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit
Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und
sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen,
von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts
ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier
leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weiter-
geht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbe-
kommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde – das
ist ein altes Thema – abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede
Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine
Partei fast 1 Million Stimmen bekommt, verfallen nach
geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind
wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das freut vor allem die FDP!)
– Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegen-
kommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem
Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland.
Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird im-
mer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in
die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber
nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent be-
kämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einfüh-
ren? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung
mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus
sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und
darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Pro-
zent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen
wir vor, sie zu streichen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde
insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir
schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der
Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbar-
keit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Com-
putern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie
nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem her-
kömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie
die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir
ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage,
mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren,
auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu
reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube,
dass das Vertrauen in die Demokratie – das besagen alle
empirischen Befunde – schwindet. Das darf einen nicht
kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebe-
schleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht.
Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der
Ausschluss von Lobbyisten aus Ministerien und die Be-
antwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und
ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst
vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage,
sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzu-
bringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn
wir über Demokratie diskutieren.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hartz IV muss weg!)
– Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt.
Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das
wäre ein schöner Erkenntnisgewinn.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt ei-
nen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit
in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es
keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn
Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind
– ich hoffe, dass das alle tun –, dann hören Sie oft: Es
ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in
Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. – Wir sollten
daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsre-
12636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Jan Korte
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form endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf
die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie
schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher
vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober
eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzufüh-
ren, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für
Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehr-
heit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan
stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der
Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre
ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was ist mit den Straftätern?)
eine Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität.
Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im
Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik
und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber
zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin ge-
spannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu
einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im
Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind.
Schönen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Jan Korte. – Jetzt für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte
schön, Kollege Dr. Stefan Ruppert.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Das Wahlrecht ist eine Angelegenheit, die dieses
Haus jenseits der Beteiligung von Ministerien in eigener
Verantwortung und im Dialog der Fraktionen miteinan-
der diskutieren sollte. Insofern freue ich mich über die
Diskussion am heutigen Vormittag an so prominenter
Stelle.
Leider verengt sich die Debatte ein wenig auf die Frage
des eigentlichen Wahlvorgangs. Lediglich der Kollege
Korte hat dankenswerterweise auch an andere Aspekte
gedacht. Beispielsweise müssen wir das Problem der Ber-
liner Zweitstimme beseitigen, für subjektiven Rechts-
schutz vor und nach der Wahl sorgen, Probleme bei der
Zulassung durch den Bundeswahlausschuss beseitigen
und Ähnliches mehr.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie müssen
etwas leisten, Herr Ruppert!)
– Regen Sie sich nicht künstlich auf, Herr Wiefelspütz;
das tut Ihnen nicht gut.
Es liegen drei Vorschläge vor, die ernsthaft diskutiert
werden können, nämlich der Vorschlag der Linken, der
Vorschlag der Grünen und der Vorschlag der Koalition.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wo ist der von der FDP?)
– Ich habe gesagt: der Vorschlag der Koalition.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wo ist er denn?)
– Hören Sie doch einfach zu!
Ich beginne mit der Begründung, warum die SPD kei-
nen ernstzunehmenden Vorschlag unterbreitet hat. Stel-
len Sie sich vor, wir würden heute den Gesetzentwurf,
den uns die SPD nahelegt, beschließen
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, machen! – Dr. Dieter Wiefelspütz
[SPD]: So etwas würden Sie machen?)
und bezüglich der Frage, wie zukünftig gewählt wird, zu
100 Prozent nach den Vorstellungen der SPD verfahren.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Oh Gott! –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sofort abstimmen!)
Meine naturwissenschaftliche Vorbildung sagt mir,
dass man beim Versuchsaufbau den gleichen Ablauf, den
man hatte, noch einmal abbilden lassen sollte.
(Thomas Oppermann [SPD]: Simulieren!)
Das Verfassungsgericht hat uns gesagt: Lieber Deutscher
Bundestag, schaffen Sie das negative Stimmgewicht ab,
das bei der Bundestagswahl im Jahre 2005 durch die
Nachwahl in Dresden aufgetreten ist. – Lassen Sie uns
folgendes Gedankenexperiment einmal gemeinsam
durchspielen: Wir veranstalten die Bundestagswahl 2005
nach dem Wahlgesetz, das Sie uns heute vorschlagen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: 2005?)
– Weil 2005 die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts zu den Wahlen ergangen ist. – Wir veranstalten
also nach dem Wahlvorschlag der SPD die Wahl von
2005 und fragen uns: Wäre es zu dem negativen Stimm-
gewicht, das 2005 durch das Bundesverfassungsgericht
moniert wurde, nicht gekommen? Wäre eine Stimme ei-
nes CDU-Wählers in Dresden für die CDU negativ ge-
wesen, wenn er nach dem SPD-Wahlrecht abgestimmt
hätte? – Die Antwort ist leider: Ja. Es ist so, als würden
Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um
das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und
die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Schei-
benwischer am Fahrzeug anzubringen. Wenn wir die
Wahl 2005 nach dem Wahlrecht der SPD durchgeführt
hätten, wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls er-
folgreich gewesen,
(Thomas Oppermann [SPD]: Nein, Irrtum!)
weil nach wie vor ein CDU-Wähler seiner eigenen Partei
geschadet hätte – und das verkaufen Sie uns als ernsthaf-
ten Beitrag. Das ist doch lachhaft.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Einen solchen Anspruch können Sie hier nicht erhe-
ben. Sie werfen ein in der Tat zu diskutierendes verfas-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12637
Dr. Stefan Ruppert
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sungsrechtliches Problem, nämlich das der Überhang-
mandate, in den Raum und sagen, dass wir uns aus
politischem Kalkül, aber auch aus einer gewissen verfas-
sungsrechtlichen Überlegung heraus diesem Problem
widmen müssen. Das, was Sie zur Lösung dieses Pro-
blems vorschlagen, ist jedoch, um es als Jurist zu sagen,
keine Minus- oder Pluslösung des vorliegenden Pro-
blems, sondern ein Aliud, also etwas gänzlich anderes.
Das heißt, Sie kurieren hier etwas, was in dieser Form
nicht kuriert werden kann.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann müssen Sie dem Grünen-
Vorschlag zustimmen!)
– Damit komme ich zu Ihnen, Herr Ströbele.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da freuen wir uns!)
In der Tat ist Ihr Vorschlag tauglich, um das Problem
des negativen Stimmgewichts zu lösen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist doch gut!)
Insofern sind Sie meiner Meinung nach einen Schritt
weiter als die Kollegen von der SPD. Sie zeigen uns auf,
wie man das Problem des negativen Stimmgewichts lö-
sen kann. Sie kaufen sich dabei allerdings gravierende
verfassungsrechtliche Nachteile ein.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ach was! – Rainer Brüderle [FDP]:
Jetzt kommt es!)
Es geht um den gleichen Erfolgswert der Stimme.
In Brandenburg wählen 362 000 Menschen die CDU
– ich kann ihnen immer noch empfehlen: Wählt lieber
FDP! –
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Noch gibt es sie!)
und erringen damit kein Mandat. In Baden-Württemberg
wählen 61 000 Menschen die CDU und erringen damit
ein Mandat. Das sei jedem Baden-Württemberger Kolle-
gen von der CDU wirklich gegönnt; aber Sie können
doch nicht ernsthaft behaupten, dass bei 360 000:60 000
– in Brandenburg braucht man also praktisch das Sechs-
fache an Stimmen, um ein einziges Mandat zu erringen –
der gleiche Erfolgswert der Stimme – verfassungsrecht-
lich geboten – auch nur annähernd gegeben ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Günter
Krings [CDU/CSU]: Skandal!)
Ihr Entwurf beinhaltet einen weiteren verfassungs-
rechtlichen Kollateralschaden. Sie legen fest, dass ein-
zelne Wahlkreise in Zukunft keine direkt gewählten Ab-
geordneten mehr haben. Sie behaupten einfach: Das tut
den Leuten in Bayern eh nicht gut; deswegen nehmen
wir ihnen die Mandate von drei direkt gewählten Kandi-
daten schlicht ab. – Man stelle sich vor: In München
wird ein attraktiver Wahlkampf zwischen dem Grünen-,
dem FDP-, dem CSU- und dem SPD-Bewerber geführt,
und der CSU-Bewerber setzt sich aufgrund eines hervor-
ragenden Wahlkampfs gerade so durch,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein, der Grüne!)
ein Mann, den die Leute wirklich wollen. Dann sagen
Sie den Leuten: Der bleibt zu Hause, und in München
gibt es in Zukunft keinen direkt gewählten Abgeordne-
ten mehr für den Deutschen Bundestag. – Ich glaube,
solche Reformvorschläge können Sie hier nicht ernsthaft
vertreten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich war kurzzeitig etwas eifersüchtig, als sich die
neuen Freunde der CSU in Konkurrenz zu einem alten
Freund der CSU, nämlich mir, begeben wollten.
(Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting]
[CDU/CSU] – Jan Korte [DIE LINKE]: So
war das nicht gemeint!)
Sie lösen dieses Problem, indem Sie festlegen: Wir glei-
chen das aus.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)
Das ist nun wirklich eine etwas merkwürdige Misch-
form. Alle anderen Überhangmandate in Deutschland
werden verrechnet, aber die eines einzelnen Bundeslan-
des werden ausgeglichen. Das ist ein systematischer
Bruch, den man aus meiner Sicht niemandem erklären
kann. Abgesehen davon, dass Sie gern eine Lösung hät-
ten – diesen Wunsch kann ich verstehen –, kann ich kei-
nerlei Grund dafür erkennen.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das hat aber nichts
mit Freundschaft zu tun! Ich wollte das nur
noch mal klarstellen!)
– Ich habe die Kollegen von der CSU auch schon vor ih-
ren neuen, falschen Freunden gewarnt. Aber, ich glaube,
sie wussten es selbst.
Jetzt komme ich, weil das immer wieder moniert
wird, zu der Frage, was wir denn wollen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das haben Sie geahnt!)
Vor dieser Frage will ich mich explizit nicht drücken.
Wir haben in vielen Gesprächen mit Ihnen, mit der SPD,
mit den Grünen, immer wieder gesagt, was wir wollen,
und das war auch in der Presse zu lesen.
Wir wollen das Problem dort angehen, wo es entsteht,
nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten. Wenn wir
Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem
des negativen Stimmgewichts direkt – anders als die
SPD. Die SPD löst das Problem überhaupt nicht, ver-
schärft es gegebenenfalls noch.
Jetzt gibt es drei Möglichkeiten für die Wahl in ge-
trennten Wahlgebieten, die ich ernsthaft diskutieren
würde. Wir können 16 Wahlgebiete in Deutschland fest-
legen und ihnen Mandate nach ihrer Einwohnerzahl zu-
teilen:
(Thomas Oppermann [SPD]: Das geht nicht!)
Bremen hat soundso viele Einwohner, also bekommt es
soundso viele Mandate. – Dann führen wir eine Bundes-
12638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Stefan Ruppert
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tagswahl durch. In Bremen werden die Stimmverhält-
nisse entsprechend umgelegt und man sieht, wer welche
Mandatszahl erringt.
Das ist das absolut puristische Modell, um dem Pro-
blem des negativen Stimmgewichts zu begegnen. Damit
wird das Problem nämlich komplett beseitigt. Es ist das
einzige Modell, das zu diesem Ergebnis führt. Wir kau-
fen uns dabei allerdings wiederum erhebliche Kollate-
ralschäden ein, die wir dann gewichten müssen. Es ist
plötzlich irrelevant, wie viele Menschen in Bremen wäh-
len gehen. Die Bremer können sich sicher sein, immer
ihre vier oder fünf Mandate zu bekommen, selbst wenn
fast niemand wählen geht. Wenn sozusagen keiner zur
Wahl geht, ist der einzelne Bremer Bürger viel besser
vertreten, was seine Stimme angeht, als jemand in Nie-
dersachsen, wo sehr viele Menschen zur Wahl gehen.
Wir konterkarieren also eigentlich unser gemeinsames
Interesse, die Wahlbeteiligung zu steigern und die Men-
schen dadurch zu motivieren, zur Wahl zu gehen, dass
sie mehr Mandate erringen können, wie es im geltenden
Wahlrecht heute zum Glück auch der Fall ist. Aber wir
lösen das Problem des negativen Stimmengewichts.
Das zweite Modell bei der Trennung wäre, die Wahl-
beteiligung einzupreisen. Das heißt, wir wählen in den
16 Wahlgebieten, stellen fest, wie viele Zweitstimmen
dort abgegeben wurden, teilen nach der Zahl der abgege-
benen Zweitstimmen die Mandate zu und verteilen da-
nach wieder die entsprechenden Sitze. Dadurch bleibt
ein kleines Restrisiko für das negative Stimmgewicht;
aber wir erzielen auf der anderen Seite einen erheblichen
verfassungsrechtlichen Vorteil, indem wir einpreisen,
dass die Menschen dort zur Wahl gegangen sind.
(Thomas Oppermann [SPD]: Für die FDP ent-
fallen alle Stimmen!)
Wir haben einen weiteren Nachteil: dass nämlich die
Stimmen, die auf Parteien abgegeben wurden, die kein
Mandat erringen, oder die Stimmen, die oberhalb der
Stimmen für ein Mandat liegen, schlicht wegfallen. Das
ist ein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem, weil
es eine faktische Erhöhung der 5-Prozent-Hürde dar-
stellt. Es kann plötzlich sein, dass 13, 14 Prozent der
Bremer die Grünen gewählt haben – –
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na ja, 22!)
– Sie sind natürlich auf dem permanenten Steigflug. –
Aber angenommen, es wählen Sie 13 Prozent der Bre-
mer, und wir stellen dann fest, dass dies nicht für ein
Mandat reicht, dann kann man den Wählern der Grünen
in Bremen vorwerfen: Eure Stimmen sind verfallen; es
war jenseits aller politischen Fragen sinnlos, die Grünen
zu wählen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Niemals! Wenn eine Partei nur
2,5 Prozent bekommt, dann ist es sinnlos!)
Die dritte Lösung wäre, nur die überhängenden Listen
aus dem Wahlverbund herauszulösen, also nur in Sach-
sen oder in Baden-Württemberg. Dort, wo Überhang-
mandate entstehen, trennen wir die Listen der Parteien,
die die Überhangmandate erreichen, heraus. Auch das
wird von einigen Verfassungsrechtlern vertreten und im-
mer wieder gefordert. Damit haben wir den minimal-
invasiven Eingriff; allerdings haben wir auch ein Restri-
siko für das negative Stimmgewicht.
Mein Anliegen wäre jetzt, diese drei Vorschläge, die
das Problem ernsthaft angehen, ohne große verfassungs-
rechtliche Kollateralschäden zu erzeugen, im Dialog mit
der Opposition sorgsam gegeneinander abzuwägen, viel-
leicht auch zu sehen, ob man mit einem Teilausgleich an
dieser Stelle der SPD etwas entgegenkommen kann,
wenn das ihr Anliegen ist, und auf dieser Grundlage
dann ein Wahlrecht in Deutschland mit subjektivem
Wahlrechtsschutz, mit Lösung der Berliner Zweitstimme
und einem ordentlichen, verfassungsrechtlich abgewo-
genen Verfahren durch dieses Haus zu bringen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann lassen wir aber die CSU drau-
ßen!)
Machen Sie mit, und diskutieren Sie fachlich und nicht
polemisch!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. – Nun
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und
Herren, ich muss es Ihnen noch einmal vorhalten: Im Ur-
teil vom 3. Juli 2008
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Schön,
dass Sie es gelesen haben!)
steht der schöne Satz:
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum
30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu
treffen.
(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das hat Herr
Beck von dem Urteil verstanden!)
Sie haben leider nicht gesagt, wann Sie Ihren Gesetzent-
wurf vorlegen und wie Sie dieser Vorgabe des Bundes-
verfassungsgerichts noch nachkommen wollen. Was ist
denn, wenn die Kanzlerin im September die Vertrauens-
frage stellt, und Ihr Laden in seine Bestandteile zerfällt?
So, wie Sie auftreten, ist das ja kein rein theoretisches
Szenario.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Dann stehen wir vor Neuwahlen und haben kein gelten-
des Bundeswahlgesetz, weil das Verfassungsgericht uns
nur für die letzte Bundestagswahl noch einmal die Er-
laubnis gegeben hat, nach diesem Recht zu wählen, nicht
aber ein zweites Mal. Dann wären wir in einer richtigen
demokratischen Staatskrise und benähmen uns wie Län-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12639
Volker Beck (Köln)
(A) (C)
(D)(B)
der, die keine richtigen Demokratien sind, weil wir ver-
fassungswidriges Wahlrecht anwenden müssten. Das
wäre eine Katastrophe und würde das Vertrauen in dieses
Parlament draußen im Lande erheblich erschüttern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Herr Krings, wenn man keinen eigenen Vorschlag hat,
sollte man nicht ganz so arrogant über die Vorschläge
der anderen, die alle ihre Pros und Kontras haben, her-
ziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Günter
Krings [CDU/CSU]: Unsinn muss man Unsinn
nennen dürfen, Herr Beck!)
Wenn Sie schon Lösungen kritisieren und behaupten
– übrigens habe jetzt überwiegend ich das Wort; das ist
die Regel hier im Parlament –,
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Versuchen
Sie es doch mal! Reden Sie doch!)
man verfehle mit hier vorgelegten Entwürfen das Thema,
dann lese ich Ihnen einmal aus dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht vor.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Es ist ja
gut, dass Sie es wenigstens gelesen haben!)
Darin heißt es:
Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der
Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen
auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag haben.
Es geht weiter:
Je nachdem, für welche Alternative sich der Ge-
setzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen
auf das gesamte Wahlsystem.
Dann folgt ein Satz, der unseren Vorschlag beschreibt,
den das Gericht ausdrücklich für zulässig und erwägens-
wert hält, dessen Nachteile es aber auch benennt:
Eine landeslistenübergreifende Verrechnung von
Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten würde
beispielsweise Überhangmandate und damit den
Effekt des negativen Stimmgewichts weitestgehend
vermeiden, gleichzeitig aber dazu führen,
– das bestreiten wir auch gar nicht –
dass für den Ausgleich fehlender Listenmandate auf
einer Landesliste auf Mandate einer anderen Lan-
desliste zurückgegriffen werden müsste.
So beschreibt das Gericht einen der Lösungswege. Wir
haben ihn als Gesetzentwurf formuliert. Er ist zweifels-
frei verfassungskonform.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!)
Er hat Nachteile politischer Art, die man nicht mögen
mag, aber er löst das Problem des negativen Stimmge-
wichts und das Problem der Überhangmandate.
Nun kann man sagen: „Wir sind weniger radikal“,
und Elemente des Vorschlags der SPD übernehmen, wie
es die Linke macht. Das ist ebenfalls ein gangbarer Weg.
Bei dem Vorschlag der SPD, der mir im Grundsatz poli-
tisch gefällt, habe ich noch die Frage, ob das negative
Stimmgewicht dadurch wirklich restlos beseitigt würde.
Das können wir in der Ausschussanhörung klären. Aber
dieser Vorschlag ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag
zur Lösung des Problems.
Außerdem möchte ich Ihnen noch etwas anderes vor-
tragen – auch zum Schutz der SPD –, weil Sie behauptet
haben, hier habe die SPD das Thema verfehlt. In seiner
Entscheidung vom 26. Februar 2009 sagte das Bundes-
verfassungsgericht, dass es eine Wahlprüfungsbeschwerde
wegen der Überhangmandate deshalb nicht prüfe, weil
diese Problematik sich so nicht mehr stellen werde, wenn
der Gesetzgeber das Problem des negativen Stimmge-
wichts beseitigt habe. Damit geht das Bundesverfas-
sungsgericht selbst davon aus, dass das entscheidende
Problem bei dem negativen Stimmgewicht die unausge-
glichenen Überhangmandate sind. Angesichts dessen
können Sie doch der SPD nicht vorhalten, sie habe das
Thema verfehlt und, statt den Motor zu reparieren, Schei-
benwischer angebracht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir müssen schauen, ob damit alle Probleme im Detail
gelöst sind; aber das Hauptproblem in den meisten Fäl-
len löst dies, und das hängt nach den Worten des Bun-
desverfassungsgerichts entscheidend mit dem Thema
des negativen Stimmgewichts zusammen.
Nebenbei: Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil
zum negativen Stimmgewicht herausgestellt, entschei-
dendes Problem bei knappen Mehrheitsverhältnissen sei,
dass durch diesen Effekt, durch den Wechsel eines Sitzes
auf die andere Seite des Hauses, eine Verschiebung der
Mehrheit erfolgen könne, und dies ein Problem der Stim-
menwertgleichheit und somit ein Problem in der Demo-
kratie sei. Wenn das ein Problem in der Demokratie ist,
dann wäre aber eine Überhangmandatsfraktion von 30 bis
60 Abgeordneten, wie sie nach einer Studie des Wissen-
schaftlichen Dienstes aufgrund der aktuellen Umfragen
möglich wäre, ein noch entscheidenderes Problem, weil
dann die Gefahr bestünde, dass die Bevölkerung Parteien
wählt, von denen sie denkt, sie würden gemeinsam die
Regierung bilden. Damit erhielten diese zwei, drei oder
vier Parteien die Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen,
während andere Parteien zusammen die Mehrheit bei den
Mandaten erhielten. Dann sind wir in einer konstitutio-
nellen Krise. Dann wird sich jeder Bürger sagen: Es ist
wirklich egal, was ich wähle. Es kommt aufgrund wun-
derbarer Regelungen im Wahlrecht ja trotzdem etwas an-
deres heraus.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es gibt hier
keine Mandatsträger erster und zweiter
Klasse!)
Das zu verhindern, sind wir unseren Wählerinnen und
Wählern schuldig; denn in unserer Verfassung steht, dass
alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Von Tricks im
12640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Volker Beck (Köln)
(A) (C)
(D)(B)
Wahlgesetz steht da nichts drin. Deshalb sollten wir uns
jetzt auf den Hosenboden setzen und zusehen, dass wir
die Arbeit noch vor der Sommerpause so weit vorantrei-
ben, dass wir uns vor dem Bundesverfassungsgericht
und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht blamieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]:
Nicht die Referenten schlechtmachen!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. – Nun für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer.
Bitte schön, Kollege Stephan Mayer.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-
nen! Sehr verehrte Kollegen! Wir debattieren heute nicht
über irgendein Rechtsgebiet, nicht über irgendeinen
Politikbereich. Wir debattieren heute über den zentralen
konstitutiven Bestandteil unserer freiheitlich-demokrati-
schen Grundordnung, über das Wahlrecht.
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)
Wir sollten uns alle davor hüten, dass wir diese Diskus-
sion nur durch die Brille aktueller Umfragewerte oder
vor dem Hintergrund betrachten, wem was vermeintlich
wann wie nützen könnte.
Das Wahlrecht ist die Leitplanke unseres Staatswe-
sens. Das Wahlrecht legt, wie Kollege Wiefelspütz schon
ausgeführt hat, die Spielregeln fest, unter denen unser
Staatswesen funktioniert. Wir sollten uns, wie ich
glaube, davor hüten, diese Spielregeln allzu oft und allzu
weitgehend zur Disposition zu stellen. Dies ist wichtig,
damit Verlässlichkeit waltet. Dies ist aus meiner Sicht
aber auch wichtig, um entsprechende Akzeptanz in der
Bevölkerung zu finden. Wir alle haben, wie ich glaube,
die Aufgabe, das Wahlrecht zu hegen und zu pflegen und
es vor allem so transparent und verständlich zu gestalten
bzw. zu halten, dass es die Bevölkerung nachvollziehen
kann.
Wir können durchaus stolz sein auf unser Wahlrecht.
Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht ist Deutsch-
land in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Das
sieht man meines Erachtens auch daran, dass andere Län-
der unser Wahlrecht kopieren, zum Beispiel Neuseeland.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom
3. Juli 2008 ist die Ursache für die heutige Debatte, und
die Aufgabe, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat
– auch das ist kein Geheimnis –, ist alles andere als ein-
fach. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit festhalten,
dass das Verfassungsgericht explizit nicht geurteilt hat,
dass Überhangmandate verfassungswidrig sind.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sie sind ein Problem!)
Ich sage dies auch, sehr geehrter Kollege Oppermann, an
Ihre Adresse, weil Sie formuliert haben: Überhangman-
date sind unverdient. – Ich sage hier ohne Schaum vor
dem Mund und ganz nüchtern: Sie diskreditieren mit die-
ser Aussage meines Erachtens das Wählervotum in einem
Wahlkreis. Direkt gewählte Abgeordnete haben in unse-
rem personalisierten Verhältniswahlrecht eine enorme
Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Überhang-
mandate sind keine unverdienten Mandate, sie sind ver-
diente Mandate. Der Wahlkreisbewerber, der direkt ge-
wählt wird, wird nicht ohne Grund gewählt.
Ich möchte durchaus zum Ausdruck bringen, dass ich
die drei Gesetzentwürfe der Opposition respektiere. Sie
sind mit Sicherheit eine Grundlage für die weitere De-
batte.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da sind Sie der Erste von der Koali-
tion!)
Ich persönlich habe allerdings den Eindruck, dass sie in-
soweit keine taugliche Grundlage darstellen, da allen
drei Gesetzentwürfen aus meiner Sicht die Verfassungs-
widrigkeit quasi auf die Stirn geschrieben steht.
Zunächst einmal zum Gesetzentwurf der Grünen: Die
Grünen favorisieren das Kompensationsmodell, benach-
teiligen damit aber in eklatanter Weise die Länder, in de-
nen keine Überhangmandate anfallen,
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist aber nicht verfassungswidrig,
sondern genau so vom Verfassungsgericht als
Lösungsweg beschrieben!)
sprich: Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundeslän-
dern, in denen erfahrungsgemäß und auch in Zukunft
keine Überhangmandate anfallen, werden im Deutschen
Bundestag schlechter, also durch eine geringere Anzahl
an Abgeordneten, vertreten als die Bürgerinnen und Bür-
ger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß
viele Überhangmandate anfallen. Das stellt aus meiner
Sicht einen eklatanten Verstoß gegen die Bundestreue
dar. Des Weiteren verletzen Sie in eklatanter Weise den
Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes der Stimme.
Daraus konstruiere ich die von mir behauptete Verfas-
sungswidrigkeit Ihres Gesetzentwurfes.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, Sie meinen es ja besonders gut mit der CSU. Ich
finde es ja immer wieder schön, dass Sie der CSU beson-
dere Aufmerksamkeit zuwenden.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja! Das ist ein wirkliches Problem für
uns!)
Besonders auffällig war für mich da schon die Formulie-
rung im Begründungsteil Ihres Gesetzentwurfes. Sie be-
haupten darin, die Unabhängigkeit der CSU werde nur
vorgespielt.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schön
wär’s!)
Es gibt durchaus den einen oder anderen CDU-Kollegen,
dem es vielleicht ganz recht wäre, wenn die Unabhän-
gigkeit der CSU tatsächlich nicht gegeben wäre. Ich
kann Ihnen aber an dieser Stelle wirklich glaubhaft und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12641
Stephan Mayer (Altötting)
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nachdrücklich versichern: Die CSU ist eine vollkommen
unabhängige Partei und wird dies auch bleiben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nur nicht hier im Hause! – Volker Beck
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa-
rum sind Sie dann keine Fraktion?)
Was aber schon absurd ist, ist, dass Sie sagen: Wenn
in Bayern für die CSU Überhangmandate anfallen – das
war bei der letzten Wahl im Jahr 2009 der Fall; es wird
hoffentlich nie mehr vorkommen –, dann verliert derje-
nige direkt gewählte Abgeordnete sein Mandat, der den
geringsten Anteil an Erststimmen bekommen hat.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
Ich stehe nicht in der Gefahr, von der Regelung, die Sie
favorisieren, betroffen zu sein. Bei der letzten Wahl habe
ich über 60 Prozent der Erststimmen bekommen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wo ist dann das Problem? Aber der
Kollege Ruppert ist kein gestandener CSU-
Mann!)
Aber es gibt durchaus Kollegen – das sage ich ganz
ernsthaft –, die davon betroffen sein könnten.
Mit dieser Regelung missachten Sie aus meiner Sicht
das Wählervotum in eklatanter Weise. Man spricht bei
mir in der Gegend respektvoll vom sogenannten Heimat-
abgeordneten. Wir dürfen nicht den besonderen Wert un-
terschätzen, wenn ein Kandidat in einer direkten Wahl
die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigen kann.
Das bedeutet, dass abseits von der Parteizugehörigkeit
dieser Person besonderes Vertrauen entgegengebracht
wird und ihr besondere Kompetenz und besondere
Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Ich finde es – mit
Verlaub – schäbig,
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Schäbig?)
dass Sie einem solchen Kandidaten, der direkt in den
Deutschen Bundestag gewählt wird, die Möglichkeit
verweigern wollen, sein Mandat anzutreten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie missachten mit dieser Regelung nicht nur die Bedeu-
tung des direkt gewählten Abgeordneten, sondern in ek-
latanter Weise auch das Wählervotum.
Zum Gesetzentwurf der SPD. Herr Kollege
Oppermann, Ihr Entwurf beinhaltet meines Erachtens
nicht nur, wie Sie es behauptet haben, Schönheitsfehler;
das wäre etwas zu euphemistisch ausgedrückt. Er ist aus
meiner Sicht auch verfassungswidrig – das muss ich Ih-
nen so deutlich sagen –, weil er, wie Sie selbst im Be-
gründungsteil einräumen, den Fall des negativen Stimm-
gewichts nicht gänzlich ausschließt.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gar nicht
ausschließt!)
Er würde natürlich auch dazu führen, dass das Parlament
unnötig aufgebläht werden würde, weil Überhangman-
date ausgeglichen würden. Es sollte in der Zukunft
schon eine der Grundlinien unserer Debatte sein, dass
wir dafür Sorge tragen, dass unser Parlament, in dem
jetzt 621 Abgeordnete vertreten sind, nicht übermäßig
mit zusätzlichen Mandaten aufgebläht wird. Man kommt
sehr schnell an eine Grenze, an der die Funktionsfähig-
keit des Parlaments nicht mehr gegeben ist.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wie beim Chinesischen Volkskon-
gress zum Beispiel!)
Ich glaube, Gegenstand unserer weiteren Diskussionen
sollte sein, wie wir verhindern können, dass das Parla-
ment aufgrund von Ausgleichsmandaten übermäßig ver-
größert wird.
Wenn Ihr Vorschlag umgesetzt werden würde, würden
Sie auch die Bedeutung des direkt gewählten Abgeord-
neten minimieren; denn Ihr Vorschlag beinhaltet eine
Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise und damit na-
türlich auch eine Reduzierung der Zahl der direkt ge-
wählten Abgeordneten, um ein exorbitantes Aufblähen
des Parlaments zu verhindern. Als direkt gewählter Ab-
geordneter sage ich ganz offen: Es ist schon wichtig,
dass der Kreis der Wählerinnen und Wähler, für die man
verantwortlich ist, nicht übermäßig wächst. Die Nähe
zum Bürger, aber auch zu den Kommunen und Gemein-
den würde abnehmen, wenn der Wahlkreis immer größer
würde und damit die Zahl der darin lebenden Bürgerin-
nen und Bürger immer weiter anstiege. Wir müssen
peinlichst genau darauf achten, dass das Band zwischen
dem direkt gewählten Abgeordneten und den Bürgern
nicht zu locker wird.
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber kümmern
sich Ihre Listenabgeordneten nicht um die
Bürger?)
Bei vielen Gelegenheiten diskutieren wir hier im Plenum
über die zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevöl-
kerung. Man würde dieser Verdrossenheit Vorschub leis-
ten, wenn man die Anzahl der direkt gewählten Abge-
ordneten und die Anzahl der Wahlkreise reduzieren
würde.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Ich komme in aller Kürze noch zum Gesetzentwurf
der Linksfraktion. Es ist schon angedeutet worden, dass
die Linke hinsichtlich der CSU mehr Milde walten lässt
als hinsichtlich der Grünen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Darüber sollten Sie nachdenken!)
Ich bin aber für die Klarstellung des Kollegen Korte
dankbar, dass wir beileibe keine Freunde sind. Man kann
sich zwar nicht seine Verwandtschaft aussuchen, aber
seine Freunde schon. Deswegen möchte ich auf die Fest-
stellung Wert legen, dass uns hier noch sehr viel trennt.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Ich auch!)
Ich sage ganz offen: Die Reduzierung des Wahlalters auf
16 Jahre wäre ein großer Fehler. Die Landtagswahl in
12642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Stephan Mayer (Altötting)
(A) (C)
(D)(B)
Bremen hat gezeigt, dass man damit die Jungwähler
nicht an die Urne bringt. Ganz im Gegenteil: Die Wahl-
beteiligung in Bremen war so niedrig wie nie zuvor.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Aber das kann ja
kein Grund sein!)
In diesem Sinne sollten wir die Diskussionen in Zu-
kunft konstruktiv fortsetzen. Ich glaube, es sollte, egal
welcher Fraktion man angehört, unser Bestreben sein,
beim künftigen Wahlrecht einen möglichst großen Kon-
sens in diesem Haus zu finden. Wie gesagt: Es ist die
Leitplanke unseres Staatswesens.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Nun spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin
Gabriele Fograscher.
(Beifall bei der SPD)
Gabriele Fograscher (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Was muss das Wahlrecht leisten? Es muss den Wähler-
willen so genau wie möglich in der Zusammensetzung
des Deutschen Bundestages abbilden. Das Wahlrecht ist
somit der Grundpfeiler unserer repräsentativen Demo-
kratie.
Verzerrungen – das haben wir schon gehört – können
durch das sogenannte negative Stimmgewicht auftreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgefordert, das
zu ändern. Sie können aber auch durch die Überhang-
mandate auftreten. Obwohl Sie von den Koalitionsfrak-
tionen und der Bundesregierung wissen, dass die Frist
des Bundesverfassungsgerichts in fünf Wochen abläuft,
gibt es von Ihnen keine beratungsfähige Vorlage. Auch
wenn Sie von den Koalitionsfraktionen – Herr Ruppert,
Herr Krings, Herr Mayer – schon in der Debatte im
März, als wir den Vorschlag der Grünen diskutiert ha-
ben, und auch heute die Vorschläge der Opposition in
der Luft zerreißen: Sie kritisieren zwar, sagen aber nicht,
was Sie wollen.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Haben wir
doch gesagt! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das
habe ich doch gesagt!)
– Na ja.
Herr Krings, Sie haben bereits im März erklärt, dass
die Reform des Wahlrechts eine komplizierte Sache sei.
Da gebe ich Ihnen recht. Herr Ruppert, Sie haben das
eindrucksvoll dargelegt. Deshalb hat das Bundesverfas-
sungsgericht uns als Gesetzgeber drei Jahre Zeit gege-
ben, um eine Neuregelung zu finden. Jedoch ist die Zeit
nun fast um, und es gibt nichts von Ihnen, weil Sie sich
nicht einmal innerhalb der Koalition einigen können.
Es kursierte bereits ein Entwurf. Herr Krings, Sie ha-
ben ihn heute nochmals skizziert. Aber Sie scheinen bei
diesem Modell nicht einmal mit der FDP Einigkeit erzie-
len zu können. Sie wollen die Listenverbindungen zwi-
schen den Bundesländern abschaffen; die 16 Bundeslän-
der sollen zu 16 getrennten Wahlgebieten werden. Das
würde die kleinen Parteien benachteiligen. Deshalb
kommen Sie hier auch nicht zu einer Lösung innerhalb
der Koalitionsfraktionen. Im Übrigen löst es auch nicht
das Problem: Wie das Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes feststellt, kann das negative Stimmgewicht bei
Ihrem Modell – Länder als getrennte Wahlgebiete, in der
Variante mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung –
weiterhin auftreten. Damit ist die Auflage des Bundes-
verfassungsgerichts nicht erfüllt. Nach diesem Gutach-
ten wären bei der letzten Bundestagswahl 16 hypotheti-
sche Fälle des negativen Stimmgewichts aufgetreten. Ihr
Modell ist deshalb nicht geeignet, die bestehenden Pro-
bleme zu lösen. Deshalb ist es nicht mehrheitsfähig.
Sie wollten unter Hochdruck arbeiten. Aber wo bleibt
das Ergebnis? Wir warten. Sie wollten mit uns reden;
auch da hat sich nichts getan. Herr Kollege Uhl hat in
der Debatte im März erklärt, wir sollten uns zusammen-
setzen; denn Sie hielten knappe Mehrheitsentscheidun-
gen beim Wahlrecht für schädlich. Das sehen wir auch
so. Bisher war es gute Tradition, dass wir bei Fragen des
Wahlrechts immer auf eine breite Zustimmung gesetzt
haben. Wir warten aber immer noch auf ein konkretes
Gesprächsangebot.
Ich hatte Ihnen in der entsprechenden Debatte ange-
boten, noch einmal Gespräche zu führen und externen
Sachverstand hinzuzuziehen. Auch darauf haben Sie
sich nicht eingelassen. Das ist bedauerlich und ärgerlich.
Ich glaube, dass wir jetzt nicht mehr fristgerecht zu einer
Lösung kommen werden.
Für uns, für die SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Wir
wollen das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl
nicht verletzen. Wir wollen keine 16 Länderwahlen;
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wollen wir
auch nicht!)
aber dazu würde es kommen, wenn die Landeslisten
nicht mehr miteinander verbunden wären.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nein, kommt
es nicht!)
Wir wollen die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems
erhalten, aber die aufgetretenen Schwächen beseitigen.
Wir wollen dabei beachten, dass es für die Bürgerinnen
und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist.
Durch Überhangmandate und das sich daraus mögli-
cherweise ergebende negative Stimmgewicht werden
das Wahlergebnis und der Wählerwille verzerrt und die
Stimmengleichheit verletzt, die Mehrheit der Zweitstim-
men ist nicht mehr gleichzeitig die Mehrheit der Man-
date. Weil Überhangmandate nicht ersetzt werden, kann
sich innerhalb einer Legislaturperiode das Mehrheitsver-
hältnis ändern. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, in einem
ersten Schritt die Überhangmandate durch Ausgleichs-
mandate zu egalisieren, um die Mehrheitsverhältnisse
nach Zweitstimmen im Bundestag richtig abzubilden.
Falls die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundes-
tages in nicht vertretbarer Weise ansteigen sollte, ist in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12643
Gabriele Fograscher
(A) (C)
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einem zweiten Schritt, nach der Wahl 2013, zu prüfen,
ob der Bundestag durch die Reduzierung der Anzahl der
Wahlkreise wieder verkleinert werden sollte. Mir ist be-
wusst, dass die dann vorzunehmende Neuzuschneidung
der Bundestagswahlkreise eine große Aufgabe und He-
rausforderung ist. Ich betreue dieses Thema seit vielen
Jahren und meine, dass ein verfassungskonformes und
transparentes Wahlrecht der Mühe wert ist. Unser Vor-
schlag lautet: Lassen wir Ausgleichsmandate zu, und
entscheiden wir über Veränderungen bei der Zahl der
Wahlkreise nach der nächsten Bundestagswahl.
Noch ein Satz zum Gesetzentwurf der Linken. Er ist
ein Sammelsurium von Wahlrechtsänderungen – es sind
auch Grundgesetzänderungen dabei –, die mit dem Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts nur wenig zu tun ha-
ben.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gar nicht!)
Unter anderem fordern Sie die Abschaffung der 5-Pro-
zent-Hürde. Ich meine, die 5-Prozent-Hürde hat sich be-
währt. Sie hat bislang verhindert, dass Splitterparteien
und rechtsextremistische Parteien in den Bundestag ein-
gezogen sind. Die 5-Prozent-Regelung hat andererseits
aber nicht verhindert, dass neue Parteien den Weg in die-
ses Parlament gefunden haben.
(Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/
CSU])
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen, Sie haben viel Zeit verstreichen lassen.
Nehmen Sie unsere Vorschläge ernsthaft auf, kehren Sie
an den Verhandlungstisch zurück, und lassen Sie uns die
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen!
Danke sehr.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. –
Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Patrick Sensburg
für die Fraktion der CDU/CSU.
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Wahlrecht – das wurde durch die Ausfüh-
rungen meiner Vorredner deutlich – ist eine staatsrechtli-
che und verfassungsrechtliche Feinarbeit, bei der leider
oft auch machtpolitische Erwägungen angesprochen
werden. Das haben wir in der Rede des Kollegen
Oppermann direkt am Anfang der Debatte gesehen. Erst
hieß es, dass Machtpolitik nicht betrieben werde, doch
dann spielten machtpolitische Erwägungen in den Aus-
führungen eine zentrale Rolle. Ich versuche, das bei der
Bewertung der vorliegenden Vorschläge zu vermeiden.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Klappt nicht!)
– Ich gebe mir Mühe, Herr Kollege Wieland.
Das deutsche Wahlrecht hat beide Extreme erlebt, so-
wohl das Mehrheitswahlrecht als auch das Verhältnis-
wahlrecht. Die Kombination im personalisierten Verhält-
niswahlrecht – darüber sind wir uns, glaube ich, in
diesem Hause einig – ist ein guter und richtiger Weg.
Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht in der
bereits zitierten Entscheidung vom 3. Juli 2008 beschei-
nigt, indem es sagt – ich zitiere –: Der Gesetzgeber „darf
auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, etwa
indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig
nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältnis-
wahlprinzip zulässt“.
Trotzdem hat des Bundesverfassungsgericht das
Wahlrecht insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein
Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen
führen kann, die über die Landesliste vergeben werden
– das hat der Kollege Oppermann zu Anfang am Bei-
spiel NRW ausgeführt –, oder weil ein Verlust an Zweit-
stimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führen kann, die
über die Landesliste vergeben werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns denkbare Lö-
sungswege aufgezeigt. Zum einen könnte man demzu-
folge beim Entstehen – ich betone: Entstehen – der
Überhangmandate ansetzen. Zum anderen wurde expli-
zit der Verzicht auf Listenverbindungen genannt. Zu-
gleich wurden aber auch die möglichen Auswirkungen
beider Denkansätze angedeutet, und es wurde nach-
drücklich auf die hohe Komplexität der möglichen Rege-
lungen hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns damit deutlich gemacht, dass eine Lösung in Rein-
form vielleicht gar nicht möglich ist, sondern wir mög-
lichst nah an die Lösung des Problems des negativen
Stimmgewichts herankommen müssen. Wenn Sie Ent-
würfe vorlegen, dann müssen Sie auch erlauben, dass
wir uns mit ihnen auseinandersetzen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das wollen wir sogar! Wir würden es
gern auch andersrum machen!)
– Das mache ich dann auch. Ich fange aber mit den Kol-
legen der SPD an und nicht mit Ihnen, Herr Kollege
Wieland.
Der Vorschlag der SPD – das haben meine Vorredner,
besonders Herr Dr. Krings, deutlich gemacht – setzt
nicht am entscheidenden Problem an, sondern findet ei-
nen Ausgleich für Überhangmandate. Er sattelt also
drauf. Ich kann das verstehen: Wenn man die Besorgnis
hat, keine direkten Wahlkreise zu holen, dann will man
Überhangmandate ausgleichen. Im Jahre 2002 hatten Sie
diese Überlegungen übrigens nicht, als Sie nämlich
selbst von Überhangmandaten profitiert haben.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Wir sind geläutert!)
Es ist schon interessant, dass dieser Vorschlag gerade
jetzt kommt. Schauen wir uns einmal an, Herr Kollege
Oppermann, zu welchen Auswirkungen das Ganze füh-
ren würde! Legen wir die Wahl 2009 zugrunde, würde es
dazu führen, dass es 60 Mandate mehr in diesem Bun-
destag gäbe. Wenn wir – das haben wir eben angespro-
chen – diese Idee weiterverfolgen, dann würde Ihr
Entwurf dazu führen, dass sich der Bundestag gegebe-
nenfalls um über 100 Mandate aufblähen kann. Wir hät-
ten dann eine große Schwankung zwischen der Grund-
12644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Patrick Sensburg
(A) (C)
(D)(B)
mandatszahl und der möglichen Mandatszahl durch
Überhangmandate und Ausgleichsmandate; denn beide
müssen nämlich berücksichtigt werden.
Ich glaube, das ist ein großes Problem und schafft
keine Sicherheit. Sie sollten noch einmal darüber nach-
denken, ob damit das System des negativen Stimmge-
wichts beseitigt wird oder ob wir nicht vielmehr eine
hohe Ungleichgewichtigkeit schaffen. Das ist vorhin be-
reits angesprochen worden.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Was wollen Sie?)
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen macht mir
wirklich Sorgen, vor allem – der Kollege Mayer hat es
vorhin angesprochen – als direkt gewählter Abgeordne-
ter. Wenn man die Nähe zu seinem Wahlkreis hat und er-
kennt, dass nach Ihrem Entwurf über die Listenverbin-
dungen einige direkt gewählte Abgeordnete herausfallen
können, dann bereitet das Sorgen. Das gilt insbesondere
im Hinblick auf die Wähler, die gesagt haben: „Ich
wähle diesen Abgeordneten“, wenn dann aufgrund des
Länderproporzes dieser Abgeordnete herausfallen muss.
Ich weiß nicht, was der Kollege Ströbele dazu sagt; mo-
mentan sagt er gar nichts.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich falle da nicht drunter!)
Im Hinblick auf diese Problematik kann ich Ihren Vor-
schlag nicht gutheißen. Er beseitigt das Problem des ne-
gativen Stimmgewichts sowieso nicht; er lässt Direkt-
mandate hinten herunterfallen. Ich glaube, auch dieser
Ansatz ist im Ergebnis nicht gut.
Zum Gesetzentwurf der Linken ist schon einiges ge-
sagt worden. Er ist ein Sammelsurium, das weit über das
Bundesverfassungsgerichtsurteil hinausgeht –
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)
das ist bereits angesprochen worden –: das Auslän-
derwahlrecht, das Wahlrecht mit 16 Jahren, aber auch
die 5-Prozent-Klausel. Ich frage mich manchmal, welche
Sorgen Sie eigentlich haben, dass Sie gerade die 5-Pro-
zent-Klausel abschaffen wollen. Das zeigt, wo Sie Ihre
Zukunft sehen. Es kann doch nicht der richtige Ansatz
sein, bei einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
alles Mögliche machen zu wollen, nur nicht, dem Auf-
trag Rechnung zu tragen.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Legen Sie doch sel-
ber einmal etwas vor! Nichts vorlegen, aber
hier den Dicken machen!)
Auch Sie schwächen übrigens den direkt gewählten Ab-
geordneten. Herr Kollege Korte, Sie haben eben von
mehr Demokratie gesprochen. Warum schwächen Sie
dann die direkt gewählten Abgeordneten mit den Über-
hangmandaten? Das ist doch nicht mehr Demokratie, das
ist weniger Demokratie. Das würden Sie erkennen, wenn
Sie es einmal bis zum Schluss durchdenken würden.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Jetzt Ihr Vorschlag!)
Herr Kollege Korte, der Entwurf hat übrigens auch
sprachliche Mängel.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Ihre Rede auch!)
Lesen Sie sich einmal den von Ihnen vorgeschlagenen
§ 7 a Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes durch! Wenn Sie
den verstehen, alle Achtung! – Nicht die Rede, Herr Kol-
lege Korte, die kann man, glaube ich, verstehen. –
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Jetzt Ihr Vorschlag!)
Die Vorschläge sind von den Kollegen Dr. Krings und
Dr. Ruppert gekommen.
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich würde mir in diesem Haus wünschen, dass wir das
Thema Wahlrecht – ich hatte es zu Anfang gesagt – frak-
tionsübergreifend debattieren und diskutieren,
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Bis Ende Juni!)
dann aber auch fraktionsübergreifend eine Lösung fin-
den. Es ist ausreichend Zeit, das gemeinsam zu tun. Wir
müssen allerdings die Thematik seriös angehen. Sie ha-
ben mit Ihren drei Vorschlägen gezeigt, dass Sie nicht
zur Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts
beitragen. Sie haben Vorschläge vorgelegt, die uns im
Kern nicht weiterbringen.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Sie haben gar nichts vorgelegt!)
Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, sodass
wir es schaffen, gemeinsam über die Fraktionen Lösun-
gen zu finden und das Wahlrecht auf eine breite Basis zu
stellen! Der Kollege Krings hat hierzu Vorschläge ge-
macht.
(Zuruf von der SPD: Wann?)
Setzen Sie sich mit uns gemeinsam an einen Tisch. Dis-
kutieren Sie diese Vorschläge. Die Einladungen sind er-
folgt, anders als Sie es vorhin gesagt haben. Ich würde
mir wünschen, dass wir dann ein Wahlrecht bekommen,
das von einer breiten Mehrheit hier im Deutschen Bun-
destag getragen ist.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Patrick Sensburg. – Nun hat
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege
Wolfgang Wieland.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Sensburg, man muss sich vorher ehrlich machen. In
der Frage der Wahlgesetzgebung haben wir als Parteien
alle Eigeninteressen. Ich habe schon das letzte Mal, als
wir zu Ende der vergangenen Legislaturperiode hier über
unseren Entwurf debattiert haben, gesagt: Wir sind eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12645
Wolfgang Wieland
(A) (C)
(D)(B)
kleine Partei und von Überhangmandaten relativ weit
entfernt. Daraufhin erntete ich wütenden Protest von
Claudia Roth, meiner Parteivorsitzenden. Deswegen
wiederhole ich dies heute nicht, auch weil das mit der
kleinen Partei möglicherweise nicht mehr richtig ist.
Aber wir bleiben bei unseren Überzeugungen. Unsere
Überzeugungen entsprechen dem Arbeitsauftrag des
Bundesverfassungsgerichtes, das negative Stimmge-
wicht zu beschneiden und dafür zu sorgen, dass es keine
Verfälschung des Wählerinnen- und Wählerwillens
durch Überhangmandate geben darf. Das ist zu erledi-
gen, und nicht das Risibisi der Linksfraktion oder die
mündlichen Vorschläge, die Sie hier nun vorgelegt ha-
ben, Herr Kollege Krings. Durch diese Vorschläge
würde genau das Gegenteil erreicht. Sie würden dazu
führen, dass es sogar mehr negative Gewichtung und
mehr Überhangmandate geben könnte. Sie glauben doch
wohl nicht, dass wir da mitmachen werden.
Es ist nachgerade merkwürdig, dass ausgerechnet die
CSU, die Partei von „Kopf-ab-Jaeger“ und Franz Josef
Strauß, nun sagt: Bitte, Grüne, mehr Milde mit der CSU.
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Res-
pekt vor dem Wähler!)
– Den haben wir immer.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha! –
Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Of-
fensichtlich nicht!)
– Selbstverständlich. – Wir hatten das letzte Mal als
Einzige einen Vorschlag gemacht. Selbst Ihr Parla-
mentspräsident Lammert hat vor der letzten Bundes-
tagswahl gesagt: Es wäre gut, wenn wir schon ein ver-
fassungsgemäßes Wahlrecht hätten. Da war Ihr
Hauptargument: Ihr habt das Problem der CSU nicht ge-
löst. – Wir haben zugegeben, dass wir das Problem der
CSU nicht gelöst hatten.
Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, durch den
das Problem der CSU klar und eindeutig gelöst wird.
Dazu sagen Sie nun wieder: So geht das aber ganz und
gar nicht. – Sie sind nicht nur eine Dagegen-Partei, son-
dern auch – Sie sind beides in Kombination – eine Tu-
nix-Partei.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Daher sollten Sie hier den Mund nicht so voll nehmen.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie mar-
schieren in eine Sackgasse!)
Professor Meyer hat schon damals in der letzten Le-
gislaturperiode
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Stephan, Du
bist Professor geworden? Herzlichen Glück-
wunsch!)
– nicht dieser Herr Mayer; hören Sie einmal zu – in der
Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, über den im Übri-
gen alle Sachverständigen sagten, das wäre ein Weg, den
man gehen könnte,
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!)
wütend gesagt: Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht
und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht da-
rum, was man machen kann, sondern darum, dass man
verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt
wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht
mehr ist. – Er sagte weiter: Da sitzen Sie ein ganzes Jahr
herum und tun nichts. – Jetzt haben Sie weitere zwei
Jahre herumgesessen und nichts getan. Das ist ein Ar-
mutszeugnis. Das muss hier gesagt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Noch ein Wort zur Rechtsstaatspartei FDP. Kollege
Burgbacher hat, als er noch Parlamentarischer Ge-
schäftsführer war und nicht unentwegt Akten studieren
musste, am Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe ge-
sagt: Jetzt muss der Gesetzgeber handeln. Es besteht
dringender Handlungsbedarf. – Daraus wurden bei Frau
Leutheusser-Schnarrenberger eine Warnung vor Aktio-
nismus und eine Forderung nach Augenmaß und Ruhe.
Inzwischen sind Sie offenbar eingeschlafen, meine Da-
men und Herren von der FDP; denn von Ihnen kommt
nichts mehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Vor allem die SPD, aber auch die Linkspartei haben
hier brauchbare Vorschläge zu der Frage, wie man das
negative Stimmgewicht verhindern und wie man zu ei-
nem korrekten Umgang mit Überhangmandaten kom-
men kann, vorgelegt. Das ist eine Diskussionsgrundlage.
Es gibt natürlich auch hier Haken; da sind wir uns doch
einig. Das negative Stimmgewicht wird nicht ganz aus-
geschlossen, und über die Frage, wie groß der Bundestag
werden soll, muss debattiert werden. Darüber kann auch
debattiert werden. Aber wir müssen doch zu einem Er-
gebnis kommen. Sie sagen hier so schön: Wir wollen den
Konsens. Kollege Mayer sagt, er habe Respekt vor allen
Vorschlägen, um sie im nächsten Satz als schäbig und
vordemokratisch zu bezeichnen. Respekt stelle ich mir
anders vor. Wir haben die Sonderrolle der CSU immer
respektiert. Nur, wir sagen: Eine Partei, die eine solche
Sonderrolle beansprucht, kann sich nicht immer wie ein
Rosinenpicker das Beste aussuchen: hier nach der Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Frak-
tionsgemeinschaft bilden, aber dann, wenn es einmal,
wie sie glaubt, zu ihrem Nachteil ist, aber immer noch
gerecht und dem Wählerwillen entsprechend, die belei-
digte Leberwurst spielen und sich als Opfer darstellen.
Das geht nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir haben immer gesagt: Das Problem der Berliner
Zweitstimmen ist für uns ein geringes. Die SPD will es
jetzt lösen. Für uns ist klar: Der Linksparteiwähler aus
Lichtenberg oder Marzahn wählt seine Partei, wie auch
immer sie gerade heißt, wo auch immer er sie auf dem
Stimmzettel findet. Er wählt sie, ob die Vorsitzenden nun
Karl und Rosa oder Klaus und Gesine heißen.
12646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Wolfgang Wieland
(A) (C)
(D)(B)
(Heiterkeit und Beifall des Abg. Dr. Frithjof
Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dass gerade dieser Wähler seine Stimme splittet, ist am
unwahrscheinlichsten. Das ist ein Scheinproblem. Aber,
bitte schön, von mir aus können wir auch Scheinpro-
bleme lösen.
(Beifall des Abg. Dr. Frithjof Schmidt
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Schließlich und endlich meine letzte Bemerkung. Es
wurde gesagt: Wir debattieren hier nicht unsere Rechte
als Parteien und Fraktionen. Wir debattieren das Recht
des Souveräns. Wir diskutieren über das Recht der Bür-
gerinnen und Bürger, dass ihre Stimmen bei Wahlen
wirksam werden. – Das muss mit Ernst geschehen, das
muss im vorgegebenen Zeitrahmen geschehen, und das
müsste endlich auch ergebnisorientiert geschehen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. – Nun
spricht für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas
Strobl. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Er ist der
letzte Redner in dieser Debatte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Als das Bundesverfassungs-
gericht in Karlsruhe am 3. Juli 2008 das negative Stimm-
gewicht für verfassungswidrig erklärt hat, war allen Be-
teiligten klar, dass dem Gesetzgeber damit eine harte
Nuss aufgegeben wird. Deswegen hat das Bundesverfas-
sungsgericht eine lange Frist, bis zum 30. Juni dieses
Jahres, gesetzt.
Klar ist in Karlsruhe bereits in der mündlichen Ver-
handlung geworden, dass es beim Wahlrecht keinen Kö-
nigsweg gibt. Die komplizierte Verschränkung von Ver-
hältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht, wie wir sie in
unserem deutschen Wahlrecht kennen, bringt immer
Brüche und Schwierigkeiten mit sich. Die Tatsache, dass
jede der Oppositionsfraktionen – Linke, Grüne, SPD –
einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, dass also un-
terschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen, bestätigt, dass
es den Königsweg offensichtlich nicht gibt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Im Wahlrecht gibt es keinen Kö-
nig!)
Ich räume ein, dass es kein Ruhmesblatt für die Koali-
tionsfraktionen ist, bisher keinen eigenen Gesetzentwurf
vorgelegt zu haben.
(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Aber auch dies zeigt, dass die Materie eine außerordent-
lich schwierige ist.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Für Sie ganz offensichtlich!)
Der Vorschlag der Sozialdemokraten – das muss man
klar sagen – beseitigt das negative Stimmgewicht nicht,
erfüllt also den verfassungsrechtlichen Auftrag jeden-
falls nicht vollständig.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Überhaupt
nicht!)
Außerdem bläht er den Deutschen Bundestag auf. Hinter
die Lösung, letztlich einfach die Zahl der Mitglieder des
Deutschen Bundestages zu vergrößern, sodass es also
mehr Abgeordnete gibt, ist ein Fragezeichen zu setzen.
Bei Grünen und Linken wird offenkundig, dass sie ein
Problem mit den Überhangmandaten haben.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
Das ist aber kein verfassungsrechtliches Problem,
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Doch!)
sondern ein politisches, Ihr politisches Problem.
(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein! Das verfälscht den Wähler-
willen! Also ist es auch ein verfassungsrecht-
liches Problem!)
– Nein. Die Überhangmandate sind die Ursache des ne-
gativen Stimmgewichts. Sie selbst sind aber nicht ver-
fassungswidrig. Es gibt durchaus Möglichkeiten und
Wege, die Überhangmandate beizubehalten und trotz-
dem zu einer verfassungsmäßigen Lösung zu kommen.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!
Selbst ein Mehrheitswahlrecht wäre verfas-
sungsgemäß!)
Sie verkennen, dass Überhangmandate immer direkt
gewählten Abgeordneten zufallen. Diese Abgeordneten
haben die höchste demokratische Legitimation, die es
überhaupt gibt. Wir wollen dieses Element des Mehr-
heitswahlrechtes in unserem Wahlrecht nicht aufgeben,
sondern es im Zweifel eher etwas stärken. Außerdem ist
der Vorschlag der Grünen ein Vorschlag, der dem Prinzip
der Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht in dem
Maße gerecht wird, wie es nach dem jetzigen Wahlrecht
der Fall ist. Der Vorschlag wird auch unter föderalen Ge-
sichtspunkten – das ist keine Verfassungsvorgabe – dem,
was wir uns in einem föderalen Bundesstaat vorstellen,
eben nicht gerecht, und das möchten wir nicht akzeptie-
ren.
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Noch ein-
mal: Karlsruhe hat nicht die Überhangmandate als sol-
che für verfassungswidrig erklärt, sondern es geht um ei-
nen Mangel namens negatives Stimmgewicht, der für
verfassungswidrig erklärt worden ist und den wir zwei-
fellos zu beseitigen haben. Ein Mangel! Diesen Mangel
zu beseitigen, heißt aber nicht, dass wir jetzt zu einer Ge-
neralüberholung unseres Wahlrechts kommen müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12647
Thomas Strobl (Heilbronn)
(A) (C)
(D)(B)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das wäre
aber ein guter Anlass!)
– Nein, das wollen Sie. Sie wollen dies jetzt zum Anlass
nehmen, um das ganze Wahlrecht sozusagen wegzuspü-
len.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Demokra-
tisch zu machen!)
Wir haben hier eine etwas andere Vorstellung.
Wir glauben und sind ganz überzeugt, dass wir mit
dem Wahlrecht, welches wir haben, einer Symbiose zwi-
schen dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrheitswahl-
recht, in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland gut
gefahren sind. Wir glauben im Übrigen auch, dass eine
ganz große Mehrheit in der Bevölkerung das Wahlrecht,
das wir haben, für gut und richtig hält. Deswegen müs-
sen wir einen Mangel beseitigen, den uns Karlsruhe zu
beseitigen aufgegeben hat.
Es ist wirklich mein Wunsch, dass wir das gemeinsam
tun, auch gemeinsam mit der Opposition, also fraktions-
übergreifend. Beim Wahlrecht haben wir im Deutschen
Bundestag eine lange Tradition, über die Parteigrenzen
hinweg die Kraft zu entwickeln, zu gemeinsamen Lö-
sungen zu kommen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich aber auch
einmal bewegen! Wir kommen nicht einfach
zu Ihnen ins Boot!)
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir diese Kraft
erneut entwickeln und dass sich jeder auch einen Ruck
gibt.
Noch einmal: Den Königsweg beim Wahlrecht gibt es
nicht. Es wird immer nur einen Kompromiss geben.
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir alle an ei-
nem solchen Kompromiss mitwirken.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen herzlichen Dank, Kollege Thomas Strobl. –
Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/5895 und 17/5896 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. – Das ist
somit so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Bundes-Tierärzteordnung
– Drucksache 17/5804 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Einrichtung einer Interparlamentarischen
Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik der Europäi-
schen Union
– Drucksache 17/5903 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur
grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs
aus der Atomenergie)
– Drucksache 17/5474 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU)
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord-
nung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleuni-
gung und Klärung des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit (Ratsdok. 14496/10)
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
über die Anforderungen an die haushaltspoli-
tischen Rahmen der Mitgliedstaaten (Ratsdok.
14497/10)
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über die
wirksame Durchsetzung der haushaltspoliti-
schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
(Ratsdok. 14498/10)
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-
derung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über
den Ausbau der haushaltspolitischen Über-
wachung und der Überwachung und Koordi-
nierung der Wirtschaftspolitiken (Ratsdok.
14520/10)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
– Drucksache 17/5904 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
12648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur
übermäßiger makroökonomischer Ungleich-
gewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok.
14512/10, KOM[2010] 525)
und
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über die
Vermeidung und Korrektur makroökonomi-
scher Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10;
KOM[2010] 527)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
– Drucksache 17/5905 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2010
– Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes
für das Haushaltsjahr 2010 –
– Drucksache 17/5648 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum
Wintersemester 2011/12 jetzt starten
– Drucksache 17/5899 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transparenz bei Rückstellungen im Kernener-
giebereich schaffen
– Drucksache 17/5901 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schnelles Internet für alle – Flächendeckende
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
Impulse für eine dynamische Entwicklung set-
zen
– Drucksache 17/5902 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre-
men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
– Drucksache 17/5908 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
– Drucksache 17/5909 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver-
kehrspolitik in Deutschland und Europa nut-
zen
– Drucksache 17/5906 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12649
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg),
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß-
ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell-
schaftspolitisch nutzen
– Drucksache 17/5907 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/5474 – Ta-
gesordnungspunkt 30 c – soll federführend beim Innen-
ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 k auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften über den
Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzver-
trägen und über verbundene Verträge
– Drucksache 17/5097 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 17/5819 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5819, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5097 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Das Stimmverhalten der Grünen
war hier oben nicht sichtbar. Wir geben der Fraktion die
Möglichkeit, dies zu korrigieren. – Wie ist Ihr Abstim-
mungsverhalten? – Die Mehrheitsverhältnisse sind aber
auch so klar geworden. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Der Kollege Volker Beck gibt noch einen Hinweis.
Wie war das Stimmverhalten?
(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Zustimmung! Wir stimmen
mit Ja! – Beifall bei der FDP)
– Zustimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
zugestimmt. –
Damit ist das protokollarisch erledigt. Jetzt atmen wir
kurz durch. Dann sind Sie in der Lage, die dritte Bera-
tung und Schlussabstimmung durchzuführen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Niemand. Stimmenthaltungen? – Das ist die Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäi-
schen Kommission vom 14. Dezember 2010 für
einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines
Standpunkts der Union im Stabilitäts- und
Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische
Republik Mazedonien im Hinblick auf die Be-
teiligung der ehemaligen jugoslawischen Re-
publik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4
und 5 der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des
Rates als Beobachter an den Arbeiten der
Agentur der Europäischen Union für Grund-
rechte und die entsprechenden Modalitäten
einschließlich Bestimmungen über die Mitwir-
kung an den von der Agentur eingeleiteten Ini-
tiativen, über finanzielle Beiträge und Perso-
nal
– Drucksache 17/5710 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss)
– Drucksache 17/5954 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth (Heringen)
Oliver Luksic
Thomas Nord
Manuel Sarrazin
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/5954, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/5710 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Keine Gegen-
stimmen. Enthaltungen? – Enthaltungen der Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
12650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
zu dem Arbeitsdokument der Kommissions-
dienststellen Öffentliche Konsultation:
Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohä-
renten europäischen Ansatz
SEK(2011) 173 endg.
– Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Burkhard Lischka
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! – Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Die Linksfrak-
tion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvC 3/11
– Drucksache 17/5952 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Wahlprü-
fungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungs-
gericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsi-
denten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick
als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt
dafür? – Das sind alle. Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Enthaltungen? – Auch nicht. Die Beschlussempfehlung
ist somit einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
– Drucksache 17/5780 –
Wer stimmt dafür? – Das sind alle Kolleginnen und
Kollegen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
gen? – Auch niemand. Damit ist die Sammelüber-
sicht 262 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 263 zu Petitionen
– Drucksache 17/5781 –
Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Das ist die Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 263 ist somit
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 264 zu Petitionen
– Drucksache 17/5782 –
Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da-
gegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. So-
mit ist die Sammelübersicht 264 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 265 zu Petitionen
– Drucksache 17/5783 –
Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen,
Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Stimment-
haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
265 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 266 zu Petitionen
– Drucksache 17/5784 –
Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Links-
fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ent-
haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
266 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
– Drucksache 17/5785 –
Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? –
Die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Niemand. Sammelübersicht 267 ist somit ange-
nommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12651
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 268 zu Petitionen
– Drucksache 17/5786 –
Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen
von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen so-
wie die Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Somit
ist die Sammelübersicht 268 angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und
die Folgen für Versicherte
Die erste Rednerin dieser Aktuellen Stunde kommt
aus der Fraktion Die Linke und ist unsere Kollegin Frau
Diana Golze. Ich gebe ihr das Wort. Bitte schön, Frau
Kollegin Diana Golze.
(Beifall bei der LINKEN)
Diana Golze (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Tatort Berlin-Weißensee, 12. Mai
2011, Charlottenburger Straße, 10 Uhr: Frau K., 76 Jahre
alt, und ihr Mann, 78 Jahre, stehen in einer Schlange von
etwa 120 Menschen. Sie tun dies nicht, um Konzertkar-
ten für eine Schlagerrevue zu ergattern oder um mit
Nachbarn zu plaudern. Nein, sie stehen hier vor der Ge-
schäftsstelle der AOK, weil die Krankenkasse, bei der
sie seit Jahren versichert waren und für die sie sogar seit
einigen Monaten einen Zusatzbeitrag gezahlt haben, In-
solvenz angemeldet hat. Aus, Ende. Zwar hat man Fami-
lie K. gesagt, sie habe nun das Recht, sich eine neue
Krankenkasse zu suchen, und diese habe die Pflicht, sie
aufzunehmen. Doch das, was das Ehepaar K. in den letz-
ten Tagen erlebt hat, war ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN)
Bei anderen Kassen sind sie abgewimmelt worden mit
Aussagen wie „Dann gibt es aber keine Zusatzleistungen
mehr“ oder einfach nur „Wir sind voll“. Familie K. ist
deshalb verunsichert und in großer Sorge. Wird die ge-
plante Hüft-OP für Frau K. noch stattfinden? Wird Herr
K. seine teuren Medikamente weiter verschrieben be-
kommen?
Die FDP sagt nun – ich zitiere –:
Die demografische Entwicklung … hat Auswirkun-
gen auf die gesamte Gesellschaft und kann nur im
Miteinander von Jung und Alt gelöst werden.
Dies ist die Definition der FDP von Generationengerech-
tigkeit, die ganz offenkundig dann nicht gelten soll,
wenn es um die Gesundheitsversorgung von alten oder
chronisch kranken Menschen geht. Sicher, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben 2007
gegen die Gesundheitsreform der schwarz-roten Regie-
rung gestimmt. Aber das haben Sie wohl nicht getan,
weil Sie die Sorge um die Finanzstärke der gesetzlichen
Krankenkassen umtrieb oder Ihnen die Aufkündigung
der paritätischen Finanzierung durch die Arbeitgeber
den Schlaf geraubt hat. Nein, vielmehr hieß es in einer
Mitteilung des heutigen Gesundheitsministers bereits
2007 – ich zitiere –:
Die FDP bemängelt, dass die Reform an der Umla-
gefinanzierung des Gesundheitssystems festhält.
Aber genau in der schleichenden Aushebelung der pari-
tätischen Finanzierung liegt eines der Probleme, das den
gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen macht und nun
die erste in die Insolvenz getrieben hat.
Zur Erinnerung: Die Aushöhlung der paritätischen Fi-
nanzierung hat schon 2003 begonnen. Bereits damals
wurde die Arbeitgeberseite in großem Stil entlastet. Für
die Verschiebung der Last auf die Schultern oder, besser
gesagt, die Geldbörsen der Versicherten durch die Pra-
xisgebühr, Zuzahlungserhöhungen und Leistungskür-
zungen ist – auch wenn Sie es jetzt nicht mehr hören
wollen – Rot-Grün verantwortlich. Schwarz-Rot hat
über die Zusatzbeiträge genau diese Politik fortgesetzt.
Das zeigt: Es ging nicht um die heilige Kuh Beitrags-
satzstabilität, sondern von vornherein darum, den Bei-
trag der Arbeitgeber zu senken. Die Linke sagt: Das ist
ungerecht und unsolidarisch und gehört geändert.
(Beifall bei der LINKEN)
Das erklärte Ziel der vorangegangenen Bundesregie-
rungen war eine Beschleunigung des Wettbewerbs der
Krankenkassen. Es ging aber nicht etwa um einen Wett-
bewerb um bessere Leistungen oder mehr Vorsorgepro-
gramme; es ging um einen Wettbewerb um junge, ge-
sunde und zahlungskräftige Versicherte.
Der Zusammenbruch der City BKK zeigt, dass die
Gesundheitsreformen vor allem zu einem geführt haben:
Versicherte werden zu Verunsicherten. Denn trotz ge-
setzlichem Anspruch auf Aufnahme in eine Kranken-
kasse ihrer Wahl gab es für viele Versicherte der City
BKK erst einmal nur Chaos. Das ist für die Betroffenen
entwürdigend, aber es war vorhersehbar. Denn alle
Krankenkassen mit hohem Bestand an alten und chro-
nisch kranken Menschen sind gezwungen, auf Teufel
komm raus zu sparen, selbst bei gesetzlich garantierten
Ansprüchen, zum Beispiel Eltern-Kind-Kuren. Durch
eine solche Politik werden Versicherte, die jahrelang ih-
ren Beitrag plus Zusatzbeiträge zahlen, zu Bittstellern
gemacht. Das ist ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen in der Krankenversicherung nicht mehr
Wettbewerb nach dem Motto „Wer es länger schafft, Zu-
satzbeiträge zu verhindern, hat gewonnen“, sondern
mehr Solidarität.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen die Wiederherstellung der paritätischen Fi-
nanzierung. Wer von einem Solidarsystem spricht, muss
die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite gleicherma-
ßen zur Finanzierung heranziehen. Es ist doch klar im
12652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Diana Golze
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Interesse der Arbeitgeber, gesunde und motivierte Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter zu haben.
Abschließend gestatten Sie mir noch eine persönliche
Bemerkung. Ich gehöre im Deutschen Bundestag zur
Gruppe derer, die freiwillig gesetzlich versichert sind
und damit die Sozialkassen stärken. Die Einbeziehung
der Selbstständigen, Beamten und auch Abgeordneten
des Deutschen Bundestages ist deshalb für mich ein
Baustein für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung. Dafür steht die Linke ohne Wenn und
Aber!
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Diana Golze. – Jetzt hat
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes
Singhammer das Wort. Bitte schön, Kollege Johannes
Singhammer.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir lassen die Versicherten der City Betriebskran-
kenkasse nicht allein. Die christlich-liberale Koalition
verhilft den 170 000 Versicherten der City BKK zu ih-
rem guten Recht. Vorstände von gesetzlichen Kranken-
kassen, welche Versicherte der City BKK abwimmeln
oder unanständig behandeln, werden nicht ungeschoren
davonkommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Rechtslage ist klar wie selten, und wir brauchen
keinerlei Nachhilfe der Linken, was zu tun ist. Die Ver-
antwortlichen werden die Konsequenzen zu ziehen ha-
ben. Was gesetzlich notwendig ist, werden wir tun, und
zwar schnell, klar und konsequent. „Schnell, klar und
konsequent“ heißt, dass noch im Zusammenhang mit
dem geplanten Versorgungsgesetz die notwendigen wei-
teren gesetzlichen Maßnahmen beschlossen werden.
Denjenigen Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen
Krankenkasse, die meinen, es sei besonders clever,
plötzlich die Geschäftsstelle ihrer Krankenkasse zu reno-
vieren, wodurch der Publikumsverkehr verhindert wird,
oder die meinen, es sei besonders klug, Rentner oder
gehbehinderte Versicherte, die von der City BKK in eine
neue Krankenkasse ihrer Wahl wechseln wollen, von ei-
nem Teil Berlins in einen ganz anderen Stadtteil, der nur
schwer zu erreichen ist, zu schicken, werden wir klarma-
chen, dass diese Art des Verhaltens nicht belohnt wird,
sondern dass sie Konsequenzen haben wird.
(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE
LINKE]: Ihr habt das doch eingebrockt!)
Nicht die Mitarbeiter einer solchen gesetzlichen Kran-
kenkasse, sondern die Vorstände werden wir in Haftung
nehmen. Wir werden nicht zulassen, dass bestehende
Gesetze vor aller Augen in der Öffentlichkeit nicht be-
achtet, umgangen oder gar gebrochen werden.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Gesetze, die
Sie gemacht haben!)
Die Gesetze sind eindeutig wie selten in einer solchen
Situation:
Erstens. Jeder Versicherte der GKV hat die freie
Wahl, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will,
wenn seine Krankenkasse – aktuell ist es die City BKK –
pleitegeht.
Zweitens. Jeder Versicherte der GKV muss von der
Krankenkasse aufgenommen werden, bei der er sich be-
wirbt.
Drittens. Kein Versicherter der GKV ist ohne Versi-
cherungsschutz, wenn seine Kasse insolvent wird.
Viertens. Wenn ein Versicherter sein Wahlrecht nicht
ausübt oder keine Kasse findet, die ihn aufnimmt, so fällt
er nicht in ein Versicherungsloch, sondern er wird durch
den Arbeitgeber, die Rentenversicherung oder die Ar-
beitsagentur einer Kasse zugewiesen.
Dabei muss man darauf achten, dass die Kassen, die
sich diesen Versicherten gegenüber jetzt vorbildlich ver-
halten, entsprechend bewertet werden und dass die Kas-
sen, die sich in den letzten Tagen alles andere als vor-
bildlich verhalten haben, da sie wenige Versicherte oder
gar keine Versicherten aufgenommen haben, bei den Zu-
weisungen entsprechend behandelt werden.
Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der So-
lidarität aller Beteiligten, von der Solidarität der Gesun-
den mit den Kranken, der Besserverdienenden mit den
weniger gut Verdienenden, von der Solidarität der Kran-
kenkassen mit günstiger Versichertenstruktur mit den
Krankenkassen mit etwas ungünstigerer Versicherten-
struktur. Damit die Solidarität nicht zum Nachteil für
einzelne Kassen wird, haben wir im Gesetz Ausgleichs-
und Sicherungssysteme vorgesehen, zum Beispiel den
Risikostrukturausgleich und die Haftungsverbünde der
Krankenkassen.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer als Vorstand
einer gesetzlichen Krankenkasse das Solidaritätsgebot in
schlimmer und unangenehmer Weise verletzt, muss
künftig im schlimmsten Fall damit rechnen, dass er ab-
gesetzt wird. Ich danke der Bundesregierung und insbe-
sondere dem neuen Minister, dass sie hier so schnell und
so konsequent handeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mechthild Rawert [SPD]: Er hat bis jetzt nur
angedroht!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. – Nun
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Karl Lauterbach. Bitte schön, Kollege Dr. Karl
Lauterbach.
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Wettbewerb, den wir derzeit bei den gesetzli-
chen Krankenkassen beobachten, dreht sich nur noch um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12653
Dr. Karl Lauterbach
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drei Punkte: die Vermeidung eines Zusatzbeitrags, die
Vermeidung eines Zusatzbeitrags und die Vermeidung
eines Zusatzbeitrags.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Tätä, tätä!)
Alles andere spielt keine Rolle mehr.
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sehr richtig! –
Jens Spahn [CDU/CSU]: Es war doch Ihre
Ministerin!)
– Ich komme gleich dazu, Herr Spahn. – Eine Kranken-
kasse, die gute Qualität aufweist und einen Zusatzbeitrag
nehmen muss, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die um-
fangreiche Kosten für Vorbeugemedizin trägt, verliert
Mitglieder. Eine Kasse, die einen guten Service bietet,
verliert Mitglieder. Diejenigen, die gehen, sind die jun-
gen und die gesunden Mitglieder. Es sind diejenigen, die
einkommensstark sind. Es sind diejenigen, die keine
Bindung zur Kasse haben – außer der, dass sie Beitrags-
zahler sind. Es gehen also die, die die Kasse braucht, um
die anderen – diejenigen, die alt und krank sind – mitzu-
bezahlen. Das ist, wenn man so will, ein kranker Wettbe-
werb.
Jetzt ist das System selbst krank. Das System läuft da-
rauf hinaus, dass jede Krankenkasse versuchen muss,
den Zusatzbeitrag zu vermeiden, egal was es kostet. Da
kann man nicht überrascht sein, wenn die Kassen versu-
chen, die Mitgliedschaft derjenigen abzuwenden, die
Träger schlechter Risiken sind.
Von der FDP wird das derzeit kritisiert. Aber man
muss in Erinnerung rufen: Die FDP hatte in ihrem Wahl-
programm für die letzte Bundestagswahl noch den Vor-
schlag, die gesamte gesetzliche Krankenversicherung zu
privatisieren. Das wäre dann das System für alle gewe-
sen. Was wir erleben, ist also im Prinzip nur ein Teil des-
sen, was die FDP und auch Herr Bahr damals in Rein-
kultur wollten. Im Ernst: Was wir derzeit sehen, ist doch
nichts anderes, als dass die FDP mit Krokodilstränen vor
den Folgen ihrer eigenen Reform warnt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Herr Bahr hat selbst Gesundheitsökonomie studiert,
ein Stück weit.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Der Herr Professor
vergibt wieder Noten!)
– Es geht hier nicht um Noten. Ich versuche, etwas zu er-
klären. Vielleicht ist das gerade auch für Sie interessant,
Herr Spahn. – Dann müssen Sie doch Folgendes wissen,
Herr Bahr: Die Krankenkassen unterscheiden sich im
Angebot so gut wie nicht. Sie werden sich demnächst
noch weniger unterscheiden, weil sie die paar Leistun-
gen, mit denen sie sich noch unterscheiden, abstoßen
müssen, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das ist
doch kein Wettbewerb.
Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Einheitsangebot,
alle Kassen böten immer das Gleiche an, aber die Mit-
glieder der Kassen wechselten im monatlichen Rhyth-
mus. Das wären hektische Wechselbewegungen, ein
ständiges Wechseln. Dann hätten wir nur Bürokratie;
aber die Versorgung liefe im Prinzip auf die Einheits-
kasse hinaus. Somit schafft die FDP hier einen Wettbe-
werb, der die Einheitskasse durch die Hintertür einführt.
Mehr ist dabei nicht herausgekommen.
Im Wesentlichen ist es so: Die Reform ist eine mor-
bide Reform. Ich bin übrigens nicht dagegen, dass wir
weniger Kassen haben werden. Herr Rösler sagte, es
sollten Kassen in die Insolvenz gehen. Damit habe ich
kein Problem. Ein Problem tritt aber auf, wenn diejeni-
gen Kassen in die Insolvenz gehen, die alte und kranke
Mitglieder haben oder deren Versicherte in der falschen
Stadt wohnen, beispielsweise in München, Hamburg
oder Berlin. Was ist das für ein Wettbewerb? Bei dieser
Art von Wettbewerb geht es nur darum, wo eine Kasse
zufällig ihren Sitz hat und welche Mitglieder sie hat. Es
geht überhaupt nicht mehr um die Qualität.
Es wird darauf hinauslaufen, dass wir ein verheeren-
des Signal an ältere und kranke Menschen geben: dass
sie selbst in der gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr
willkommen sind. Ein solches Signal müssen wir mit al-
len Kräften vermeiden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist das Signal, das in der privaten Krankenversiche-
rung übrigens zu jeder Zeit gegeben wird.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, umso schlim-
mer!)
Die private Krankenversicherung könnten Sie jeder-
zeit abschaffen, was Sie aber nicht wünschen. Das Sys-
tem der privaten Krankenversicherung ist ja das Ideal-
bild der FDP: Privatversicherung für alle. In der privaten
Krankenversicherung können sich behinderte und ältere
Menschen gar nicht versichern. Jetzt haben Sie die ge-
setzlichen Krankenkassen dementsprechend ein wenig
umgestaltet. Wir werden Leistungskürzungen erleben.
Wir werden sehen, dass im Jahr 2012/13 die Kranken-
kassenzusatzbeiträge – das sind die einzigen Beiträge,
auf die es ankommt – zwischen 0 und 30 Euro liegen
werden. Die Zeit der Fusionen der Krankenkassen ist
vorbei. Dann wird es massenhaft Krankenkassenpleiten
geben.
Herr Bahr, meine Empfehlung an Sie – Sie werden
auf absehbare Zeit wahrscheinlich einer der letzten Bun-
desminister der FDP sein –: Bleiben Sie nicht mit einer
Reform in Erinnerung, die das Vertrauen in die gesetzli-
che Krankenkasse komplett ausgehöhlt hat. Der Wieder-
einstieg der FDP in Bundeskabinette darf nicht durch ein
solches Signal belastet sein.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Schön, dass Sie sich
Sorgen um die anderen machen!)
Sie arbeiten jetzt an der Nebenwirkung der Reform von
Herrn Rösler. Aber gehen Sie weiter und bekämpfen Sie
die Ursache dieses falschen Wettbewerbs: Nehmen Sie
die Zusatzbeiträge zurück, dehnen Sie den Risikostruk-
turausgleich weiter aus, damit auch alte und kranke
Menschen wieder eine Chance haben, sich zu versichern,
und damit sich der Wettbewerb wieder um Vorbeugung
und Qualität dreht, nicht aber um Risikoselektion und
um das Einkommen der Versicherten.
(Beifall bei der SPD)
12654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
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Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Karl Lauterbach. – Jetzt
spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Heinz
Lanfermann.
(Beifall bei der FDP)
Heinz Lanfermann (FDP):
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich versuche, zum
Thema zurückzukommen. An Ihrer Stelle, Herr Kollege
Lauterbach, würde ich mir mehr Gedanken darüber ma-
chen, wie Ihre Reden im Bewusstsein der Menschen
hängen bleiben.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Haben Sie nicht
zugehört? – Mechthild Rawert [SPD]: Vorsich-
tig! Sollen wir Ihnen einen Spiegel holen, Herr
Lanfermann? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Für 3 Prozent Wählerstim-
men ist das ein bisschen arrogant!)
Der Minister hat in der kurzen Zeit, die er im Amte ist,
schon einen sehr guten Eindruck gemacht.
Die Linksfraktion hat hier eine Aktuelle Stunde bean-
tragt, die nicht wirklich aktuell ist, sondern sich auf das
Fehlverhalten einiger Kassen in den vergangenen Wo-
chen bezieht, das nach dem energischen Eingreifen des
neuen Ministers Daniel Bahr bereits in der letzten Wo-
che – das war eine seiner ersten Amtshandlungen – ab-
gestellt wurde.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Im Ergebnis wirken Sie wie jemand, der auf dem Bahn-
hof steht und hinter dem Zug herschaut.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Sie leiden nicht
an den Ursachen! Darüber habe ich schon ge-
sprochen!)
Aber Sie wollten ja auch gar nicht über diesen Fall
sprechen, sondern Sie wollten uns eigentlich einige abs-
truse Vorstellungen über Ihre Ideen zur Gesundheitspoli-
tik nahebringen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Das müssen Sie ja
sagen mit Ihren abstrusen Ideen!)
Der Titel dieser Aktuellen Stunde „Pleiten von gesetzli-
chen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte“
suggeriert, dass eine Reihe von Kassen betroffen sei. Na-
türlich gibt es nur eine.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Im Moment!)
Im Augenblick haben wir es nur mit der City BKK zu
tun. Was die Folgen für die Versicherten angeht, die Sie
auch noch angesprochen haben, haben wir hier den Ein-
druck gewinnen müssen, dort passierten fürchterliche
Dinge. Natürlich ist das nicht der Fall; das Gesetz hat da
vorgesorgt. Allen Menschen wird geholfen, selbst wenn
sie sich nicht rechtzeitig eine neue Kasse suchen. Inso-
fern bestehen da überhaupt keine Probleme.
Alle in diesem Hause waren sich einig, dass das, was
einige Kassen gemacht haben, nämlich Menschen abzu-
wimmeln und sie nicht richtig oder nicht vollständig zu
beraten, völlig falsch war und neben der Sache lag. Inso-
fern brauchen wir uns über diesen Fall gar nicht zu strei-
ten. Vielmehr soll ganz anderes nach vorn gebracht wer-
den.
Zu der eindeutigen Rechtslage hat der Kollege
Singhammer hier bereits alles vorgetragen. Selbstver-
ständlich ist das Wichtigste das Wahlrecht der Versicher-
ten. Es darf über die Köpfe der Versicherten hinweg
keine Maßnahmen geben, auch keine gemeinsamen
Maßnahmen von Kassen. Ebenso darf es keine Zuwei-
sungen statt des Wahlrechts geben. Erst dann, wenn je-
mand die Fristen selber nicht nutzt, wird er zugewiesen,
damit er nicht ohne Versicherungsschutz bleibt.
In Wirklichkeit ging es um etwas anderes. Das Wort
„Einheitskasse“ ist gefallen. In der Tat gibt es Menschen,
die die Einheitskasse anstreben; aber das tut gewiss nicht
diese Koalition.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Bisher haben nur
Sie davon gesprochen!)
– Ja, Sie haben daran andere Erinnerungen, Frau Golze,
vielleicht solche an frühere Zeiten. Sie haben einmal auf
einer Wahlkampfveranstaltung auf die Frage, woran Sie
denken, wenn von der DDR die Rede ist, geantwortet:
Eigentlich denke ich nur an eine glückliche Kindheit.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, weil ich zur
Wende 14 Jahre alt war! Ich bin ja nicht 70!)
Diese unpolitische Linie haben Sie sich bis auf den heu-
tigen Tag aufrechterhalten, wie ich an Ihrer Rede hier
gehört habe.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer
Krankenversicherung wirklich etwas Großartiges ge-
schaffen. Natürlich, Herr Kollege Lauterbach, können
Sie hier erzählen, was Sie wollen; da schützt Sie ja das
Grundgesetz.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aber Sie sollten nichts Falsches behaupten. Wenn Sie
die Wahlprogramme der FDP schon nicht lesen, dann
sollten Sie sie auch nicht falsch zitieren. Selbstverständ-
lich haben wir niemals die Abschaffung der gesetzlichen
Krankenversicherung gefordert. Wir meinen allerdings,
dass es in einem freiheitlichen System sehr wohl einen
Wettbewerb geben kann, etwa einen Wettbewerb um den
Preis, weil die Signalwirkung des Preises – was be-
komme ich für das, was ich zahle? – immer ein wichti-
ges Element ist, und ebenfalls einen Wettbewerb um die
Leistungen. Auch dazu gibt es im Übrigen gesetzliche
Bestimmungen. Wir werden sie sogar noch verbessern;
darüber beraten wir in diesen Tagen in der Koalition.
Ebenso gibt es einen Wettbewerb um Qualität, um Ser-
vice usw.
(Beifall bei der FDP)
Ich will Sie nur daran erinnern, dass es gewiss nicht
die FDP war, die die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12655
Heinz Lanfermann
(A) (C)
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haben nicht einmal den Gesundheitsfonds eingeführt.
Aber wir gehen als gute Demokraten von dem aus, was
uns überlassen worden ist, auch wenn es im Wesentli-
chen unter der Ägide Ihrer früheren Gesundheitsministe-
rin – sie hieß Ulla Schmidt – geschehen ist.
Wir bauen das, was wir vorfinden, entweder weiter
aus, wenn es gut ist, oder wir bauen es um, wenn es ver-
besserungswürdig ist, und zur Not schaffen wir etwas
auch wieder ab.
(Mechthild Rawert [SPD]: Nach welcher Fas-
sung? FDP, CDU oder CSU?)
– Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wir tun dies un-
ter dem Gesichtspunkt: Der Bürger und seine Möglich-
keiten, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwäh-
len, stehen im Mittelpunkt.
Auch die Krankenkassen sind frei darin, unterschied-
liche Angebote zu machen. Nicht alle Leistungen sind
gleich. Der Zusatzbeitrag ist nicht das einzige Argument.
Viele Bürger haben ihre Kasse verlassen, nachdem sie
einen Zusatzbeitrag erhoben haben. Aber noch viel mehr
Bürger sind bei ihrer Kasse geblieben. Nun tun Sie doch
nicht so, als hätten diese Bürger nicht bemerkt, dass sie
einen Zusatzbeitrag zahlen. Dafür gibt es Argumente;
mit denen geworben wird, und das dürfen die Kassen
schließlich auch.
Lassen Sie das Ganze da, wo es hingehört: in der Ei-
genverantwortung, in der Entscheidungsfreiheit, in der
Wahlfreiheit der Bürger, und versuchen Sie nicht dau-
ernd, dieses ohnehin schon bürokratische und überregu-
lierte System irgendwie noch mehr zu bürokratisieren.
Versuchen Sie nicht, noch mehr über die Köpfe der Men-
schen hinweg zu bestimmen. In diesem Sinne wollen wir
jedenfalls nicht arbeiten. Wir werden die Verantwortung
der Bürger auf diesem Gebiet stärken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Heinz Lanfermann. – Jetzt
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Fritz Kuhn. Bitte schön, Kollege Fritz Kuhn.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass eine Bundesregierung die Rechtslage umsetzt, in-
dem sie den Versicherten der City BKK die Möglichkeit
gibt, sich woanders zu versichern, ist ja wohl das Min-
deste. Darüber braucht man sich eigentlich nicht lange
zu unterhalten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Wir erwarten von der Regierung, dass sie dies umsetzt.
Wenn sich die Kassen sperren, ist es an der Exekutive,
dem entgegenzuwirken.
Ich war ein bisschen erstaunt, Herr Singhammer, mit
welcher Freude, mit welchem Eifer und mit welcher
Drastik Sie hier etwas betont haben, was selbstverständ-
lich ist. Dahinter steckt wohl, dass Sie gern über die Fol-
gen, aber nicht so gern über die Ursachen reden. Wir
müssen jetzt aber auch über die Ursachen reden. Ist denn
die City BKK pleitegegangen, weil sie so schlecht wirt-
schaftete?
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!)
Oder ist sie nicht in erster Linie deswegen pleitegegan-
gen, weil in den Städten Hamburg und Berlin, in denen
sie hauptsächlich tätig war,
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer ist denn
Gesundheitssenator in Berlin?)
die Struktur von medizinischer Überversorgung und ei-
nem besonderen Altersaufbau geprägt ist? War nicht der
Grund dafür, dass sie mit Kassen, die auch in anderen
Regionen des Landes tätig sind, nicht mehr konkurrenz-
fähig war und zwangsläufig verlieren musste, der, dass
der Wettbewerb hauptsächlich über den Zusatzbeitrag
geht? Diese Frage müssen wir klären.
Ich bin der Meinung, dass dieses System mit dem Ge-
sundheitsfonds, das ursprünglich nur die Möglichkeit
zur Erhebung eines begrenzten Zusatzbeitrags vorsah
und dann durch die Entgrenzung des Zusatzbeitrags un-
ter Schwarz-Gelb und das Einfrieren der Arbeitgeberbei-
träge völlig verschärft wurde, eine solche Tendenz
verschärft und auch dazu führen wird, dass noch mehr
Kassen pleitegehen werden mit den entsprechenden Fol-
gen, über die wir hier heute diskutieren.
Im Vordergrund steht nicht ein Leistungswettbewerb,
sondern ein Preiswettbewerb. Dieser Preiswettbewerb,
den es seit Mitte der 90er-Jahre unter den Kassen über
die Prozentsätze, die in voller Parität von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zu tragen waren, gab, war ein ande-
rer Preiswettbewerb als der, der sich nun in den Euro-
Beträgen der Zusatzbeiträge manifestiert. Diese Form
des Wettbewerbs führt natürlich schneller zum Verlassen
der Kassen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, weil er mehr
Transparenz hat!)
Darauf waren Sie noch stolz. Aber es findet eben kein
Wettbewerb um die tatsächliche Leistung der Kranken-
versicherungen statt. Da wäre Wettbewerb angebracht;
diesen Wettbewerb wollen wir. Derzeit ist es vielmehr
ein Wettbewerb, der allein über den Euro-Betrag des Zu-
satzbeitrags läuft.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Im Verhältnis zum
Angebot!)
Deswegen hat Karl Lauterbach recht. Es geht bei diesem
Wettbewerb kaum noch darum, wer den besten medizini-
schen Service bietet, sondern hauptsächlich um die
Frage, ob ein Zusatzbeitrag erhoben wird und, wenn ja,
wie hoch dieser ist.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Preis im Verhältnis
zum Angebot!)
Herr Lanfermann, Sie kommen um eines nicht herum:
Die Veränderungen, die Schwarz-Gelb vorgenommen
12656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Fritz Kuhn
(A) (C)
(D)(B)
hat, ausgehend vom Gesundheitsfonds der Großen Ko-
alition, führen dazu, dass wir keinen solidarischen Wett-
bewerb in einer sozialen Marktwirtschaft haben,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Mehr
Transparenz!)
sondern einen sehr einseitigen Wettbewerb um Preise,
aber leider nicht in dem Sinne, dass die Preise wohl-
fahrtsorientierte, gesundheitspolitisch vernünftige Wahr-
heiten abbilden. Deswegen handelt es sich an der Stelle
auch nicht um vernünftige Marktwirtschaft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aus dieser Geschichte kommen Sie nicht heraus. Sie
müssen über die entscheidenden Punkte reden. Wir hal-
ten es für falsch, dass Sie aus dem Zusatzbeitrag eine
kleine Kopfpauschale gemacht haben. Sie müssen uns
auch einmal beantworten, was eigentlich passiert, wenn
die Zusatzbeiträge noch weiter steigen werden. Es sagen
viele Gutachten, dass der nicht auf dem jetzigen Niveau
gehalten werden kann,
(Mechthild Rawert [SPD]: Stimmt!)
und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Kostenstei-
gerungen in Zukunft allein von den Versicherten über die
Zusatzbeiträge aufgefangen werden müssen.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, stimmt
doch nicht!)
Es ist jedenfalls so, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag ein-
gefroren haben. Darüber können Sie nicht hinwegtäu-
schen.
(Zurufe von der CDU/CSU)
– Haben Sie ihn eingefroren, oder haben Sie ihn nicht
eingefroren?
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Steuerausgleich! –
Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]:
Wo denn?)
Wie kommt es denn, dass der Kollege Max
Straubinger von der CSU, wenn ich richtig informiert
bin, vorschlägt – das habe ich gelesen –, den Gesund-
heitsfonds wieder abzuschaffen? Darüber müssen Sie
doch in der CDU/CSU einmal ernsthaft diskutieren.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er immer dage-
gen war! – Heinz Lanfermann [FDP]: Warum
sollte er es besser verstehen als Sie, Herr Kol-
lege?)
– Wenn Sie laut werden, dann bin ich beim richtigen
Punkt. Da bin ich mir absolut sicher.
Wir stellen fest, dass die systematischen Fehler, die
Sie mit der Privatisierung und der Entsolidarisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung gemacht haben, jetzt
zur ersten Pleite geführt haben. Ich sage Ihnen voraus:
Es wird weitere geben, weil das System insgesamt falsch
ist.
Sie müssten neben einer Reaktion auf die Unterver-
sorgung im ländlichen Raum – darauf geben Sie im Ver-
sorgungsgesetz jetzt hoffentlich eine Antwort – auch
einmal eine Antwort auf die Überversorgung in den städ-
tischen Ballungsgebieten geben.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Machen
wir! – Heinz Lanfermann [FDP]: Machen
wir!)
Wenn es im Land Berlin und in der Stadt München mehr
Röntgenpraxen als in Italien gibt, dann ist Voraussetzung
für einen vernünftigen Wettbewerb, dass zunächst ein-
mal diese Überversorgung abgebaut wird. Wir sind da-
rauf gespannt, welche Antworten Sie geben. Ich nehme
an, dass Herr Bahr dazu nachher noch etwas sagen wird.
Fazit: Reden Sie nicht nur über die Folgen und da-
rüber, was jetzt mit den Versicherten der pleitegegange-
nen Krankenversicherung geschieht! Reden Sie auch
über die Ursachen und darüber, wie Sie so etwas in Zu-
kunft verhindern wollen!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-
tion.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Klär ihn mal
auf!)
Jens Spahn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin schon etwas verwundert darüber, dass die Debatte
schon einige Zeit läuft, ohne dass insbesondere von den
Rednern der Opposition der eigentliche Skandal, der ei-
gentliche Anlass dieser Debatte erwähnt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hier wird rechtswidrig, böswillig und – ich behaupte so-
gar – gefährlich für das Ganze gehandelt. Ich komme
gleich noch darauf zurück.
Es ist erstens rechtswidrig, weil die Rechtslage ein-
deutig ist. Jeder Versicherte hat unabhängig von Alter,
Einkommen und anderen Merkmalen das Recht auf freie
Kassenwahl. Für Leistungserbringer wie Ärzte und
Krankenhäuser ist die Sache auch geklärt: Wenn eine
Krankenkasse in Insolvenz geht, haften die anderen Kas-
sen für die offenstehenden Kosten. Die Rechtslage ist
also eindeutig.
Es ist zweitens böswillig, weil es Krankenkassen gibt,
die in Kenntnis dieser Rechtslage Menschen einmal quer
durch die Stadt jagen. Die AOK Berlin beispielsweise
suggerierte den betroffenen Menschen, sie müssten quer
durch die Stadt zu einer bestimmten Geschäftsstelle in
Weißensee, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat,
fahren, um sich bei dieser Krankenkasse anmelden zu
können. Das ist unwürdig. Es ist eine Schande, wie die
AOK Berlin hier gehandelt hat. Und Sie haben dazu in
dieser Debatte kein einziges Wort gesagt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12657
Jens Spahn
(A) (C)
(D)(B)
Es ist drittens gefährlich, weil die Krankenkassen, die
so gehandelt haben – auf diesen Punkt haben Sie nur mit
einem Satz hingewiesen –, einen immensen Imagescha-
den für das solidarische System der gesetzlichen Kran-
kenversicherung verursacht haben. Wir kennen die Bil-
der von verunsicherten Menschen – es handelte sich vor
allen Dingen um Rentner und kranke Menschen –, die in
einer Schlange stehen und nicht wissen, was mit ihnen
geschehen soll. Eine Kasse, die sich in Sonntagsreden
immer „Patient der Anwälte“ nennt
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Umgekehrt!)
und es zulässt, dass es zu solchen Bildern kommt, han-
delt fahrlässig und stellt eine Gefahr für die Akzeptanz
unseres Solidarsystems dar. Manche Kasse wird sich
noch über die Folgen ihres Handelns wundern.
(Mechthild Rawert [SPD]: Was ist ein „Patient
der Anwälte“?)
Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie kochen hier
Ihr Süppchen und versuchen, aus dieser Angelegenheit
politisches Kapital zu schlagen. Es ist ein Skandal, dass
Sie davon ablenken, dass hier rechtswidrig, böswillig
und gegen das Interesse des Ganzen auf gefährliche
Weise gehandelt worden ist. Dazu hätten Sie ein paar
Sätze sagen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir werden insofern reagieren, als wir gesetzlich klar
regeln werden, wie diejenigen, die Mitglied in einer
Kasse waren, die geschlossen wurde, besser informiert
werden können. Idealerweise muss es ein Formular ge-
ben, in dem man ankreuzen kann, in welche Kranken-
kasse man eintreten will. Solche Informationen, wie man
eine Kasse wechseln kann, sind wohl ohne eine gesetzli-
che Regelung nicht zu bekommen. Zum Zweiten braucht
es offensichtlich auch Sanktionen. Der Fisch stinkt am
meisten vom Kopf her.
(Mechthild Rawert [SPD]: Das haben wir bei
der Euro-Krise erlebt!)
Nicht die Geschäftsstellenmitarbeiter in Weißensee tref-
fen die Entscheidungen, sondern sie werden weiter oben
getroffen. Deswegen werden wir entsprechende Sanktio-
nen gegen Vorstände einführen. Sie reichen von Zwangs-
geldern bis hin zur Absetzung.
Herr Kollege Kuhn, ich will noch einige grundsätzli-
che Bemerkungen machen. Die City BKK ist nicht we-
gen des Gesundheitsfonds oder wegen der Zusatzbei-
träge in Schwierigkeiten gekommen. Sie hat seit Jahren,
wenn nicht seit Jahrzehnten, Probleme. Aus dem öffent-
lichen Dienst kommend und mit einer entsprechenden
Versichertenstruktur ausgestattet, war sie vor allem in
Hamburg und Berlin tätig.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie vergessen
Stuttgart!)
Wir können einmal die Frage stellen, wie sehr sich die
Gesundheitssenatorin in Berlin darum bemüht hat, die
angespannte Kostensituation aufgrund der vielen Kran-
kenhausbetten in Berlin zu entschärfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie trauen sich nicht, entsprechende Entscheidungen zu
treffen. Deswegen ist die ärztliche Versorgung in Berlin
besonders teuer. Anschließend beschweren Sie sich aber
darüber, dass die Berliner Krankenkassen Probleme ha-
ben. Das zeugt von Doppelmoral.
(Mechthild Rawert [SPD]: Wie man von
Ahaus nach Münster fährt, fährt man von
Brandenburg nach Berlin!)
Dann die Frage des Wettbewerbs. Wir haben uns in
den 90er-Jahren – damals war ich noch nicht dabei, aber
viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen – in
großer Einigkeit für den Wettbewerb entschieden. Es
wurde die freie Kassenwahl eingeführt, die ein hohes
Gut ist. Zum Wettbewerb gehört – dieses Konzept haben
wir in der Großen Koalition weiterentwickelt –, dass
Kassen, die aufgrund ihrer Kostenstruktur, ihrer Verwal-
tungskosten und falscher Angebote im Markt keinen Er-
folg haben, vom Markt verschwinden können. Es gibt im
Moment über 150 Kassen. Da kann es also einmal sein,
dass eine Kasse geschlossen werden muss, wenn sie kei-
nen Fusionspartner findet.
Wenn das zum Wettbewerb gehört, muss klar geregelt
sein, was im Fall einer Insolvenz passieren muss. Das
haben wir gemeinsam festgestellt. Man kann aber nicht
sagen, dass es bei dem Wettbewerb nur um Kosten, um
Geld und um die Höhe des Zusatzbeitrages geht. Der Zu-
satzbeitrag ist natürlich ein wesentlich konkreteres Si-
gnal als das, was wir vorher hatten. Preisunterschiede
zwischen den Krankenkassen gab es schon vorher. Sie
betrugen zum Teil zwischen 60 und 70 Euro im Monat.
Weil der Beitrag aber vom Lohn abgezogen wurde und
dann auch noch ein Dreisatz nötig war, um den Unter-
schied zu einer anderen Kasse nachvollziehen zu kön-
nen, war kein Bewusstsein dafür vorhanden. Wer aber
8 Euro selber zahlen muss, merkt das sofort. So können
sich die Kassen heute differenzieren. Sie können sich
aber nicht nur bei den Kosten differenzieren: Man kann
mit dem Zusatzbeitrag ein besonderes Angebot finanzie-
ren, zum Beispiel besonders gute Versorgungsstrukturen,
die man über Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und
Apotheken erreicht. Es geht um ein besonders gutes An-
gebot für die Versicherten,
(Mechthild Rawert [SPD]: Für die Kranken
oder für die Gesunden?)
sodass Krankenkassen sagen können: „Bei uns kostet es
zwar 10 Euro mehr als bei den anderen, aber dafür bieten
wir dir etwas Besonderes.“
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist die Idee des Wettbewerbs: Es geht darum, bei der
Qualität zu konkurrieren.
Abschließend sage ich es noch einmal: Es ist ein
Skandal, was öffentlich-rechtliche Körperschaften bei
eindeutiger Rechtslage auf dem Rücken der Patienten
machen. Zweitens ist es zumindest ein kleiner Skandal,
dass die Oppositionsredner hier nicht einen einzigen
Satz darauf verschwenden, was da eigentlich passiert ist,
sondern nur versuchen, ihr Süppchen zu kochen, die
12658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Jens Spahn
(A) (C)
(B)
Menschen zu verunsichern und vom eigentlichen Skan-
dal abzulenken. Das ist das eigentliche Problem dieser
Debatte. Vielleicht wird der eine oder andere Kollege
darauf noch zu sprechen kommen; denn das ist das ei-
gentliche Thema.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Mechthild Rawert für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Mechthild Rawert (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Zuschauende und Zuhörende!
Herr Spahn, der eigentliche Skandal liegt darin, dass Sie
in den Medien haben verlautbaren lassen, es sei ein
Skandal, dass sich die Politik überhaupt um diesen Zu-
stand kümmern müsse.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er klar geregelt
ist!)
Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, wie Sie das Wesen
von Politik begreifen. Für uns ist dieser Umgang mit Tau-
senden Versicherten – ich will nicht vom „Tatort Weißen-
see“ sprechen, weil ich die Sendung Tatort durchaus liebe –
selbstverständlich ein empörender Skandal. Es ist auch
ein Skandal, dass Sie das Wesen von Politik so diskredi-
tieren. Sie sollten in den Spiegel schauen, bevor Sie in
dieser Sache weitere Bemerkungen vornehmen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist halt
die Tut-nix-Partei!)
Zum nächsten Punkt. Hier geht es um eine Fachfrage.
Vielleicht haben Sie sich versprochen. Was auch immer!
Wen meinten Sie eigentlich in Ihren Ausführungen mit
den „Patienten der Anwälte“?
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Andersherum:
Anwalt der Patienten!)
Ich denke, dass Ihre Freud’sche Fehlleistung wirklich
deutlich gemacht hat, dass auf jeden Fall nicht Sie der
Anwalt der Patientinnen und Patienten sind, sondern die
von Ihnen gescholtene Opposition, die Sozialdemokra-
ten und Sozialdemokratinnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Stefanie
Vogelsang [CDU/CSU]: Oh, Frau Rawert!)
Zum Thema AOK. Die AOK in Berlin – Frau
Vogelsang wird vielleicht darauf eingehen – hat fusio-
niert. Die AOK Nordost gehört zu denen, die sich öffent-
lich entschuldigt haben. Zu Recht! Es ist empörend, wie
sich Kassen im Hinblick auf die Versicherten der
City BKK verhalten haben; das geht weit über die
Rechtsansprüche hinaus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der LINKEN)
Es ist aber auch empörend, dass die Bundesregierung
und das Bundesversicherungsamt im Vorfeld offenbar
keine Sorgsamkeit haben walten lassen; denn eine Pleite,
eine Insolvenz passiert nicht von heute auf morgen. Die
Mitglieder waren vollkommen überrascht; ihnen wurde
die Insolvenz Anfang Mai schriftlich in einem Brief mit-
geteilt. Anderen – nicht nur den Fachleuten, sondern
auch der Exekutive, der Regierung – war bekannt, dass
hier möglicherweise eine Insolvenz ansteht.
(Zuruf von der CDU/CSU: In Berlin, Frau
Kollegin, in Berlin! Was hat denn Ihre Regie-
rung gemacht?)
Infolgedessen hätten hier schon längst Vorbereitungen
getroffen werden können. Sie sollten sich also nicht so
viel einbilden und nicht sagen, dass nur andere schuld
sind; auch Ihre Regierung hat versagt.
(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Wer ist denn die
Aufsichtsbehörde bei der AOK in Berlin?)
– Das Land Berlin hat keine eigene Kassenaufsicht
mehr, weil es keine eigenen Kassen mehr hat. Das soll-
ten Sie einmal überprüfen. Gleich wird aber noch eine
Berlinerin sprechen, die sich dazu äußern kann. Sie kön-
nen es selbstverständlich auch kollegial untereinander
klären.
Zum Thema Fusionen. Ja, wir wollen, dass es weniger
Kassen gibt. Das muss aber geregelt ablaufen, damit sol-
che Zustände nicht mehr auftreten.
Zum Thema Kassenbeiträge und vor allen Dingen Zu-
satzbeiträge. Der Wettbewerb über den Preis, den Sie
einführen, wird auf den Schultern von Kranken, Älteren
und Behinderten stattfinden. Diese Form von Wettbe-
werb über den Preis wollen Sie durch ihr neues Versor-
gungsgesetz sogar noch ausbauen. Das, was jetzt pas-
siert, ist demnach nur der Vorbote eines Flächenbrandes,
den Sie in der Bundesrepublik Deutschland im Sommer
verursachen werden. Wir werden sehen, ob Sie am Ende,
wenn die Zusatzbeiträge 50 oder 70 Euro betragen, wo-
von viele Experten und Expertinnen längst ausgehen,
immer noch zu Ihren Zusatzbeiträgen stehen.
Die SPD Berlin war die einzige politische Institution
in Berlin, die ganz konkrete Hilfs- und Unterstützungs-
angebote für die Versicherten der City BKK unterbreitet
hat. Das gilt insbesondere für den Kollegen Thomas
Isenberg, den gesundheitspolitischen Sprecher der SPD-
Fraktion im Abgeordnetenhaus, der ein Beschwerdetele-
fon, eine Hotline eingerichtet hat, die rege genutzt wor-
den ist.
(Lars Lindemann [FDP]: Er hätte nur die
Nummer Ihrer Sozialsenatorin aufschreiben
müssen!)
Somit hat er individuelle Unterstützung geboten. Das hat
sonst niemand gemacht. Wir haben also nicht nur dem
Recht auf die Sprünge geholfen, sondern auch tatsächli-
che Unterstützung geleistet. Das danken uns die Bürger
und die Bürgerinnen.
Zu den Kassenvorständen: Ja, es ist gut, dass öffentli-
che Entschuldigungen erfolgt sind. Entschuldigen allein
reicht aber nicht. Wir wachen mit Argusaugen darüber,
ob den Worten jetzt auch Taten folgen. Das sei hier ein-
mal ganz deutlich gesagt.
(D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12659
Mechthild Rawert
(A) (C)
(D)(B)
Zum Ende meiner Rede möchte ich auf die Beschäf-
tigten der Kassen eingehen. Die Sachbearbeiterinnen
und Sachbearbeiter hatten es schwer, auch wenn ihre
Kasse die Versicherten in eine missliche Lage gebracht
hat. Ich bitte aber, zu bedenken, dass die Beschäftigten
der Kassen, die sich in Insolvenz befinden, nicht einfach
entlassen und zu Schuldigen erklärt werden dürfen. Es
ist auch unsere Aufgabe, aufseiten der Beschäftigten zu
stehen. Infolgedessen sind wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten der Anwalt der Patienten und Patien-
tinnen, der Anwalt der Versicherten und der Anwalt der
Beschäftigten.
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/
CSU]: Wenn Sie die Anwälte sind, dann tun
Sie doch etwas!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Wer den Eindruck erweckt, dass der Grund für die
Schließung der City BKK allein in der Entwicklung der
letzten Monaten liegt, der verkennt die Geschichte der
City BKK.
(Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich gesagt!
Das hat einen Vorspann!)
Die City BKK hat schon meinen Vorvorgängern im Amt
des Gesundheitsministers viele Sorgen bereitet. Die City
BKK gäbe es heute schon längst nicht mehr, wenn diese
Koalition im Rahmen der Finanzierungsreform nicht
eine Entscheidung getroffen hätte, die der City BKK
eine zweite Chance eröffnete.
Erinnern wir uns doch einmal an die Situation zu Be-
ginn dieser Legislaturperiode – es wurde ja der Eindruck
erweckt, dass die Zusatzbeiträge etwas Neues sind; es
wurde der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge die
Ursache für das Problem sind –: Zu Beginn dieser Legis-
laturperiode drohte für das Jahr 2010 ein Milliardendefi-
zit. Der Gesundheitsfonds mit gedeckelten Zusatzbeiträ-
gen wurde von SPD und Union eingeführt. Meine
Vorvorgängerin, Frau Schmidt, hat mich gleich in meiner
ersten Woche im Amt scharf kritisiert, wie ich der Presse
entnehmen konnte. Sie hat gesagt, die SPD habe damals
ein viel klügeres Konzept auf den Weg gebracht, indem
sie gedeckelte Zusatzbeiträge beschlossen habe.
Hätten wir an diesem Finanzierungskonzept festgehal-
ten – für das Jahr 2010 drohte ein Defizit von etwa
8 Milliarden Euro –, dann würden wir heute nicht über
die Schließung der City BKK diskutieren. Dann hätten
wir massenweise Kasseninsolvenzen erlebt. Daher sage
ich: Von Ihnen, meine Damen und Herren Kollegen von
der SPD, brauche ich keine Ratschläge, wie wir mit der
Situation der Krankenkassen umzugehen haben. Das, was
Sie uns hinterlassen haben, hätte zu einer massiven Ver-
unsicherung der Versicherten geführt. Das hätte zu Kas-
seninsolvenzen ohnegleichen geführt. Deswegen sage ich
Ihnen: Diese Koalition hat für ein stabiles, nachhaltiges
und sicheres Finanzierungskonzept der gesetzlichen
Krankenversicherungen gesorgt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Schlechter Scherz!)
Schauen wir uns doch einmal die City BKK an. Die
City BKK hatte in der Zeit, in der es noch keinen Ge-
sundheitsfonds und keinen einheitlichen Krankenkassen-
beitrag gab – dieser war gewollt –, den höchsten Bei-
tragssatz aller gesetzlichen Krankenkassen. Er betrug
17,4 Prozent, als der Beitragssatz durchschnittlich
14 Prozent betrug. Da gab es für die Versicherten übri-
gens weniger Transparenz im Wettbewerb. Herr Kollege
Kuhn, Sie haben die prozentualen Beitragssätze so ge-
lobt. Hierzu sage ich Ihnen: Wir stellen fest, dass die Zu-
satzbeiträge für die Versicherten eine viel größere Trans-
parenz bedeuten, um ihre Krankenkasse in Euro und
Cent mit einer anderen vergleichen zu können. Das führt
zu einem Wettbewerb, bei dem sich die Versicherten für
eine Krankenkasse ihrer Wahl entscheiden.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie höhlen die
Solidarität aus!)
Deswegen ist für die Versicherten der Zusatzbeitrag das
überlegene Finanzierungsinstrument gegenüber dem al-
ten, intransparenten System von Rot-Grün.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zur Wahrheit gehört aber auch – das ist bereits ange-
sprochen worden –, dass die City BKK schon einige
Male kurz vor der möglichen Schließung stand. Die
Große Koalition hat die gesetzgeberischen Vorausset-
zungen zur Schließung von Kassen auf den Weg ge-
bracht. Die christlich-liberale Koalition hat das Ganze
umgesetzt, sodass im Fall der City BKK die Schließung
möglich war.
Man darf aber bei aller Verunsicherung, die unter den
Versicherten herrschte und die mir als Gesundheitsmi-
nister Sorgen gemacht hat, nicht unberücksichtigt lassen,
dass die Versicherten zu keinem Zeitpunkt ihren Versi-
cherungsschutz verlieren. Die Versicherten erhielten ein
Schreiben, in dem steht: Sie verlieren Ihren Versiche-
rungsschutz nicht. Bis zur Schließung der City BKK am
30. Juni haben Sie weiterhin den vollen Versicherungs-
schutz bei Ihrer Krankenkasse. Wenn Sie sich bis zu die-
sem Zeitpunkt nicht für eine andere Krankenkasse ent-
scheiden, werden Sie automatisch überführt und nahtlos
einer anderen Krankenkasse zugeordnet.
Aufgrund der anfänglichen Unsicherheit mussten wir
natürlich öffentlich reagieren. Wir sind über Bürgerhot-
lines, Öffentlichkeitsarbeit, Anzeigenschaltungen und
weitere exekutive Maßnahmen tätig geworden, um den
Versicherten die Unsicherheit zu nehmen. Sie behalten
ihren Versicherungsschutz. Sie können die Zeit nutzen,
um sich frei nach einer anderen Krankenkasse ihrer
Wahl umzusehen.
(Beifall bei der FDP)
12660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Bundesminister Daniel Bahr
(A) (C)
(D)(B)
Einzelne Leistungserbringer in Berlin und in Ham-
burg haben sich entschieden, Versicherte nicht zu behan-
deln. Dieses Verhalten ist ganz klar nicht in Ordnung. Es
gibt ganz klare gesetzliche Regelungen. An diese Rege-
lungen halten wir uns auch. Mit unserem aktiven Ein-
greifen haben wir dazu beigetragen, die Verunsicherung
der Versicherten und Patienten abzubauen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Werfen wir einen Blick auf die Debatten zu diesem
Thema. Ein Vorschlag sieht vor, die Versicherten bei der
Schließung einer Krankenkasse sofort allen anderen
Krankenkassen zuzuordnen. Ich sage Ihnen: Das wäre
der falsche Weg; denn die freie Wahl der Krankenversi-
cherung ist ein hohes Gut, um das uns im Übrigen an-
dere Länder beneiden. Dieses hohe Gut, nämlich dass
die Versicherten ihre Krankenkasse selbst wählen kön-
nen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, son-
dern wir müssen es unbedingt erhalten.
Wir wollen nicht, dass Patienten und Versicherte zu
Bittstellern einer Krankenkasse werden oder möglicher-
weise sogar gar keine Wahl mehr haben und einer Ein-
heitskasse beitreten müssen. Für uns ist die Kassenvielfalt
und die freie Wahl der gesetzlichen Krankenversicherung
ein so hohes Gut, dass wir alles daransetzen werden, die-
ses zu erhalten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Damit ist aber auch klar: Das Abwimmeln und das
Verhalten, das wir erlebt haben, ist nicht nur rechtswid-
rig, sondern auch unanständig gewesen. Wir wollen den
Wettbewerb erhalten, und wir wollen, dass der Versi-
cherte Recht und Anspruch darauf hat, von einer Kran-
kenkasse genommen zu werden. Wenn aber gerade ältere
Versicherte, die häufig nicht mobil sind, zu einer Kran-
kenkasse geschickt werden, die am anderen Ende der
Stadt Berlin liegt, wenn ältere Versicherte am Telefon
abgewimmelt werden, weil alle Leitungen besetzt sind,
und Geschäftsstellen geschlossen werden, weil angeb-
lich wichtige Sitzungen der Mitarbeiter stattfinden, dann
ist das ein Verhalten – da können wir, glaube ich, für das
ganze Haus sprechen –, das wir als Abgeordnete auf-
grund der Gesetzeslage nicht akzeptieren können und
auch nicht akzeptieren wollen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deshalb müssen wir gemeinsam dagegen angehen.
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie dieses Pro-
blem gelöst werden kann. Die Linke hat vorgeschlagen,
einfach darauf zu verzichten, dass Kassen geschlossen
werden. Ich habe in der Presse gelesen, dass die Insol-
venz einer Krankenkasse nicht möglich sein soll. Ich
glaube, dass das nicht im Interesse der Versicherten ist.
Was ist das denn für ein Anreiz für die Krankenkassen,
die solide wirtschaften und ihre Hausaufgaben machen?
Wir als Versicherte wollen doch, dass die Krankenversi-
cherungen mit den Pflichtbeiträgen ihrer Beitragszahler
sorgsam umgehen. Wenn eine Krankenkasse, die ihre
Hausaufgaben macht, Verwaltungskosten reduziert, ih-
ren Service verbessert, ihre Leistungen verbessert und
die Arbeit für ihre Versicherten besser erledigt, dann soll
sie doch bitte schön davon profitieren können. Eine
Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt und
die ihre Verwaltungskosten nicht reduziert, soll nicht
noch die Unterstützung der anderen bekommen.
Wir sind für einen leistungsorientierten und fairen
Wettbewerb, sodass sich das Sparen und der sorgsame
Umgang mit dem Geld der Versicherten auch für die
Versicherten der eigenen Krankenversicherung lohnt.
Deshalb braucht es diesen Ansatz.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die SPD hat vorgeschlagen, man solle einfach die Zu-
satzbeiträge abschaffen. Das ist ja ein schöner Vor-
schlag, lieber Herr Lauterbach. Sie haben auch nichts an-
deres vorgeschlagen. Wenn wir die Zusatzbeiträge heute
abschaffen würden, dann würden wir nicht nur über die
Insolvenz der City BKK sprechen, sondern auch über die
der DAK, der KKH und vieler anderer.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber nicht nur! –
Mechthild Rawert [SPD]: Arbeitgeber weiter
einbeziehen!)
– Sie haben hier vorgetragen, dass dies Ihr Vorschlag
ist. – Andere Krankenkassen, die Millionen von Versi-
cherten haben und im Moment einen Zusatzbeitrag ver-
langen müssen, wären dann auch von einer Insolvenz be-
droht. Sie könnten die Versorgung ihrer Versicherten
nicht finanzieren, wenn sie keinen Zusatzbeitrag mehr
verlangen dürften.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Bürgerversicherung!)
Deswegen löst dieser Vorschlag der SPD das Problem,
vor dem wir stehen, nicht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
ruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])
Sie haben vorgeschlagen – das ist typisch; das ma-
chen Sie jedes Jahr –, den Ausgleich auszuweiten. Das
haben wir gemacht. Es war Ihr Vorschlag, den Kranken-
kassenausgleich auf die Krankheitsbilder auszuweiten.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Genau!)
Bisher waren es nur Alter, Geschlecht und einige wenige
andere Kriterien. Sie haben durchgesetzt, es auf 80 Krank-
heitsbilder auszuweiten. Das heißt, schon heute werden
schlechte Risiken, Versicherte mit Krankheiten, stärker
berücksichtigt als früher. Aber das scheint das Problem
immer noch nicht zu lösen. Ich sage Ihnen: Sie werden
nie einen Ausgleich erreichen, der die unterschiedlichen
Risiken zu 100 Prozent abdecken kann.
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um dieses Pro-
blem komplett zu lösen, und das, lieber Herr Lauterbach
– in Wahrheit wollen Sie von der SPD dies wohl –, ist
eine staatliche, zentralistisch gelenkte Einheitskasse.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]:
Nein! Wir wollen Wettbewerb und Qualität!)
Aber dann wären die Patienten Bittsteller bei einer Ein-
heitskasse. Sie hätten dann nicht mehr die Möglichkeit,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12661
Bundesminister Daniel Bahr
(A) (C)
(D)(B)
die Krankenversicherung selbst zu wählen. Dann hätten
wir keinen Wettbewerb mehr. Dann würde mit den Bei-
tragsgeldern nicht mehr sorgsam umgegangen werden.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie halten die Bür-
ger wirklich für dumm!)
Deswegen sage ich Ihnen, dass das keine Lösung ist.
Wir haben die Lösung auf den Weg gebracht. Wir ha-
ben die Sanktionsmöglichkeiten für die Aufsichten ver-
schärft. Das war notwendig, damit die Aufsichten besser
durchgreifen können. Wir haben einen unbürokratischen
Weg gefunden, damit die Versicherten eine freie Wahl
der Kassen haben und unbürokratisch durch das Ankreu-
zen auf einem Formular selbst und schnell die Kranken-
kasse ihrer Wahl aussuchen können. Das ist notwendig,
damit das hohe Gut der freien Wahl der Kassen und der
sorgsame Umgang mit Beitragsgeldern weiterhin ge-
währleistet bleiben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen die Soli-
darität!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bahr, die Re-
duzierung der Lösungsvorschläge der Oppositionspar-
teien auf Details, um dann draufzuschlagen, ist kein gu-
ter politischer Stil.
(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
LINKE])
Sie wissen ganz genau, dass unser Konzept beispiels-
weise die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
rung beinhaltet und nicht einfach nur die Zusatzbeiträge.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was hat das mit der
City BKK zu tun?)
Insofern ist Ihr Verhalten, denke ich, politisch nicht ganz
korrekt.
(Beifall bei der LINKEN)
Erst einmal zu den Fakten. Wir haben erlebt, wie eine
Betriebskrankenkasse, die City BKK, pleitegegangen ist.
Wir haben große Verunsicherung bei den Versicherten er-
lebt. Wir haben die Bilder gesehen, die Schlangen vor den
Geschäftsstellen anderer Kassen gezeigt haben. Wir ha-
ben erfahren, dass Versicherte von Pontius zu Pilatus ge-
schickt wurden. Wir haben das Einteilen der Versicherten
in gute Risiken und schlechte Risiken erlebt, also in Junge
und Gesunde sowie in Ältere und Kranke. Dieses Denken
kannten wir bisher nur aus der privaten Versicherungs-
wirtschaft. Es wurden einige Fälle bekannt, bei denen
Ärzte die medizinische Versorgung von City-BKK-Versi-
cherten verweigert haben. Herr Lanfermann, bei dieser
Gelegenheit: Das Wichtigste für die Versicherten ist eine
sichere Versorgung und nicht die freie Wahl zwischen den
Kassen.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Mechthild Rawert [SPD] – Heinz Lanfermann
[FDP]: Das hängt davon ab!)
All dies hat zu einer weiteren großen Verunsicherung ge-
führt, zu einem großen Imageschaden. All dies ist – das
sage ich in aller Deutlichkeit – rechtswidrig.
Jetzt drohen Sie mit Sanktionen gegen die Kassen und
deren Vorstände. Aber ist es nicht auch ein enormer
Imageschaden für die Gesundheitspolitik als Ganzes,
eine Gesundheitspolitik, die seit Jahren das Solidarprin-
zip schwächt und auf Wettbewerb setzt? Wir erleben die
Nebenwirkungen eines Denkens, das Jens Spahn kurz
nach dem Schließungsbeschluss in aller Klarheit auf den
Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Wir wollen den Wett-
bewerb zwischen den Krankenkassen. Dazu gehört auch,
dass erfolglose Kassen vom Markt verschwinden.“
Nur damit keine Unklarheit aufkommt: Auch wir sind
nicht für einen unbegrenzten Bestandsschutz für jede
Kasse, wenn sie schlecht wirtschaftet.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)
Aber es stünde auch der Weg der Fusion zur Verfügung.
Bei der Insolvenz sind die Folgen, zum Beispiel die
große Verunsicherung, die sie ausgelöst hat, wohl nicht
richtig bedacht worden.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Also Zwangsfusio-
nen?)
Dass viele relativ gleichzeitig bei anderen Kassen anfra-
gen, was organisatorisch zu bewältigen ist, dass rund
50 000 City-BKK-Versicherte noch überhaupt nicht rea-
giert haben und dass sich die Frage stellt, in welche
Kasse sie jetzt kommen, ist doch beim Beschluss der In-
solvenz absehbar gewesen. Wenn Herr Montgomery mit
dem einfachen Vorschlag punkten kann – der Vorschlag
ist hier schon ein paar Mal genannt worden –, man möge
den Versicherten ein Formular zuschicken, auf dem sie
die Kasse ihrer Wahl ankreuzen könnten, dann fragt man
sich, warum vorher niemand im Bundesministerium auf
diese Idee gekommen ist.
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann
[FDP]: Weil wir die Kassen für intelligent ge-
nug gehalten haben!)
Stattdessen gefällt sich Gesundheitsminister Bahr in
der Pose des Rächers der Entrechteten und droht den
Kassen mit Sanktionen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Ach, der macht
nichts!)
Das ist ein wenig wie ein Einbrecher, der laut „Haltet
den Dieb!“ ruft.
(Heiterkeit und Beifall der Abg. Kathrin
Vogler [DIE LINKE])
Die Wurzeln dieser Vorkommnisse liegen in der ver-
fehlten Gesundheitspolitik. Ist das Verhalten der Kran-
12662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Harald Weinberg
(A) (C)
(D)(B)
kenkassen wirklich überraschend? Wettbewerb fördert
immer eigennütziges Verhalten. Wer gesetzliche Kran-
kenkassen wie Unternehmen behandelt und behandeln
will, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht im Interesse
der Patientinnen und Patienten handeln, sondern der
Marktlogik folgen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP:
Das ist bei Behörden nicht anders!)
Menschen, die sich für die Kassen nicht rentieren,
bleiben nach dieser Logik auf der Strecke. Betroffen sind
vor allen Dingen alte und kranke Bürgerinnen und Bür-
ger. Der Druck auf die Krankenkassen ist durch Ihre
Politik inzwischen so groß geworden, dass sie offenbar
auch Rechtsverstöße – skandalöse Rechtsverstöße – in
Kauf nehmen, um nicht selbst in den Abwärtsstrudel aus
Finanznot, Zusatzbeiträgen und Verlust von Versicherten
zu geraten. Noch einmal – damit das klar ist –: Dieses
Verhalten ist rechtswidrig und durch nichts zu entschul-
digen. Es ist eindeutig ein Produkt von falschen Anrei-
zen und einer fatalen Marktgläubigkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Ganze hat eine lange Geschichte. Seit Jahren
wird das Solidaritätsprinzip systematisch aus der gesetz-
lichen Krankenversicherung verdrängt. Der Wettbewerb
zwischen Krankenkassen wurde von der schwarz-gelben
Bundesregierung unter Kohl im Rahmen des Gesund-
heitsstrukturgesetzes 1992 eingeführt. Rot-Grün hat die
Wettbewerbslogik beibehalten und den Finanzdruck auf
die Kassen noch erhöht. Gleichzeitig wurde durch einen
Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, den die
Versicherten leisten müssen, und die Einführung und Er-
höhung von Zuzahlungen die paritätische Finanzierung
aufgekündigt.
Die Möglichkeiten für Kasseninsolvenzen wurden
2007 unter Schwarz-Rot, also von der Großen Koalition,
im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen. Im
selben Gesetz wurden auch die allgemeinen Beitrags-
sätze vereinheitlicht und dafür gedeckelte Zusatzbeiträge
eingeführt. Schwarz-Gelb hat den Wettbewerb als we-
sentlichen Ordnungsfaktor für das Gesundheitswesen in
den Koalitionsvertrag geschrieben und mit ungedeckel-
ten Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale, ein Instrument
geschaffen, das den Preiswettbewerb zwischen den Kas-
sen weiter anfacht, und das, obwohl klar ist, dass dies
eine Politik gegen die Interessen der Menschen ist.
(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)
Das Sinus-Institut hat jüngst eine Studie durchge-
führt, in der die Einstellung der deutschen Bürgerinnen
und Bürger zur medizinischen Versorgung untersucht
wurde, im Übrigen im Auftrag einer der Nähe zu uns mit
Sicherheit völlig unverdächtigen Stiftung, nämlich der
Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Studie hat zwei we-
sentliche Ergebnisse hervorgebracht.
Erstens. Das Vertrauen in das deutsche Gesundheits-
system schwindet schon jetzt; die Menschen sind verun-
sichert. Diese Verunsicherung wird in einen Zusammen-
hang mit einer radikalen Wettbewerbsrhetorik gebracht,
die leider nicht nur Wettbewerbsrhetorik, sondern in der
Tat auch Wettbewerbspolitik ist.
Zweitens. Die Mehrheit, 80 Prozent, und zwar unab-
hängig vom Einkommen – hohe Einkommen und nied-
rige Einkommen – und unabhängig vom Alter – Junge
und Alte –, gab an, dass die Solidarität als Kerngedanke
der Krankenversicherung erhalten bleiben müsse. Da-
nach müssen wir unsere Politik in Zukunft ausrichten.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass die Ver-
unsicherung aus der Wettbewerbsorientierung resultiert
und die Menschen eine andere, solidarisch ausgerichtete
Gesundheitspolitik wünschen.
Dies haben auch einige Unionspolitiker bereits ka-
piert. Max Straubinger zum Beispiel,
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach, der war doch
schon immer gegen den Fonds!)
der heute bezeichnenderweise nicht hier ist, hat dies, wie
ich denke, schon ein Stück weit gespürt. Er ist nämlich
ein bisschen näher bei den Menschen als beispielsweise
Sie, Herr Lanfermann.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
Max Straubinger war früher schon dagegen!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Ja. – Mein letzter Satz: Von dieser Bundesregierung
und einem FDP-dominierten Gesundheitsministerium ist
keine Wende zum Besseren zu erwarten.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Es wird Zeit für einen Politikwechsel. Es wird Zeit, die-
ser Regierung die Rote Karte zu zeigen.
Danke.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zu die-
sem Debattenpunkt ist alles Wesentliche gesagt.
(Mechthild Rawert [SPD]: Dann wird es ja
eine kurze Rede!)
Ich möchte die beiden wesentlichen Facetten dieser
Diskussion aus meiner Sicht zusammenfassen. Ich
glaube, es ist ganz wichtig, dass wir mit dieser Diskus-
sion an die Menschen vor dem Bildschirm folgendes Si-
gnal senden: Kein einziger der Menschen, die, wie wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12663
Stefanie Vogelsang
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(D)(B)
im Fernsehen oder auf Fotos gesehen haben, bei der
AOK-Außenstelle in Berlin-Weißensee Schlange gestan-
den haben, ist ein Bittsteller. Nicht ein einziger der Men-
schen, die von der City BKK zu einer anderen Kranken-
kasse wechseln müssen, muss darum bitten, in eine
andere Kasse wechseln zu dürfen, sondern die Menschen
haben darauf einen Rechtsanspruch.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Erwin Lotter [FDP])
Die gewählte Krankenkasse darf ihren Antrag auf Mit-
gliedschaft nicht abweisen. Ihr Alter, ihr Geschlecht und
ihr Gesundheitszustand dürfen dabei keine Rolle spielen.
Außerdem können sich die Menschen ganz sicher
sein, dass keine angefangene Behandlung in irgendeiner
Art und Weise abgebrochen werden darf, sondern sie ha-
ben einen Rechtsanspruch darauf, dass die gesamte Be-
handlung zu Ende geführt wird und die Kosten dafür von
der neuen Kasse übernommen werden.
Es gibt aber eine weitere Facette dieser Bilder aus
Berlin-Weißensee: Die Menschen in unserer Republik
werden zunehmend verunsichert, und man hat das Ge-
fühl, sie würden zu Bittstellern. Deswegen finde ich es
ganz besonders wichtig, dass auch die Vertreterinnen
und Vertreter der Opposition, Frau Rawert, hier klar und
deutlich sagen, was Sache ist, und nicht für einen ver-
meintlichen Vorteil im Wahlkampf hier in Berlin eine
Hotline der Fraktion schalten und das als anwaltliche
Leistung verstehen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Gesundheit ist ein
existenzielles Gut, und wir haben den Leuten
geholfen!)
– Selbstverständlich, aber Sie sind nicht die Einzigen,
die eine Hotline geschaltet haben;
(Mechthild Rawert [SPD]: Haben Sie es
getan?)
denn zum Beispiel auch die Kassenaufsicht in Branden-
burg, an die man hier in Berlin die Aufsicht abgetreten
hat, hat sofort eine Hotline geschaltet und versucht, die
Menschen zu informieren.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Rot-rote Landes-
regierung in Brandenburg!)
Wesentlicher Punkt ist aber: Wenn Sie sich die Versi-
chertenstruktur der City BKK anschauen,
(Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich!)
dann sehen Sie – das haben Sie vielleicht auch –, dass
von den Versicherten hier in Berlin über die Hälfte Rent-
nerinnen und Rentner sind und dass von der anderen
Hälfte 15 000 Menschen Leistungen nach dem SGB II
oder Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Sie sehen
also, dass diese Menschen wahrscheinlich einer größe-
ren Hilfe bedürfen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Wir haben
geholfen!)
Ich finde es schon ein Stück skandalös, wie die ge-
setzlichen Krankenkassen im Land Berlin, aber auch in
Hamburg und anderen Regionen, die immer mit diesem
hehren Bild der Solidarität aufgetreten sind – wir halten
zusammen –,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit rot-roter
Aussicht!)
mit diesen Menschen umgegangen sind, dass sie sich
weggeduckt haben, Außenstellen am Stadtrand eröffnet
haben oder nicht ansprechbar waren.
Ich glaube, dass dieser Imageschaden für die gesetz-
lichen Krankenkassen ganz wesentlich ist und dass mitt-
lerweile alle erkannt haben – auch die Vertreter der
gesetzlichen Krankenversicherung –, dass es einen sol-
chen Vorfall nie wieder geben darf.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich
entschuldigt!)
– Sie haben sich entschuldigt.
Ich möchte hier sagen – vielleicht auch für alle Ver-
treterinnen und Vertreter dieses Hauses –, dass ich nach
der Schließung einer Krankenkasse nicht noch ein einzi-
ges Mal solche Bilder in unseren Zeitungen sehen
möchte. Ich gehe fest davon aus, dass es einen solchen
Vorgang wie den nach der Insolvenz der City BKK in
Zukunft nicht mehr geben wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auf der einen Seite gibt es unsere gesetzlichen Rege-
lungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass es
Tricksereien hin und her gegeben hat, um Menschen mit
vermeintlich schlechteren Risiken – dass man so über
Menschen reden kann, ist auch fragwürdig – hin und her
schieben zu können. Wir müssen den Finger in die
Wunde legen und gemeinsam darauf achten, dass wir die
Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken gut in-
formieren, dass wir ihnen eine besondere Hilfestellung
geben und dass diejenigen in den Vorständen, die hier
tricksen, dafür auch bestraft werden.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Frak-
tion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich denke, in einem Punkt sind wir uns alle hier im
Hause einig: Das Verhalten einiger Krankenkassen nach
der Pleite der City BKK ist inakzeptabel und skandalös.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Umfang und auch die Dreistigkeit, mit der gerade
ältere Menschen verunsichert und letztlich abgewimmelt
worden sind, sind erschreckend. Deshalb ist es auch
richtig und angemessen, dass dieses Verhalten im Deut-
schen Bundestag mit deutlichen Worten verurteilt wird.
12664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Carola Reimann
(A) (C)
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Ebenso richtig und nachvollziehbar ist der Ruf nach
Sanktionen und auch nach Maßnahmen, die den Kassen-
wechsel im Falle einer Kassenschließung weiter verein-
fachen.
Herr Minister Bahr, das reicht aber nicht.
(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)
Ganz in der Tradition Ihres Vorgängers kündigen Sie
jetzt mit markigen Worten große Taten an. Doch an die
Grundprobleme des Systems wagen auch Sie sich nicht.
Dass an den gegenwärtigen Problemen nicht nur die ge-
setzlichen Kassen schuld sind, haben inzwischen auch
Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfrak-
tionen gemerkt. Der CSU-Kollege Straubinger, der heute
nicht anwesend ist, scheint – das ist schon erwähnt wor-
den – bei Fonds, Spitzenverband und Zusatzbeiträgen ei-
niges durcheinandergebracht zu haben.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Er war schon gegen
den Fonds, als ihr noch dafür ward!)
Aber zumindest hat er gemerkt, dass das Problem tiefer
liegt. Denn unabhängig von dem skandalösen Fehlver-
halten muss man sich fragen, wieso es nach wie vor für
einige Kassen erstrebenswert ist, ältere und kranke Ver-
sicherte gar nicht erst zu versichern.
Offensichtlich herrscht im System kein wohlverstan-
dener Wettbewerb, sondern ein schädlicher Wettbewerb
(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] und
Harald Weinberg [DIE LINKE])
um die jungen, gesunden Versicherten, während die Al-
ten und Kranken Steine in den Weg gelegt bekommen.
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke,
der Wettbewerb herrscht zwischen Städtern
und Landleuten!)
Gerade deshalb haben wir unter Ministerin Schmidt den
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einge-
führt. Gesunden Wettbewerb im System der gesetzlichen
Krankenversicherung erreichen wir nämlich nur, wenn
Kassen mit vielen kranken und älteren Versicherten kei-
nen finanziellen Nachteil daraus haben.
Die seinerzeit von der Union durchgesetzte Beschrän-
kung des Risikostrukturausgleichs auf 80 Erkrankungen
belässt aber weiterhin Anreize zur Risikoselektion auf-
seiten der Krankenkassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Genau das haben wir im Fall der City BKK noch einmal
deutlich vor Augen geführt bekommen. Wir fordern des-
halb die Abschaffung der Begrenzung auf 80 Erkrankun-
gen; denn nur so können wir die falschen Anreize für die
Kassen unterbinden und für einen fairen Wettbewerb
sorgen, von dem auch alle Versicherten profitieren kön-
nen.
(Beifall bei der SPD)
Der Fall City BKK zeigt, dass es höchste Zeit ist, mit
falschen Anreizen im System Schluss zu machen und da-
für zu sorgen, dass der Risikostrukturausgleich weiter
ausgebaut wird. Dazu habe ich weder vom Minister noch
von den Koalitionsfraktionen etwas gehört. Ihr Koali-
tionsvertrag fordert sogar, den Risikostrukturausgleich
zurückzufahren.
Auch Minister Bahr zieht seit Jahren gegen den Risi-
kostrukturausgleich zu Felde. Es ist geradezu absurd: Sie
beklagen auf der einen Seite medienwirksam die Ableh-
nung Kranker und Alter, tun auf der anderen Seite aber
rein gar nichts dafür, die Anreize zu dieser Ablehnung zu
beseitigen. Auch heute haben wir nichts dazu gehört.
Schlimmer noch: Sie verfolgen eine Gesundheitspolitik,
die diese Anreize sogar noch verstärkt.
Herr Minister, Kolleginnen und Kollegen von der
Union und der FDP, der Kollaps der City BKK und das
Chaos als Folge daraus sind ein ernstzunehmender
Warnschuss. Das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und
die Abwälzung aller künftigen Kostensteigerungen auf
die Versicherten in Form unbegrenzter Zusatzbeiträge,
verbunden mit einem unzureichenden Risikostrukturaus-
gleich, werden zu einem verschärften schädlichen Wett-
bewerb führen.
(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das
fürchte ich auch!)
Junge, gesunde und flexible Versicherte werden bei
steigenden Zusatzbeiträgen flüchten. Die Alten und
Kranken bleiben zurück, weil sie sich mit einem Kassen-
wechsel aus verschiedenen Gründen schwerer tun. In der
Folge geraten die betroffenen Kassen immer mehr in
eine finanzielle Schieflage bis hin zur Insolvenz mit den
Auswirkungen, die wir gerade bei der City BKK erlebt
haben.
Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie diesen Warn-
schuss ernst! Es ist der Hinweis auf eine Fehlentwick-
lung, die Sie nicht mit Strafen und Sanktionen für
gesetzliche Kassen in den Griff bekommen werden, son-
dern nur, indem Sie die gesundheitspolitischen Fehlent-
scheidungen Ihres Vorgängers zurücknehmen.
Danke.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Lars Lindemann für die FDP-Frak-
tion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Lars Lindemann (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde von den
Vorrednern heute schon viel gesagt. Wir alle haben die
Bilder gesehen. Wir alle haben das Vorgehen einhellig
verurteilt. Es ist die originäre Aufgabe der gesetzlichen
Krankenversicherung, Versicherungsschutz anzubieten.
Deren originäre Aufgabe ist es auch, im Fall einer Insol-
venz die Versicherten der insolventen Krankenkasse auf-
zunehmen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12665
Lars Lindemann
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(D)(B)
Es geht aber nicht nur um die Vorgehensweisen be-
stimmter Krankenkassen und ihrer Vorstände, die wir
schlicht als rechtswidrig bezeichnen müssen. Zur Wahr-
heit gehört auch: Die Pleite der City BKK hat sich lange
angedeutet. Alle Beteiligten – ich betone: alle Beteilig-
ten – konnten sich darauf vorbereiten, sowohl die Kran-
kenkassen als auch die Politik. Wir als politisch Verant-
wortliche auf Bundesebene durften darauf vertrauen,
dass die gesetzlichen Krankenkassen die Regeln einhal-
ten werden, die wir ihnen gegeben haben. Interessant ist
aber, dass gesetzliche Krankenkassen, die bekannt dafür
sind, dass sie hohe moralische Ansprüche an alle Betei-
ligten im System haben, hier die Ersten sind, die dies für
sich nicht mehr gelten lassen wollen. Insoweit stellt sich
die Frage: Wie moralisch und wie solidarisch ist dieses
Vorgehen in genau diesem Moment?
(Mechthild Rawert [SPD]: Die PKV macht es
uns schon die ganze Zeit vor!)
– Liebe Kollegin Rawert, es geht um den Moment.
Wir von der Koalition jedenfalls werden das so nicht
hinnehmen. Dieses Verhalten wird zu Konsequenzen
führen, die wir gesetzlich implementieren werden. Wir
werden dabei auch darauf achten, dass die Konsequen-
zen diejenigen treffen werden, auf die es dabei an-
kommt, nämlich die Vorstände der Krankenkassen und
deren Verbände. Es soll sich niemand falsche Hoffnun-
gen machen: Die Koalition wird diese Sache ganz unauf-
geregt besprechen. Es geht darum, dass sich die Men-
schen in diesem Land auf die Wirkung der vom
Gesetzgeber für den Fall einer Insolvenz geschaffenen
Regelungen verlassen können, gerade vor dem Hinter-
grund, dass diese auch wirken müssen, wenn in Zukunft
andere Krankenkassen von einer Insolvenz betroffen
sind, unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große
Krankenkassen handelt. Es geht darum, einen Mechanis-
mus, der zu einem funktionierenden System gehört
– nach unserer Auffassung auch der Marktaustritt –,
funktionsfähig zu halten. Der Marktaustritt von Kran-
kenkassen und auch – das füge ich hinzu – von Leis-
tungserbringern
(Mechthild Rawert [SPD]: Was ist denn
Marktaustritt?)
muss zur positiv erlebbaren Realität in diesem Land ge-
hören. Es kann nicht sein, dass die Beteiligten dann,
wenn gesetzlich vorgesehene Fälle eintreten, versuchen,
Konflikte auszutragen, die nicht dorthin gehören.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kann
schon! Darf nicht!)
Dazu gehört ganz ohne Zweifel, dass diejenigen, die
nicht in der Lage sind, unter Beachtung der gegebenen
Regeln einen Beitrag zu leisten, ausscheiden müssen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Marktaustritt ist In-
solvenz!)
Nun sprechen Sie, liebe Kollegen von der SPD, von
einem perversen Wettbewerb – so hat es Herr Kollege
Lauterbach bezeichnet –, der durch die Erhebung oder
die bewusste Vermeidung von Zusatzbeiträgen entsteht.
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, die Zu-
satzbeiträge eingeführt haben, und zwar – im Gegensatz
zu uns – ohne Sozialausgleich für die Versicherten.
(Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert [SPD]:
Wo ist denn der Sozialausgleich?)
Wir haben den Sozialausgleich – dazu stehen wir weiter-
hin – mit der Überlegung gekoppelt, dass der Wettbe-
werb darum, ob eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag
erhebt oder nicht, zu einer Veränderung der Krankenkas-
senlandschaft führen kann. Wenn Sie, liebe Kollegen
von der SPD, erklären, das sei nicht Ihr Ziel – das dürfen
Sie –, dann hält uns das nicht davon ab, das zu tun. Aber
es lässt sich eines festhalten: Der Zusatzbeitrag, den Sie
eingeführt haben, war nichts anderes als der schlichte
Griff in die Tasche der Versicherten ohne Sozialaus-
gleich
(Zuruf von der LINKEN: Wo bleibt denn der
Sozialausgleich?)
und ohne Elemente, die die Erhaltung der Leistungsfä-
higkeit des Gesamtsystems im Blick haben. Dies aber ist
unser Ansatz. Insoweit kann ich Ihren Stellungnahmen
etwas abgewinnen, wenn es um die Zielsetzungen geht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Rudolf Henke für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Der
ist zu den Grünen gegangen, bei der Kra-
watte!)
Rudolf Henke (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Krawattenfarbe
entscheidend ist, dürfte ich nie eine rote tragen. Das tue
ich aber gelegentlich.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich trage auch schon mal eine lilafarbene Krawatte. Die
meisten meiner Krawatten sind gemustert. Die Krawatte,
die ich gerade trage, weist auch etwas Blau auf.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber der Anzug
sitzt nicht!)
Da es für die Versicherten, die gerade zuschauen, ein
bisschen durcheinandergeht: Das Formular, mit dem
man seinen Beitritt zu einer neuen Krankenkasse erklärt,
ist supersimpel. Dort steht: „An die Krankenkasse“, und
dann muss die Adresse eingetragen werden. Es heißt
dort:
Antrag auf Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse.
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit beantrage ich die Mitgliedschaft in Ihrer
Krankenkasse ab
– in diesem konkreten Fall –
1. Juli 2011.
12666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Rudolf Henke
(A) (C)
(D)(B)
Dann muss man seine Daten angeben: Name, Vorname,
Geburtsdatum, Straße, Postleitzahl und Ort. Man trägt
ein Datum ein, unterschreibt das Formular und schickt es
an die Krankenkasse. Wenn man glaubt, dass man dafür
einen Beweis braucht, muss man es per Einschreiben
schicken oder es persönlich dort einwerfen. Der ent-
scheidende Punkt ist: Mehr Aufwand bedarf es dazu
nicht. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, denjeni-
gen in diese Krankenkasse aufzunehmen. Sie, die Kran-
kenkasse, hat kein Wahlrecht, sich den Versicherten aus-
zusuchen, sondern der Versicherte hat das Wahlrecht,
sich die Krankenkasse auszusuchen. So einfach ist das.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich habe den Eindruck, dass die Krankenkassen die
Philosophie, die dahintersteckt, dann, wenn es um an-
dere geht, gerne vor sich hertragen. Vor ein paar Tagen
wurde der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts
für Wirtschaftsforschung „Krankenhaus Rating Report
2011“ vorgelegt, wonach sich 12 Prozent der Kranken-
häuser im Insolvenzrisiko befinden. Das haben die Kran-
kenkassen natürlich kommentiert. Und wie haben sie es
kommentiert? Ich zitiere Herrn von Stackelberg, den
stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spit-
zenverbandes:
Verluste von Krankenhäusern sind kein Indiz für
eine unzureichende Finanzierungsausstattung, son-
dern oft ein Zeichen von strukturellen Problemen.
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
Darüber hinaus hat er gesagt:
Verkrustete Strukturen dürfen nicht länger konser-
viert, sondern müssen aufgebrochen werden. Wir
mahnen dringend eine strukturelle Bereinigung der
Krankenhauslandschaft an.
So Herr von Stackelberg.
Wer so über andere redet, die in wirtschaftliche
Schwierigkeiten kommen, der hat keine Ausreden mehr,
wenn sich Krankenkassen so verhalten, wie sie es getan
haben, indem sie Versicherte abgewimmelt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mechthild Rawert [SPD]: Was sind jetzt Ihre
Vorschläge?)
Ich bin sehr dafür, dass auch die Leistungserbringer
daran festhalten und wissen müssen, dass sie selbstver-
ständlich nach Recht und Gesetz und Fachlichkeit ge-
bunden sind, jeden Versicherten zu versorgen. Die Kran-
kenkassen haben ja in der Verteidigung dieses Rechts
eine Rolle gespielt. Genau an dieser Stelle schießen sie
sich selbst ins Knie, wenn sie sich so verhalten, wie sie
es jetzt getan haben, weil sie damit ihrer eigenen Glaub-
würdigkeit schweren Schaden zufügen. Sie zeigen mit
dem Finger auf andere, achten aber nicht darauf, dass
man sich auch selber daran halten muss.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich ent-
schuldigt!)
Es ist unentschuldbar, wenn Krankenkassen Versi-
cherte abwimmeln, weil ihnen diese zu alt oder zu krank
sind. Für ein solches Verhalten habe ich keinerlei Ver-
ständnis. Es ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch
inakzeptabel. Wir erwarten von jeder gesetzlichen Kran-
kenkasse, dass sie grundsätzlich jeden mit offenen Ar-
men empfängt.
Kleine Korrektur zu der Ausrede, die da vagabundiert
hat, also zu der Aussage der AOK Berlin-Brandenburg,
man habe ja hier so viele Krankenhausbetten: In Berlin
hatten wir Ende 2009 573 Betten auf 100 000 Einwoh-
ner, im Bund waren es 615 Betten und in dem Bundes-
land Nordrhein-Westfalen beispielsweise, aus dem ich
stamme, 682 Betten. Es ist aber trotzdem so, dass die
City BKK hier in Berlin in Probleme geraten ist. Auch
da wird zum Teil die Verantwortung auf andere Bereiche
umgelenkt.
Ein zentraler Punkt in der politischen Debatte scheint
mir zu sein, dass wir in der Behandlung des Zusatzbei-
trages – die ganze Diskussion zeigt das wieder einmal –
geradezu eine Neurotisierung in der Bevölkerung för-
dern, und zwar an allererster Stelle Sie, Herr Kollege
Lauterbach. Sie erklären zum einzigen Kriterium des
Krankenkassenwettbewerbs: Zusatzbeitrag vermeiden,
Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden. Da-
mit sorgen Sie für eine Haltung, die zum Beispiel der
Verbraucherzentrale Bundesverband ablehnt,
(Zuruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])
weil er seinen Verbrauchern und den Versicherten zuruft,
dass man nicht alleine auf den Zusatzbeitrag achten darf,
sondern dass man auf das Verhältnis von Leistung und
Preis achten muss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Konzeption, die Sie hier vertreten, ist eine Kon-
zeption, bei der so getan wird, als wären die Versicherten
so dumm,
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie stellen sich
dumm!)
dass sie nicht in der Lage sind, das Verhältnis von Preis
und Leistung zu erkennen. Die wichtigste Leistung einer
Krankenkasse ist, dass sie in der Lage ist, das Leistungs-
versprechen, das sie gegeben hat, einzuhalten. Wenn sie
dafür einen etwas höheren Beitrag erheben muss,
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber nur einseitig
von den Versicherten!)
dann ist dieses Geld richtig bezahlt und der Versicherte
gut beraten, bei dieser Kasse zu bleiben.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes – Privilegie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12667
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) (C)
(D)(B)
rung des von Kindertageseinrichtungen und
Kinderspielplätzen ausgehenden Kinder-
lärms
– Drucksache 17/5709 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Ände-
rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes –
Privilegierung des von Kindertageseinrich-
tungen und Kinderspielplätzen ausgehenden
Kinderlärms
– Drucksache 17/4836 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (16. Ausschuss)
– Drucksache 17/5957 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinderlärm – Kein Grund zur Klage
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine immissions- und baurechtliche Pri-
vilegierung von Sportanlagen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Vorrang für Kinder – Auch beim Lärm-
schutz
– Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925,
17/5957 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister Norbert Röttgen das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr – ich
hoffe und glaube, dass das für sehr viele hier im Hohen
Hause gilt –, dass wir heute die zweite und dritte Lesung
des Gesetzes zur Privilegierung von Kinderlärm beraten
und dann im Bundestag auch beschließen werden. Ich
glaube, dass dieses Gesetzesvorhaben eine grundsätzli-
che gesellschaftspolitische Bedeutung, aber auch ganz
praktische Folgen hat.
Zur grundsätzlichen Bedeutung möchte ich erstens
Folgendes hervorheben: Dieses Gesetz trägt dazu bei,
dass sich im einfachen Recht, in den einfachen Gesetzen,
die Wertordnung des Grundgesetzes verwirklicht. Ge-
setze müssen sich orientieren an den Werten einer Ge-
sellschaft und insbesondere an der Wertordnung, wie sie
in unserer Verfassung, im Grundgesetz, festgelegt ist.
Darum möchte ich hier ganz ausdrücklich aussprechen,
dass die bisherige Rechtslage, nach der das Toben, Spie-
len, ja natürlich auch das Lärmen von Kindern als schäd-
liche Umwelteinwirkung aufgefasst werden kann, inak-
zeptabel ist, gerade auch aus der Perspektive der
Wertordnung des Grundgesetzes.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Kinder haben das Recht, in ihrem Kindsein akzeptiert
und toleriert zu werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt keine geräuschfreien Kinder. Wir wollen auch
keine geräuschfreien Kinder, sondern wir wollen Kinder
so, wie sie sind: spielend, Lust am Leben und Freude ha-
bend, auch tobend und lärmend. Das mag manchmal für
Erwachsene anstrengend sein – das will ich als Vater von
drei Kindern gern einräumen; diese Erfahrung machen
wir alle –, aber es geht darum, Kinder in ihrem Kindsein
zu tolerieren, zu respektieren, ja zu mögen, zu lieben, zu
wollen. Das muss sich in Gesetz und Recht ausdrücken;
sonst sind wir nicht ehrlich.
(Beifall bei der CDU/CSU – Bernhard Kaster
[CDU/CSU]: Er wäre ein guter Familienminis-
ter, oder?)
Darum ist diese Änderung auch im rechtspolitischen
Sinne eine wirklich überfällige Korrektur.
Ich glaube zweitens, dass dieses Gesetz ein wichtiges
gesellschaftspolitisches Signal ist, ein Signal für eine kin-
derfreundliche Gesellschaft. Was sind die Trends in unse-
rer Gesellschaft, über die Konsens besteht? Wir sind eine
Gesellschaft, in der wir weniger werden. Wir sind eine
Gesellschaft, die älter wird. Ich glaube, wir sind eine Ge-
sellschaft, in der viele Menschen einsamer werden, nicht
nur individueller; der Trend zur Vereinsamung hat inzwi-
schen eingesetzt. In unserer Gesellschaft werden wir we-
12668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) (C)
(D)(B)
niger, älter und einsamer. Das sind drei große Trends in
unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach tatenlos hin-
nehmen dürfen. Mit einer gezielten und entschlossenen
Familienpolitik müssen wir Akzente dagegen setzen;
denn die Familie ist immer noch die wichtigste Lebens-
form, die sozialen Zusammenhalt bietet, ihn erzeugt. Da-
rum wollen wir alles tun, was Kinder und Familien stärkt.
Es ist ein Signal für eine kinder- und familienfreundliche
Gesellschaft, das wir heute in Gesetzesform an die Ge-
sellschaft aussenden, ein Signal für den Zusammenhalt in
der Gesellschaft.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Drittens regeln wir ganz praktische Sachverhalte;
denn mit der Neuregelung im Bundes-Immissions-
schutzgesetz wie auch im Baurecht, im Bauplanungs-
recht sorgen wir dafür, dass der gerichtliche Streit um
die Zulässigkeit von Kinderlärm weniger wird, weil der
Gesetzgeber die Normentscheidung trifft, dass Kinder-
lärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung
darstellt. Indem der Gesetzgeber Klarheit schafft, sorgen
wir dafür, dass im Einzelfall weniger Streit vor den Ge-
richten ausgetragen wird und auch weniger Nachbar-
schaftsstreitigkeiten entstehen.
(Gerd Bollmann [SPD]: Das Baurecht fehlt ja
noch!)
– Das Baurecht fehlt nicht – aber es ist richtig, dass Sie
es anmerken –, da wir im Bauplanungsrecht eine Ände-
rung vornehmen, die vorsieht, dass nun auch in reinen
Wohngebieten Kindertageseinrichtungen generell zuläs-
sig sind. Das ist eine ganz wichtige Flankierung dieser
Gesetzesinitiative im Planungsrecht. Wir wollen Kinder-
tageseinrichtungen dort, wo auch andere Menschen sind,
in reinen Wohngebieten, und sie nicht zu Exklaven unse-
rer Städte und Gesellschaften machen. Auch das ist ein
wichtiges Signal, eine wichtige Entscheidung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich betone ausdrücklich, dass dies ein gesellschafts-
politisch wichtiges Anliegen ist. So klein es zu sein
scheint, so wichtig ist es mit Blick auf die Ehrlichkeit
und Glaubwürdigkeit, aber auch das Bemühen von Poli-
tik und Gesetzgeber, Maßnahmen zu ergreifen, die un-
sere Gesellschaft freundlich machen, Zusammenhalt
stiften, Kindern ganz real in Kindertageseinrichtungen,
aber auch zur Entfaltung ihres Kindseins Lebensraum
geben. Obwohl es um wenige Veränderungen geht, hat
dies eine beachtliche Bedeutung für die gesellschaftliche
Entwicklung.
Es geht auch darum, eine tolerante Gesellschaft zu be-
fördern. Toleranz wird ganz sicherlich – das ist auch
wichtig bei einem Gesetz zugunsten von Kindern und ih-
rer Entfaltung – wechselseitig geschuldet. Es geht hier
um die Toleranz älterer Erwachsener gegenüber Kin-
dern, weil wir sie so haben möchten, wie sie sind. In
gleicher Weise ist dies dann auch eine gute Grundlage,
dass Kinder, junge Menschen Toleranz und Respekt ge-
genüber älteren Menschen, gegenüber der älteren Gene-
ration zeigen. Insofern versucht dieses Gesetz einen klei-
nen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft, die Toleranz und die Freude am
Zusammenleben zunehmen. Unsere Gesellschaft braucht
dies, und darum bitte ich Sie sehr um Ihre Zustimmung
zu diesem Gesetz.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Vogt von der
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Ute Vogt (SPD):
Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Dies ist sicherlich ein dankbares
Thema für den Minister; denn wir sind uns bei diesem
Gesetzentwurf durchaus in den wichtigen Teilen, die uns
heute vorliegen, parteiübergreifend einig.
Ich beginne mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem
Zitat von Frank Patalong in Spiegel Online aus dem
April dieses Jahres: Eigentlich sollte uns dieses Gesetz
zutiefst beschämen. Er führt aus, man könne sich durch-
aus Gedanken darüber machen, dass es bedauerlich ist,
dass man ein solches Gesetz überhaupt braucht, und man
treffe diese Regelung in einem Gesetz, das eigentlich für
Immissionen von Abgasanlagen und Industrieanlagen
zuständig ist. Daran ist durchaus etwas, wenn man die
gesellschaftliche Situation betrachtet: Man kann bedau-
ern, dass wir dies überhaupt regeln müssen, weil sich zu
viele Menschen beklagen und sogar gerichtlich gegen
Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten vorgehen.
Aber entscheidend ist für uns, dass wir nicht darüber
trauern, dass es solche Zustände gibt, sondern dass wir
den Kindern mit diesem Gesetz Freiräume schaffen und
dass wir dies parteiübergreifend tun. Vor allem sorgen
wir dafür, dass für Kinderlärm eine Privilegierung gilt
und er daher dem Spielen und Sich-Entfalten nicht im
Wege steht.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei der Landesregie-
rung von Rheinland-Pfalz, die mit ihrer Bundesratsini-
tiative im November 2009, also schon vor anderthalb
Jahren, die Grundlage dafür geschaffen hat, dem Ganzen
zusammen mit Anträgen der Opposition etwas Nach-
druck zu verleihen. Daher kommen wir heute wenigstens
in diesem einen Feld, was die Kinder betrifft, zu einer
Sicherheit, wenngleich die Rechtssicherheit, wie Sie ja
selbst gesagt haben, Herr Minister, erst dann gegeben
sein wird, wenn, wie im SPD-Antrag vermerkt, auch das
Baurecht und andere damit zusammenhängende Rechts-
vorschriften geändert werden.
Trotzdem möchte ich mein Bedauern darüber ausdrü-
cken, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf doch ein gan-
zes Stück hinter dem zurückbleiben, was die Realität
heute erfordert. In unserer Anhörung vom 14. März 2011
hat der Sachverständige Rainer Grund vom Bau-
rechtsamt Stuttgart dazu etwas Treffendes gesagt. Er be-
schreibt, wie er es nennt, die offene Flanke, die dieser
Gesetzentwurf bietet. Ich zitiere aus dem Protokoll der
Anhörung:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12669
Ute Vogt
(A) (C)
(D)(B)
Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, beschäftigt
sich eigentlich nur … mit dem Kinderlärm durch
Kindertagesstätten oder durch klassische Spiel-
plätze. Im praktischen Vollzug ist das der Bereich,
der am wenigsten Probleme aufwirft.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für zu-
tiefst bedauerlich. Auch Sie, Herr Minister, haben mit
keinem Wort erwähnt, dass die Kindheit eben nicht en-
det, wenn man den Kinderspielplatz verlässt. Sie endet
auch nicht mit 14 Jahren; das ist meistens das Höchstal-
ter, bis zu dem man einen Kinderspielplatz nutzen darf.
Vielmehr haben auch die Jugendlichen ein Recht darauf
und hätten es verdient, dass Sie als Bundesregierung ihr
Anliegen aufnehmen und sich zur Lobby auch von jun-
gen Menschen machen, nicht nur zu der für Kinder bis
zu 14 Jahren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Wenn wir einerseits die Erkenntnisse aus den Anhö-
rungen – es war nicht nur der eine Sachverständige, der
solche Ausführungen gemacht hat – zugrunde legen und
andererseits sehen, was uns zum Beispiel eine FDP-Kol-
legin im Ausschuss erläutert hat, tut sich ein Wider-
spruch auf. Sie sagte nämlich, der Kinderlärm bedürfe
einer Regelung, denn man könne den Kindern nicht so
gut sagen, dass sie still sein sollen, sie verstünden das
noch nicht; Jugendlichen hingegen könnte man solche
Hinweise durchaus geben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Die Kollegin
Skudelny rennt in Stuttgart von Bolzplatz zu Bolzplatz
und sagt den Jugendlichen, sie sollen aber bitte ein biss-
chen leiser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
weltfremd, und es ist auch ganz schön albern, welche
Vorstellungen Sie haben. Sie drücken sich davor, eine
Lösung für ein Thema zu finden, das den eigentlichen
Konflikt vor Ort schafft.
(Patrick Döring [FDP]: Sie haben alle Anträge,
die wir in der letzten Wahlperiode gestellt ha-
ben, abgelehnt!)
Denn wenn Jugendliche ihrer Spielfreude Ausdruck ver-
leihen wollen, macht dies viel mehr Probleme, aber für
sie ist viel weniger Lobby vorhanden. Es wäre mutig und
richtig gewesen, wenn Sie auch bei diesem Gesetzent-
wurf nicht bei den Kindern geendet hätten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Wo war
Ihr Mut?)
Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie die vorliegen-
den Anträge der Opposition nicht in gewohnter Art und
Weise beiseitelegen und nicht einfach sagen: Wir haben
die Mehrheit, hurra, jetzt setzen wir uns einmal allein
mit dem durch, was wir für richtig halten.
Wir haben uns als Opposition parteiübergreifend ent-
schieden, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Man
könnte jetzt auch im Sinne einer guten demokratischen
Kultur sagen: Im Gegenzug stimmen Sie den Anliegen
der Opposition zu. Dazu zählt das Anliegen, eben auch
Bolzplätze, Baseballanlagen, Skateranlagen und auch
wohnortnahe Sportplätze einzubeziehen und vor allem
gleichzustellen. Das alles ist in den Anträgen der Oppo-
sition enthalten. Ich kann Sie nur bitten: Schieben Sie
das Ganze nicht auf die lange Bank. Die Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU und der FDP aus dem
Sportausschuss – vielleicht sind diese manchmal ein bis-
schen näher an der Realität – haben einen eigenen An-
trag eingebracht, in dem Sie ausdrücklich aufgefordert
werden, auch Rechtssicherheit bei der Beurteilung von
Lärm der Jugendeinrichtungen zu schaffen.
In diesem Sinne bitte ich Sie ganz dringend: Stimmen
Sie auch den Oppositionsanträgen zu. Damit würden wir
ein Gesetz verabschieden, das im Grunde genommen al-
len gerecht wird, Kindern und Jugendlichen. Wir hätten
auch ein Stück Geschichte geschrieben, weil wir einmal
nicht nur hinsichtlich des Gesetzes einig sind, sondern
auch bei den dazugehörenden Anträgen.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
von der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
Hamburger Landgericht hat 2005 per Gerichtsurteil die
Schließung eines Kindergartens wegen Lärmbelästi-
gung der Nachbarn angeordnet. Das Urteil empfand ich
damals genauso wie heute als Skandal. Wie kann man
den ganzen Tag den Lärm einer vierspurigen Straße er-
tragen, aber nicht für ein paar Stunden das Lachen und
Toben von Kindern? Rasenmäher machen Krach, wer-
den aber toleriert, Kindergeschrei nicht.
Das Gerichtsurteil von Hamburg hat dennoch ein Gu-
tes: Es hat eine Diskussion in Gang gebracht. Es han-
delte sich um einen Konflikt, der schwer nach Genera-
tionenkampf aussah. Lärm sei Lärm, egal, ob er von
Kindern oder Maschinen herrührt. Für zumutbaren Lärm
gebe es Obergrenzen und die müssten eingehalten wer-
den, sagen mache. Geräusche von Kindern waren immer
wieder Gegenstand von nachbarschaftlichen Streitigkei-
ten. Tobende Kinder mit Maschinen zu vergleichen, ist
absurd.
(Beifall bei der FDP)
Als Regierungskoalition haben wir versprochen, eine
Änderung auf den Weg zu bringen. Dieses Versprechen
lösen wir nun ein. Miriam Gruß von der FDP-Fraktion
hat dieses in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht.
Jetzt wird es Gesetz. Außerdem ist es ein Signal an Fa-
milien. Es schließt nahtlos an den Ausbau der Kinderbe-
treuung durch die Bundesregierung an. Welchen Sinn
würden neue Kitas in Wohngebieten machen, wenn die
12670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Nicole Bracht-Bendt
(A) (C)
(D)(B)
Kinder nicht auch draußen spielen dürften? Kinderge-
räusche stellen im Regelfall keine schädliche Umwelt-
einwirkung dar.
Während des Gesetzgebungsverfahrens ist klar ge-
worden, dass auch in Bezug auf Jugendliche auf Bolz-
plätzen Handlungsbedarf besteht. Bolzplätze und Sport-
stätten sind für Jugendliche Alternativen zum Computer,
eine Gelegenheit, draußen zu sein und Freunde zu tref-
fen. Jugendliche treffen sich allerdings zu anderen Zei-
ten. Deshalb können wir dies nicht genauso behandeln
wie die durch Kinder entstehende Geräuschkulisse.
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: So ein
Blödsinn!)
Die Koalition wird eine Lösung entwickeln, die die Si-
tuation Jugendlicher angemessen berücksichtigt.
(Beifall bei der FDP)
Ich bin auch Sprecherin für Senioren in meiner Frak-
tion. Deshalb habe ich natürlich auch die Interessen der
Älteren vor Augen. Die neuen Regeln sollen ein Gewinn
für alle sein. Daher brauchen wir einen fairen Ausgleich
zwischen den Interessen von Anwohnern und denen von
Kindern und Jugendlichen. Deshalb legen wir Wert auf
die Formulierung, dass der von Kindergärten und Kin-
derspielplätzen ausgehende Kinderlärm bei der Festle-
gung des zumutbaren Geräuschpegels privilegiert sind
und er im Regelfall – ich wiederhole: im Regelfall –
nicht als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf.
Ausnahmen kann es also geben.
Wir wollen wie Sie alle eine kinderfreundlichere Ge-
sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder möglichst wohnort-
nah draußen spielen und toben können. Das brauchen
sie, körperlich wie seelisch.
Noch ein Gedanke zum Begriff Lärm. Lärm wird de-
finiert als lästig empfundener Schall. Das Lachen und
Toben von Kindern ist dagegen vielmehr Ausdruck kind-
licher Lebensfreude, also kein Grund zur Klage. Im Ge-
genteil: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
Danke.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich wundere mich schon, was Gerichte
auch beim Lärmschutz manchmal aus Gesetzen machen.
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)
Den Lärm von Fröschen müssen Anwohner dulden, aber
Kinderlärm wurde verboten. Mit der nun von der Bun-
desregierung geplanten Änderung der Lärmgesetzge-
bung dürfen nicht nur Frösche quaken, sondern auch
Kinder laut spielen. Gegen Spielplätze und Kindertages-
stätten sind Lärmklagen zukünftig unzulässig. Das fin-
den wir gut.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber leider gibt es ein Problem; denn nur bis zum
14. Geburtstag dürfen Kinder lärmen, weil nach dem
Gesetz da die Kindheit endet. Pech für die Jugendlichen,
Pech auch für Freizeitsportler: Sie müssen leise sein, die
Frösche dürfen quaken. Dass Sportfeste zwischen
13 und 15 Uhr untersagt werden, dass Jugend- und Frei-
zeitsport in enge Zeitfenster gezwungen wird, das lehnen
wir ab.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb beantragt die Linke, dass für den Jugend- und
Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte um 5 Dezi-
bel angehoben werden. Diesen Antrag haben Sie von
CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen jedoch im Ausschuss
abgelehnt – mit der Begründung, Jugendliche und Sport-
ler seien nicht wie Kinder, die für ihr Verhalten nichts
können. Sie fördern Sportler, die nicht hörbar sind.
(Ute Vogt [SPD]: Bei der SPD war es eine
andere Begründung!)
Prinzipiell unterstützt die Linke den Schutz vor Lärm.
Aber erklären Sie mir und allen Bürgern: Weshalb lassen
Sie per Gesetz einen Straßenlärm von 59 Dezibel in
Wohngebieten zu, und warum darf ein Militärflugzeug
nach Gesetz mit mehr als 90 Dezibel über ein Haus hin-
wegdonnern, wenn Sie gleichzeitig Sportgeräusche von
nur 54 Dezibel verbieten?
Nach Ihrem Gesetz ist Folgendes zu erwarten: Auf ei-
nem Bolzplatz spielen Kinder im Alter von 13 Jahren;
gegen diese Geräusche kann man nicht klagen. Wenn
aber ein 15-Jähriger mitspielt, könnte man dagegen kla-
gen. Spielt das 8-jährige Mädchen mit ihrer Freundin
Basketball, dann ist das Scheppern erlaubt. Spielt Papa
mit, ist das Scheppern untersagt. Was für ein Schwach-
sinn!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wie sollen die Kommunen da mit Beschwerden von An-
wohnern umgehen? Sollen sie Schilder aufhängen mit
der Aufschrift „Spielen an Wochenenden für Kinder er-
laubt! Für Jugendliche, Eltern und Großeltern verbo-
ten!“? Ehrlich: Was soll das?
Die von uns geforderte Änderung der 18. Bundesim-
missionsschutzverordnung mit um 5 Dezibel höheren
Grenzwerten hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und
Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und
Freizeit zu organisieren. So könnten Opa, Paul und Lisa
auch sonntags gemeinsam Fußball spielen, und die 15-Jäh-
rigen werfen den Basketball aus Freude statt Flaschen
aus Frust.
(Beifall bei der LINKEN)
Um Ihnen die Angst zu nehmen: Auch mit der Ände-
rung darf der Sportler noch immer nicht so viel Lärm
verursachen wie der Autofahrer. Deshalb fordere ich Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12671
Ralph Lenkert
(A) (C)
(D)(B)
auf: Stimmen Sie hier im Plenum neben dem Gesetzent-
wurf auch unserem Antrag zu! Zeigen Sie endlich Herz –
nicht nur für Kinder und Frösche, sondern auch für Ju-
gendliche und Sportler!
Danke.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Dr. Michael Paul [CDU/
CSU]: Ein Herz für Linke!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner von den Grü-
nen.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute gemein-
sam ein wichtiges Etappenziel erreichen und den Kin-
derlärm endlich privilegieren.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch
schon mal ein guter Einstieg!)
Das ist nicht nur ein wichtiges Signal für mehr Kinder-
freundlichkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch ein
Meilenstein für die Kinderrechte in unserem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
geordneten der SPD)
Fakt ist aber auch – das kann ich Ihnen nicht ersparen –:
Die Bundesregierung hat fast zwei Jahre gebraucht, um
zwei kleine Sätze, konkret: 31 kleine Wörter, ins Bun-
des-Immissionsschutzgesetz aufzunehmen.
(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Sie arbeitet
eben gründlich!)
Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Zwei Jahre
sind auch deswegen unbegreiflich,
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Sonst beschwert ihr
euch immer, dass es zu schnell geht!)
weil es seit vielen Jahren ein gemeinsames Anliegen al-
ler im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, Klagen ge-
gen Kinderlärm entgegenzuwirken. Der erste Beschluss
dazu – nicht etwa die erste parlamentarische Initiative –
erfolgte im Deutschen Bundestag schon im Juli 2009. So
lange ist es schon her. Ich bin mir sicher: Wenn wir von
der Opposition mit Anträgen und mit der Anhörung im
Umweltausschuss nicht so viel Druck gemacht hätten,
würden wir heute keine Änderungen im Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz beschließen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] –
Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das steht
schon alles im Koalitionsvertrag!)
Statt sich mit Gesetzentwürfen zu beschäftigen,
musste die Union offensichtlich Parteifreunde wie den
Vorsitzenden der Senioren-Union in Nordrhein-Westfa-
len wieder einfangen, für den Kinderlärm gerade keine
Zukunftsmusik ist. Stattdessen sah Herr Kuckart gleich
einen Generationenkonflikt ausbrechen, wenn die An-
siedlung von Kitas in Wohngebieten erleichtert würde
und die lieben Kleinen dann die Senioren stören. Mit
derartigen Äußerungen – das muss man einfach sagen –
war er in der Union nicht alleine. Ich bin froh – auch das
möchte ich hier sagen –, dass sich diese Haltung in der
Union nicht durchgesetzt hat.
Gerade mit Blick auf den Ausbau der Kindertages-
stätten – auch Frau Bracht-Bendt hat diesen Punkt ange-
sprochen –, der dringend notwendig ist, um bis 2013 den
Rechtsanspruch auf einen Platz erfüllen zu können,
wurde in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit verplem-
pert. Die Berichte darüber, dass die Errichtung von Kin-
dertagesstätten verhindert oder zumindest massiv behin-
dert wurde, liegen uns allen vor.
Nun würde ich gerne sagen: Was lange währt, ist end-
lich gut. Richtig ist: Die Einrichtungen für Kinder wer-
den endlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz privile-
giert. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir diesem
Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen. Denn ein
wichtiges Etappenziel – ich habe es schon gesagt –
wurde damit erreicht. Aber die notwendige Klarstellung
in der Baunutzungsverordnung, die auch schon vor zwei
Jahren im Parlament beschlossen worden ist, steht im-
mer noch aus. Auch dafür gibt es eigentlich keinen nach-
vollziehbaren Grund.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Judith Skudelny [FDP]: Doch! Bei meiner
letzten Rede habe ich es Ihnen erklärt!)
Die Koalition hat zudem eine große Chance verpasst.
Sie hat die Gelegenheit nicht genutzt, eine Klarstellung
auch für Bolzplätze, Skateranlagen und ähnliche Flächen
vorzunehmen. Die Anhörung im Umweltausschuss hat
deutlich gemacht, dass es nicht nur um Kinderlärm ge-
hen darf, sondern dass auch immer wieder Konflikte auf-
grund von Jugendlärm aufbrechen. Auch hierfür müssen
wir dringend eine Regelung finden.
(Beifall der Abg. Ute Vogt [SPD])
Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass
man den Lärm, den Jugendliche machen, pauschal
ebenso wie die Geräusche, die von kleinen Kindern bzw.
Kindertagesstätten ausgehen, privilegieren sollte. Es gibt
aber auch keinerlei Grund, die Jugendlichen komplett zu
vergessen, wie die Regierung und die Regierungsfraktio-
nen das hier tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest die Union ein
bisschen weiter ist. Ich habe das Protokoll vom letzten
März gelesen und darf zitieren, was Herr Paul in seiner
Rede ausgeführt hat:
Natürlich muss … den besonderen Bedürfnissen
der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung
getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten
Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird.
Wir haben im Umweltausschuss und anderen betei-
ligten Ausschüssen einen Vorschlag gemacht, wie man
konkret auf Bolzplätze und Skaterbahnen bezogen Ver-
12672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Katja Dörner
(A) (C)
(D)(B)
besserungen für die Jugendlichen und auch mehr Rechts-
sicherheit für die Kommunen erreichen kann. Der An-
trag ist, aus meiner Sicht völlig unbegründet, abgelehnt
worden. Wo bleibt der von der CDU/CSU eingeforderte
höhere Toleranzmaßstab für die Jugendlichen? Ich
möchte es mit den Worten der FDP ausdrücken: Da
müsste bald „geliefert“ werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Für Jugendliche gibt es wohnortnah, gerade inner-
städtisch, viel zu wenig Aufenthaltsorte und zu wenig
Flächen wie Bolzplätze für die Freizeitgestaltung oder
auch den Freizeitsport. Hieran müssen wir dringend ar-
beiten; denn es ist wichtig, dass Jugendliche nicht an die
Stadtränder verdrängt werden. Kinder und Jugendliche
gehören in die Mitte der Städte und Gemeinden. Wir
brauchen dringend gerade für Jugendliche mehr Mög-
lichkeiten der Beteiligung in den Planungsprozessen;
denn die Beteiligung von Jugendlichen wie auch der An-
wohner im Bereich der Planung, also konkret: in den
Planungsprozessen, ist letztlich der beste Lärmschutz
und die beste Grundlage, Prozesse wegen Lärmbelästi-
gung wirklich vermeiden zu können.
Die heutige Änderung des Bundes-Immissionsschutz-
gesetzes ist ein wichtiger Anfang. Die Baustelle Kinder-
und Jugendlärm ist damit aber nicht erledigt, weder was
das Umdenken in unseren Köpfen noch was die kom-
menden Gesetzgebungsverfahren angeht.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Ralph
Lenkert [DIE LINKE])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul von der
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Michael Paul (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit die-
sem Medienecho haben die Richter in Hamburg sicher-
lich nicht gerechnet, als sie vor sechs Jahren, also im
Jahre 2005, der Klage eines Nachbarn recht gegeben ha-
ben, der gegen den Lärm aus dem Kindergarten „Ma-
rienkäfer“ geklagt hat. Es gab bundesweit und über alle
Parteigrenzen hinweg einen Sturm der Entrüstung. Auch
heute haben wir gesehen, dass wir uns einig sind: Kinder
sind nicht nur leise, Kinder machen auch Lärm, und Kin-
derlärm gehört zu unserer Gesellschaft, er gehört zu un-
serem Alltag. Gerade wenn wir eine kinderfreundliche
Gesellschaft sein wollen, müssen wir Kinderlärm hin-
nehmen; denn schließlich garantieren Kinder den Fort-
bestand unserer Gesellschaft.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Deshalb müssen der Lärm bzw. die Geräusche, die von
Kindern verursacht werden, anders behandelt werden als
die Geräusche von Maschinen oder Autos.
Zur Vollständigkeit gehört aber auch, festzuhalten,
dass Gerichtsentscheidungen gegen Kinder – wenn man
die Rechtsprechung in Deutschland betrachtet – die Aus-
nahme bilden. Selbst in einer Stadt wie Köln, aus der ich
komme, wo es auf engem Raum viele Einrichtungen
gibt, hat es bisher keine einzige Gerichtsentscheidung
gegeben, die gegen Kinder ausgefallen ist. Auch in ande-
ren Bundesländern können wir eine solche Entwicklung
nicht beobachten.
Trotzdem haben wir als Koalition von CDU/CSU und
FDP Handlungsbedarf gesehen; denn unsere Gesell-
schaft wird zunehmend älter. Der Lärm von spielenden
Kindern gehört leider nicht mehr so zum Alltag, wie es
vielleicht vor einigen Jahren der Fall war. Dementspre-
chend sinkt die Bereitschaft, Kinderlärm zu tolerieren.
Deshalb werden Konflikte – Kinder auf der einen Seite,
Ruhesuchende auf der anderen Seite – in Zukunft ten-
denziell zunehmen, wenn wir unser Ziel verwirklichen,
dass Kinder in der Nähe ihrer Wohnung spielen dürfen
bzw. einen Kindergarten besuchen. Schließlich wollen
wir Familie und Beruf miteinander vereinbar machen.
Deshalb haben wir ein sehr umfangreiches und ehrgeizi-
ges Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung auf den
Weg gebracht: Bis zum Jahre 2013 werden allein für die
unter Dreijährigen 750 000 Plätze eingerichtet sein. Weil
wir eine wohnortnahe Betreuung auch in Wohngebieten
wollen, wird sich die Zahl der Konflikte tendenziell er-
höhen. Deshalb handelt die Koalition. Wir haben im Ko-
alitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rechtslage ändern
werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen der Ko-
alitionsfraktionen und der Bundesregierung werden wir
im Lärmschutzrecht, im Bundes-Immissionsschutzge-
setz, ein Toleranzgebot festschreiben, mit dem klarge-
stellt wird, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädli-
che Umwelteinwirkung ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Meine Damen und Herren, zur Lebenswirklichkeit
gehört allerdings auch, dass man den Kindern nicht in je-
dem Fall den Vorrang geben kann. Denn es ist völlig
klar: In Einzelfällen kann der gewählte Standort für eine
Kindertagesstätte schlicht und ergreifend falsch sein,
zum Beispiel in der Nähe eines Krankenhauses. Deshalb
haben wir uns dagegen entschieden, rigoros alle Klage-
möglichkeiten abzuschneiden, wie es zum Teil hier vor-
getragen und vorgeschlagen wurde. Schließlich leben
wir in einem Rechtsstaat, in dem auch der Rechtsschutz
ein hohes Gut ist.
Es gehört aber auch zur Lebenswirklichkeit, dass es
sich hier – anders, als es die Diskussion der letzten Mo-
nate vielleicht vermuten lässt – gar nicht um einen Kon-
flikt „Alt gegen Jung“ handelt. Ich habe beim Besuch ei-
ner Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis erlebt, dass
die Kinder und die Senioren des benachbarten Senioren-
heims seit vielen Jahren friedlich miteinander auskom-
men. Es hat dort sogar gegenseitige Besuche gegeben.
Das sind Projekte, die wir brauchen. Es geht hier nicht
um „Alt gegen Jung“, sondern darum, einen fairen Inte-
ressenausgleich zu schaffen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12673
Dr. Michael Paul
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Meine Damen und Herren, es wurde die Frage ge-
stellt, warum wir nicht früher gehandelt haben. Ich darf
diese Frage gerne an die Kolleginnen und Kollegen der
SPD zurückgeben. Wer war denn der für den Umwelt-
schutz und damit auch für den Lärmschutz verantwortli-
che Minister, als die Entscheidung zum Kindergarten
„Marienkäfer“ im Jahr 2005 fiel? Das war Sigmar
Gabriel.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Er hatte vier lange Jahre Zeit, um einzuschreiten. Ich
sage es Ihnen: Es wäre seine Pflicht, seine Aufgabe ge-
wesen, hier einzuschreiten, und er hat es nicht getan.
Bitte sagen Sie mir nicht, die Union hätte ihn in der Gro-
ßen Koalition daran gehindert, hier tätig zu werden.
Nein, hier hat der Umweltminister seine Hausaufgaben
schlicht und ergreifend nicht gemacht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir werden unser Ziel, dass Kinder sowohl zu Hause
und in der Nähe der Wohnung als auch in einer Kinderta-
gesstätte, die in der Nähe gelegen ist, spielen dürfen, mit
der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,
mit der Einführung des Toleranzgebotes, festschreiben.
Wir werden auch regeln, dass Kindertagesstätten in rei-
nen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sein werden.
Wir kehren damit den Grundsatz um: Bisher ist es im
Bauplanungsrecht so, dass Kindertagesstätten in reinen
Wohngebieten grundsätzlich nicht zugelassen sind. Wir
werden das mit der Bauplanungsrechtsnovelle, die noch
in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ändern, um
damit den Bau von Kindertagesstätten auch in reinen
Wohngebieten zu ermöglichen. Wir wollen diese Rege-
lung auf bestehende Bebauungspläne, in denen reine
Wohngebiete festgelegt sind, ausdehnen.
Die nächste Frage ist: Müssen wir das Nachbar-
schaftsrecht ändern, müssen wir an das Bürgerliche Ge-
setzbuch heran? Dazu ist zu sagen: Es gibt den Grund-
satz der Einheit der Rechtsordnung. Wenn der
Gesetzgeber das Toleranzgebot an einer Stelle – nämlich
im Bundes-Immissionsschutzgesetz – prominent regelt,
dann strahlt das auch auf die anderen Rechtsgebiete aus.
Wir müssen an dieser Stelle aufmerksam verfolgen, was
passiert. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zivilge-
richte dem Anliegen der Kinder Rechnung tragen wer-
den.
Wir sind nicht blind und wissen, dass die Probleme
nicht mit dem Alter von 14 Jahren aufhören: Natürlich
müssen wir etwas für Jugendliche und Heranwachsende
tun. Die Koalitionsfraktionen haben gestern einen An-
trag in den Sport- und in den Verkehrsausschuss einge-
bracht: Wir werden prüfen, ob wir die 18. BImSchV, also
die Sportanlagenlärmschutzverordnung, ändern müssen,
um Bolzplätze besser zu berücksichtigen. Ergebnis der
Sachverständigenanhörung war aber auch, dass es einen
Unterschied macht, ob es sich um Lärm von Kindern
oder Lärm von Jugendlichen handelt. Er findet zum Bei-
spiel zu anderen Zeiten statt; auch das wurde hier schon
gesagt. Außerdem kann ich einem über 14-Jährigen si-
cherlich zumuten, eine gewisse Strecke zurückzulegen,
um einen Bolzplatz zu erreichen. Das ist bei einem
Kleinkind anders. Diese Tatsachen muss man berück-
sichtigen.
Ich möchte noch kurz auf die Stellungnahme des
Bundesrates und die Anträge der anderen Fraktionen, die
uns vorliegen, eingehen. Der Bundesrat sagt aus meiner
Sicht zu Recht, dass man auch die Kindertagespflege be-
rücksichtigen muss. Das sehen wir auch so. Allerdings
muss man berücksichtigen, dass infolge der Föderalis-
musreform der Bund diesen verhaltensbedingten Lärm,
wenn er in der eigenen Wohnung der Tagesmutter statt-
findet, nicht regeln kann. Wir müssen schauen, ob die
Dinge über die Ausstrahlungswirkung zum Besseren ge-
wendet werden können.
Zum SPD-Antrag. Er hat sich zum Teil erledigt. Die
schädlichen Umwelteinwirkungen haben wir ausdrück-
lich ausgenommen. Ein weiterer Teil erledigt sich durch
die Bauplanungsrechtsnovelle. Er ist unnötig, soweit es
um die BGB-Änderungen geht. Die vorgeschlagene Re-
gelung der städtebaulichen Planung ist zwar wünschens-
wert, aber das ist eine ureigene Aufgabe der Kommunen.
Zu dem Antrag der Linken nur eine Bemerkung: Sie
fordern, dass auf Sportanlagen grundsätzlich 5 Dezibel
mehr Lärm gemacht werden darf. Das hört sich erst ein-
mal nach wenig an. Wenn Sie aber genau hinschauen,
stellen Sie fest, dass die Erhöhung von 50 auf 55 Dezibel
– Sie wollen ja, dass diese höheren Werte nicht nur tags-
über, sondern auch nachts und am Wochenende, also in
Ruhezeiten, gelten – im Ohr desjenigen, der neben einer
solchen Anlage wohnt, wie eine Verdoppelung des
Lärms wirkt. Dieser Vorschlag löst keine Konflikte,
nein, er würde massive neue Konflikte in dieser Gesell-
schaft verursachen. Das wollen wir nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zu guter Letzt zum Vorschlag der Grünen: Auf ihn
trifft vieles zu, was ich zu dem Antrag der SPD gesagt
habe. Teilweise ist er erledigt, teilweise wird er noch er-
ledigt, oder es ist nicht Aufgabe des Bundes, das zu re-
geln.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Michael Paul (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. Wir wollen unseren Kindern
eine unbeschwerte Entwicklung ermöglichen. Dazu ge-
hört, dass sie zu Hause und in einer Kindertagesstätte in
der Nähe der Wohnung spielen können. Der Gesetzent-
wurf der Koalitionsfraktionen und der Gesetzentwurf der
Bundesregierung leisten dazu einen wichtigen Beitrag,
gerade in einer älter werdenden Gesellschaft.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
12674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe die Protokolle der Kinderkommission einmal he-
rausgesucht. Ich bin bis 2006 zurückgegangen, um zu
schauen, wann wir angefangen haben, uns mit diesem
Thema zu beschäftigen. Mir war dabei egal, wer den
Vorsitz innehatte und wer Mitglied war. Im Jahr 2006
beschäftigte sich die Kinderkommission mit diesem
Thema. Im Jahr 2007 beschäftigte sie sich mehrmals da-
mit wie auch in den Jahren 2008 und 2009. Wir haben
eine große Anhörung dazu durchgeführt und auch das
Ministerium immer wieder eingeladen.
Gerade ist gefragt worden: Warum habt ihr nichts ge-
macht? Meine Kolleginnen aus der Kinderkommission
werden bestätigen, dass uns vom Ministerium immer ge-
sagt wurde: Eigentlich steht alles schon im Gesetz. Es
gab auch entsprechende Urteile. Das Gericht in Bayreuth
zum Beispiel hat eindeutig gesagt, dass Kinderlärm Le-
bensäußerung ist und nicht unter die TA Lärm fällt.
Manchmal haben wir in der Kinderkommission uns
gefragt – Frau Golze und die anderen Kolleginnen wer-
den das bestätigen –: Wenn es so eindeutig ist, warum
funktioniert es dann nicht? Ich würde das darauf zurück-
führen, dass wir in der Bundesrepublik einen relativ ho-
hen Anteil an funktionalem Analphabetismus haben,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
das heißt, viele können das Gesetz einfach nicht lesen.
Sie formulieren das Gesetz jetzt so, dass auch diejeni-
gen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das
Gesetz verstehen können.
(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP])
Ich bin immer dafür, dass Gesetze so formuliert werden,
dass jeder sie versteht und keine Möglichkeit der Inter-
pretation besteht, damit sie nicht so oder so ausgelegt
werden können. Wir hatten gedacht, Juristen seien gut
ausgebildet und könnten lesen. Dem war leider nicht so.
Jetzt ist es endlich so weit, und das begrüße ich. Als ich
von der Presse danach gefragt wurde, habe ich gesagt:
Wunderbar, jetzt wird es klar, und zwar in jedem Bun-
desland und vor jedem Gericht.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir nun
auch an die Umsetzung denken. Die UN-Kinderrechts-
konvention regelt in Art. 31 das Recht des Kindes auf
Freizeit. Festgeschrieben ist das Recht des Kindes auf
Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Er-
holung. Diese Konvention haben wir unterzeichnet und
ratifiziert; damit gilt sie auch für uns.
Der Begriff des Kindes umfasst nach der UN-Kinder-
rechtskonvention das Alter von 0 bis 18 Jahren. Der
Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr muss also geregelt
werden. In Deutschland unterscheiden wir: Der Begriff
des Kindes gilt bis zum 14. Lebensjahr und der des Ju-
gendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Nach der Konven-
tion müssen wir aber für die gesamte Gruppe Vorkehrun-
gen treffen. Ich kann gut damit leben, dass Sie noch
etwas Zeit benötigen, um diese Regelungen umzusetzen.
Ich hoffe, Sie schaffen das.
(Zuruf von der LINKEN: Na ja!)
– Doch, Sie schaffen das. Ich bin ja Pädagogin von Be-
ruf, von daher habe ich die Hoffnung nie aufgegeben.
Wir werden doch noch etwas zustande bringen. Ich bin
ganz zuversichtlich, dass das klappt.
Wichtig ist folgender Punkt: Wir haben bereits ein
Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin steht, dass wir Ju-
gendhilfeplanung machen müssen. Einer der Punkte der
Jugendhilfeplanung – das ist eine kommunale Aufgabe –
lautet, die Lebenswelt so zu gestalten, dass alle dort le-
benden Menschen ihrem Ruhebedürfnis und ihrem Akti-
vitätsbedürfnis nachkommen können.
Leider wird weder die Planung noch die Umsetzung
so vorgenommen, wie wir es uns wünschen. Das gilt
auch noch 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getre-
ten ist. Es gibt immer noch viele Gemeinden, die nach
wie vor nicht so planen, dass alle Menschen gemäß ihren
Bedürfnissen leben können. Ich will es einmal deutlich
machen. Ich bin Kinderbeauftragte, und ich kämpfe für
Kinder. Wenn aber jemand, der in einer Wohnung wohnt,
die genau zur Garagengasse hin liegt, von der Nacht-
schicht kommt und schlafen möchte und dann ständig
ein Fußball gegen die Blechtore geschossen wird, dann
ist derjenige nicht mehr davon überzeugt, dass es sich
bei dem Lärm um Zukunftsmusik handelt, sondern er ist
furchtbar genervt, weil er nicht schlafen kann.
Man muss daher die Stadt- und Siedlungsplanung so
vornehmen, dass sich Kinder austoben und Menschen
ihrem Ruhebedürfnis nachgehen können. Das gilt so-
wohl für Ältere als auch für Jüngere. Auch Kinder haben
manchmal ein Ruhebedürfnis, sie wollen schlafen und
ihre Ruhe haben. Ich glaube, dass wir zu wenig darauf
achten, wie unsere Lebenswelt gestaltet wird. Hierzu
brauchen wir aber nicht schon wieder ein neues Gesetz.
Wichtig ist, dass die Gesetze, die bereits seit 20 Jahren in
Kraft sind, endlich umgesetzt werden. Katja Dörner hat
vorhin gesagt – und das finde ich wunderbar –: Diejeni-
gen, die es betrifft, müssen beteiligt werden. Kinder sind
nämlich nicht per se rücksichtlos, und ältere Menschen
sind nicht per se kinderfeindlich.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Wir sind vielmehr kinderentwöhnt. Wir brauchen aber
das Zusammenwirken beider Gruppen. Künftige Stadt-
planung und Siedlungsplanung müssen so aussehen, dass
die Interessen aller Gruppen gleichermaßen aufgenom-
men werden.
Bisher – das sage ich als jemand, der lange hierfür zu-
ständig war – sah Siedlungsplanung so aus: Wie komme
ich schnell aus meinem Viertel hin zur Arbeit? Das ist
pendler- und nicht familienorientiert gedacht. Wir brau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12675
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) (C)
(D)(B)
chen Fußläufigkeit, Freiräume, Räume der Begegnung,
Räume für kleinere Kinder. Ein kleineres Kind geht
nicht auf den Bolzplatz; denn dort wird es vom Ball um-
geschossen. Daher wird ein kleines Kind einen anderen
Spielbereich brauchen als ein großes.
Wenn wir nicht von vornherein einplanen, hierfür
Grundstücke freizuhalten, dann müssen wir uns nicht
wundern, wenn es zu Gerichtsverfahren und entspre-
chenden Urteilen kommt. Diese vermeiden wir jetzt
zwar, ich glaube aber, viel besser wäre es, direkt bei der
Planung die Belange aller zu berücksichtigen. Das heißt,
in den kommunalen Gremien müssen Männer und
Frauen sitzen, die Familien haben, weil die an solche Be-
lange denken. Sie müssen diejenigen, die es betrifft, die
dort leben und wohnen, mit einbeziehen. Das ist eine
Grundvoraussetzung für eine gut funktionierende Ge-
sellschaft. Das sehe ich aber leider noch nicht. Der Bun-
destag macht oft hervorragende Gesetze. Manchmal
frage ich aber: Warum haben wir diese Gesetze nur ge-
macht? Draußen interessiert sich doch keiner für diese
Gesetze. Gelegentlich erklären mir Beamte vor Ort: Frau
Rupprecht, was Sie in Berlin entscheiden, das interes-
siert mich gar nicht. – Ich kann Ihnen sagen, wer das
war. Es war ein Beamter, der eigentlich in die Wüste ge-
schickt gehört.
Wir müssen darauf drängen, dass unsere Gesetze wie
Kinder behandelt werden. Die meisten sind keine Nest-
flüchter, sondern Nesthocker. Wir müssen auf sie aufpas-
sen, bis sie allein wirken können. Wir müssen auf die
Wirkung auch dieses Gesetzes achten. Das heißt, wir
müssen überprüfen, ob es Anwendung findet. Dazu
brauchen wir eine Schulung derer, die das Gesetz umset-
zen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck: Es gibt
viele Bildungs- und Fortbildungswillige, aber in diesem
Bereich besteht immer noch Nachholbedarf.
Vielleicht schaffen wir es, dass das, was in diesem
Gesetzentwurf steht, wirklich umgesetzt wird. In diesem
Sinne bin ich dankbar, dass er vorgelegt wurde und dass
die Situation jetzt klar ist. Ich hoffe, dass Sie die Vor-
schläge der Oppositionsfraktionen mit aufnehmen und
dass diese zu vernünftigen gemeinsamen Anträgen ent-
wickelt werden. Das ist mein Anliegen an dieser Stelle.
Die Kraft, die wir für Auseinandersetzungen aufbringen,
brauchen wir dringender für die Lösung der Konflikte
und Probleme, die anstehen.
In diesem Sinne: Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Judith Skudelny von
der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Judith Skudelny (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch-
mal ist es richtig schön, wenn man Arbeit leistet und
diese am Ende auch gewürdigt wird. So hat Frau Vogt
vorhin erwähnt, dass das, was im Gesetzentwurf zu den
Bolzplätzen geschrieben wurde, richtig gut ist. Frau
Vogt, vielen Dank, das habe ich dort hineingeschrieben.
(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah! –
Ute Vogt [SPD]: Ich schmelze dahin!)
Die Frage ist: Ist dieser Konflikt neu, oder schwillt
ein bereits bestehender Konflikt gerade an? Wir müssen
nach den Ursachen suchen. Wir haben auf der einen
Seite den demografischen Wandel. Mehr ältere Men-
schen sind in Rente und somit zu Hause; die Rentenzeit
verlängert sich, da wir alle älter werden. Wir haben auf
der anderen Seite einen Wandel in den Familien. Frauen
bzw. beide Elternteile sind oft berufstätig. Daher müssen
die Kinderbetreuungszeiten ausgebaut werden. Der Re-
gelkindergarten, den es vor 15, 20 Jahren gab, war von
9 bis 12 Uhr und von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Betreu-
ung in den Regelkindergärten heute fängt in den aller-
meisten Städten schon morgens um 7 Uhr an, geht bis
abends um 17, 18 Uhr und macht keine Mittagspause.
Das heißt, die Konfliktfelder nehmen zu.
Zudem haben wir ein anderes Umweltbewusstsein be-
züglich des Flächenverbrauchs. Wir wollen unsere
Städte nicht mehr nach außen wachsen lassen, sondern
machen eine Verdichtung nach innen. Das heißt, Wohn-
gebiete rücken immer näher an Sportanlagen, an Kinder-
spielplätze und an Kindertageseinrichtungen. Die Span-
nungsfelder werden schlicht und ergreifend mehr. Genau
dieses Mehr an Spannungsfeldern haben wir in den letz-
ten Jahren an der Zahl der Klagen bemerkt. Das kommt
nicht von irgendwo. Ich glaube auch nicht, dass wir prin-
zipiell kinderfeindlicher geworden sind. Ich glaube ein-
fach, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist.
Weil wir sehen, dass die Zahl der Reibungspunkte ge-
wachsen ist und dass der gesellschaftliche Wandel nicht
aufhört, sondern weitergeht, sagen wir in der Koalition:
Kinder sind in der Gesellschaft erwünscht. Wir sehen die
Probleme. Wir positionieren uns hier eindeutig, und wir
möchten ein Zeichen für Kinder und für Eltern setzen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es gibt einen Unterschied zwischen Kinder- und Ju-
gendlärm. Diesen kann ich, glaube ich, an einem kleinen
Beispiel deutlich machen. Ich fahre viel mit meinen bei-
den Kindern Zug – beide sind unter fünf Jahre alt –, zum
Beispiel von Berlin nach Stuttgart. Als ich einmal nach
fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit meinen beiden kleinen
Kindern in Stuttgart zur Hauptbetriebszeit während einer
Stuttgart-21-Demo ausgestiegen bin, kam mir der Lärm
am Bahnhof vergleichsweise leise vor. Das lag wohl da-
ran, dass meine Tochter, wenn ich ihr zum Beispiel sage,
dass sie die gewünschte Schokolade nicht bekommt,
nicht anfängt, mit mir zu diskutieren, sondern mich an-
brüllt. Mein Sohn hat einmal versucht, den Passagieren
in einem vorbeifahrenden Zug etwas zuzurufen.
Natürlich versuche ich, in so einer Situation zu inter-
venieren, aber ganz im Ernst: Die Kinder kommen
schneller auf die Schnapsideen, als ich intervenieren
kann. Genau das ist der Unterschied zwischen Kinder-
12676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Judith Skudelny
(A) (C)
(D)(B)
und Jugendlärm. Mit Jugendlichen kann ich diskutieren.
Kinder kennen die Regeln nicht und können viele Re-
geln nicht einhalten.
(Iris Gleicke [SPD]: Das wächst sich aus, Frau
Kollegin!)
Durch die Erziehung wollen wir die Kinder so weit brin-
gen, dass sie die Regeln zumindest kennen. Jugendliche
wiederum suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Ich
glaube, dass jeder Jugendliche weiß, was man darf und
was man nicht darf, aber ob er sich, ähnlich wie Erwach-
sene, daran hält, ist eine komplett andere Sache.
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Sie müssen sich von den Erwachsenen ein Stück weit ab-
grenzen. Insofern ist es richtig, wenn sie sich zum Teil
anders verhalten.
Die Gleichsetzung von Kinder- und Jugendlärm halte
ich für falsch. Wir müssen überlegen, wie wir mit dem
Jugendlärm umgehen. Jugendliche brauchen einen ange-
messenen Platz in der Gesellschaft; dieser kann nicht am
Rand sein. Über Bolzplätze, Skate- und Basketballanla-
gen haben wir schon gesprochen; aber auch Jugendhäu-
ser können nicht am Rande der Gemeinden stehen. Auf
diese Idee kommen leider viele Städte und Gemeinden.
Meine eigene Kommune hat ein Jugendhaus gebaut, das
außerhalb eines Gewerbegebiets lag. Man kann sich vor-
stellen, wie viele Jugendliche dort hingegangen sind.
Am Ende musste es „eingestampft“ werden.
Wir müssen überlegen: Wie sorgen wir für ein ange-
messenes Verhältnis? Da es immer wieder heißt: „Das ist
kein Problem“, möchte ich an dieser Stelle intervenieren.
Doch, das ist ein Problem. Der Umstand, dass es Ganz-
tagsschulen gibt, führt dazu, dass sich die Freiräume der
Jugendlichen in die Abendstunden verlagern. Dann,
wenn die Erwachsenen nach ihrem Arbeitstag nach
Hause kommen und die Füße hochlegen wollen, fangen
die Jugendlichen an, ihre Freizeit zu gestalten. Ich sage
nicht, dass dieses Problem nur zulasten der Jugendlichen
gelöst werden kann. Ich sage nur, dass es sich um ein
Spannungsverhältnis handelt. Hier müssen wir gemein-
sam nach Lösungen suchen. Diese Lösungen dürfen
keine generelle Privilegierung sein. Sie müssen von Fall
zu Fall – je nachdem, ob es um eine Sportanlage, ein Ju-
gendhaus, eine Abendveranstaltung oder eine Musikver-
anstaltung geht – unterschiedlich ausgestaltet werden. Es
ist unsere Aufgabe, diese unterschiedlichen Regelungen
unter einen Hut zu bringen.
Das wird nicht leicht werden, übrigens auch deshalb,
weil die Länder an dieser Stelle ein Mitspracherecht ha-
ben. Ich möchte die Opposition ganz herzlich einladen,
sich hier einzubringen. Wenn die Länder ein Mitsprache-
recht haben, bedeutet dies, dass wir mit den Ländern
eine einvernehmliche Regelung treffen müssen. Nach al-
lem, was ich vonseiten der Länder gehört habe, wird das
nicht einfach so zu machen sein. Auch dies wird Diskus-
sionen erfordern. Ich freue mich, dass Sie aufseiten der
Länder sicherlich gut mitarbeiten werden, damit wir zü-
gig zu einer Lösung kommen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich!)
Das wünsche ich uns und den Jugendlichen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Frau Dörner, Sie haben die BauNVO angesprochen.
Ich habe schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema
deutlich gemacht, warum wir dieses Vorhaben 2012 in
Angriff nehmen: weil jede Änderung in diesem Gesetz
aufbewahrt werden muss. Wenn, wie Sie so schön gesagt
haben, jedes Mal, wenn wir einzelne Sätze ändern, die
komplette Auflage aufbewahrt werden muss, führt dies
zu einem unglaublichen Bürokratieaufwand, und das für
einen Bereich, der, ehrlich gesagt, nicht das größte Pro-
blem ist, wenn es um Kinderlärm geht. Wir werden die-
ses Thema im Rahmen der großen Novellierung 2012
mit behandeln. Das ist dafür der richtige Platz. Sie kön-
nen darauf warten. Das wird auf jeden Fall geschehen.
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das Problem ist, dass man immer war-
ten muss! Man wartet und wartet und wartet!)
Man sollte nicht denken, dass das Problem, das wir
im Moment haben, mit Gesetzen zu lösen ist. Ganz im
Ernst: Kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn es weiß,
dass die Nachbarn eines Jugendhauses, eines Kindergar-
tens oder eines Kinderspielplatzes, auch wenn sie nicht
mehr klagen können, die Einrichtung eigentlich nicht
mehr wollen. Wir sind in einer funktionierenden Gesell-
schaft darauf angewiesen, Toleranz zu üben. Die
wichtigste Grundlage ist ein respektvoller Umgang mit-
einander. „Respektvoll“ heißt, wir müssen erst einmal
anerkennen, dass auch der andere Bedürfnisse hat.
Wir müssen verstehen, dass Kinder auch kreischen.
Wir müssen verstehen, dass zum Kinderlärm nicht nur
das Juchzen von Kindern, sondern auch der An- und Ab-
fahrtsverkehr der Eltern, die ihre Kinder zum Kindergar-
ten bringen, gehört – wenig romantisch, aber genauso
zwingend. Wir müssen verstehen, dass Kinder und Ju-
gendliche nicht nur akzeptiert werden müssen, wenn sie
klein und niedlich sind, sondern auch dann, wenn sie
Punkmusik hören, rotgefärbte Haare haben und viel-
leicht sogar noch Ohrringe tragen und tätowiert sind.
Wir müssen aber auch verstehen, dass manche Leute ein
erhöhtes Ruhebedürfnis haben. Erst mit diesem Ver-
ständnis können wir ein Niveau der Toleranz erreichen,
das es uns auch dann, wenn die Gesetze nicht mehr grei-
fen, ermöglicht, gelassen mit einer Situation umzugehen
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
und etwas zu tun, was in letzter Zeit vielleicht etwas au-
ßer Mode gekommen ist, nämlich miteinander reden.
Wenn wir das schaffen, meine Damen und Herren, dann
befindet sich nicht nur die Koalition mit den Opposi-
tionsparteien, sondern auch die ganze Gesellschaft auf
einem guten Weg. Das würde ich uns allen für die Zu-
kunft wünschen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12677
(A) (C)
(D)(B)
Diana Golze (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt worden: Über
Jahre hinweg galt es in Teilen der Öffentlichkeit als völ-
lig normal, dass Geräusche spielender Kinder als Lärm
im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes behan-
delt wurden. In Hamburg und anderen Städten bedeutete
dies, dass Kindertagesstätten aufgrund von Anwohner-
klagen geschlossen werden konnten. In Wohngebieten
ist es keine Seltenheit, dass das Spielen auf den Grünflä-
chen vor Häusern für Kinder verboten ist. Unsere Städte
bieten Kindern immer weniger Platz und Möglichkeiten
zum freien Spielen. Deshalb unterstützt meine Fraktion
den Entwurf eines Gesetzes zur Veränderung des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes. Künftig wird also klar-
gestellt sein, dass Geräusche von Kindern nicht mit
Maschinenlärm gleichzusetzen sind. Das ist nur zu be-
grüßen.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene
Rupprecht [Tuchenbach] [SPD])
Das kann aber eben nur ein erster Schritt sein. Für
mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin steht
fest: Auch das Fußballspiel oder das Inlineskaten von Ju-
gendlichen sollte und dürfte nicht mit Maschinen- oder
Fluglärm gleichgestellt werden. Dass die Privilegierung
durch den vorliegenden Gesetzestext nur für Kinder bis
14 Jahre gelten soll, verstößt ein weiteres Mal – Frau
Rupprecht hat es gesagt – gegen die UN-Kinderrechts-
konvention, die ausdrücklich bei Menschen bis zu
18 Jahren von Kindern spricht.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Demzufolge dürfte eine solche Unterscheidung gar nicht
gemacht werden; denn auch für 15-, 16- und 17-Jährige
gilt das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Dieses offenkundige Ausklammern der Bedürfnisse
von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren passt
aber zum Handlungsmuster der verschiedenen Ministe-
rien – leider auch dem des Familienministeriums. Das
Hauptaugenmerk liegt seit Jahren auf den kleinen Kin-
dern, egal ob beim Kinderschutzgesetz, das wir hier ja
bald behandeln werden, bei familienfördernden Leistun-
gen wie dem Elterngeld, das auch an kleine Kinder ge-
knüpft ist, oder beim dringend notwendigen Ausbau der
Kindertagesbetreuung.
Aber Jugendpolitik? Ich frage Sie: Was passiert denn
hier noch? Jugendpolitik ist für Union und FDP nur noch
ein Bereich für minimale Projektförderung, aber noch
eher genau die Stelle, wo der Rotstift am stärksten ange-
setzt wird, und das darf nicht sein.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Iris
Gleicke [SPD])
Auch die Kinder, für deren Recht auf Spiel Sie heute
werben, werden in einigen Jahren als Jugendliche voll-
kommen zu Recht ihr Recht auf Sport und Spiel und ei-
nen Platz dafür einfordern; denn auch zu ihrer Entfaltung
gehört, dass sie Orte und Plätze für sich haben. Das
Deutsche Kinderhilfswerk fordert darum zu Recht – ich
zitiere –:
Mit der Bereitstellung von pädagogischen Orten
wie Spielplätzen oder Schulhöfen ist es allein nicht
getan. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung
der Städte und Gemeinden, in denen sich Kinder
und Jugendliche wohl fühlen und in denen genera-
tionenübergreifendes Leben stattfindet.
Für mich bedeutet das, dass es dringend gesellschaftli-
cher und rechtlicher Veränderungen im Status von Kin-
dern und Jugendlichen bedarf.
Der Umweg über das Bundes-Immissionsschutzge-
setz hat nicht zuletzt deshalb so lange gedauert, weil sich
die derzeitige Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen weiterhin massiv dagegen wehren, die Kin-
derrechte im Grundgesetz zu verankern. Durch das
Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die
Verpflichtung zur Schaffung von kindgerechten Lebens-
bedingungen im Grundgesetz wäre diese Debatte deut-
lich vereinfacht und verkürzt worden.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich fordere Sie deshalb auf, auch in diesem Punkt end-
lich einen Schritt nach vorne zu gehen und Mut zu be-
weisen.
Frau Skudelny, Sie haben es ja angesprochen: Auch
mir ist durchaus bewusst, dass die Länderkompetenzen
beim Lärmschutz und bei der Umsetzung von Bau-
nutzungsverordnungen berücksichtigt werden müssen.
Umso erfreulicher ist es, einmal ein gutes Beispiel nen-
nen zu können. In Berlin gilt seit dem Jahr 2010: Geräu-
sche, die von Kindern verursacht werden, sind auch ju-
ristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu
beurteilen. Berlin war damit das erste Bundesland, in
dem eine solche Privilegierung auch gesetzlich verankert
wurde. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Berlin auch
Kinderrechte in der Verfassung stehen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Ich komme zum Schluss. Das OVG Münster sagt
– ich zitiere noch einmal –:
Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine
falsche Einstellung zu Kindern …
Ich finde, dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir gehen ei-
nen ersten Schritt in die richtige Richtung – immerhin.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Josef Göppel von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
12678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach]
[SPD])
Josef Göppel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-
legin Golze, die Opposition würde glaubwürdiger, wenn
sie dort angreifen würde, wo wirkliche Schwachpunkte
vorliegen. Nach dem ersten Urteil von vor sechs Jahren,
aus dem Jahr 2005, hat die schwarz-gelbe Koalition die
Sache jetzt geregelt. Ich fände es gut und auch angemes-
sen, wenn Sie hier sagten: Das ist jetzt ein echter Fort-
schritt.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich
doch gesagt!)
– Das habe ich am Schluss leider nicht mehr gehört.
(Zuruf von der LINKEN: Das hat sie auch am
Anfang gesagt!)
– Gut, dann stimmen Sie doch sicher mit.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, natürlich!)
– Wunderbar.
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
CSU])
Frau Rupprecht, Ihre Rede hat mir gefallen, weil sie
auf Gemeinsamkeit angelegt war. Übrigens habe ich
mich gefragt, Frau Rupprecht, was mich dazu befähigt,
hier zum Thema Kinderlärm zu reden. Dann ist mir ein-
gefallen, dass ich vier Töchter und eine Enkeltochter
habe und in froher Erwartung weiterer Enkelkinder bin.
(Iris Gleicke [SPD]: Guter Hoffnung!)
– Genau. – Es ist wichtig, diese Dinge aus der Praxis he-
raus zu beurteilen.
Es hat zwar lange genug gedauert, aber inzwischen
haben Minister Röttgen und das Ministerium für Umwelt
gehandelt und das Bundes-Immissionsschutzgesetz jetzt
so deutlich gefasst, dass kein Richter in Deutschland es
mehr falsch lesen und auslegen kann. Das ist der ent-
scheidende Punkt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Deswegen denke ich, dass wir für die Kinder einen ech-
ten Fortschritt bewirken.
Die Beschränkung auf unter 14-Jährige ist eine juris-
tische Grenze, und Grenzen bergen immer Probleme.
Man muss aber auch darauf hinweisen, dass zum Bei-
spiel ein 17-jähriger Jugendlicher, der mit einem Moped
mit aufgebohrtem Auspuff herumfährt, von diesen neuen
Vorschriften nicht Gebrauch machen kann, was sicher-
lich auch in Ihrem Interesse ist. Deswegen ist eine be-
stimmte Differenzierung sehr wohl sachgerecht und
richtig. Ich denke, dass dieses Gesetz insgesamt für die
Kinder und Familien in Deutschland einen echten Fort-
schritt bringen wird.
Ich möchte noch einmal auf meine vier Töchter zu
sprechen kommen und im Hinblick auf Ihre nachden-
kenswerte Rede, Frau Kollegin Rupprecht sagen: Der
Mobilitätsdruck, der mit unserem Wirtschaftssystem
verbunden ist, erschwert den tüchtigen jungen Leute in
vielen Fällen die Familiengründung und das Kinderkrie-
gen. Damit sind Fragen verbunden, die weit über die
Tolerierung von Lärm und die Planung von Kindertages-
einrichtungen und Kinderspielplätzen hinausgehen. Es
ist eine bleibende Aufgabe, die Gesellschaft und Ar-
beitswelt so zu gestalten, dass Kinderwunsch und Fami-
liengründung weiter möglich sind. Diese Aufgabe sehe
ich als weit wichtiger an als die bestehende gesetzliche
Regelung.
Wir sind aber auf einem guten Weg. Ich bedanke mich
schon jetzt für die Zustimmung der Opposition zu die-
sem Gesetzentwurf.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun-
desregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU und
FDP eingebrachten Entwürfe eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Pri-
vilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kin-
derspielplätzen ausgehenden Kinderlärms.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5957, die ge-
nannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf
Drucksache 17/5709 sowie der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/4836 zusammenzu-
führen und unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5957 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/881 mit dem Titel „Kin-
derlärm – Kein Grund zur Klage“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen ge-
gen die Stimmen der SPD und der Linken bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12679
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
sache 17/1742 mit dem Titel „Für eine immissions- und
baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/2925 mit dem Titel „Vorrang für Kinder – Auch
beim Lärmschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana
Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozial-
gesetzbuch und anderer Gesetze
(RV-Altersgrenzenanpassungs-Aussetzungsge-
setz – RV-AgAG)
– Drucksache 17/3546 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
– Drucksache 17/5298 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rente ab 67 vollständig zurücknehmen
– Drucksachen 17/2935, 17/5298 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben
nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern –
Rentenzugang flexibilisieren
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaf-
fen
– Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile als erstem
Redner das Wort dem Kollegen Karl Schiewerling von
der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die umlagefinanzierte Rente
in Deutschland ist für Millionen Menschen eine zuver-
lässige Alterssicherung. Die umlagefinanzierte Rente
wurde von vielen Seiten angegriffen. Sie wurde totgere-
det und als überflüssig angesehen. Man glaubte, sie
durch andere Modelle ersetzen zu können. Spätestens
seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir – das
hat hoffentlich auch der Letzte begriffen –, dass die um-
lagefinanzierte Rente ein Stabilitätsfaktor in Deutsch-
land ist und Millionen Menschen ein geregeltes Einkom-
men zum richtigen Zeitpunkt gewährt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb
muss man sie stärken und nicht schwächen!)
Das System der umlagefinanzierten Rente wird nur
funktionieren, wenn wir keinen der Partner, die daran
beteiligt sind, überfordern: die junge Generation nicht,
die in Zukunft auf die gesetzliche Rente angewiesen ist
und in die Rentenkasse einzahlt, die jetzige Generation
nicht, die die Rente erwirtschaften muss, und die Gene-
ration der Rentnerinnen und Rentner nicht, die heute auf
die Rente angewiesen sind. Es ist deswegen notwendig,
die Rente stabil zu halten. Innerhalb der gesetzlichen
Rentenversicherung gibt es aber relativ wenige Stell-
schrauben, die wir nutzen können, um dies zu gewähr-
leisten.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen – und zwar freudig –,
dass sich seit 1960 die Rentenlaufzeit von 9,9 Jahren auf
nun 19 Jahre verlängert hat. Das heißt, Menschen, die
damals in Rente gingen, hatten gerade neun Jahre bzw.
maximal zehn Jahre etwas von ihrer Rente, während
Menschen, die heute in Rente gehen, 19 Jahre etwas von
ihrer Rente haben. Die Rente ist nicht geringer gewor-
den; sie wird über einen längeren Zeitraum gezahlt. Es
ist aber notwendig, die gute Entwicklung der höheren
Lebenserwartung so zu berücksichtigen, dass sicherge-
stellt ist, dass man im Alter zuverlässig eine Rente be-
kommt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
12680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Karl Schiewerling
(A) (C)
(D)(B)
Wir haben nur wenige Möglichkeiten. Die erste Mög-
lichkeit ist, den Rentenbeitrag zu erhöhen. Das heißt, die
Lohnnebenkosten steigen, und die Nettoeinkommen der
Arbeitnehmer werden belastet. Die zweite Möglichkeit
ist, das Rentenniveau abzusenken. Das lässt sich nicht
beliebig machen; denn es darf nicht passieren, dass man
am 30. eines jeden Monats so wenig Rente überwiesen
bekommt, dass man davon noch nicht einmal seine
Miete bezahlen kann. Die dritte Möglichkeit ist, die Ren-
tenlaufzeit zu verkürzen. Das heißt, dass die Menschen
– weil sie länger leben – länger arbeiten und auch länger
in die Rentenkasse einzahlen müssen. Die vierte Mög-
lichkeit ist, den Bundeszuschuss zu erhöhen. Dieser be-
trägt heute schon 80 Milliarden Euro und ist der größte
Posten im Etat der Bundesarbeitsministerin.
Ich glaube nicht, dass das alles weiterhin beliebig
nach oben dehnbar ist. Deswegen gibt es aus unserer
Sicht zu der Verkürzung der Rentenlaufzeit bzw. der
Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine Alternative.
Die Entscheidung, die wir in der Großen Koalition ge-
meinsam getroffen haben, war richtig. Wir sollten dazu
stehen und keine Zweifel daran aufkommen lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Natürlich muss dann auch jemand bis 67 Jahre arbei-
ten können. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen
in der Wirtschaft und dort, wo die Menschen tätig sind,
entsprechend gestaltet werden. Es ist nicht so, als hätte
der Staat in dieser Frage keine Initiativen ergriffen und
die Wirtschaft noch nicht begriffen, dass sie selbst vor
diesen Fragen steht und diese selbst beantworten muss.
Deswegen ist es gut, dass mittlerweile innerhalb der
Wirtschaft ein Entwicklungsprozess eingetreten ist. Die-
ser hat in vielen großen Betrieben begonnen, und auch
die kleinen und mittleren Betriebe sind dabei, sich da-
rauf einzustellen. Vor dem Hintergrund der demografi-
schen Entwicklung wissen sie, dass die Menschen länger
arbeiten müssen und dass sie als Betriebe immer mehr
auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sind. Wir müssen
ihnen helfen, dass das auch möglich ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Die Bundesregierung hat hierzu zahlreiche Initiativen er-
griffen. Ich bin sicher, dass diese Initiativen greifen wer-
den.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Das, was vor kurzem der
Rat der Wirtschaftsweisen auf den Tisch gelegt hat,
nämlich dass man ab 2060 bis 69 Jahre arbeiten soll,
halte ich schlechterdings für Kaffeesatzleserei und in der
jetzigen Situation für völlig kontraproduktiv und für
überhaupt nicht hilfreich; denn die Rente mit 67 Jahren
hat ja noch gar nicht begonnen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie
das mal dem Bundeswirtschaftsminister!)
Der erste Jahrgang hat damit noch gar nicht angefangen.
2012 werden die ersten Rentenjahrgänge einen Monat
über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssen. Sie wer-
den also mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen.
Erst 2029 wird der erste Jahrgang bis 67 Jahre arbeiten
müssen. Ich finde es notwendig, dies in dieser Klarheit
der Bevölkerung zu sagen und daran auch nicht zu deu-
teln; denn Rentenpolitik ist kein Bereich, in dem man
sich parteipolitische Auseinandersetzungen beliebig lang
erlauben kann, weil die Menschen wissen müssen, wo-
rauf sie sich einlassen,
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist ganz
wichtig!)
weil es um ihre Zukunft im Alter geht, weil es um ihre
Sicherheiten geht. Sie müssen Klarheit in dieser Angele-
genheit haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Dass wir in dieser Frage nicht auf dem falschen Weg
sind, stellt nicht zuletzt das Gutachten des Sozialbeirates
fest, in dem sowohl die Arbeitgeber als auch die Ge-
werkschaftsvertreter und andere aus der Sozialwissen-
schaft kommende Persönlichkeiten deutlich sagen, dass
dieser Weg gangbar, sinnvoll und notwendig ist, um den
Menschen Sicherheit und für die Rente Planbarkeit zu
geben und um die umlagefinanzierte Rente als genera-
tionsübergreifendes Solidarprinzip in unserer Gesell-
schaft zu erhalten. Unsere Aufgabe besteht darin, den
Menschen zu sagen, dass es sich lohnt, sich dafür einzu-
setzen, weil wir über diesen Weg Alterseinkünfte und
Alterssicherung organisieren können.
Das ist die Position unserer Fraktion. Daran lassen
wir nicht deuteln. Ich würde mich sehr freuen, wenn
auch vonseiten des früheren Koalitionspartners, der
SPD, an dieser Frage nicht gedeutelt würde. Wir haben
dies zusammen beschlossen, und das war der richtige
Weg.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Anton Schaaf (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Karl Schiewerling, in der Tat können im nächsten
Jahr die Menschen erst mit 65 Jahren und einem Monat
in Rente gehen, aber nur diejenigen, die es bis 65 Jahre
schaffen. Diejenigen, die es nicht bis 65 Jahre schaffen,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
Richtig!)
werden auch nicht einen Monat länger arbeiten, weil sie
arbeitslos sind, weil sie aus den Betrieben herausge-
drängt worden sind, weil sie keine Beschäftigungschan-
cen haben.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
es!)
Nicht diejenigen, die mit 65 Jahren Arbeit haben, son-
dern diejenigen, die mit 65 Jahren keine Arbeit haben,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12681
Anton Schaaf
(A) (C)
(D)(B)
sind das Problem. Das ist der entscheidende Punkt, der
von dieser Koalition immer ignoriert wird.
Karl Schiewerling, wir stehen zu diesem Gesetz, aber
in seiner Gänze. In dem Gesetz steht, dass die Regierung
im Jahre 2010 verpflichtet ist, zu überprüfen, wie die ar-
beitsmarkt- und sozialpolitische Situation der Älteren ist
und ob es vor dem Hintergrund geboten ist, die Rente
mit 67 Jahren ab 2012 einzuführen. In Anbetracht der
Realitäten kommen wir zu einem anderen Schluss als
Sie: 27 Prozent der über 60-Jährigen sind in Beschäfti-
gung. Das heißt im Klartext: Die übergroße Mehrheit der
Menschen über 60 Jahre ist nicht in Beschäftigung, und
sie kommt auch nicht bis 65 Jahre und einen Monat in
Beschäftigung. Das ist die Realität.
Die Realität ist, Karl Schiewerling, dass das Ifo-Insti-
tut eine Untersuchung bei 1 000 Betrieben gemacht und
gefragt hat: Wie ist das denn mit der längeren Bindung
der Älteren an euer Unternehmen? – 72 Prozent der Un-
ternehmen haben gesagt, dass sie grundsätzlich keine
längere Bindung der Älteren an ihr Unternehmen haben
wollen. 72 Prozent!
Gestern hat der, wie ich fand, bemerkenswerterweise
sehr offen debattierende Chef der Bundesagentur uns
von einer Reise erzählt, die er zu Unternehmen in Ba-
den-Württemberg gemacht hat. Jetzt reden wir über ein
Land, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. In den
Unternehmen hat er die Unternehmer auf die Einstellung
von über 60-Jährigen angesprochen. Fast alle Unter-
nehmen haben ihm geantwortet: Wir stellen keine über
60-Jährigen ein. – Das ist die Realität in diesem Land.
Sie wollen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen,
die Menschen länger zu beschäftigen, und die Realität
ist: Der Druck wird schlicht an die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer weitergegeben. Sie werden Renten-
kürzungen hinnehmen müssen.
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!)
Das ist das, was Sie völlig ignorieren.
Wenn jemand, weil er in den sozialen Sicherungssys-
temen ist, zum Beispiel im Arbeitslosengeld-II-Bezug,
vorzeitig die Rente beantragen muss – das muss er oder
sie mit 63 –, dann hat er oder sie im nächsten Jahr
0,3 Prozent Rentenabschläge zusätzlich hinzunehmen,
und zwar dauerhaft, für immer. Das nehmen Sie schlicht-
weg in Kauf.
Das hat nichts damit zu tun, ob man grundsätzlich der
Meinung ist, man müsse ein höheres Renteneintrittsalter
einführen. Wir sagen: Die Voraussetzungen dafür, es
jetzt einzuführen, sind schlichtweg gesellschaftlich nicht
gegeben. – Das ist genau das, was Sie ignorieren.
Deswegen sagen wir auch nicht: „Wir machen die
Rente mit 67 gar nicht“, sondern wir sagen: Die Einfüh-
rung muss verschoben werden, weil die arbeitsmarkt-
und sozialpolitische Situation – das zu überprüfen, ist ja
ein Teil dessen, was im Gesetz verankert ist – es zurzeit
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlicht-
weg nicht hergibt.
(Beifall bei der SPD – Johannes Vogel [Lüden-
scheid] [FDP]: Das ist unfassbar!)
Wenn wir die Einführung der Rente mit 67 verschie-
ben würden, wäre das sozusagen beitragsneutral, weil
wir maximal Vorfinanzierungskosten hätten. Aber was
machen Sie? Sie halten einfach stur daran fest – das ist
übrigens auch ein Problem bei dem Grünen-Antrag –, zu
sagen: Wir machen es ab 2012. – Tatsächlich aber haben
die, die in Zwangsrente gehen müssen, keine Chance.
Sie werden mehr Abschläge hinnehmen müssen. Das
nehmen Sie mit Ihrem Antrag in Kauf.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das
ist leider so!)
Wir sagen: Wir müssen das verschieben, um die Re-
alitäten im Land auch tatsächlich zu verändern. Wir
brauchen eine höhere Beschäftigungsquote. Wir brau-
chen mehr Chancen. Wir brauchen vor allen Dingen end-
lich auch Ihrerseits eine Antwort darauf, was wir denn
mit denen machen, die schon heute nicht bis 65 arbeiten
können und später auch nicht bis 67, weil sie aufgrund
ihrer Arbeit kaputt sind. Was machen wir mit diesen
Menschen? Sie muten ihnen einfach mehr Rentenab-
schläge zu. Zur Erwerbsminderungsrente haben Sie
überhaupt keine Antwort und lassen die Menschen, die
aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind, schlichtweg im Stich.
Das ist die Realität dieser Regierung und dieser Regie-
rungskoalition.
Meine Damen und Herren, Sie haben angekündigt,
das Thema Altersarmut großartig in einer Regierungs-
kommission zu bearbeiten. Mittlerweile soll es keine Re-
gierungskommission mehr sein, sondern jetzt soll es eine
Expertenrunde werden. Ich hoffe, Sie sind noch dabei,
wenn die Ministerin Experten zusammenruft, um zu un-
tersuchen, was man denn gegen Altersarmut machen
kann.
Wenn Sie so, wie es jetzt vorgesehen ist, an der Rente
mit 67 festhalten, werden Sie – das garantiere ich Ihnen
– das Problem der Altersarmut für einen ganz großen
Teil der Beschäftigten in diesem Land noch verschärfen,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das
ist so! Richtig!)
vor allen Dingen für diejenigen, die erwerbsgemindert
sind. Liefern Sie an der Stelle endlich Antworten! Wo
sind Ihre Initiativen, tatsächlich die Beschäftigungsquote
Älterer dauerhaft zu erhöhen? Wo sind sie? Sie halten
stur am höheren Renteneintrittsalter fest. Ich sage Ihnen:
Sie verlagern den Druck, den Sie eigentlich auf die
Unternehmen ausüben wollten, auf die, die ihre Le-
benssituation nicht ändern können, und das sind die über
60-Jährigen, die in diesem Land keine Arbeit haben.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
12682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit November des letzten Jahres liegt der Bericht der
Bundesregierung nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhe-
bung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vor. Mir ist
nicht bekannt, Herr Kollege Schaaf, dass die darin auf-
geführten Fakten – ich betone zunächst einmal: die Fak-
ten – zur demografischen Entwicklung, zur Entwicklung
der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer von ir-
gendwem ernsthaft infrage gestellt würden. Was mir auf-
fällt, ist, dass die Fakten unterschiedlich interpretiert
und, wenn ich mir die Linke anschaue, teilweise sogar
ignoriert werden.
(Lachen bei der LINKEN)
– Sie sagen, Herr Kollege Birkwald, in Ihrem Antrag,
die Lage am Arbeitsmarkt sei für ältere Arbeitnehmer
katastrophal. Das kann ich so nicht feststellen. Ich wi-
derspreche dem sogar nachdrücklich und sage für unsere
Fraktion – ich denke, auch für die Koalition –: Die Ar-
beitsmarktsituation hat sich für ältere Menschen in den
letzten Jahren spürbar verbessert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
eine relative Bestimmung! Wir reden von einer
absoluten Bestimmung!)
Das ist ein Faktum, und das wird natürlich auch von der
positiven wirtschaftlichen Entwicklung getragen, die sich
an 3,7 Prozent Wachstum im letzten Jahr und an 2,5 bis
3,x Prozent auch in diesem Jahr ablesen lässt. Dies trägt
insgesamt dazu bei, dass auch für ältere Menschen Be-
schäftigungschancen gehalten werden oder neu entstehen
und Perspektiven für diese Menschen begründet werden.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der BA-Chef
hat ein positiveres Bild gezeichnet!)
Was ich immer feststelle, wenn ich Ihre Anträge lese,
Herr Kollege Schaaf, Herr Kollege Birkwald, also von
SPD und Linken, ist: Diese Anträge beruhen aus unserer
Sicht auf einer falschen Sichtweise. Sie sind von der
Vorstellung geleitet, dass ein möglichst früher Renten-
eintritt erstrebenswert und sinnvoll sei. Ich sage: Wir
brauchen da einen Mentalitätswandel. Hier müssen Sie
sich in eine andere Richtung drehen und feststellen, dass
es auch noch andere Wahrheiten gibt. Ich empfehle Ih-
nen die Lektüre der Zeit von heute, in der Elisabeth Nie-
jahr einen, wie ich finde, sehr lesenswerten Artikel mit
dem Titel „Lasst uns länger arbeiten“ geschrieben hat.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
kann sie ja!)
Darin beschreibt sie Beispiele von Arbeitnehmern, die
an der Regelaltersgrenze stehen. Jeder fragt für sich indi-
viduell: Warum eigentlich müssen wir aufhören zu arbei-
ten? Sie sagen: Wir definieren uns über unsere Arbeit,
die Altersgrenze bevormundet uns, wir wollen das nicht. –
Das ist die andere Möglichkeit, auf den gleichen Sach-
verhalt zu schauen. Diese Perspektive sollte nach unse-
rer Auffassung in Zukunft eine stärkere Rolle spielen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir ha-
ben die Perspektive der Beschäftigten!)
Ich gönne jedem seinen Ruhestand; das ist gar nicht
der Punkt. Aber mir fällt ein Widerspruch auf: Wir So-
zialpolitiker reden häufig von Teilhabe. Menschen mit
Behinderung sollen teilhaben, arme Menschen sollen
teilhaben, junge Menschen, Migranten, all diese Grup-
pen sollen mehr teilhaben. Aber bei der Diskussion über
ältere Menschen geht es meistens nur um die Finanzie-
rung von Nichtteilhabe oder Nicht-mehr-Teilhabe, also
darum, wie man einen Ausstieg organisiert, wie man die
Menschen aus den Betrieben herausdrängt. Das ist ja oft
mit der Altersteilzeit passiert; verschließen wir doch
nicht davor die Augen, was in den Betrieben die Realität
war. Dies müssen wir überwinden, und deswegen brau-
chen wir den Perspektivwechsel. Ich sage noch einmal:
Viele Menschen wollen länger arbeiten. Aber sie wollen
– das ist aus unserer Sicht der entscheidende Knack-
punkt – flexibel den Zeitpunkt ihres Ausstiegs selbst be-
stimmen, gegebenenfalls auch schrittweise über Teilren-
tenlösungen.
Viele Arbeitgeber – das ist die andere Seite des Ar-
beitsmarktes – erkennen zunehmend, dass ältere Arbeit-
nehmer wichtig sind. Aber mich hat gestern genauso wie
Sie, Herr Schaaf, der Bericht berührt und schockiert, den
Herr Weise über seine Betriebsbesuche abgegeben hat,
wonach sich Unternehmer beklagen, sie fänden keine
Facharbeiter, aber niemand im Kopf den Schalter umlegt
und darüber nachdenkt, einen 55-jährigen oder 60-jähri-
gen Arbeitnehmer noch einmal zu beschäftigen. Das
müssen wir erreichen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Machen
Sie das mal erst!)
Das ist in vielen Fällen – ich habe gestern die Bundes-
arbeitsministerin auch in der Regierungsbefragung da-
nach befragt – gar nicht einmal eine Frage des Geldes,
das man dafür in die Hand nehmen muss, sondern hier
ist wirklich ein Mentalitätswechsel in den Köpfen, ein
Paradigmenwechsel gefordert. In den letzten Jahren und
Jahrzehnten waren viele Unternehmer und leitende An-
gestellte in den Unternehmen stolz darauf, wenn sie eine
möglichst junge Belegschaft hatten. Wir müssen dahin
kommen, dass es eine Auszeichnung für einen Betrieb
ist, wenn sich in der Belegschaft auch noch viele ältere
Arbeitnehmer finden. Die Mischung aus Jungen und Al-
ten, aus Erfahrung und Neugier und neuen Bestrebungen
im Arbeitsmarkt kann ein Erfolgsmodell für Unterneh-
men sein. Ich wünsche mir, dass es Schule macht.
In diesem Sinne empfinde ich Ihre Anträge als rück-
wärtsgewandt. Denken Sie mit uns nach vorne! Flexible
Übergänge und eigene Entscheidungen der Arbeitneh-
mer müssen das Gebot der Stunde sein. Dafür kämpfen
und arbeiten wir.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12683
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Perspektive der Linken ist die der Beschäf-
tigten und der Betroffenen. Deswegen sage ich: Die
Rente erst ab 67 muss weg, ohne Wenn und Aber.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
FDP: Die Linke muss weg!)
Das ist der Kern unseres Antrags, über den wir hier
heute diskutieren, und das ist auch das Ziel des Gesetz-
entwurfs, den die Linke vorgelegt hat. Seit vergangener
Woche redet die Bundesregierung nicht mehr nur über
die Rente erst ab 67;
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Bundesre-
gierung redet überhaupt nicht davon!)
vielmehr diskutiert Schwarz-Gelb ernsthaft den völlig
unsäglichen Vorschlag der sogenannten Wirtschaftswei-
sen, die Rente erst ab 68 oder gar ab 69 einzuführen.
Doch ein höheres gesetzliches Rentenalter bedeutet für
die Friseurin oder den Gerüstbauer und die meisten Be-
schäftigten nicht mehr Lebensarbeitszeit oder gar mehr
Rente. Die Rente erst ab 67, von der Rente erst ab 69
ganz zu schweigen, bedeutet für die Menschen deutlich
weniger Rente. Das ist die bittere Konsequenz, und ge-
nau das will die Linke verhindern.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzlerin
Merkel hat auf der Pressekonferenz zum Demografiegut-
achten des Sachverständigenrates die Frage aufgeworfen
– ich zitiere –, wie wir die reale Arbeitszeit dem gesetzli-
chen Renteneintrittsalter besser annähern und Chancen
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaf-
fen können. Zitat Ende. Das ist doch vollkommen ver-
quer. Erst basteln Sie wirklichkeitsfremde Gesetze, und
dann verlangen Sie unter Androhung drastischer Renten-
kürzungen von den Menschen, dass sie sich diesen welt-
fremden Gesetzen anpassen müssen. Umgekehrt wird
ein Schuh daraus: Die Gesetze müssen realitätstauglich
sein. Aber genau das ist die Rente erst mit 67 ganz und
gar nicht. Deswegen muss sie weg!
(Beifall bei der LINKEN)
Denn bereits heute klafft eine riesige Lücke zwischen
dem tatsächlichen Rentenbeginn und dem gesetzlich
vorgeschriebenen Rentenalter. Heute halten sich die
Menschen im Durchschnitt bis gut 63 am Arbeitsmarkt.
Sie schaffen es gar nicht bis zu ihrem 65. Geburtstag,
wie vom Gesetz vorgesehen. Kollege Schaaf ist darauf
bereits eingegangen.
Die Wirklichkeit am Arbeitsmarkt sieht so aus: Wenn
Sie 55 sind, Herr Kolb, haben Sie es ausgesprochen
schwer
(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
– ja, ich weiß das –, einen neuen Job zu finden. Mit über
60 ist das nahezu unmöglich.
Die Fakten: 1 Million Arbeitslose sind älter als 50.
Das hat der Bundesagenturchef gestern noch einmal ge-
sagt. Bei den Erwerbslosen über 55 hat es keinen Rück-
gang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vorigen Jahr
gegeben; dies zum Stichwort „Mentalitätswechsel“. Nur
jeder Fünfte zwischen 60 und 65 schafft den Sprung aus
der Arbeitslosigkeit in einen Job. Bei den 64-Jährigen
schaffen es nur 10 Prozent, und nur 9 Prozent der 64-jäh-
rigen Männer haben überhaupt noch einen sozialversi-
cherten Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es nicht einmal
magere 4 Prozent.
Gestern hat der Vorstandsvorsitzende der Bundes-
agentur für Arbeit, Herr Weise – das ist schon ein paar
Mal gesagt worden –, im Ausschuss für Arbeit und So-
ziales wörtlich gesagt:
Niemand stellt 60-Jährige ein.
Das ist leider die traurige Wahrheit, und darum ist die
Rente erst ab 67 eine riesige soziale Schweinerei sonder-
gleichen.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, die Bundesarbeitsministe-
rin Frau von der Leyen behauptet immer, dass den Be-
schäftigten ohne die Rente erst ab 67 eine drastische Bei-
tragserhöhung drohe. Das ist komplett falsch. Von
drastischen Beitragserhöhungen kann überhaupt nicht
die Rede sein. Frau von der Leyen will durch die Rente
erst ab 67 verhindern, dass der Beitrag bis 2030 um ei-
nen halben Prozentpunkt steigt. Das sind bei einem
Durchschnittsverdienst nicht einmal 7 Euro.
Drastisch ist etwas ganz anderes, dass nämlich den
Menschen die Rente gekürzt wird, weil sie sich nicht bis
65, geschweige denn bis 67 am Arbeitsmarkt halten kön-
nen, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie
eben keine bezahlte Arbeit mehr haben. Jeder Monat,
den sie vor dem gesetzlichen Rentenalter in Rente ge-
hen, führt zu Rentenkürzungen. So sieht es aus. Diese
Kürzungen allerdings sind drastisch, und das ist der ab-
solut falsche Weg.
(Beifall bei der LINKEN)
Von den Beschäftigten, die 2009 neu in Rente gingen,
müssen mehr als 55 Prozent Abschläge in Kauf nehmen,
im Schnitt 102 Euro, und dies bis zum Lebensende. Für
über 70 Prozent der Chemiearbeiterinnen, der Bergleute
und der Elektriker bedeutet das, dass ihnen die Rente ge-
kürzt wird, nur weil sie es nicht schaffen, bis 65 zu arbei-
ten. Hier werden also Leute für etwas bestraft, was sie
nicht verschuldet haben und was sie auch ganz und gar
nicht selbst ändern können. Und dann soll die Rente erst
ab 67 kommen? Nein!
(Beifall bei der LINKEN)
Das wird von den meisten als eine Riesensauerei emp-
funden, zu Recht.
Meine Damen und Herren, immer weniger Menschen
produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr. Das
12684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Matthias W. Birkwald
(A) (C)
(D)(B)
wissen wir alle. Als Bismarck die Rentenversicherung
einführte, brauchte es 13 Menschen im erwerbsfähigen
Alter, um eine Rentnerin oder einen Rentner zu finanzie-
ren. Heute reichen gut drei, und in 20 Jahren werden es
etwas mehr als zwei sein. Also: Die steigende Arbeits-
produktivität und das Wirtschaftswachstum sind viel
wichtiger für die Finanzierbarkeit der Renten als der de-
mografische Wandel.
(Otto Fricke [FDP]: Wie war denn der Unter-
schied beim Zuschuss?)
Ich sage Ihnen: Auch deshalb ist es möglich, auf die
Rente erst ab 67 zu verzichten.
(Beifall bei der LINKEN)
Wer jedoch den Niedriglohnsektor fördert und for-
dert, wer einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn
blockiert und wer demografische Entwicklungen als
Drohkulisse sät – das wird ja häufig gemacht –, wird vor
allem eines ernten, nämlich weitere Rentenkürzungen,
und er wird die Altersarmut für Millionen zur sozialen
Realität machen. Wer das nicht will, muss heute gegen
die Rente erst ab 67 stimmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist ohne
Wenn und Aber gegen die Rente erst ab 67. Deswegen
fordern wir mit unserem Antrag, die Rente erst ab 67
vollständig zurückzunehmen. Hier im Parlament stehen
wir mit dieser Haltung allein da. In der Gesellschaft ge-
hören wir jedoch zur großen Mehrheit all derer, die die
Rente erst ab 67 ablehnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Alle Gewerkschaften, Herr Schiewerling, und alle wich-
tigen Sozialverbände sind ebenso gegen die Rente erst
ab 67 wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es wird
Zeit, dass diese demokratische Mehrheit auch hier in
diesem Hause endlich Gehör findet.
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Mehrheiten bilden
sich nicht durch Umfragen, sondern durch
Wahlen!)
Ich komme zum Schluss: CDU, CSU, FDP, SPD und
die Grünen kämpfen – mit Abweichungen – für die
Rente erst ab 67. Aber auch aus Ihren Reihen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, hat es die eine oder andere nach-
denkliche Stimme gegeben, ohne jedoch völlig von dem
Ziel der Rente erst ab 67 abrücken zu wollen. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kritik und Ihre Be-
denken tatsächlich ernst meinen, dann nutzen Sie die
Chance, die Ihnen unser Gesetzentwurf bietet, und ver-
schieben Sie wenigstens die Einführung um vier Jahre.
In dieser Denkpause könnten Ihre Bedenken dann – ganz
im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung – ernsthaft dis-
kutiert werden. Ich bitte Sie eindringlich, nachdrücklich
und höflich: Nutzen Sie diese Chance!
(Beifall bei der LINKEN)
Denn dann ginge der Kelch des Kürzungsprogramms na-
mens Rente erst ab 67 zumindest an den 1947, 1948,
1949 und 1950 Geborenen vorbei. Die sollen nämlich
schon bald und nicht erst 2029 länger arbeiten oder we-
niger Rente erhalten.
Wenn Sie einmal dabei sind: Nehmen Sie die Beden-
ken der arbeitenden Menschen, der Sozialverbände und
aller Gewerkschaften ernst. Stimmen Sie auch unserem
Antrag zu! Sagen Sie Nein zur Rente erst ab 67!
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Wolfgang Strengmann-Kuhn für
Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei wichtige Vorbemerkungen:
Erstens. Die Rente ab 67 wird es erst im Jahr 2031 ge-
ben. Wir fangen nächstes Jahr langsam damit an. Das zu
bedenken, ist wichtig.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Zweite wichtige Vorbemerkung. Die Rente mit 67
stellt keine Rentenkürzung dar. Das Gegenteil ist der
Fall.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)
Es ist nämlich so, dass durch die Rente mit 67 nicht nur
die Beiträge sinken, sondern – das hat die Rentenversi-
cherung vorgerechnet – auch der Rentenwert wird in-
folge der Rente mit 67 steigen. Das heißt, die Rente mit
67 stellt keine Rentenkürzung dar, sondern eine Renten-
erhöhung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diejenigen, die sich gegen die Rente mit 67 wehren
und sie wieder abschaffen wollen, sind die eigentlichen
Rentenkürzer. Sie sitzen insbesondere in der Fraktion
Die Linke.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das, Herr
Birkwald! – Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE]: Völlig verquer!)
Sie wollen eine Rentenkürzung, Sie wollen geringere
Renten im Jahr 2030 als die anderen Fraktionen hier im
Bundestag. Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie das richtig rechnen – ich habe das beim
letzten Mal schon anhand des Kuchenbeispiels erklärt,
das ja auch Sie immer gerne heranziehen –, kommen Sie
zu dem Ergebnis: Es ist insgesamt mehr Rente zur Verfü-
gung. Wenn mehr Leute länger arbeiten und es weniger
Rentner gibt, dann sind nämlich die Kuchenstücke im
Durchschnitt größer. Das heißt, es profitieren insbeson-
dere die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von der
Rente mit 67; sie werden eine höhere Rente haben, wenn
wir die Rente mit 67 einführen. Das fängt nächstes Jahr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12685
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) (C)
(D)(B)
an und steigt dann langsam bis 2031 an. So ist die Situa-
tion.
Alle Erwerbstätigen, die nach der vollständigen Ein-
führung der Rente ab 67 im Jahr 2031 zwei Jahre länger
arbeiten können, profitieren gleich doppelt, und zwar
von dem höheren Rentenwert und den zusätzlichen Ren-
tenansprüchen, die sie durch ihre längere Erwerbstätig-
keit erwerben. Bei am Ende zwei Jahre längerer Er-
werbstätigkeit sind dies nach heutiger Rechnung 55 Euro
mehr Rente im Monat. Selbst manche Arbeitslose, näm-
lich die, die Arbeitslosengeld I bekommen, erhalten eine
höhere Rente, weil auch im Rahmen des Bezuges von
Arbeitslosengeld I Rentenbeiträge gezahlt werden und
man damit entsprechend höhere Rentenansprüche erwirbt.
Trotzdem ist nicht alles rosig. Es liegen noch viele
Aufgaben vor uns. Wir sehen vor allen Dingen drei
Großbaustellen. Es gibt durch die Rente mit 67 zwar ins-
gesamt eine Verbesserung, aber in der Tat gibt es auch
Menschen, die dadurch schlechter gestellt werden. Der
Kollege Schaaf hat dies vorhin schon erwähnt. Die Ar-
beitslosengeld-II-Empfänger, die zwangsverrentet wer-
den, werden einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müs-
sen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Erwerbsmin-
derung, für die sich die Altersgrenze für die abschlags-
freie Rente im Rahmen der Einführung der Rente mit 67
erhöhen wird. Für diese Gruppen kann man vor 2012
noch etwas tun. Handeln Sie von den Koalitionsfraktio-
nen, und verhindern Sie, dass es im nächsten Jahr für
diese Personenkreise eine Rentenkürzung gibt.
Wir fordern, dass die Altersgrenze für die abschlags-
freie Erwerbsminderungsrente nicht angehoben wird;
denn niemand bezieht freiwillig eine Erwerbsminde-
rungsrente. Auch die Zwangsverrentung haben wir
schon immer kritisiert. Wir wollen, dass sie rückgängig
gemacht wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])
Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass
ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft durch
die Rente mit 67 Nachteile haben. Deswegen ist es für
uns besonders wichtig, dass wir mithilfe von flankieren-
den Maßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinem höhe-
ren Grundsicherungsbezug durch die Rente mit 67
kommt. Dies erreichen wir, indem wir die Menschen
durch eine Garantierente vor Altersarmut schützen. Da-
durch ist sichergestellt, dass derjenige, der lange versi-
chert war, eine Rente über dem Grundsicherungsniveau
erhält.
Sie haben die Einrichtung einer Altersarmutskommis-
sion versprochen. Das ist wieder verschoben worden. Es
gibt zum Thema „Bekämpfung der Altersarmut“ immer
noch keine Vorschläge von Ihnen. Wir schlagen, wie ge-
sagt, eine Garantierente vor. Sie ist für uns ein wichtiges
Instrument, um Altersarmut zu verhindern. Durch die
Rente mit 67 würde die Altersarmut, wenn man nichts
unternehmen würde, für bestimmte Personengruppen
steigen. Die Garantierente ist also eine erste wichtige
Forderung von uns.
Zweiter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Auch
wenn es so ist, wie ich gesagt habe, dass auch Menschen
im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine höhere Rente bekom-
men, ist es natürlich nicht in unserem Sinne, durch die
Anhebung der Regelaltersgrenze die Dauer der Lebens-
arbeitslosigkeit zu verlängern. Wir wollen vielmehr die
Dauer der Lebenserwerbstätigkeit verlängern. Da reicht
es übrigens nicht aus, wenn man nur alternsgerechte und
altersgerechte Arbeitsplätze schafft. Man muss schon bei
den Jungen anfangen und dafür sorgen, dass ihre Ar-
beitsplätze so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich län-
ger am Erwerbsleben teilhaben können. Auch das ist
eine wichtige Forderung von uns.
Dritter Punkt. Beteiligung am Erwerbsleben ist auch
Teilhabe. Da gebe ich Herrn Kolb ausnahmsweise ein-
mal recht.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sollten Sie
viel öfter tun!)
Wir wollen es ermöglichen, dass die Menschen länger
am Erwerbsleben teilhaben können, ohne sich gesund-
heitlich kaputtzumachen. Wir wollen außerdem, dass es
einen fließenden Übergang in den Ruhestand gibt, und
zwar möglichst selbstbestimmt und sozial abgesichert,
damit sich den Ruhestand auch diejenigen leisten kön-
nen, die nur wenig verdient haben.
Diese drei Punkte, also besserer Schutz gegen Alters-
armut durch eine Garantierente, bessere Arbeitsmarktbe-
dingungen sowie die Ermöglichung eines fließenden
Übergangs in den Ruhestand, sind wichtige flankierende
Maßnahmen, die wir alle gemeinsam auf den Weg brin-
gen müssen.
2014 gibt es den nächsten Bericht zur Rente mit 67.
Wir müssen dann schauen, wie die tatsächliche Entwick-
lung verläuft, wer von der Rente mit 67 profitiert hat und
wer benachteiligt worden ist. Gegebenenfalls müssen
wir an den Stellschrauben drehen und nachbessern, um
Benachteiligungen zu beseitigen. Wir nehmen diese Be-
richtspflicht ernst und werden nach dem Vorliegen des
Berichts schauen, wie es weitergeht. Wir sind aber dage-
gen, die Rente mit 67 abzuschaffen; denn insgesamt ge-
sehen wird damit die Rente auf eine sicherere Basis ge-
stellt, und sie bleibt nachhaltig finanzierbar. Wir müssen
aber dafür sorgen, dass diejenigen, die durch die Rente
mit 67 benachteiligt werden, davor geschützt werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich habe nachgeschaut, was in den letzten Tagen
und Wochen an Zeitungsüberschriften zu finden war. Ich
12686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) (C)
(D)(B)
habe folgende gefunden: „Fachkräftemangel schon
heute“, „Globaler Arbeitsmarkt fast leergefegt“, „Uns
gehen die Arbeitskräfte aus“ oder „Fachkräfte verzwei-
felt gesucht“. Irgendwie passen die Anträge der Opposi-
tion nicht zu diesen Überschriften.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das meinte ich! –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Mil-
lion Arbeitslose über 50!)
Der wesentliche Punkt ist: Anton Schaaf und auch Herr
Birkwald halten Reden, die man angesichts der Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren hätte
halten können bzw. halten müssen. Sie passen aber nicht
zu dem, was in den nächsten 20 Jahren passieren wird.
Derzeit gibt es in Deutschland 44 Millionen Männer
und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird bis
zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Man muss sich
fragen: Was machen wir dann?
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zuwanderung
fällt mir da spontan ein!)
Wie halten wir unseren Wohlstand? Wie erhalten wir die
Produktion in Deutschland aufrecht? Natürlich gibt es
die Möglichkeit, Menschen aus allen Ländern der Welt
nach Deutschland einzuladen, um hier zu arbeiten, und
unsere eigenen Arbeitnehmer mit 55 Jahren in den Vor-
ruhestand zu schicken. Aber das ist doch keine Lösung.
Das ist volkswirtschaftlich unverantwortlich, und das ist,
wie ich finde, auch menschlich unverantwortlich. Wenn
die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, dann muss das zual-
lererst heißen: Für die Arbeitslosen und die Älteren in
Deutschland muss es Chancen auf dem Arbeitsmarkt ge-
ben. Sie sind unser eigentliches Fachkräftepotenzial.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt
es aber nicht! Deswegen muss man den Un-
sinn jetzt lassen!)
Für die Wirtschaft bedeutet das, dass sie umlernen
muss. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein Unter-
nehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 60
nicht mehr beschäftigt und gleichzeitig bei der Politik
anklopft und fordert, wir sollten die Türen öffnen, um
Fachkräfte von außen hereinzulassen.
(Anton Schaaf [SPD]: Das ist aber die Reali-
tät!)
Nein, die Sache muss anders laufen. Es muss in deut-
schen Betrieben möglich sein, bis 65 bzw. 67 Jahre zu
arbeiten, bevor Fachkräfte von außen hereingeholt wer-
den.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Anton Schaaf [SPD]: So ist es aber doch nicht!
Planlos an der Realität vorbeigequasselt!)
In den nächsten 20 Jahren geht es nicht um die Rente mit
65 oder mit 67. Vielmehr geht es um die Frage: Wird es
die deutsche Wirtschaft verstehen, die Arbeitsbedingun-
gen so zu gestalten, dass das Arbeiten bis 67 möglich ist,
und zwar so, dass es einem Freude macht? Darum muss
es gehen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überwiegend je-
denfalls! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
Da klatscht nicht einmal mehr die eigene Par-
tei!)
Ein weiterer Punkt. Erfreulicherweise steigt die Le-
benserwartung der Deutschen. Ein 60-jähriger Mann hat
heute im Schnitt noch 20 Jahre vor sich, fünf Jahre mehr
als die 60-Jährigen im Jahr 1960.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Machen wir
doch die Rente ab 80!)
Bei den Frauen sind es sogar sechs Jahre mehr. Alle Pro-
gnosen besagen: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ich
möchte Sie Folgendes fragen: Bei der Rente geht es um
ein Solidarsystem; es geht um Solidarität zwischen Jun-
gen und Alten. Was ist daran zu kritisieren, wenn die
künftigen Rentnerinnen und Rentner, die die Chance ha-
ben, deutlich länger Rente zu beziehen als die früheren
und heutigen Rentnerinnen und Rentner, länger in die
Rentenversicherung einzahlen? Das derzeit geltende Ge-
setz sieht eine Regelaltersgrenze ab 67 ab dem Jahr 2029
vor. Das heißt, dass diejenigen, die im Jahr 2029 und
2030 in Rente gehen und zwei Jahre länger gearbeitet
haben als die heutigen Rentnerinnen und Rentner, trotz-
dem noch länger Rente beziehen werden als die heutigen
Rentnerinnen und Rentner. Das System der gesetzlichen
Rentenversicherung beruht auf Solidarität, und es ist so-
lidarisch, dass man länger einzahlt, wenn man länger
Rente beziehen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das längere Arbeiten bleibt nicht ohne Effekt. Herr
Strengmann-Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen:
Länger in die Rentenkasse einzuzahlen, bedeutet auch,
dass man höhere Rentenleistungen erhält; es handelt sich
nicht um eine Rentenkürzung. Noch einmal: Die Rente
mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein
Rentenerhöhungsprogramm. Das ist die richtige Darstel-
lung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Für alle,
die keinen Job haben, stimmt das nicht! Fragen
Sie mal den Sozialverband! – Jörn Wunderlich
[DIE LINKE]: Gehen Sie mal in die Unterneh-
men!)
Kürzlich haben uns die Wirtschaftsweisen in einem
Sondergutachten angesichts der Veränderungen im Al-
tersaufbau der Gesellschaft, die zwangsläufig auf uns
zukommen, dringend dazu geraten, an der Erhöhung der
Regelaltersgrenze bei der Rente festzuhalten. Sie haben
gesagt, ohne die schrittweise Anhebung des Rentenein-
trittsalters drohe ein dramatischer Anstieg der Staats-
schulden mit massiven Lasten für künftige Generatio-
nen. Um es also klar und deutlich zu sagen: Die
Rechnung, die zwei Oppositionsfraktionen hier aufma-
chen, wird letztendlich für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland teurer und schmerzhafter
als all die Aspekte der Erhöhung der Regelaltersgrenze,
zu denen man Bedenken vortragen kann. Das ist die
Wahrheit, die Sie leider verschweigen und die uns die
Wirtschaftsweisen ins Stammbuch geschrieben haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12687
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) (C)
(D)(B)
Allerdings haben die Wirtschaftsweisen noch etwas
anderes gemacht: Sie haben versucht, eine Prognose für
die weitere Zukunft aufzustellen, und in diesem Zusam-
menhang eine weitere Erhöhung des Rentenalters vorge-
schlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich
glaube, zu solider Politik gehört, dass wir mit den Zah-
len rechnen, die uns vorliegen: mit den Zahlen der be-
reits geborenen Kinder. Wir sollten keine Berechnungen
mit Zahlen zu Menschen durchführen, die es noch nicht
gibt, die noch gar nicht leben und in Zukunft geboren
werden könnten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da wa-
ren die Weisen wohl doch nicht so weise!)
Deswegen muss ich klar und deutlich sagen: Es ist gut,
dass uns die Wirtschaftsweisen sagen, dass die Erhöhung
der Regelarbeitsgrenze notwendig und wichtig ist, um in
Zukunft den Wohlstand zu erhalten und die Kosten für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch hö-
her zu treiben; aber sie sollten die Finger von Weissa-
gungen lassen, die man – wenn man Weissagungen mag –
vielleicht von Damen mit einer Glaskugel bekommt. So
etwas sollte nicht in einem Gutachten der Wirtschafts-
weisen stehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
wie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Weiß, Sie wären dann zum Ende ge-
kommen?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Jawohl, das tue ich.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das ist gut.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe kei-
nerlei Ansatzpunkte dafür, dass wir von der positiven
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abgehen sollten.
Vielmehr glaube ich, dass wir in 20 Jahren feststellen
werden, dass wir das Richtige für mehr Wohlstand und
mehr Rente der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland gemacht haben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Ottmar Schreiner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema ist, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze
ab 2012 vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerechtfer-
tigt ist; das ist der Kern der Auseinandersetzung.
Ich will zunächst einmal auf ein paar Vorredner einge-
hen. – Herr Kolb, Sie schauen so neugierig. Sie kommen
mit Sicherheit noch dran.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das
habe ich erwartet! Sonst hätte ich die falsche
Rede gehalten!)
Zunächst einmal zu Herrn Schiewerling. Sie haben
die verschiedenen Stellschrauben bei der Rente genannt.
Das war alles schön und gut; man könnte Ihre Beschrei-
bung der Stellschrauben unterschreiben. Dann haben Sie
gefragt: Wer wäre denn für Beitragssatzerhöhungen? –
Es ist völlig unstreitig, dass der Beitragssatz ohne die
Rente mit 67 in der Endphase maximal 0,5 Prozent-
punkte höher wäre; das wird von niemandem bestritten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 7 Euro
pro Arbeitnehmer!)
Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Bevölkerung abstimmen
ließen, ob sie bereit wäre, einen geringfügig höheren
Beitrag zu zahlen, oder sie für die Rente mit 67 ist, dann
könnte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen, wie die
Abstimmung ausgeht.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wieso hat es
die SPD dann gemacht? – Abg. Dr. Heinrich
L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischen-
frage)
– Herr Kolb, jetzt machen Sie den ersten Fehler in der
Debatte.
(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb
zulassen, Herr Schreiner? – Sie möchten das? Verstehe
ich Sie da richtig?
Ottmar Schreiner (SPD):
Ja, bitte. Er muss zwar nicht, aber er soll.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Danke, Herr Kollege Schreiner, für die Zulassung der
Zwischenfrage. – Warum hat Franz Müntefering über-
haupt den Vorschlag gemacht, dass die Regelalters-
grenze auf 67 erhöht werden soll, wenn das alles so easy
ist?
Ottmar Schreiner (SPD):
Ich schlage vor, ihn das selbst zu fragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Ich nehme an, es war ein Ergebnis der Koalitionsver-
handlungen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das war es
nicht!)
Ich war nicht dabei. Deshalb kann ich Ihnen da nicht mit
Details dienen. Wenn Sie an Einzelheiten interessiert
12688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Ottmar Schreiner
(A) (C)
(D)(B)
sind, würde ich Ihnen vorschlagen, sich an den Betref-
fenden selbst zu wenden. Ich glaube, das wäre sinnvoll.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Außer-
dem ist Dazulernen immer erlaubt!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich frage noch, ob eine Zwischenfrage von Herrn
Straubinger zugelassen wird.
Ottmar Schreiner (SPD):
Auf eine Frage von Herrn Straubinger habe ich schon
gewartet. Er wird schon ganz unruhig.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön. Danach können wir fortfahren.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Beitragssatzer-
höhung um 0,5 Prozentpunkte als unproblematisch be-
trachten und sagen, dass das jeder hinnehmen würde,
frage ich mich, warum die SPD-Fraktion das mit der
vorgezogenen Abführung der Sozialversicherungsbei-
träge zu rot-grüner Zeit anders gehandhabt hat. Das ist
schließlich nur zustande gekommen, weil der Rentenver-
sicherungsbeitragssatz ansonsten um 0,5 Prozentpunkte
hätte angehoben werden müssen. Warum hat die SPD-
Fraktion seinerzeit nicht für eine Anhebung um 0,5 Pro-
zentpunkte gestimmt?
(Anton Schaaf [SPD]: Das belastet aber nicht
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern die Unternehmen! Deswegen war das
gerechtfertigt!)
Ottmar Schreiner (SPD):
Das war gerechtfertigt, weil es eine unterschiedliche
Handhabung bei Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmer-
beitrag gab.
(Beifall bei der SPD – Anton Schaaf [SPD]:
So ist das!)
Im Übrigen war der Kern des Ganzen die Absenkung der
Lohnnebenkosten. Das ist ein Thema, über das wir lange
diskutieren können.
Zurück zu den Stellschrauben, die Herr Schiewerling
angesprochen hat.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Dazu hätte man
noch mehr sagen können!)
– Man kann eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte
mich aber auf die Kernpunkte konzentrieren. – Herr
Schiewerling, Sie haben eine zentrale Stellschraube ver-
schwiegen: Was müssten wir unternehmen, um denjeni-
gen, die heute mit 63 Lebensjahren aus dem Erwerbsle-
ben ausscheiden – das ist der Durchschnitt –, eine
Erwerbsarbeit bis zum 65. Lebensjahr zu ermöglichen?
(Anette Kramme [SPD]: Genau!)
Das ist die entscheidende Stellschraube, um die es ei-
gentlich geht. In diesem Zusammenhang müssten wir
nicht nur über die Arbeitgeber reden und sagen, dass wir
die Wirtschaftskapitäne in die Pflicht nehmen wollen
– auch das wäre erforderlich –, sondern wir müssten
dann auch darüber reden, welche politischen Maßnah-
men in den nächsten Jahren notwendig oder sogar zwin-
gend sind, um dieses Problem zu lösen.
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Da gibt es ja
viele Maßnahmen!)
Wenn alle Beschäftigten in Deutschland aufgrund der
Arbeitsbedingungen das 65. Lebensjahr gesund im Beruf
erreichen könnten, können Sie, glaube ich, mit jedem in
diesem Haus über die Sinnhaftigkeit einer Arbeitszeit-
verlängerung reden. Solange wir diese Situation aber
nicht haben und Millionen von Beschäftigten Angst vor
einer Arbeitszeitverlängerung haben, geht das nicht.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
es!)
Herr Kolb hat Frau Niejahr zitiert, die einen Artikel in
der Zeit mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten!“ ge-
schrieben hat.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Artikel!)
Sie schreibt im Übrigen viele Artikel in der Zeit. Bei ei-
ner Redakteurin der Zeit kann ich mir vorstellen, dass sie
länger arbeiten könnte. Das ist gut möglich. Ich kann mir
das auch bei Hochschulprofessoren vorstellen. Ich
nehme Sie einmal mit in meinen Wahlkreis. Fragen Sie
dort einmal Krankenschwestern, die Nacht- und Schicht-
arbeit machen,
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist es! –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Erziehe-
rinnen!)
oder Arbeiter in der Stahl-, der Automobil- oder der
Chemieindustrie, die Wechselschicht machen, ob sie die-
ser Idee etwas abgewinnen können. Fragen Sie die ein-
mal!
(Beifall bei der SPD und der LINKEN –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einverstanden!
Da muss man eine Lösung finden!)
Die Menschen haben, je nach beruflichem Hintergrund,
völlig verschiedene Sichtweisen. Wir haben eine Reihe
von Berufen in Deutschland, bei denen ohne jedes Pro-
blem eine Arbeitszeitverlängerung möglich wäre. Im
Übrigen ist das auf freiwilliger Basis schon jetzt mög-
lich.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!
Mit Zuschlägen!)
Es gibt sogar Zuschläge.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 0,5 Pro-
zent Zuschlag kriegt man dann!)
Ein weiterer Punkt von Herrn Schiewerling war, dass
eine lange parteipolitische Auseinandersetzung über das
Thema Rente nicht wünschenswert ist. Da stimme ich
Ihnen ausdrücklich zu. Die Frage ist aber, warum die
Koalitionsfraktionen den Gesetzesvorbehalt, die soge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12689
Ottmar Schreiner
(A) (C)
(D)(B)
nannte Bestandsprüfungsklausel, nicht ernst nehmen.
Das ist die entscheidende Frage.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: Genau
das ist die Frage!)
Sie nehmen sie nicht ernst. Diese Vorbehaltsklausel be-
sagt nichts anderes, als dass die Bundesregierung von
2010 an alle vier Jahre darüber zu berichten hat, ob die
Beschäftigungsentwicklung und die Situation älterer Ar-
beitnehmer am Arbeitsmarkt ein Festhalten an der Rente
mit 67 erlauben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er wurde heute
vorgelegt!)
– Der Bericht ist so eindeutig und in Teilen manipulativ.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na! Die Fak-
ten sind unstrittig!)
Das will ich Ihnen an zwei Punkten kurz belegen, Herr
Kolb, weil Sie von Fakten gesprochen haben. Sie können
hier über die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation Äl-
terer reden, wie Sie wollen. Richtig ist, dass es teilweise
eine geringfügige Verbesserung der Arbeitsmarktsitua-
tion gibt. Das ist nicht zu bestreiten.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin! Das
geben Sie zu!)
Das hängt mit der demografischen Entwicklung und dem
verschärften Druck, Arbeit anzunehmen, zusammen. Da-
für gibt es also verschiedene Gründe. Der entscheidende
Punkt ist aber, dass sich die Situation der älteren Beschäf-
tigten in puncto Arbeitslosigkeit im Großen und Ganzen
nicht verbessert hat.
(Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD])
Dafür will ich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Bei
den 63-Jährigen beträgt die Quote der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten 12 Prozent und bei den
64-Jährigen ganze 5,7 Prozent. Die Frage lautet: Was
passiert mit den anderen? Wo landen die eigentlich?
Heute ist mehrfach Präsident Weise von der Bundes-
agentur für Arbeit zitiert worden. Dieses Zitat will ich
ausdrücklich wiederholen, weil ich mir das mitgeschrie-
ben habe.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ich
auch! – Zuruf von der FDP: Guter Mann!)
– Das ist ein guter Mann, das unterschreiben wir. Er ist
jedweder Parteinahme unverdächtig. – Gestern hat Präsi-
dent Weise ausgeführt –
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Er ist aber nicht Präsident, Herr
Schreiner!)
– das ist egal; für mich ist er Präsident –: Ich bin viel in
Betrieben unterwegs. Niemand stellt einen 60-Jährigen
ein. Das ist ausgeschlossen. – Wenn der Präsident der
Bundesagentur für Arbeit sagt, niemand in Deutschland
stelle einen 60-Jährigen ein, wie stellt sich denn dann die
Arbeitsmarktlage der älteren Menschen in Deutschland
dar?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Er hat auch gesagt: Die einzige Altersgruppe, bei der die
Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht gesunken ist,
ist die der 55-Jährigen und Älteren. – Was wollen Sie ei-
gentlich noch mehr? Die Beschäftigungslage der älteren
Männer und Frauen in Deutschland ist nach wie vor de-
saströs. Vor diesem Hintergrund ist eine Anhebung der
Regelaltersgrenze bei der Rente nichts anderes als eine
verkappte weitere Rentenkürzung.
(Beifall bei der LINKEN)
Dafür werden Sie zu Recht Ihre Quittung erhalten.
Ich habe gesagt: Der Bericht der Bundesregierung ist
manipulativ. Diesen Vorhalt will ich mit einem letzten
Beispiel belegen. Die Bundesregierung schreibt zur Be-
standsprüfungsklausel – wörtliches Zitat –:
Mit der durchschnittlichen Lebenszeit verlängert
sich vor allem die Zeit eines gesunden und leis-
tungsfähigen Alters.
Das ist eine sehr positive Darstellung. Die gleiche Bun-
desregierung hat im letzten Jahr, also nur wenige Monate
vorher, in Beantwortung einer Großen Anfrage Folgen-
des geschrieben:
Die körperlichen Anforderungen haben sich seit
Mitte der 1980er-Jahre kaum verändert. … Eine
deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psy-
chischen Anforderungen.
Das heißt, die Gesamtbelastung der Beschäftigten in
Deutschland ist in den letzten knapp 30 Jahren konstant
geblieben; sie hat sich eher verschlechtert, jedenfalls
nicht verbessert. Wer vor dem Hintergrund einer nach
wie vor unzureichenden Situation auf dem Arbeits-
markt –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Schreiner.
Ottmar Schreiner (SPD):
– und bei nach wie vor in weiten Teilen problemati-
schen Anforderungen in der Berufswelt das Rentenein-
trittsalter erhöht, ist leicht von Sinnen.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Birkwald, Sie können so häufig, wie Sie wollen,
darum herumreden. Ich glaube aber, jedem Bürger ist es
angesichts einer durchschnittlich gestiegenen Lebenser-
wartung von 30 Jahren seit Einführung des Regelrenten-
eintrittsalters von 65 Jahren einsichtig, dass es gut und
12690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (C)
(D)(B)
vernünftig ist, zwei dieser geschenkten 30 Jahre im Er-
werbsleben zu verbringen. Alles andere leuchtet nieman-
dem ein, Herr Kollege.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie von den Linken sind wenigstens konsequent; Sie
bleiben sich in Ihrer Ablehnung der Rente ab 67 treu. Ich
halte das zwar für völlig falsch, aber es ist zumindest
konsequent. Interessanter finde ich eigentlich immer
wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozial-
demokraten, was Sie hier veranstalten. Als Sie vorhin,
Toni Schaaf, auf Ihren Positionswechsel hingewiesen
wurden – Sie führen das immer so mit Verve aus –, kam
der Hinweis von den Linken, man könne ja dazulernen.
Ich glaube, Sie haben nicht dazugelernt, wenn Sie plötz-
lich gegen die Rente mit 67 sind. Interessant ist aber vor
allem, wie Sie dieses angebliche Dazulernen begründen.
Sie sagen, die erforderlichen Bedingungen seien heute
nicht gegeben. Man muss doch einmal an die Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt für die Älteren erinnern, seit-
dem – und das allein ist relevant – auf Initiative der SPD
in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt
wurde.
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!)
Damals hieß es, darauf könne man stolz sein. Heute zie-
hen Sie sich zurück.
Werfen wir einen Blick auf das, was sich in den letz-
ten zehn Jahren getan hat. Die Arbeitslosigkeit bei den
Älteren hat sich halbiert. Es gibt über 1 Million mehr so-
zialversicherungspflichtige Stellen. In den letzten fünf
Jahren – lieber Kollege Schaaf, das wissen Sie so gut
wie ich – ist gerade bei den Älteren, und zwar bei den
55- bis 60-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen, die
Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen, und zwar um
35 bis 40 Prozent.
(Anton Schaaf [SPD]: Wer schreibt Ihnen denn
solche Zahlen auf?)
Vor diesem Hintergrund behaupten Sie allen Ernstes, die
Situation habe sich schlechter entwickelt, als Sie damals
annehmen konnten. Das glaubt Ihnen niemand. Jeder
weiß: Sie wollen einfach nicht mehr zu dem stehen, was
Sie gemacht haben. Dafür sind wir nicht zu haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eines ist richtig: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist
noch nicht so, dass wir uns ausruhen könnten. Es ist
nicht so, dass wir nichts dafür tun müssten, die Erwerbs-
quote von Älteren weiter zu erhöhen. Darauf hat der
Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in
der Tat hingewiesen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er hat
gesagt, das sind die Fakten und wir müssen das
politisch bewerten! – Anton Schaaf [SPD]: Da
ignorieren Sie die Fakten!)
Er wird sich aber, glaube ich, nicht gerne als Kronzeuge
gegen die Rente ab 67 anführen lassen. Wir können ihn
ja einmal bei seinem nächsten Besuch im Ausschuss fra-
gen. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiß, wie er ant-
worten wird.
Lieber Kollege Toni Schaaf, Sie haben völlig recht:
Die Leute müssen Jobs haben, und dafür müssen wir
politisch etwas tun. Ich kann Ihnen sagen: Wir tun etwas.
Ich nenne Ihnen drei Punkte.
Das Erste ist, dass die Politik das Signal aussendet,
dass Ältere am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir
wollen, dass Ältere in den Unternehmen mit ihrer Quali-
fikation anerkannt werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dazu muss man zuallererst nicht nur die Frühverren-
tungsanreize beenden – das haben wir getan –, sondern
auch zur Verlängerung des Lebensalters stehen und sich
hier nicht aus der Verantwortung stehlen.
Kommen wir zum zweiten Punkt. Wir müssen natür-
lich auch etwas im Bereich Flexibilität tun; das ist völlig
richtig. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Erwerbs-
karrieren der Menschen unterschiedlich sind. In diesem
Zusammenhang geht es nicht um die Rente mit 65 oder
mit 67, sondern darum, wie flexibel man sein Erwerbsle-
ben beenden und in Rente gehen kann. Herr Kollege
Schreiner, Sie haben als Beispiel die Chemiearbeiter an-
geführt. Die IG BCE wirbt zum Beispiel für eine Teil-
rente. Wissen Sie, was ihrer Meinung nach das Wich-
tigste ist, was wir dafür tun müssen? Wir müssen die
Zuverdienstgrenzen derjenigen, die früher in Rente ge-
hen, beseitigen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Damit
es eine Kombirente gibt? Das wollen wir
nicht!)
Das ist übrigens interessanterweise FDP-Programmatik.
(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Das ist ja FDP pur!)
Es ist es richtig, dass diese Regierungskoalition in Ge-
sprächen ist, die Zuverdienstgrenzen fallen zu lassen, da-
mit wir bei der Flexibilisierung vorankommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lehrieder zulassen?
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Vom Kollegen Lehrieder immer gerne.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Kollege Vogel, Sie haben gerade
ausgeführt, dass wir den Wert der Arbeit auch älterer
Mitbürgerinnen und Mitbürger höher schätzen müssen.
Können Sie uns sagen, wann die sogenannte 58er-Rege-
lung ausgelaufen ist, die gerade sehr vielen Mitbürgern
im Alter zwischen 58 und 65 signalisiert hat, dass wir sie
gar nicht mehr brauchen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12691
(A) (C)
(D)(B)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Sie meinen die geförderte Altersteilzeit, Herr Kol-
lege?
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja! – Zurufe von
der SPD)
– Er meint die Frühverrentungsanreize?
(Anette Kramme [SPD]: Die 58er-Regelung ist
etwas anderes! – Katja Mast [SPD]: Sie wissen
plötzlich, was das ist!)
– Natürlich weiß ich das, Frau Kollegin Mast.
(Katja Mast [SPD]: Letztes Mal wussten Sie
das noch nicht!)
Ich weiß, wann sie ausgelaufen ist und dass die SPD
vor einigen Monaten gefordert hat, die Regelung zur ge-
forderten Altersteilzeit zu verlängern, dass gerade Sie
die Frühverrentungsanreize weiterführen wollten und
wir in der Regierungskoalition uns entschieden haben,
das nicht zu tun.
(Anton Schaaf [SPD]: Jetzt reicht’s aber!)
Ich möchte, da meine Redezeit abgelaufen ist, nur
noch einen Punkt ausführen, und zwar das Dritte, das wir
tun müssen. Wir müssen in die Qualifikation der Älteren
investieren, um denjenigen, die jetzt am Arbeitsmarkt
noch weniger nachgefragt werden, eine Chance zu ge-
ben.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie kürzen doch bei den Arbeitsmarkt-
instrumenten!)
– Nein, Herr Kollege Kurth. Wissen Sie, was wir im
Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente gemacht haben? Das könnten Sie einmal würdi-
gen.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie kürzen die Mittel!)
Wir haben die Förderung der Qualifikation beschäftigter
Arbeitnehmer – ich nenne das einmal prophylaktische
Arbeitsmarktpolitik – endlich dauerhaft auf eine Rechts-
grundlage gestellt.
(Katja Mast [SPD]: Ohne Geld ist dauerhaft
nichts wert!)
So sieht es aus. Programme wie WeGebAU, die wir alle
kennen, sind eben nicht mehr befristet, sondern gehören
dauerhaft zur Politik der Bundesagentur für Arbeit. Das
ist der Paradigmenwechsel, den wir in der Arbeitsmarkt-
politik eingeleitet haben. Daran sollten Sie konstruktiv
mitarbeiten, anstatt immer nur zu meckern, Frau Kolle-
gin Pothmer,
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dauerhaft ohne Geld!)
und sich an der Förderung der Frühverrentungspolitik
und der Rückabwicklung von Errungenschaften zu betei-
ligen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Eine Kurzintervention des Kollegen Schaaf.
Anton Schaaf (SPD):
Herr Kollege Vogel, wenn man immer Unwahres be-
hauptet, wird es nicht wahrer. Ich weiß genau, dass die
Union damals im Wahlkampf die Rente mit 67 gefordert
hat, bevor wir dann in der Großen Koalition darüber ver-
handelt haben. Es war eine Idee der Union, und wir hat-
ten einen Koalitionsvertrag. Selbstverständlich sind So-
zialdemokraten gegenüber Verabredungen treu; das ist
keine Frage. Franz Müntefering hat nur den Endpunkt
der Rente mit 67 vorgezogen und das im Januar 2006 an-
gekündigt, was große Wellen geschlagen hat. Aber der
Sozialdemokratie die Urheberschaft für die Rente mit 67
in die Schuhe zu schieben, ist gänzlich falsch. Das ist der
erste Punkt.
(Beifall bei der SPD)
Der zweite Punkt: Frühverrentung. Manchmal scheint
es mir, dass Sie die Realitäten absolut verweigern wol-
len. Wenn wir uns die insgesamt in Anspruch genom-
mene Altersteilzeit anschauen, sehen wir, dass zwei
Drittel davon nicht geförderte Altersteilzeit war und nur
ein Drittel gesetzlich geförderte Altersteilzeit.
Ich sage Ihnen, was der Unterschied ist. Die nicht ge-
förderte Altersteilzeit ist nach wie vor sozialverträgliche
Arbeitsplatzvernichtung. Die geförderte Altersteilzeit
war daran gekoppelt, dass der Arbeitsplatz erhalten
bleibt; bei dieser Geschichte ist „Jung für Alt“ herausge-
kommen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nicht rich-
tig!)
Die nicht geförderte Altersteilzeit wird nur von großen
Betrieben genutzt. Die geförderte Altersteilzeit wurde
auch von kleinen und mittelständischen Betrieben ge-
nutzt, die sie jetzt nicht mehr nutzen können. Was das
mit der Abschaffung der Anreize zur Frühverrentung zu
tun hat, erschließt sich mir nicht. Denn zwei Drittel der
Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird, macht
die nicht geförderte Altersteilzeit aus. Diese findet näm-
lich immer noch statt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie möchten antworten, Herr Vogel?
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Klar! Er muss!
Das muss ja korrigiert werden! Das muss rich-
tiggestellt werden!)
– Bitte schön.
12692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Ja, ich möchte gerne antworten. – Lieber Kollege
Toni Schaaf, erst einmal Folgendes: Ich will die Union,
unseren geschätzten Koalitionspartner, gar nicht aus der
positiven Verantwortung für die Rente mit 67 entlassen.
(Lachen des Abg. Anton Schaaf [SPD])
Dass da kein falscher Eindruck aufkommt: Ich finde es
sehr gut, dass unser geschätzter Koalitionspartner an die-
ser richtigen Entscheidung mitgewirkt hat.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Leider nicht
die FDP!)
– Ja, Kollege Straubinger. Die FDP sagt: Wir müssen
auch flexibilisieren. – Das bleibt richtig. Das müssen wir
noch gemeinsam machen.
Lieber Toni Schaaf, der Punkt ist: Es wurde eben ganz
bewusst von Ihnen so dargestellt, als sei es die Koali-
tionstreue gewesen, die die Sozialdemokratie geradezu
gezwungen habe, der Rente mit 67 unter Schmerzen zu-
zustimmen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! So war es
aber nicht!)
Ich war damals nicht dabei; das wissen Sie. Aber als in-
teressierter Zeitungsleser hat sich mir in der letzten Le-
gislaturperiode der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht
der Fall war. Nach allem, was mir die Kollegen erzählt
haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt. Sie sollten sich
nicht davonstehlen,
(Anton Schaaf [SPD]: Ach! Das macht ja
auch niemand! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Müntefering war sogar die treibende Kraft!)
wenn es um positive Errungenschaften in diesem Land
geht, zu denen Sie einen Beitrag geleistet haben. Der
Punkt ist: Sie kneifen, statt zu dem zu stehen, was Sie
Gutes erreicht haben.
Nun zum Thema Altersteilzeit, lieber Toni Schaaf.
Mit der geförderten Altersteilzeit senden wir das Signal,
dass wir wollen, dass die Leute früher aus dem Erwerbs-
leben ausscheiden. Man hätte darüber diskutieren kön-
nen, ob das gut ist, wenn es sich um wirkliche Altersteil-
zeitmodelle handelt. Ich habe eben gesagt, dass ich die
Teilrente und Ähnliches für vernünftig halte; das wün-
sche ich mir. Wenn aber auf Kosten der Solidargemein-
schaft, der Beitragszahler, 90 Prozent derjenigen, die die
geförderte Altersteilzeit in Anspruch genommen haben,
das Blockmodell nutzen und früher aus dem Erwerbsle-
ben ausscheiden und wenn diejenigen, die das tun, nicht
etwa die schwer arbeitenden Metall- und Chemiearbei-
ter, sondern vor allem Personen, die Bürotätigkeiten aus-
üben, sind,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So war es näm-
lich!)
dann kann ich nur sagen: Diese Politik ist gescheitert.
Sie hat das falsche Signal an die Gesellschaft gesendet,
nämlich das Signal, dass die Menschen früher aus dem
Erwerbsleben ausscheiden sollen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Genau dieses Signal wollen wir nicht senden. Es wäre
schön, wenn Sie zu einer vernünftigen Politik zurück-
kehren und uns dabei unterstützen würden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]: Im Le-
ben nicht!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren fast jede Woche über die Rente mit 67
bzw. die Bewältigung der demografischen Herausforde-
rung. Ich muss feststellen, dass die linke Opposition in
diesem Hause offensichtlich nicht dazulernen will.
(Anton Schaaf [SPD]: Ach! Quatsch! – La-
chen des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE])
Natürlich ist es richtig, nicht die Tatsachen auszublen-
den, dass die Lebenserwartung steigt und die Bürgerin-
nen und Bürger in Deutschland bis zum Jahr 2029
durchschnittlich drei Jahre länger leben werden. Dies
wird für all unsere sozialen Sicherungssysteme eine He-
rausforderung darstellen. Die linke Seite dieses Hauses,
aber auch die SPD meint, dass man dieses Problem nicht
beachten muss. Die SPD möchte die richtige Entschei-
dung, die Rente mit 67 einzuführen, und zwar schritt-
weise bis zum Jahr 2029, beginnend ab dem Jahr 2012,
die sie seinerzeit in unserer gemeinsamen politischen
Arbeit mit herbeigeführt hat, aussetzen. Die Linksfrak-
tion möchte die Rente mit 67 sogar ganz abzuschaffen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rich-
tig!)
Das kann nicht der richtige Weg zur Bewältigung der de-
mografischen Herausforderung sein.
Die Linken lehnen die Rente mit 67 grundsätzlich ab,
und die SPD rückt von ihren früheren Erkenntnissen ab.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den damaligen
Bundesarbeitsminister Franz Müntefering würdigen. Er
hat damals richtig gehandelt, auch gegen den Zeitgeist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Natürlich ist es für die Menschen angenehmer, früh in
Rente zu gehen und eine möglichst hohe Rente zu bezie-
hen. Das geht aber zulasten der Jungen in unserer Ge-
sellschaft. Sie haben letztendlich die Lasten zu tragen,
was eine Überforderung der Jungen ist. Von den Jungen
hat aus der linken Fraktion heute keiner gesprochen,
aber man kann das ja auch nicht erwarten.
Die Union und die FDP haben den demografischen
Faktor aufgrund der demografischen Entwicklung schon
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12693
Max Straubinger
(A) (C)
(D)(B)
1997 in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt.
Die SPD unter Lafontaine hat in ihrer Verblendung dann
einen Wahlkampf dagegen geführt und damit sicherlich
auch einige Prozentpunkte hinzugewonnen. Danach
wurde dieser demografische Faktor, obwohl er richtig
war, wieder abgeschafft. Gerhard Schröder hat später be-
kannt, dass dies sein größter Fehler in der Rentenpolitik
war. Zumindest die SPD-Fraktion sollte sich heute vor
Augen führen, dass es ein Fehler ist, richtige Entschei-
dungen entweder immer wieder hinauszuzögern oder
wieder zurückzunehmen.
Der Kollege Ottmar Schreiner hat versucht, darauf
hinzuweisen, dass die Voraussetzungen angeblich nicht
gegeben sind, weil die Beschäftigungslage für die älte-
ren Bürger nicht ausreichend ist. Jetzt gebe ich auch auf-
grund der gestrigen Ausschusssitzung zu, dass es eine
Herausforderung ist, 1 Million Menschen über 55 Jahre,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über
50!)
die arbeitslos gemeldet sind, wieder in Arbeit zu brin-
gen.
Gleichermaßen möchte ich in dieser Debatte aber
durchaus auch auf die Entwicklung der Beschäftigung
von Älteren hinweisen. Wir können anhand der Statistik
der Bundesagentur für Arbeit feststellen, dass im Juni
1999 gut 548 000 Menschen im Alter von 60 bis 65 Jah-
ren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnis waren. Diese Zahl ist angestiegen. Im
Juni letzten Jahres vermerkten wir, dass fast 1 124 000
Menschen zwischen 60 und 65 Jahren in einem sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind.
Das zeigt sehr deutlich die Verbesserung, die bei der Be-
schäftigung von älteren Bürgerinnen und Bürgern in un-
serem Land eingetreten ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Herr Kollege Schreiner, dies wird in besonderer
Weise durch diese Zahlen der Beschäftigungsstatistik
belegt. Sie haben beklagt, dass die Bundesregierung hier
einen richtigen Bericht abgegeben hat, der durch das Ge-
setz auch gefordert wird. Sehr deutlich zeigt sich die
Steigerung der Beschäftigung Älterer in den Zahlen: Im
März 2007 waren fast 800 000 Ältere beschäftigt. Im
März 2008 waren gut 847 000 Ältere in sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Im März
2009 waren es knapp 959 000, und im März des letzten
Jahres waren es 1 078 877.
Das zeigt sehr deutlich: Die Beschäftigung der älteren
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nimmt zu. Des-
halb ist es auch verantwortbar, die Rente mit 67 in Gang
zu setzen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Straubinger.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Wir werden das tun und deshalb Ihre Anträge, die
mehr dem Populismus anstatt der Sache dienen, ableh-
nen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frank Heinrich hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach dieser Stunde des Austauschs der ver-
schiedensten Argumente möchte ich kurz drei der
Schlagworte rekapitulieren, die ich mir aufgeschrieben
habe.
Es sind viele Zahlen genannt worden. Eine der Zahlen
ist mir besonders in Erinnerung. Sie betrifft mich und
viele von Ihnen, Sie oben auf den Tribünen betrifft sie
wahrscheinlich überdurchschnittlich mehr. Es geht um
die gestiegene Lebenserwartung – dies kam in den Zah-
len vor, die Herr Schiewerling am Anfang genannt hat –
und um die noch steigende Lebenserwartung. In der Ber-
liner Morgenpost hieß es gestern, die durchschnittliche
Lebenserwartung der Berliner Bevölkerung werde in den
nächsten 20 Jahren gegenüber heute weiter deutlich stei-
gen, bei Männern im Schnitt um 6,1 Jahre und bei den
Damen um 4,8 Jahre. Das heißt, wenn man diese Mathe-
matik noch weiter fortsetzt wie vorhin, dann werden wir
noch stärker profitieren und die Lebenserwartung wird
noch weiter steigen. Wir werden aber nicht in demselben
Maße mehr arbeiten müssen, wie unsere Lebenserwar-
tung steigt.
Das hat auch, wie es der letzte Redner angesprochen
hat, mit Solidarität zu tun. Denn dann müssen wir als
Politiker dieses Landes selbstverständlich die gesamte
Breite darstellen statt nur diejenigen, die möglicherweise
länger arbeiten müssen. Mein Jahrgang ist der erste, der
davon betroffen ist. Dann geht es um einen Querschnitt
aller, die in Deutschland davon betroffen sind, auch die
Jugend.
Es ist generell eine sehr gute Nachricht, dass wir län-
ger leben werden, aber sie treibt möglicherweise die
Kosten oder trägt Herausforderungen an uns heran, die
wir nicht nur auf die Schultern anderer verteilen dürfen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich zitiere aus dem Antrag der Linken:
In Verbindung mit der gesetzlich festgeschriebenen
Absenkung des Rentenniveaus wird die Rente erst
ab 67 zu einer Welle von Altersarmut führen.
Das ist eine Mathematik, die wir so nicht mittragen kön-
nen. Erstens wird es keine Absenkung des Rentenni-
veaus geben. Das ist vorhin zweimal widerlegt worden.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Absen-
kung des Rentenniveaus steht im Gesetz!)
12694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Frank Heinrich
(A) (C)
(D)(B)
Zweitens gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass es eine
Herausforderung ist und wir möglicherweise dadurch ei-
nen Rückgang des Wohlstands befürchten müssen, dann
müssen wir dagegen vorgehen, aber nicht nur bei denen,
die dann im Ruhestand sind oder in den Ruhestand ge-
hen sollen. Diese Herausforderung ist eine Folge des de-
mografischen Wandels. Die Rente mit 67 ist eine Ant-
wort darauf. Es ist nicht die Ursache, wie Sie es be-
schreiben.
Herr Kolb, Sie haben den Begriff Mentalitätswandel
eingeführt, den ich bemerkenswert finde. Ich erinnere
mich an den Ruck, der durch Deutschland gehen sollte.
Tatsächlich geht es um einen Ruck oder Mentalitätswan-
del aller Beteiligten statt nur eines Teil des Parlaments
oder derjenigen, die möglicherweise dafür oder dagegen
sind.
Damit kommen wir zu dem Begriff der Teilhabe, den
sowohl Sie, Herr Kolb, als auch Sie, Herr Strengmann-
Kuhn, genannt haben. Der Begriff war auch Gegenstand
einer Fachtagung 2008 zum Thema „Behinderung und
Alter: Gesellschaftliche Teilhabe 2030“. Das ist das
Stichdatum, ab dem die ersten von uns volle zwei Jahre
länger arbeiten sollen. Wenn wir uns, gesund und jung
geblieben, 2030 fragen würden, wie die gesellschaftliche
Teilhabe aussieht, zu welchen Ergebnissen würden wir
dann kommen? Diese Umfrage würde mich interessie-
ren. Mir hat gestern eine Person auf diese Frage geant-
wortet: „Ich würde sagen, Rente mit 67 frühestens.“
Bei mir war dieser Tage eine Besuchergruppe zu
Gast. Eine Frau antwortete mir auf diese Frage: „Natür-
lich möchte ich gerne länger arbeiten.“ Natürlich ist da-
mit die Herausforderung verbunden, die notwendigen
Arbeitsplätze zu organisieren. Das haben wir bereits ge-
hört.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Quod
erat demonstrandum!)
Aber wir haben die nötige Zeit, um das zu arrangieren,
mit Flexibilität und verschiedensten Maßnahmen, die
nicht nur, aber auch von der Politik ausgehen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE]: Wo sind denn die Arbeitsplätze?)
Wir reden immer von Teilhabe, sowohl was Behinde-
rung als auch Alter angeht. Dann muss auch die Teilhabe
an Beschäftigung und Arbeit möglich sein. Das wollen
wir einleiten. Das ist uns wichtig. Erwerbsarbeit ist auch
sinngebend und erfüllend. Das ist also ein sozialer und
ökonomischer Grund.
Ein dritter Begriff – damit komme ich zum Schluss –
ist der Fachkräftebedarf, der übrigens nicht nur jetzt be-
vorsteht und den Menschen Angst macht, sondern bis
2030 noch kulminieren wird. Das Know-how der Alten
ist nicht verzichtbar. Wir können als Gesellschaft nicht
auf diesen Zuwachs an Know-how verzichten.
Ich möchte als Entgegnung zu Ihnen, Herr Schaaf und
Herr Schreiner, aus einem weiteren Antrag von Ihnen zu
diesem Thema zitieren:
Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten
Jahre hat einen deutlichen Anstieg der Erwerbstä-
tigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem stei-
genden durchschnittlichen Rentenzugangsalter aus-
drückt …
Das ist der Status quo. Jetzt haben wir 20 Jahre Zeit,
diese Linie im Koordinatensystem fortzuführen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
geht ab 1. Januar los!)
Wenn meine Altersgruppe ungefähr dann in den Ruhe-
stand geht, werden wir dieses Problem gelöst haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/5298, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3546 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende
Fraktion. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Bera-
tung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rente
ab 67 vollständig zurücknehmen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5298, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/2935 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Linke hat dagegen gestimmt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/5297. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/3995 mit dem Titel „Chancen für die Teilhabe am Ar-
beitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern –
Rentenzugang flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4046 mit dem Titel „Vorausset-
zungen für die Rente mit 67 schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12695
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (C)
(D)(B)
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP, SPD und
Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat
sich niemand.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes
– Drucksache 17/5761 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
– Drucksache 17/5960 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetz-
entwurfs, über den wir später namentlich abstimmen
werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die ab-
solute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforderlich
ist.
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent-
lich müssten wir heute über Verwaltungsfragen spre-
chen; denn die Entscheidung über die Sache haben wir
bereits im März getroffen. Die christlich-liberale Koali-
tion hat damals den Weg für eine Lohnuntergrenze in der
Zeitarbeit geebnet. Leider wurden wir damals nicht von
der Opposition unterstützt. Ich bedauere das nach wie
vor sehr. Aber durch unseren Beschluss kann die Bun-
desregierung jetzt eine Lohnuntergrenze einführen. Vo-
raussetzung ist nur ein Antrag der Tarifpartner.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Dann gilt übrigens ein tariflicher Mindestlohn für die ge-
samte Branche. Es wird zukünftig nicht mehr darauf an-
kommen, ob der Betrieb seinen Sitz im Ausland oder im
Inland hat, ob es sich um Verleihzeiten oder um verleih-
freie Zeiten handelt oder welchem Arbeitgeberverband
der Betrieb bzw. welcher Gewerkschaft der Arbeitneh-
mer angehört. Nein, es gilt dann ein tariflicher Mindest-
lohn für alle. Ich finde, das ist ein großer Erfolg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta
Krellmann [DIE LINKE]: Es gibt zwei, Ost
und West!)
Eigentlich sollte es heute nur um technische Fragen
gehen: Wer ist für die Kontrolle zuständig? Wie hoch
sind Bußgelder und Strafen? Was hat ein inländischer
Arbeitgeber nachzuweisen? Welche Meldepflichten
muss ein ausländischer Verleihbetrieb erfüllen? Wie
viele neue Planstellen müssen geschaffen werden? Ei-
gentlich geht es also um reine Verwaltungsfragen. Aber
darüber sprechen wir eigentlich doch nicht; denn Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, nutzen
die Gelegenheit einmal mehr, um eine Generaldebatte
über die Zeitarbeit vom Zaun zu brechen, gewürzt nach
Ihrem Lieblingsrezept: ganz viel Emotion, eine Prise
Ideologie und bloß keine Fakten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine prekäre Beschäfti-
gung. Tatsache ist, jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem
normalen Arbeitsverhältnis. Auch wenn er beim Kunden
arbeitet, ist er doch beim Zeitarbeitsunternehmen sozial-
versicherungspflichtig beschäftigt, in der Regel übrigens
unbefristet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, Kündigungs-
schutz, Anspruch auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall. Nur die Arbeitsorte wechseln häufiger,
wie übrigens auch bei Fernfahrern, Bauarbeitern und
vielen anderen.
Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine Sackgasse. Tatsache
ist, die Zeitarbeit war und ist gerade für die Schwächsten
am Arbeitsmarkt eine Brücke in den Arbeitsmarkt. Zwei
Drittel der neu eingestellten Zeitarbeitnehmer waren da-
vor arbeitslos. Rund 15 Prozent wechseln übrigens spä-
ter zu den Kunden, mit steigender Tendenz. Das ist jetzt
auch von dem neuen Präsidenten des Bundesarbeitgeber-
verbandes der Personaldienstleister beklagt worden, der
wie folgt zitiert wird:
Wir verlieren viele Mitarbeiter, weil sie von den
Kundenunternehmen … abgeworben werden.
Auch dies ist eine Tatsache. Drei Viertel der Übernom-
menen wären übrigens ohne den vorherigen Einsatz in
der Zeitarbeit nicht eingestellt worden.
Sie behaupten, Stammbelegschaften würden durch
Zeitarbeitnehmer ersetzt. Fakt ist, nur 2 Prozent der
Kunden bauen Personal ab und stellen Zeitarbeiter ein.
Das ist ein reines Randphänomen. Alle diese Zahlen sind
übrigens belegt, sei es durch die Bundesagentur für Ar-
beit, sei es durch das IAB, sei es durch Berichte der Bun-
desregierung. Sie hingegen, liebe Frau Müller-Gem-
meke, ignorieren diese Tatsachen. Das ist Politik à la
Vogel Strauß: ab mit dem Kopf in den Sand, nur nichts
hören, nur nichts sehen.
Wenn Sie keinen Sand in den Augen hätten, hätten
Sie die brandneue Studie der IW Consult lesen können
und müssen. Darin wird der Zeitarbeit eines bescheinigt:
Sie ist der Treiber für Flexibilität und Wachstum am Ar-
beitsmarkt und für die Wirtschaft. Die Zeitarbeiter waren
und sind eine Stütze des Aufschwungs. Obwohl weniger
als 3 Prozent in der Branche arbeiten, erwirtschafteten
sie 15 Prozent des Wirtschaftswachstums, also überpro-
portional viel. Darüber hinaus retteten sie Stammbeleg-
schaften; denn die Kunden konnten durch Stornierung
von Aufträgen an Zeitarbeitsunternehmen kurzfristig auf
12696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Gitta Connemann
(A) (C)
(D)(B)
Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, wo es wieder auf-
wärtsgeht, ist die Kernmannschaft noch da, und Auf-
tragsspitzen können wieder abgefedert werden. Deswe-
gen kommt die Studie auch zu dem Ergebnis – ich zitiere
und bitte, zuzuhören –:
Die Zeitarbeit hat den Unternehmen geholfen, die
Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Massenentlas-
sungen zu meistern, und hat die für den nachfolgen-
den Aufschwung benötigten Personalressourcen
schnell bereitgestellt. Die Krise hätte ohne Zeitar-
beit wahrscheinlich schwerwiegendere Folgen für
die deutsche Wirtschaft gehabt und länger angedau-
ert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Weiter heißt es:
Gerade diejenigen Unternehmen, die den Auf-
schwung tragen, sind besonders stark auf die …
Zeitarbeit angewiesen. … Damit stärken die Unter-
nehmen, die Zeitarbeit einsetzen, nachhaltig die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland.
Damit steht fest – durch Studien belegt –: Gemeinsam
mit der Kurzarbeit hat erst die Zeitarbeit das deutsche
Wunder am Arbeitsmarkt in der Krise möglich gemacht.
Bestätigt wird diese Wirkung auch durch die Bundes-
agentur für Arbeit. Nach den neuesten Zahlen sorgt die
Zeitarbeitsbranche derzeit für etwa jede dritte neue
Stelle am Arbeitsmarkt. Es stimmt also: Treiber für den
Arbeitsmarkt. Deshalb war es mehr als gerecht, dass wir
als Gesetzgeber uns der Branche besonders intensiv wid-
meten. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen,
schwarzen Schafen wie Schlecker das Handwerk zu le-
gen, übrigens wir in der christlich-liberalen Koalition.
Wir haben die EU-Zeitarbeitsrichtlinie in deutsches
Recht umgesetzt, wir in der christlich-liberalen Koali-
tion. Wir haben den Weg für eine Lohnuntergrenze geeb-
net. So sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Lohn-
dumping aus dem Ausland gewappnet.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir bereiten weitere Anträge vor. Wir wollen die Be-
zeichnung „Leiharbeit“ ersetzen; denn damit werden die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich
hart arbeiten, diskriminiert. Kein Begriff eignet sich we-
niger für die Beschreibung der Zeitarbeit;
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mietarbeit!
Leihe ist unentgeltlich!)
denn Leihe ist Überlassung von Sachen, Zeitarbeitneh-
mer sind aber keine Sachen, sondern Menschen, die tag-
täglich hart arbeiten.
Wir müssen auch auf ein aktuelles Urteil des Bundes-
arbeitsgerichts reagieren und das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz um eine Klausel für die Zeitarbeit ergänzen.
Dort, wo ein allgemein verbindlicher Branchenmindest-
lohn gilt, soll er auch für die Zeitarbeit gelten.
Wir werden weiter dafür sorgen, dass die klassische
Zeitarbeit zukünftig nicht mehr durch Umgehung diskre-
ditiert wird. Wir haben diese Aufgabe den Tarifvertrags-
parteien ins Stammbuch geschrieben. Sie haben Zeit, da-
rauf zu reagieren. Wenn sie nicht reagieren, sind wir
gefordert, übrigens deshalb gefordert, weil seinerzeit
Rot-Grün durch die damalige unbegrenzte Öffnung der
Höchstüberlassungsdauer genau diese Schein-Zeitarbeit
erst provoziert hat. Es war Rot-Grün – ich betone das –
im Rahmen der Hartz-III-Gesetzgebung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Connemann.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Meine Damen und Herren von der Opposition, vor
diesem Hintergrund können Sie natürlich noch weiter
den Kopf in den Sand stecken. Sie können sich aber auch
endlich die Augen reiben, handeln und unserem Gesetz-
entwurf zustimmen. Dafür wären wir Ihnen sehr dank-
bar.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
(Beifall bei der SPD)
Anette Kramme (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Connemann, ich frage mich: In welchem Sonnen-
system bewegen Sie sich? Sind Sie überhaupt in der
Milchstraße?
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Auf jeden Fall befinden Sie sich nicht auf dem Boden
der Realität der Bundesrepublik Deutschland.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieso?)
Frau Connemann, Sie sagen, Sie hätten die EU-Zeit-
arbeitsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt. Hören
Sie sich Professor Düwell an! Er sagt: Das ist eindeutig
nicht der Fall. Sie hätten beispielsweise eine eindeutige
Begrenzung bei der Dauer der Leiharbeit vornehmen
müssen. Das ist aber nicht geschehen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Meinung
von einem!)
Sie heben die Arbeitsmarktfunktion der Leiharbeit
hervor. Sie müssten an sich auch die Untersuchung des
IAB kennen, in der es heißt, dass die Leiharbeit allen-
falls ein schmaler Steg in Arbeit ist.
Aber wir diskutieren heute über etwas anderes. Es
gibt drei Kategorien von Gesetzentwürfen. Bei der ers-
ten Kategorie kann man sagen: Diese Gesetze sind groß-
artig. Es gibt eine Kategorie zwei. Da sagt man: besser
als nichts. Dann gibt es eine Kategorie drei. Da kann
man nur sagen: einfach Humbug.
Wir diskutieren heute wieder über Verbesserungen für
Leiharbeitnehmer. Konkret geht es darum, Sanktions-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12697
Anette Kramme
(A) (C)
(D)(B)
und Kontrollmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz auch für die Leiharbeit tauglich zu machen.
Sie halten sich dabei – das müssen wir Ihnen zugestehen –
an die Verabredungen, die im Rahmen der Regelsatzver-
handlungen getroffen worden sind.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Das ist ja
nicht unwesentlich!)
Aber Sie nehmen nur eine Umsetzung eins zu eins vor.
Kein Jota mehr!
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das mit
Verabredungen, Frau Kramme! – Gegenruf der
Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie können auch mal selber
denken!)
Es ist das absolute Minimum, was Sie uns hier vorlegen.
Dabei gibt es Besonderheiten in der Leiharbeit, zumal
die Leiharbeit jetzt grenzüberschreitend stattfindet. Da-
bei wissen wir: Leiharbeit ist Leidarbeit. Drei Viertel al-
ler Leiharbeitnehmer arbeiten unter der Niedriglohn-
schwelle. 60 Prozent der Leiharbeitnehmer haben eine
schlechtere Bezahlung als Stammarbeitnehmer auf exakt
dem gleichen Arbeitsplatz. Jeder achte Leiharbeitneh-
mer erhält Aufstockungsleistungen nach dem SGB II.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: 7 Prozent!)
Natürlich begrüßen wir, dass es jetzt endlich zu einer
Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
kommt, wobei wir natürlich hoffen, dass es etwas mehr
Engagement der Arbeitsministerin gibt, damit diese
Lohnuntergrenze tatsächlich schnell greifen kann.
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Haben
wir nämlich noch gar nicht!)
Selbstverständlich begrüßen wir, dass es Meldepflichten
für Entleiher gibt, die Leiharbeiter von ausländischen
Verleihern beschäftigen. Wir sind natürlich auch dankbar
dafür, dass es Kontroll- und Sanktionsmechanismen
gibt. Aber es bleiben einige problematische Fallkonstel-
lationen.
Nehmen wir Folgendes an: Eine ausländische Leihar-
beitsfirma kommt in die Bundesrepublik Deutschland.
Das ist genau der Fall, für den wir jetzt – so Ihre Auffas-
sung – die Lohnuntergrenze gebildet haben. Die Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit stellt fest, dass der Mindestlohn
dort nicht gezahlt wird. Es ist gut und richtig, dass diese
ausländische Leiharbeitsfirma ohne Weiteres eins auf
den Deckel bekommen wird. Aber der Mindestlohn für
den individuellen Leiharbeitnehmer ist damit noch lange
nicht durchgesetzt. Vielmehr muss der Mindestlohnan-
spruch im Ausland vollstreckt werden.
Nach dem, was wir bei den Prozessen gegen die Tarif-
gemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit
festgestellt haben, bin ich mir ganz sicher: Es wird ins-
gesamt nicht sehr viele Prozesse geben; es wird eine
Reihe von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerin-
nen geben, die leer ausgehen werden. Angesichts dessen
frage ich Sie: Warum haben Sie nicht ähnlich wie bei ei-
nem anderen Rechtsgedanken eine Entleiherhaftung ein-
geführt, sodass die Leiharbeitnehmer und Leiharbeitneh-
merinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland
klagen und vollstrecken können?
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben einen
weiteren Ansatzpunkt: Wir werden mehr ausländische
Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in der
Bundesrepublik Deutschland haben. In Berlin gibt es
eine Beratungsstelle, die uns im Übrigen in der Sachver-
ständigenanhörung Schauerliches berichtet hat. An sich
ist es doch legitim und in höchstem Maße nachvollzieh-
bar, dass wir Menschen, die keine Kenntnisse vom deut-
schen Rechtssystem haben, mit einer Beratung zur Ver-
fügung stehen. Auch da tut sich leider überhaupt nichts.
Ein zusätzliches Problem, liebe Kollegen und Kolle-
ginnen, ist in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ange-
legt. Ich will nicht sagen, dass die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit schlecht arbeitet. Im Gegenteil: Wir sind
angetan von dem, was dort in den letzten Jahren bewirkt
worden ist. Dort sind 6 500 Mitarbeiter und Mitarbeite-
rinnen tätig.
Aber wir müssen auch eines sehen: Wir haben dieser
Behörde dadurch immense zusätzliche Aufgaben über-
tragen, dass es immer mehr Mindestlöhne in der Bundes-
republik Deutschland gibt. Allein wegen der Leiharbeit
werden 900 000 Arbeitsverhältnisse zusätzlich über-
wacht werden müssen. Angesichts dessen sage ich Ih-
nen, meine Damen und Herren von der Union: Es ist
schäbig, dort in den nächsten zwei Jahren lediglich eine
Personalaufstockung von 100 Planstellen vorzunehmen.
Dies nützt nichts, wird aber dazu führen, dass Lohndum-
ping keine Schranken gesetzt wird und dass es tatsäch-
lich stattfinden wird. Die IG BAU hat gesagt, dass wir
tatsächlich etwa 4 800 zusätzliche Stellen brauchen, um
effektiv zu kontrollieren. Bereinigen wir das und sagen
wir, dass eine ordentliche Portion dazukommen muss;
dann werden wir stärker sein.
(Beifall bei der SPD)
Ihrerseits ist leider nicht klar geregelt worden, was
geschieht, wenn ein Leiharbeitnehmer mit der neuen
Lohnuntergrenze in einem Betrieb arbeitet, für den ein
anderer Mindestlohn gilt. Es wäre so einfach gewesen,
dafür eine Regelung in den Gesetzentwurf aufzunehmen,
die besagt, der Leiharbeitnehmer bekomme im Zweifel
den höheren Mindestlohn. Aber auch das ist Ihrerseits
unterblieben.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, im Endergebnis
werden wir die Probleme in der Leiharbeit nur dann lö-
sen, wenn einige essenzielle Sachen geregelt werden.
Dazu gehört, dass wir endlich die gleiche Bezahlung für
die gleiche Arbeit durchsetzen. Anderenfalls werden
weiterhin sinnvolle Stammarbeitsplätze vernichtet und
in die Leiharbeit abgedrängt. Sie werden damit bewir-
ken, dass der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik
weiter wächst – mit verheerenden volkswirtschaftlichen
Folgen für die Zukunft.
Des Weiteren ist es sinnvoll, dass Leiharbeitsverhält-
nisse nicht mehr befristet durchgeführt werden können.
Ihre, die vorherige Regierung in Nordrhein-Westfalen
12698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Anette Kramme
(A) (C)
(D)(B)
hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem festgestellt
worden ist, dass eine Synchronisierung zwischen Ar-
beitsverhältnissen und Auftragsdauer stattfindet. Das
kann und darf in der Leiharbeit nicht sein.
Ein allerletzter Punkt. Die Betriebsräte in den Entlei-
herbetrieben brauchen endlich mehr Mitbestimmungs-
rechte. Betriebsräte müssen mit darüber entscheiden
können, ob Leiharbeiter im Betrieb sind, wie lange sie
im Betrieb sind, in welchen Abteilungen sie dort tätig
sind und welche Tätigkeiten sie dort konkret ausführen.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden
sich noch ein ganzes Stück bewegen müssen, damit die
Probleme der Leiharbeit, einem prekären Arbeitsverhält-
nis, gelöst werden. In diesem Sinne: Strengen Sie sich
an!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Kramme, es ist schade, dass Sie sehr oft,
wenn Sie an dieses Rednerpult gehen, über das nörgeln
müssen, was die Regierungskoalition macht. Heute hät-
ten Sie Grund gehabt, uns zu loben; das kann ich hier
nicht anders sagen. Den drei Kategorien, die Sie genannt
haben, müssten Sie eine vierte hinzufügen, nämlich die
der Notwendigkeit eines Gesetzes. Das heute zu verab-
schiedende Gesetz ist notwendig, damit wir die Verabre-
dungen umsetzen können, die wir mit Ihnen getroffen
haben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
Natürlich können Sie jetzt hier Krokodilstränen wei-
nen und sagen, dass sei nur die Eins-zu-eins-Umsetzung
einer Verabredung. Für mich ist es schon wichtig, dass
man, wenn man etwas verabredet, wenn man sein Wort
gibt, dies hinterher eins zu eins umsetzt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das ist wichtig für die Verlässlichkeit, für das Vertrauen
bei der Zusammenarbeit in der Politik, und zwar über die
Grenzen zwischen Regierungskoalition und Opposition
hinweg. Das, was wir heute machen, ist also gut und not-
wendig. Diese Debatte ist vielleicht sachlicher als an-
dere. Sie haben trotzdem versucht, ein paar Punkte auf-
zuzeigen, über die wir uns hier streiten können und
sollen.
Nachdem die Kollegin Connemann Funktion und Be-
deutung der Zeitarbeit hier wirklich eindrucksvoll be-
schrieben hat, will ich noch einmal sagen: Auch wir be-
kennen uns zu dem Instrument der Zeitarbeit. Auch nach
der Krise gilt: Keine andere Branche hat so viele Ar-
beitsplätze geschaffen wie die Zeitarbeitsbranche. Frau
Kollegin Kramme, ich muss Ihnen sagen: Die Befürch-
tung, am Ende einer Entwicklung würden alle Arbeits-
verhältnisse in deutschen Landen nur noch Zeitarbeits-
verhältnisse sein, ist wirklich unbegründet.
Das können Sie auch aktuell sehen, wenn Sie sich ein-
mal anschauen, was im Bereich der Zeitarbeit passiert.
Da stellt man fest: Es gibt Grenzen des Wachstums. Die
Zeitarbeitsbranche klagt plötzlich darüber, dass sie keine
Arbeitnehmer mehr findet. Warum ist das im zweiten
Jahr eines mittlerweile erfreulicherweise länger andau-
ernden Aufschwungs so? Weil die Unternehmen selbst
wieder Perspektiven sehen, weil sie in der Lage sind, in
der eigenen Stammbelegschaft neue Stellen zu begrün-
den, und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die vorher in der Krise über eine Zeitarbeit versucht ha-
ben, die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu schaffen, jetzt
die Wahl haben. Sie können wieder zu denjenigen Unter-
nehmen gehen, die vorher Zielunternehmen der Zeitar-
beit gewesen sind. Beim konjunkturellen Auf und Ab
wird es immer Phasen geben, in denen die Zeitarbeit be-
sondere Bedeutung hat, und andere Phasen, in denen die
Beschäftigung in den Zieleinsatzbranchen Oberhand ge-
winnt. Ihre Sorgen sind also vollkommen unbegründet;
das sage ich hier deutlich.
(Beifall bei der FDP)
Wir haben seit Beginn dieser Regierungskoalition
konsequent daran gearbeitet, dass Zeitarbeit auf der ei-
nen Seite möglich ist, dass aber auf der anderen Seite
Grenzüberschreitungen verhindert werden und wirksam
bekämpft werden können.
(Stephan Thomae [FDP]: So ist es!)
Das war auch beim Fall Schlecker so. Dieser Fall war
der Auslöser dafür, dass wir die erste Änderung des Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetzes auf den Weg gebracht
haben. Wir haben dann nachgehalten und auf aktuelle
Entwicklungen reagiert. Zeitweise wurden die Beratun-
gen zu diesem Gesetz durch die Verhandlungen im Ver-
mittlungsausschuss überlagert. Aber am Ende ist meines
Erachtens etwas herausgekommen, mit dem man sehr
zufrieden sein kann.
Wir haben zugestimmt – auch das bitte ich Sie einmal
anzuerkennen –, dass es eine Lohnuntergrenze in der
Zeitarbeit geben wird. Ob und in welchem Umfang sie
notwendig sein wird, muss man abwarten. Wir haben
gestern mit Herrn Weise darüber diskutiert. Er meinte, es
sei für eine Antwort noch ein bisschen zu früh. In der
Tendenz kann man feststellen: Ganz so groß wird der
Ansturm aus Osteuropa nicht sein, wie es manche mit
Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt angekündigt hat-
ten. Das alles wird man sehen.
Heute werden Kontrollinstrumente in das AÜG ein-
gebaut, damit die Verabredungen hinsichtlich der Lohn-
untergrenze wirksam kontrolliert werden können. Ich
muss Ihnen sagen: Alles das halte ich für sinnvoll. Es ist
eine geordnete Entwicklung, die wir mit dem Ziel betrei-
ben, Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument Nummer eins
oder vielleicht Nummer zwei – darüber kann man strei-
ten – neben der befristeten Beschäftigung für die Unter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12699
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (C)
(D)(B)
nehmen in Deutschland zu erhalten. Das wird für uns
auch künftig wichtig sein.
Sie haben das Thema Equal Pay angesprochen. Ja-
wohl, das haben wir früh thematisiert, auch als FDP. Ich
bin gespannt, wie die Unternehmen jetzt mit dem Auf-
trag umgehen, den wir ihnen gegeben haben. Wir haben
es ja in den Wochen, fast Monaten, in denen wir im Ver-
mittlungsausschuss verhandelt haben, erlebt, wie die Un-
ternehmen und hier vor allen Dingen die Zeitarbeitsbran-
che immer wieder gesagt haben: Lasst uns das machen.
Wir können das viel besser als ihr. – Jetzt sind umge-
kehrt die Unternehmerinnen und Unternehmer der Zeit-
arbeitsbranche am Zuge. Jetzt wollen wir eine Lösung in
Form von Zeitkorridoren oder Ähnlichem sehen, wie der
Lohn der Zeitarbeitnehmer hin zu Equal Pay entwickelt
wird. Wir sind da gespannt und werden uns überraschen
lassen.
Ich will noch sagen: Wir haben – auch das ist nicht
ganz unwesentlich – eine Verlängerung der Frist für die
Antragstellung für Hilfen aus dem Bildungspaket mit in
dieses Paket aufgenommen. Wir unterstützen diesen
Schritt nachdrücklich. Wir sind der festen Überzeugung,
die Bildungschancen von Kindern sollten nicht an Fristen
scheitern. Nachdem in der Arbeitsgruppe des Vermitt-
lungsausschusses der Wunsch geäußert wurde – übrigens
auch von der A-Seite und den kommunalen Spitzenver-
bänden –, dass man die Kommunen das Ganze machen
lassen soll, haben wir ihnen das ermöglicht. So wird jetzt
verfahren.
Wir stellen fest, dass dieser Prozess ein wenig länger
dauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn das die BA
selbst gemacht hätte. Wir reagieren flexibel auf diesen
Umstand und sind bereit, die entsprechenden Fristen zu
verlängern. Wichtig ist, dass am Ende jungen Menschen
aus Hartz-IV-Familien Bildungschancen eröffnet wer-
den. Auch das wollten wir ja mit dieser Reform errei-
chen. Wir wollen nämlich keine Verfestigung von
Hartz IV, sondern wir wollen dafür sorgen, dass solche
Kreisläufe durchbrochen werden, dass junge Menschen
sich qualifizieren können und die gleichen Chancen ha-
ben, unabhängig von dem Haushalt, in den sie hineinge-
boren werden. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir
auch diesen Punkt in das Gesetz aufgenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Insgesamt, Frau Kollegin Kramme, handelt es sich
um ein notwendiges, aber auch um ein gutes Gesetz. Sie
sollten zustimmen. Dafür werbe ich bei Ihnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Jutta Krellmann (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Connemann, wenn es Ihnen so wichtig
ist, wie etwas bezeichnet wird, dann möchte ich vor-
schlagen, um zu einer präziseren Sprachregelung zu
kommen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einfach
in Arbeitnehmermietgesetz umzubenennen und Leihar-
beitnehmer nicht mehr Leiharbeitnehmer, sondern Miet-
arbeitnehmer zu nennen. Damit hätten wir präzise Be-
grifflichkeiten.
(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
langen] [CDU/CSU]: Haben Sie noch mehr so
geistreiche Vorschläge?)
Ansonsten ist zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf
nichts anderes ist als die zweite Beerdigung des Gleich-
heitsgrundsatzes bei der Entlohnung von Leiharbeitneh-
mern. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist jetzt gesetz-
lich passé. Leiharbeitnehmer können jetzt nur noch auf
ihre Gewerkschaften hoffen. Gesetzlichen Schutz und
staatliche Unterstützung bekommen sie nicht. Ich habe
heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass meine Ge-
werkschaft, die IG Metall, den Arbeitgebern ein Ultima-
tum mit dem Ziel gestellt hat, endlich darüber zu verhan-
deln, wie Lohnverbesserungen bei Zeitarbeitnehmern
erreicht werden können. Ich persönlich bin stolz auf
meine Gewerkschaft; denn sie ist wenigstens weiterhin
an dem Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ dran.
Genau das tut diese Bundesregierung nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate
Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Diese Bundesregierung weiß meines Erachtens über-
haupt nicht, was Gleichheit und Gerechtigkeit im Be-
trieb bedeuten. Eine dunkle Ahnung, was es vielleicht
bedeuten könnte, bekommt man, wenn man sich vor Au-
gen führt, was im Rahmen der Diskussion über Equal
Pay am Equal-Pay-Tag gemacht wurde: Die Unterschrif-
tenlisten wurden ja gestern offiziell übergeben.
In diesem Zusammenhang fragt man sich zunächst
einmal, wieso die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
beitgeberverbände und der Verband deutscher Unterneh-
merinnen hier als Mitunterstützer auftreten. Wer hat die
Mitglieder dieser Verbände gehindert, in ihren Betrieben
gleichen Lohn für Frauen bei gleicher Arbeit einzufüh-
ren? Wieso brauchen Arbeitgeber noch eine extra Auf-
forderung? Sie können das doch einfach machen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die zweite Frage ist: Warum verabschieden wir in
Deutschland Gleichstellungsgesetze und regeln gleich-
zeitig die Ungleichheit in allen anderen Fällen? Frauen
verdienen 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kol-
legen. Leiharbeitnehmer verdienen bis zu 50 Prozent
weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Min-
destlohn in der Leiharbeit beträgt im Westen 7,79 Euro
und im Osten 6,89 Euro. Das ist nicht akzeptabel.
(Beifall bei der LINKEN)
12700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Jutta Krellmann
(A) (C)
(D)(B)
Wir diskutieren nachher über die Angleichung der Ren-
ten in Ost und West. Sie zementieren in Ihrem Gesetz-
entwurf die Ungleichheit bei den Leiharbeitern. Ich habe
den Eindruck, Sie haben nicht wahrgenommen, was in
den Tarifverträgen steht. Diese Ungerechtigkeit wird
nämlich auf Ihre Initiative hin per Gesetz festgeschrie-
ben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Kolleginnen und Kollegen könnten möglicher-
weise wahrnehmen, dass wir jetzt inmitten der Debatte
sind, und sie könnten ihre Nebengespräche vielleicht auf
später verschieben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jutta Krellmann (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe mich schon
immer gefragt, wie es ist, wenn man vor einer namentli-
chen Abstimmung spricht und das Gefühl hat, es interes-
siert niemanden.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt ha-
ben Sie wieder eine halbe Minute verloren!)
Zurück zum Thema Ungleichbehandlung von Men-
schen im Betrieb. Ich rechne einmal hoch, was die Ent-
lohnung nach Tarif bedeutet: Ein Leiharbeitnehmer im
Westen verdient nach Ihrem Vorschlag für einen Min-
destlohn 1 181 Euro brutto, und ein Leiharbeitnehmer im
Osten verdient 1 045 Euro brutto. Angesichts dieser Zahl
ist die Gefahr groß, zum Aufstocker zu werden. Von die-
sem Einkommen auf nahezu Sozialhilfeniveau kann man
nicht leben. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Ungleichheit per Gesetz können wir im
Grunde genommen nicht zustimmen. Wir als Linke wer-
den uns in der namentlichen Abstimmung enthalten. Wir
werden also nicht gegen Mindestlöhne stimmen; denn
sie schützen in der Tat deutsche Arbeitnehmer und eben-
falls die Arbeitgeber in der Leiharbeit vor ausländischer
Unterbietungskonkurrenz. Die Linke steht aber weiter-
hin zu dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“.
Wo wir können, werden wir Gewerkschaften und andere
in ihren Forderungen nach einer gleichen Entlohnung
unterstützen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich bitte noch einmal, der Freude über die bevorste-
hende namentliche Abstimmung etwas stiller Ausdruck
zu verleihen, als das bisher der Fall ist.
Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/
Die Grünen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Kollegin Connemann, im Gegensatz
zu Ihnen werde ich jetzt zu dem Gesetzentwurf reden.
Wir begrüßen, dass die Kontrolle der Lohnunter-
grenze in der Leiharbeitsbranche bei den Behörden der
Zollverwaltung angesiedelt wird. Das gewährleistet,
dass die Lohnuntergrenze effektiv und vor allem profes-
sionell kontrolliert wird – zumindest theoretisch. Die Fi-
nanzkontrolle Schwarzarbeit muss aber immer mehr
Mindestlöhne kontrollieren, und auch die Zahl der Leih-
arbeitskräfte ist wesentlich höher als im Gesetzentwurf
angegeben. Wir fordern eine realistische Personalaufsto-
ckung, damit die Theorie auch zur Praxis wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn man den Schutz der Beschäftigten wirklich ernst
nimmt, dann erkennt man: Wirkungsvolle Kontrollen der
Lohnuntergrenze sind spätestens seit der Einführung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Lappalie, sondern ele-
mentar wichtig.
Überhaupt nicht einverstanden sind wir aber mit der
Ausgestaltung der Kontrollen hinsichtlich der sogenann-
ten Drehtürklausel. Nach dem großen Schlecker-Skandal
haben Sie, die Regierungsfraktionen, mit großem media-
len Aufwand diese Drehtürklausel auf den Weg ge-
bracht. Wenigstens die Leiharbeitskräfte, die zuvor beim
Entleihbetrieb regulär angestellt waren, sollen nun Equal
Pay erhalten. Das ist eh schon eine dürftige Regulierung.
Umso wichtiger wären wirkungsvolle Kontrollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit diesem Gesetzentwurf übertragen Sie die Kon-
trolle auf die Bundesagentur für Arbeit und eben nicht
auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wie übrigens von
der BA selbst angeregt wurde. Damit bleibt die Rege-
lung in der Praxis ein zahnloser Tiger. Die Bundesagen-
tur für Arbeit ist nicht gerade für besonders wirkungs-
volle Kontrollen bekannt. Sie kann nicht gezielt
kontrollieren; es fehlen ihr auch Ermittlungsbefugnisse.
Anders sieht es bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
aus, die jederzeit Betriebsstätten betreten darf und auch
Personen befragen kann. Der Schutz von Leiharbeits-
kräften und echte Regulierungsbemühungen sehen also
anders aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit einen
Zielkonflikt. Einerseits soll sie die Leiharbeit kontrollie-
ren. Andererseits ist sie wegen ihrer Vermittlungstätig-
keit auf ein gutes Verhältnis zu den Leiharbeitsunterneh-
men angewiesen. Das widerspricht sich. Wir finden das
äußerst problematisch.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, dass
alle Kontrollen auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
übertragen werden. Unter dem Strich werden durch den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12701
Beate Müller-Gemmeke
(A) (C)
(D)(B)
Gesetzentwurf an manchen Stellen effektive Kontrollen
verhindert. Deswegen werden wir uns bei der Abstim-
mung enthalten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Ich vermute, dass die Regierungsfraktionen die Re-
form der Leiharbeit mit der heutigen Abstimmung als
abgeschlossen ansehen. Ich kann nur sagen: Sie, die Re-
gierungsfraktionen, haben sich lediglich von der öffentli-
chen Empörung über den Schlecker-Skandal treiben las-
sen und kosmetische Korrekturen vorgenommen. Das
Ergebnis der sogenannten Reform ist deshalb halbherzig
und reicht bei weitem nicht aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir Grüne bleiben nicht wie Sie auf halbem Wege
stehen. Die Lohnuntergrenze ist uns zu wenig; denn ver-
bessert wird nicht die Situation der Leiharbeitskräfte.
Wir fordern weiterhin gleichen Lohn für gleiche Arbeit,
einen Bonus in Höhe von 10 Prozent, die Wiedereinfüh-
rung des Synchronisationsverbotes und mehr Rechte für
Betriebsräte. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden
nicht lockerlassen; denn Leiharbeitskräfte haben ein
Recht auf faire Entlohnung und ein Mindestmaß an Si-
cherheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die
Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbes-
sern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert
sich grüne Politik.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Paul Lehrieder spricht für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Einige Kollegen werden der Rede im Stehen folgen.
Das wird bestimmt eine Besonderheit sein.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Schluss
Ihrer Rede haben Sie die Vermutung geäußert, dass für
die Regierungskoalition nach Ihrer – leider irrigen –
Auffassung mit dem Thema Zeitarbeit Schluss sei. Dem
ist nicht so. Wir haben noch ein Problem zu lösen, und
zwar Equal Pay.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Richtig!)
Wir stehen im Wort. Sie werden sehen, dass wir auch für
dieses Problem eine Lösung finden werden.
(Katja Mast [SPD]: Neun Monate!)
Wir werden die Entwicklungen ein Jahr lang beobach-
ten. Dann werden wir sehen, ob die Tarifvertragsparteien
zu einer Lösung kommen oder ob wir selber etwas tun
müssen.
(Katja Mast [SPD]: Neun Monate haben Sie
vorgeschlagen! – Gegenruf des Abg. Karl
Schiewerling [CDU/CSU]: Das prüfen wir
noch! – Gegenruf der Abg. Katja Mast [SPD]:
Nein, du weißt genau, dass es stimmt!)
Heute, rund 14 Tage nach der ersten Beratung, befas-
sen wir uns abschließend mit dem Gesetz zur Änderung
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarz-
arbeitsbekämpfungsgesetzes. Darin wird deutlich, dass
unsere Politik, die Politik der christlich-liberalen Koali-
tion, keine Politik der leeren Worte ist. Wir halten unser
Wort. Wir setzen unsere Versprechen zügig um und han-
deln dort, wo Handlungsbedarf besteht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich möchte ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir
im Bereich der Leiharbeit allein im Jahr 2011 über die
Drehtürklausel, über die Einführung eines Mindestlohns
und nunmehr mit dem heutigen Gesetz über die Überwa-
chung der Einhaltung des Mindestlohnes auch in der
Leiharbeit richtige Gesetze, Arbeitnehmerschutzgesetze,
verabschiedet haben.
Gerade habe ich mir meine Stimmkarten abgeholt. Ich
habe mir zwei blaue Karten geholt. Bei den Grünen sehe
ich ein paar weiße Karten. Im linken Block des Hauses
sehe ich etliche rote Karten. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, die Sie immer die Arbeitnehmerrechte – völlig zu
Recht – hochhalten: Noch ist es Zeit, Ihre Karten zu tau-
schen. Gehen Sie an die Fächer! Holen Sie sich blaue
Karten, wenn es Ihnen mit dem Arbeitnehmerschutz
ernst ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Durch die Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jah-
res – vor nunmehr gut drei Wochen – bestand im Bereich
der Leiharbeit Handlungsbedarf. Gerade in dieser Bran-
che galt es, Lohndumping zu verhindern. Deshalb haben
wir am 24. März dieses Jahres auch einen branchenspe-
zifischen Mindestlohn für die Zeitarbeit eingeführt und
werden heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
einen wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanis-
mus stimmen.
Die erwartete Einwanderungswelle europäischer Ar-
beitnehmer blieb aus. Wir wurden nicht – wie von eini-
gen Kollegen in diesem Hause, gerade aus der Opposi-
tion, als Zerrbild an die Wand gemalt – von ganzen
Kohorten arbeitswilliger Mitbürger aus osteuropäischen
Ländern überrollt. Allerdings ist es den neuen Regelun-
gen für die Leiharbeit zu verdanken, dass die Arbeitneh-
merfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mit-
tel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen
die in vielen Handwerksbranchen bereits existierende
Azubi-Lücke und als willkommenes Arbeitskräftepoten-
12702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Paul Lehrieder
(A) (C)
(D)(B)
zial mit Blick auf derzeit immerhin über 1 Million of-
fene Stellen in Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich wünsche unserer Ar-
beitsministerin, Frau von der Leyen, an dieser Stelle gute
Besserung; ich hoffe, dass die Hand gut verheilt, damit
sie tatkräftig, wie wir es von ihr kennen, weiterarbeiten
kann.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP sowie der Abg. Brigitte Zypries
[SPD])
Frau von der Leyen stellt ganz deutlich heraus: Die
Frage ist nicht, ob wir es zulassen, dass Arbeitskräfte zu
uns kommen; vielmehr ist die Frage, ob sie trotz der
Sprachbarriere nach Deutschland kommen wollen, wenn
sie noch fünf andere Angebote haben. Gehen Sie einmal
nach Warschau, Stettin oder Prag und schauen Sie, wel-
che Sprachkurse dort angeboten werden, ob es mehr
Deutsch- oder Englischkurse sind. Überlegen Sie sich
dann, ob wir tatsächlich die Chance haben, qualifiziertes
Personal – wir brauchen es sicherlich auch in Zukunft –
aus diesen Ländern zu bekommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir müssen uns um Fachkräfte in unserem Land be-
mühen. Nach Hochrechnungen des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung werden wir bereits im Jahr
2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben.
Bei der Lösung dieses Problems ist es wichtig, dass wir
uns in erster Linie auf Potenziale im Inland konzentrie-
ren. Dazu gehört ein vernünftiges Ausschöpfen der Po-
tenziale des Alters – wir haben beim vorherigen Tages-
ordnungspunkt zur Rente mit 67 darüber geredet –, der
Frauenerwerbstätigkeit – da haben wir in Deutschland
noch ein großes Arbeitskräftepotenzial –, der Arbeitslo-
sigkeit bzw. Langzeitarbeitslosigkeit, wo wir einiges tun
können, aber sicherlich auch der Zuwanderung. Jedoch
werden wir unseren Bedarf nicht vollständig über die
Potenziale im Inland decken können. Wir brauchen aus-
ländische Fachkräfte in unserem Land, und zwar bereits
jetzt, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, auf
1 Million offene Stellen verweisen können.
Kommen wir zurück zur Leiharbeit. Wir sind in einer
Zeit angelangt, in der wir jede arbeitende Hand in der
Bevölkerung brauchen, in der wir jeder Hand die Mög-
lichkeit geben müssen, zu arbeiten. Wir werden heute
mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-
wurfs das Richtige zur Verbesserung der Kontrollmecha-
nismen in der Leih- und Zeitarbeit auf den Weg bringen.
Mein Appell geht nochmals an die Opposition: Tau-
schen Sie ganz schnell Ihre Stimmkarten. Es ist ein gutes
Gesetz. Stimmen Sie dem Gesetz zu! Sie tun damit et-
was Verantwortungsvolles für die Bevölkerung in unse-
rem Lande, für die Zuschauer auf der Tribüne und an den
Fernsehgeräten. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die
deutschen Arbeitnehmer und für die zu uns kommenden
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich bin am Ende meiner Rede. – Ich bedanke mich für
Ihr geduldiges Zuwarten und wünsche Ihnen jetzt eine
weise Entscheidung bei der namentlichen Abstimmung.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp-
fungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5960, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5761 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung angenommen. Gegenstimmen hat es
nicht gegeben. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und
SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
halten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
absolute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforder-
lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Im An-
schluss daran erfolgt eine einfache Abstimmung über ei-
nen Entschließungsantrag.
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den
Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? – Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
wieder einzunehmen, damit ich bei der nächsten Abstim-
mung den Überblick behalten kann.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5963. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
1) Ergebnis Seite 12704 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12703
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatz-
punkt 4 auf:
8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleiches Rentenrecht in Ost und West
– Drucksachen 17/5207, 17/5961 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt (Eisleben)
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
– Drucksachen 17/4192, 17/5962 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Heinrich
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke wird später namentlich abgestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir das Thema
Rente aufgreifen. In zweiter und dritter Lesung behan-
deln wir heute die Anträge der Grünen und der Linkspar-
tei.
Ich möchte die Haltung der CDU/CSU-Fraktion und
der Koalition beschreiben: Wir befinden uns auf dem
Weg. Sie wollen zwar, dass wir schneller vorankommen,
fest steht aber, dass wir auf dem Weg sind. Der Koali-
tionsvertrag ist an dieser Stelle eindeutig. Fraktionsüber-
greifend wollen wir ein einheitliches Rentensystem ein-
führen.
Jedoch ist dies – das habe ich bereits in den vorheri-
gen Sitzungen gesagt – eine sehr komplexe, äußerst sen-
sible Materie. Es gilt, die Interessen von Jung und Alt
– das hatten wir in der vorherigen Debatte –, Ost und
West, Stadt und Land zu berücksichtigen. Das lässt sich
nicht auf eine reine Ost-West-Thematik reduzieren.
Derzeit besteht ein System, das sich in einem guten
Gleichgewicht befindet, zumindest ein sehr gutes Funda-
ment darstellt. Das geltende Rentenrecht und die umla-
gefinanzierte Rente sind durch die Einheit erst möglich
geworden. Der gegenwärtige Stand sieht so aus: Die
Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den
Löhnen. Der Rentenwert Ost nähert sich in dem Maße
dem Rentenwert West an, in dem sich die Verdienste der
Beschäftigten in Ost und West annähern. Der Durch-
schnittslohn Ost hat mittlerweile 85 Prozent des Durch-
schnittslohns West erreicht. In Klammern füge ich hinzu:
Daran gibt es zwar viel zu kritisieren, das ist heute aber
nicht Gegenstand der Debatte. Demgegenüber hat sich
der aktuelle Rentenwert Ost bereits bis auf 89 Prozent an
den Rentenwert West angenähert. Das ist aber immer
noch zu wenig; deshalb machen wir uns auf den Weg.
Die Entgeltberechnung im Osten war mit der Hoff-
nung auf konstantere Lohnsteigerungen verbunden. Ich
erinnere mich, dass ich um die Wendezeit mit Freunden
darüber diskutiert habe. Damals war ich der festen Über-
zeugung, dass wir 15 Jahre brauchen, bis wir die Lohn-
angleichung sowie als Folge davon die Rentenanglei-
chung erreicht haben. Die Lohnsteigerung ist jedoch ins
Stocken geraten. Die Angleichung wird daher notwen-
dig.
Die Gleichbehandlung von Ost und West steht für uns
im Vordergrund. Darum wird der Wille, einheitliche
Rentenwerte einzuführen, auch im Koalitionsvertrag er-
klärt. Auf dem Weg dahin wollen wir konsensorientiert
vorgehen. Ich möchte aus einer Regierungspressekonfe-
renz zitieren, die vor kurzem zu diesem Thema stattge-
funden hat. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Seibert:
Wenn man etwas gleich Gutes an diese Stelle setzen
will, dann bedeutet dies, dass möglichst alle mit im
Boot sein müssen, damit es für die eine oder andere
Seite nicht zu Nachteilen kommt. Diesen Konsens,
diese Kompromissbereitschaft, dieses gemeinsame
Vorgehen ins Werk zu setzen, ist ein größeres Vor-
haben, an dem fortlaufend gearbeitet wird.
Die Schlussfolgerung daraus ist – an dieser Stelle lese
ich weiter –:
Vielmehr gilt es, mit ostdeutschen Ministerpräsi-
denten zu reden, aber auch die Mehrheitsverhält-
nisse im Bundesrat zu berücksichtigen. Es bedarf
eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses und ei-
ner gesamtgesellschaftlichen Bereitschaft, da ge-
meinsam voranzugehen.
Das beschreibt, in welcher Breite und mit welcher
Sensibilität wir dieses Thema angehen müssen, damit es
– nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in diesem
Land – akzeptiert wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Das Ziel ist die Angleichung des Rentenwertes, ohne die
Bestandsrenten zu mindern und ohne die bereits erarbei-
teten Anwartschaften zu verschlechtern. Deshalb ist das
Anliegen berechtigt.
12704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Frank Heinrich
(A) (C)
(D)(B)
am Schluss keine Benachteiligung entstehen, auch nicht
Wir wollen eine einheitliche Berechnung der Entgelt-
punkte für die Zukunft und den Wegfall der Hochwer-
tung der Ostentgelte. Das, was Sie als Linke in Ihrem
Antrag vorschlagen, ist nicht mit uns zu machen. Sie for-
dern eine Angleichung des Rentenwertes Ost an den
Rentenwert West und gleichzeitig die Beibehaltung der
Hochwertung.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
notwendig, sonst wird es ungerecht!)
Das würde zu neuen gravierenden Ungerechtigkeiten
und sehr weitreichenden Verwerfungen führen. Das kön-
nen wir nicht verantworten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
kann ich nicht erkennen!)
Ich möchte noch kurz ansprechen, dass wir baldmög-
lichst zu einem einheitlichen Rentensystem kommen
wollen. Wir denken, dass es schon aus politischen Grün-
den – wir leben in einem vereinigten Land, in dem der
Grundsatz existiert, dass wir ein einheitliches Rechtssys-
tem haben – nicht bei der Regelung bleiben darf, die wir
im Moment haben. Deshalb stimmen wir dem Vorschlag
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 450
enthalten: 124
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Manfred Behrens (Börde)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
nanziell durchdacht sein. Wir werden heute die beiden
vorliegenden Anträge aus den genannten Gründen ableh-
nen.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie könnten sich doch wenigstens ent-
halten!)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich darf die Aussprache kurz unterbrechen, um Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-
telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp-
fungsgesetzes der Fraktionen von CDU/CSU und FDP,
Drucksachen 17/5761 und 17/5960, bekannt zu geben:
abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 450,
Enthaltungen 124. Zur Annahme des Gesetzentwurfes
ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
Mehrheit, das sind 311 Jastimmen, erforderlich. Der Ge-
setzentwurf hat die erforderliche Mehrheit erhalten.
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
auf Westseite. Das Konzept wird ausgewogen, nah am Konsens und fi-
(Beifall bei Abgeordneten
DIE GRÜ
Danke, dass Sie für dieses ei
gen. Danke für dieses gerec
wir sind auf dem Weg; desha
Danke für einige der Vorsch
diesen halten wir weit mehr a
Anträgen, die wir von der li
bekommen.
Es geht dabei zum einen u
ellen Rentenwerts Ost und
grenze Ost auf die Höhe der W
um die Reduzierung der Ho
Ermittlung der in Ostdeutsch
erworbenen Entgeltpunkte, a
resultierenden Rentenansprü
des BÜNDNISSES 90/
NEN)
nheitliche Recht Sorge tra-
htfertigte Anmahnen. Aber
lb nehme ich dazu Stellung.
läge in Ihrem Antrag. Von
ls von den Vorschlägen und
nken Seite des Parlaments
m die Anhebung des aktu-
der Beitragsbemessungs-
estwerte und zum anderen
chwertungsfaktoren für die
land in der Vergangenheit
ber so, dass sich die daraus
che nicht ändern. Es darf
der Grünen nicht zu. Wir hab
einen Begriff, der in Ihrem V
rüber haben wir diskutiert. B
sind wir noch nicht ganz nah
Ich möchte dazu Folgend
gleiche Berechnung der Ren
tenpunkten und möchten und
zept
(Matthias W. Birkwald
denn
inklusive Zeitplan in dieser
Wir haben von der Mitte de
chen; diese ist im Septembe
werden Sie von uns hören.
(Matthias W. Birkwald
en ein Problem mit diesem
orschlag genannt wird. Da-
ezüglich der Garantierente
bei euch.
es sagen: Wir sind für eine
tenwerte mit gleichen Ren-
werden ein eigenes Kon-
[DIE LINKE]: Wann
?)
Legislaturperiode vorlegen.
r Legislaturperiode gespro-
r erreicht. Das heißt, dann
[DIE LINKE]: Okay!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12705
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)
Anita Schäfer (Saalstadt)
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster (Weil am
Rhein)
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)
Peter Weiß (Emmendingen)
Sabine Weiss (Wesel I)
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Hubertus Heil (Peine)
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
12706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
(Schwandorf)
Werner Schieder (Weiden)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Carsten Schneider (Erfurt)
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr (Münster)
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
(Lausitz)
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-
Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
(Lüdenscheid)
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Enthalten
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck (Bremen)
Volker Beck (Köln)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12707
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8
fort.
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die 5 Millionen ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen
erkennen die unglaubliche, gewaltige Leistung der Her-
stellung der Einheit durchaus an. Für diese unglaubliche
Leistung sind sie ausgesprochen dankbar. Aber es geht
auch um Gerechtigkeit. Es geht um die Vereinheitli-
chung der Lebensverhältnisse, um die Anerkennung der
Lebensarbeitszeit. Das Angleichungsgebot des Art. 30
Abs. 5 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31. August
1990 zielt auf die Angleichung der Rente in den alten
und neuen Ländern und damit auf die Herstellung ein-
heitlicher Lebensverhältnisse für die Rentner und Rent-
nerinnen über die Angleichung der Löhne und Gehälter.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
es!)
Gerade in den letzten Jahren ist die Angleichung der
Löhne und Gehälter zum Stillstand gekommen. Der Un-
terschied im Lohnniveau zwischen Ost und West ist grö-
ßer als der Unterschied im Lohnniveau in den alten Län-
dern zwischen Nord und Süd. Die fehlende Tarifbindung
im Osten verhindert, dass die Angleichung wie im
öffentlichen Dienst und in einigen wenigen tarifgebun-
denen Branchen fortgesetzt wird. Im Osten arbeiten
immerhin noch 40 Prozent der Beschäftigten im Nie-
driglohnbereich und viele ohne Tarifbindung.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)
Die Höherwertung der ostdeutschen Durchschnittslöhne
ist deshalb nach wie vor wichtig,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
auch um dem Ziel des Einigungsvertrages gerecht zu
werden.
Unterschiedliche Rentenwerte sind nicht mehr ver-
mittelbar. Sie führen seit Jahren zu Ungerechtigkeiten.
Den Ostdeutschen fehlen 11 Prozent ihrer Rente; für den
sogenannten Eckrentner Ost sind das 139 Euro im Mo-
nat. Es kann niemand erwarten, dass man auf dieses
Geld verzichtet. Eine Lösung dieses Problems ist
schwierig. Sie wird auch nicht über Nacht erfolgen. Aber
jedes weitere Jahr ohne Angleichung und ohne unterstüt-
zende Maßnahmen wie Mindestlohn und aktive Arbeits-
marktpolitik im Osten kostet uns viel Geld.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Es geht um die Lebensarbeitsleistung und die unter-
schiedlichen Lebensverläufe, ganz besonders um die der
Frauen. Was kann schnell getan werden? Zum Beispiel
– ich habe es schon beim letzten Mal gesagt –: dieselbe
Anrechnung und Bewertung der Kindererziehungszei-
ten, der Pflege und des Wehr- und Zivildienstes. Ich
habe auch schon einmal gesagt: Niemandem kann heute
noch erklärt werden, warum die Versicherungszeiten un-
terschiedlich bewertet werden. Pflege ist in Ost und West
gleich, Kindererziehung ebenso. Damit wären wir mit
Sicherheit einen Schritt weiter.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
kann die Debatte zur Rentenangleichung nur auf der Ba-
sis der Alterseinkommen führen; denn die Rente als
Säule der Alterssicherung ist in den alten Bundesländern
völlig anders aufgestellt als im Osten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
stimmt!)
Zur Gruppe der westdeutschen Rentner, vor allem der
Männer, zählen auch Beamte und Selbstständige. Sie ha-
ben zum Teil nur kurze Versicherungszeiten in der ge-
setzlichen Rentenversicherung und beziehen ihr wich-
tigstes Alterseinkommen aus anderen Systemen wie der
Beamtenversorgung, der berufsständischen Versorgung
und der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Über die
Hälfte der Männer in den alten Ländern mit einer monat-
lichen Rente von unter 300 Euro bezieht gleichzeitig
eine Beamtenpension. Betriebsrenten sind in der jetzigen
Rentnergeneration im Osten kaum vorhanden. In den al-
ten Ländern haben nur 7 Prozent der Frauen und über
30 Prozent der Männer eine betriebliche Altersvorsorge;
Tendenz steigend, auch im Osten. In den neuen Ländern
gibt es kaum Nebeneinnahmen, weder aus Vermietung
oder Verpachtung noch aus Zinsen. Hier leben fast alle
Rentner und Rentnerinnen ausschließlich von der gesetz-
lichen Rentenversicherung. So viel zum aktuellen Stand.
Wir kennen natürlich die Vorwürfe, die nicht nur die
Presse, sondern auch der Bundesrechnungshof erhebt. Es
heißt, dass Beschäftigte, die bereits jetzt 100 Prozent des
Westniveaus verdienen, durch die Höherwertung in Zu-
kunft profitieren. Das ist richtig. Würde man aber den
Höherwertungsfaktor generell wegnehmen und nur eine
rein formale Angleichung durchführen, würden sich alle
Rentner und Rentnerinnen dagegen wehren; denn dann
müssten sie generell auf 11 Prozent ihrer Rente verzich-
ten. Das kann man, wenn man Gerechtigkeit will, nicht
hinnehmen.
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 38 Cent!)
Herr Sellering, der Ministerpräsident von Mecklen-
burg-Vorpommern, sagte kürzlich in einem Interview
mit der Schweriner Volkszeitung zu dem Vorschlag Ihrer
Partei:
Das ist ein gefährlicher Vorschlag, der unter dem
Deckmantel einer Angleichung die Benachteiligung
der Ostdeutschen bei der Rente dramatisch vergrö-
ßern würde.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Dr. Wolfgang Strengmann-
12708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Silvia Schmidt (Eisleben)
(A) (C)
(D)(B)
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
38 Cent!)
Auch der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Herr
Haseloff, hat aufgezeigt, dass er zum Beispiel den Ver-
such der FDP in Baden-Württemberg in dieser Richtung
verhindert hat. Er hat es so begründet:
Noch immer tragen die Ostdeutschen stärker die
Folgelasten aus der deutschen Geschichte. Sicher-
lich müssen wir irgendwann dazu kommen, die
Rentenberechnungen in Ost und West anzugleichen
und die Systeme zu vereinheitlichen.
Beide sind kluge Männer.
Ich möchte Sie nur daran erinnern: Wir hatten den
17. Juni 1953. Arbeiter in Ostdeutschland haben sich ge-
gen Panzer gestellt. Ich erinnere an die Opfer der Mauer,
ich erinnere an die Opfer der Stasi, und ich erinnere Sie
an die friedliche Revolution. Wir können also nicht nur
jeden Jahrestag feiern und sagen, wie wichtig das für un-
sere Geschichte war,
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir bekommen einen Revolutionsbo-
nus!)
sondern die Bürger und Bürgerinnen, die Rentner und
Rentnerinnen erwarten auch Respekt, Anerkennung, Ge-
rechtigkeit und vor allem Demokratie, für die sie einge-
treten sind.
Ich gebe den Ministerpräsidenten völlig recht: Sie
können den Bestandsrentnern eine Angleichung nicht
ohne Verbesserung anbieten. Es gab in der DDR eben
keine Möglichkeit, die Renten aufzuwerten. Ich habe das
gerade erzählt: Wir hatten eine Diktatur. Es war ausge-
sprochen schwierig, hier noch etwas zu tun. Diese Men-
schen kann man also auch verstehen.
Für mich enthält der Antrag der Linken natürlich ein
sehr sympathisches Modell, das muss ich so sagen,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es freut
mich, das zu hören, Frau Kollegin!)
aber das wird sehr viel kosten, und das muss man durch-
rechnen.
Ich möchte nur noch kurz anmerken, was unsere
Ideen sind: Wir sind der Meinung, dass die Rentenan-
gleichung bis zum Auslaufen des Solidarpakts im Jahre
2019 abgeschlossen sein muss. Das ist eine lange Zeit;
ich weiß. Wir müssen die Lebensarbeitsleistung der
Menschen in den neuen Bundesländern anerkennen, und
wir wollen auch die zukünftigen Rentner und Rentnerin-
nen nicht belasten.
Wir werden auf alle Fälle – auch das habe ich schon
einmal gesagt – den Vorschlag eines Härtefallfonds ein-
bringen, und zwar bis zur Sommerpause. Gleichzeitig
wollen wir die Zeiten der Kindererziehung, der Pflege,
des Wehr- und Zivildienstes schnellstmöglich anpassen.
Auch hierzu werden wir Anträge vorlegen. Daneben ar-
beitet die Alterssicherungskommission in unserem Par-
teivorstand. Ottmar Schreiner als Vorsitzender sucht hier
mit nach Lösungen. Herr Heinrich, Sie haben recht: Es
ist nicht alles leicht. Das ist ein mühseliges Unterfangen,
und man kann den Vätern der Einheit nicht vorwerfen,
dass sie diese Rentenangleichung nicht gewollt haben.
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist, dass wir
endlich auch die Löhne in den neuen Bundesländern an-
gleichen. Wir dürfen uns nicht noch einmal solche Fehl-
entwicklungen leisten wie zum Beispiel die, den Mitar-
beitern in der Pflege in den neuen Bundesländern nur
7,50 Euro und in den alten Bundesländern 8,50 Euro an-
zubieten. Dadurch haben wir hier im Voraus schon wie-
der eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, was sich spä-
ter natürlich auch in den Renten niederschlagen wird.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Traurig,
aber wahr!)
Das darf nicht sein. Wir brauchen einen einheitlichen ge-
setzlichen Mindestlohn in Ost und West.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Die Rentenversicherung alleine wird dieses Problem
nicht lösen. Wir wissen, das ist eine Frage der Gerechtig-
keit, wir wissen, das ist eine Frage der Einheit, und wir
wissen, das ist auch eine Frage der Steuermittel. Wir bas-
teln Rettungsschirme für die einen, und natürlich haben
die Bürger und Bürgerinnen auch die Erwartung, dass
man auch Rettungsschirme für die anderen errichtet.
Ich danke Ihnen vielmals.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-
Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Pascal Kober (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsver-
trag festgeschrieben, dass wir in dieser Legislaturpe-
riode, also bis zum Jahr 2013, ein einheitliches Renten-
system einführen werden.
(Beifall bei der FDP)
Viele Menschen warten darauf, und es gibt auch viele
Stimmen, die skeptisch sind, ob das gelingen kann. Ich
aber bin zuversichtlich und spreche für meine Kollegen
der Bundestagsfraktion und auch für die Kollegen der
Union, wenn ich sage, dass wir diese Skepsis durch un-
ser Handeln werden widerlegen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, wir werden Ihrem Antrag heute trotzdem nicht
zustimmen; denn darin sind einige Überlegungen enthal-
ten, die wir nicht teilen. Darauf gehe ich am Ende meiner
Rede gerne noch ein.
Ich möchte daran erinnern, dass wir als FDP-Bundes-
tagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode einen
Antrag vorgelegt haben, der eine Vereinheitlichung des
deutschen Rentenrechts zum Ziel hatte. Inhalt war – das
halten wir auch weiterhin für richtig –, dass in ganz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12709
Pascal Kober
(A) (C)
(D)(B)
Deutschland ein einheitliches Rentenrecht eingeführt
wird: mit einem einheitlichen Rentenwert, einheitlichen
Entgeltpunkten und einer einheitlichen Beitragsbemes-
sungsgrenze. Ausgehend von einem bestimmten Stichtag
würden sich dann alle Renten, in Ost und West, entspre-
chend der Entwicklung des einheitlichen Rentenwerts
anpassen.
Jeder Euro Rentenbeitrag würde ab diesem Stichtag
im ganzen Bundesgebiet den gleichen Rentenanspruch
bedeuten.
(Beifall bei der FDP)
Bisherige Ansprüche und Regelungen würden selbstver-
ständlich unberührt bleiben.
Ich bin sehr froh, dass das Ziel der Schaffung eines
einheitlichen Rentenrechts Eingang in unseren Koali-
tionsvertrag gefunden hat und dass wir das Thema in
dieser Legislaturperiode umsetzen werden; denn es be-
steht, wie gesagt, in der Tat Handlungsbedarf. Über
20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und
über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirt-
schafts- und Sozialunion ist es an der Zeit, dass wir die
deutsche Einheit auch im Rentenrecht verwirklichen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die aktuelle Gesetzgebung führt dazu, dass sich Ver-
sicherte in Ost und West gleichermaßen benachteiligt
fühlen. Die Versicherten im Westen sind wegen der
Hochwertung der im Osten gezahlten Beiträge um über
18 Prozent unzufrieden und fühlen sich dadurch benach-
teiligt. Die Versicherten im Osten fühlen sich durch den
niedrigeren Rentenwert benachteiligt. Zwar wurden die
Renten in den neuen Bundesländern durch die Wieder-
vereinigung und das Rentenüberleitungsgesetz enorm
aufgewertet; allerdings liegt auch heute noch der soge-
nannte Rentenwert Ost rund 12 Prozent unter dem Ren-
tenwert West. Das bedeutet, dass ein Jahr durchschnittli-
cher Rentenbeitrag im Westen noch über 12 Prozent
mehr Wert hat als in den neuen Bundesländern.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
das Problem!)
Daraus ergibt sich, dass der sogenannte Eckrentner
– ein Versicherter, der 45 Jahre lang mit Durchschnitts-
beiträgen in die Rentenversicherung eingezahlt hat – im
Westen eine Standardrente bzw. eine Eckrente in Höhe
von 1 224 Euro erhält, im Osten jedoch nur von
1 085,85 Euro.
Diese Standardrente bzw. Eckrente ist aber nicht mit
der Durchschnittsrente zu verwechseln. Die Durch-
schnittsrente – auch dazu möchte ich etwas sagen – ist
im Osten zwar um etwa 100 Euro höher als im Westen;
das hat jedoch auch historische Gründe. In den alten
Bundesländern ist eine größere Zahl von Kleinstrenten
eingerechnet. Das sind Renten von Menschen, die nur
kurze Zeit Mitglied der Rentenversicherung waren und
danach beispielsweise selbstständig wurden oder in den
Beamtenstatus gekommen sind. Diese Menschen sorgen
für eine Reduzierung der Durchschnittsrente, sind aber
in der Regel im Alter gut versorgt.
Solche Kleinstrenten gibt es in den neuen Bundeslän-
dern jedoch bis heute kaum. Der Grund dafür ist, dass in
der ehemaligen DDR alle Menschen im Angestelltensta-
tus arbeiteten und daher auch komplett von der deut-
schen Rentenversicherung erfasst werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie
vorhin bereits erwähnt, liegt Ihr Antrag nicht allzu weit
von unseren Vorstellungen entfernt.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dann können Sie sich doch enthalten!)
Ihrem Vorschlag einer Garantierente werden wir aber
unsere Zustimmung nicht geben können.
(Beifall bei der FDP)
Ihnen schwebt ein anderes Rentenrecht vor, als wir es
seit Jahrzehnten sehr erfolgreich und mit hoher Anerken-
nung seitens der Bevölkerung haben. Die Einführung ei-
ner Garantierente würde das Äquivalenzprinzip verlet-
zen und zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das und
damit auch Ihren Antrag lehnen wir als FDP-Bundes-
tagsfraktion ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Birkwald von
der Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Eines möchte und muss ich
vorab klarstellen: Bei der Angleichung der ostdeutschen
Renten an das Westniveau geht es um Gerechtigkeit –
und nicht um Almosen.
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Mit Almosen kennt ihr euch ja
aus!)
Es muss gelten: Gleiche Rente für gleiche Lebensleis-
tung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
wollen ein gleiches Rentenrecht für Ost und West ein-
führen und möchten damit Gerechtigkeit schaffen. Gut
gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht; denn Ihr
Vorschlag zur Umsetzung ist leider schlecht.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
In Wahrheit festigt Ihr Vorschlag das bestehende
Zweiklassensystem des Rentenrechts, und das ist unge-
recht. Dem wird die Linke auf keinen Fall zustimmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Nach Ihrem Vorschlag würden alle bisherigen ost-
deutschen Rentenpunkte so in westdeutsche Renten-
punkte heruntergerechnet, dass der tatsächliche Renten-
anspruch um keinen Cent steigt.
(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)
12710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Matthias W. Birkwald
(A) (C)
(D)(B)
Damit blieben die bisher erworbenen Rentenanwart-
schaften – auch bei der jungen Generation – bei gleicher
Lebensleistung dauerhaft um 11 Prozent gekürzt. Was ist
denn daran gerecht? Gar nichts!
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD])
Die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau war
ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Das
ignorieren Sie völlig, und das ist nicht akzeptabel.
Ihr Denkfehler liegt klar auf der Hand. Sie, lieber
Kollege Strengmann-Kuhn, haben gegenüber der Bild-
Zeitung davon gesprochen, dass ja die Osteinkommen
denen im Westen nahezu angeglichen seien. Das ist
falsch; die Kollegin Schmidt hat darauf bereits hinge-
wiesen. Die Friseurin in Dresden verdient noch immer
deutlich weniger als die Friseurin in Köln. Sie haben ge-
genüber diesem Blatt auch behauptet, es gebe ja auch
keinen Ausgleich zwischen Bayern und Schleswig-Hol-
stein. Mit Verlaub, das ist ignorant. Sie lassen dabei
nämlich schlicht außer Acht, dass selbst Brandenburg als
einkommensstärkstes ostdeutsches Bundesland bei den
Löhnen und Gehältern deutlich abgeschlagen hinter
Schleswig-Holstein als dem einkommensschwächsten
westdeutschen Bundesland zurückfällt. Das sind die Tat-
sachen. Wenn Sie diese Tatsachen weiter verdrehen, hei-
zen Sie die Neiddebatte zwischen Ost und West weiter
an. Das können Sie doch nun wirklich nicht wollen.
(Beifall bei der LINKEN)
Bleiben Sie also bitte bei den Tatsachen! Die Grünen
müssen endlich lernen, die Lebenswirklichkeit der Men-
schen in Ostdeutschland und ihr Empfinden ernst zu
nehmen.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ein Unsinn!)
Die Ausgangslage ist ja bekannt. Wenn zum 1. Juli
die Renten um 1 Prozent steigen, bleibt der aktuelle Ren-
tenwert für Ostdeutsche mit 24,37 Euro weiterhin um
11 Prozent geringer als der Rentenwert für Westdeutsche
mit 27,47 Euro.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das müssen wir ändern!)
Das hat bittere Folgen: Nach 45 Jahren durchschnittli-
chem Verdienst erhalten Ostdeutsche 140 Euro weniger
Rente als Westdeutsche. Im Klartext heißt das: Die wirt-
schaftliche Lebensleistung der Ostdeutschen wird in der
Rentenversicherung schlechter bewertet als die der
Westdeutschen, und das schon seit über 20 Jahren. Doch
statt zu handeln, betreiben seit der Wiedervereinigung
alle Bundesregierungen Sankt-Nimmerleins-Politik. Er-
innern wir uns: Die Angleichung war ein zentrales eini-
gungspolitisches Versprechen. Die Linke will, dass es
jetzt endlich eingelöst wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag eine
Lösung auf, die von den Gewerkschaften Verdi, GEW,
Transnet, der Gewerkschaft der Polizei und den Sozial-
verbänden Volkssolidarität, dem Sozialverband Deutsch-
land und dem Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner
und Hinterbliebenen entwickelt worden ist und überzeu-
gend vertreten wird. Nach unserem Vorschlag muss eine
gerechte Angleichung erstens zu einer deutlichen Ver-
besserung für alle heutigen Rentnerinnen und Rentner
führen;
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Aber nur im Osten!)
denn die Alterseinkünfte sind im Osten 18 Prozent ge-
ringer als im Westen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das liegt vor allem daran, dass die gesetzliche Rente bei
den Ostdeutschen mehr als 90 Prozent ihres gesamten
Alterseinkommens ausmacht.
Zweitens. Die Hochwertung der ostdeutschen Löhne
und Gehälter muss – darauf wurde eben hingewiesen –
als pauschaler Nachteilsausgleich beibehalten werden,
und das, obwohl sich die Tariflöhne angleichen. Warum?
Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Ostdeutschland
arbeitet nämlich ohne Tarifvertrag, und die durchschnitt-
lichen Löhne und Gehälter liegen an der Saale und der
Oder nach wie vor ein Viertel unter denen am Rhein und
an der Isar. Außerdem müssen Ostdeutsche für einen fast
gleichen Lohn oft länger arbeiten und auf im Westen üb-
liche Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder Weih-
nachtsgeld verzichten. Die bloße Angleichung der Tarif-
löhne sagt also nichts über die tatsächliche Ungleich-
behandlung aus. Ohne eine Hochwertung würde der
Eckrentner Ost – dieser ist eben vom Kollegen Kober er-
wähnt worden – heute nur knapp 700 Euro Rente erhal-
ten. Das geht nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Drittens. Die Angleichung soll bis 2016 abgeschlos-
sen sein. Die Linke, Verdi, die Volkssolidarität und an-
dere schlagen dafür einen steuerfinanzierten, stufen-
weise steigenden Zuschlag vor.
Viertens. Die Angleichung der Renten im Osten an
das Westniveau darf nicht gegen eine vernünftige Lohn-
und Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland ausgespielt
werden. Die Rentnerin in Cottbus ist nicht weniger wert
als der Rentner in Kiel.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die
Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Richtig, Herr Birkwald, der Rentenwert Ost liegt immer
noch deutlich unter dem Rentenwert West, nämlich ab
1. Juli bei 24,37 Euro im Vergleich zu 27,47 Euro. Die-
ser Zustand muss so schnell wie möglich beseitigt wer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12711
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) (C)
(D)(B)
den, weil er ungerecht ist und von den Ostdeutschen zu
Recht als diskriminierend empfunden wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von
der LINKEN: Da sind wir uns ja einig!)
Sie haben jedoch verschwiegen, dass Sie das nicht
schnell beseitigen wollen, sondern sich fünf Jahre Zeit
lassen wollen, um diese Lücke zu schließen. Bei der
SPD ist das noch viel schwammiger. Da war davon die
Rede, man müsse erst einmal abwarten, bis sich die
Löhne angeglichen hätten. Das ist das Warten auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei der CDU heißt es: Wir ha-
ben uns auf den Weg gemacht. – Die Ministerin hat je-
doch bisher noch nichts vorgelegt, und auch die Koali-
tionsfraktionen haben noch nichts vorgelegt. Ich sehe
diesen Weg noch nicht. Wenn unser Antrag dazu führt,
dass sich die Prozesse bei Ihnen beschleunigen – das
fänden wir sehr richtig –, dann hat es sich gelohnt, die-
sen Antrag einzubringen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für uns sind folgende Dinge wichtig: Erstens. Der
Rentenwert Ost muss auf den Rentenwert West angeho-
ben werden, und zwar so schnell wie möglich.
Zweitens. Wir wollen einen Vorschlag machen, der fi-
nanzierbar und schnell umsetzbar ist, damit wir dieses
Ziel erreichen.
Drittens. Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten
entstehen.
Viertens. Mitbedacht werden muss, dass schon jetzt
die Altersarmutswelle anfängt zu rollen, und zwar insbe-
sondere im Osten Deutschlands. Vor kurzem wurde eine
neue Studie vorgelegt, die zeigt, dass die Rentenansprü-
che der Neurentnerinnen und -rentner seit ein paar Jah-
ren sinken. Insbesondere im Osten wird das besonders
der Fall sein. Deswegen ist uns die Forderung nach Ein-
führung einer Garantierente sehr wichtig, weil dies ins-
besondere die Rentnerinnen und Rentner im Osten vor
Altersarmut schützt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zu unserem Vorschlag: Erstens. Wir schlagen vor, den
Rentenwert Ost auf den Rentenwert West zum nächst-
möglichen Zeitpunkt anzuheben. Das ist, wenn man die
Umsetzung bei der Rentenversicherung mit berücksich-
tigt, wahrscheinlich zum 1. Juli 2012 möglich. Wir wol-
len nicht so lange warten wie die Linke.
(Zuruf von der LINKEN: Das ist frech!)
Zweitens. Die derzeitigen Rentenansprüche sollen er-
halten bleiben. Hier gibt es einen Unterschied zu den
Linken, den bereits Matthias Birkwald aufgezeigt hat.
Wir sind nicht der Meinung, dass man ausschließlich im
Osten eine Schippe drauflegen kann
(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Wieso eine
Schippe? Das sind Ansprüche!)
und die dortigen Renten einseitig um 10 Prozent erhöhen
sollte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dies würde neue Ungerechtigkeiten hervorrufen. Wer im
Westen wenig verdient, würde nicht einsehen, warum er
bei gleichem Lohn nicht den gleichen Rentenanspruch
hat. Wer im Westen viel, 4 000 Euro, verdient, würde
erst recht nicht einsehen, einen geringeren Rentenan-
spruch zu haben als jemand, der im Osten 4 000 Euro
verdient.
Deswegen sagen wir: Wenn wir den Rentenwert Ost
auf den Rentenwert West anheben, dann kann man in der
Tat auf die Hochwertung der Entgeltpunkte in Ost-
deutschland verzichten, weil der Unterschied mittler-
weile nur noch marginal ist. Wenn man die Zahlen
nimmt, die ab dem 1. Juli 2011 gelten, dann beträgt der
Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit ei-
nem Einkommen von 30 000 Euro im Jahr 38 Cent. Das
ist der Vorteil, den wir sozusagen den Ostdeutschen
wegnehmen wollen. Aber damit schaffen wir endlich
gleiche Verhältnisse in Ost und West.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe viele Zuschriften erhalten, in denen die ost-
deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, dass sie
es als diskriminierend empfinden, dass bei ihnen die
Entgeltpunkte so berechnet werden, dass dies zu einem
Aufschlag führt. Denn auch die Menschen in Ost-
deutschland wollen endlich so behandelt werden wie die
im Westen und nicht als Erwerbstätige zweiter Klasse.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE])
– Ich habe doch gerade gesagt, dass, was den Rentenan-
spruch angeht, der Unterschied bei einem Durchschnitts-
verdiener mit einem Einkommen von ungefähr 30 000
Euro im Jahr 38 Cent beträgt. Das steigt dann mit höhe-
rem Einkommen an.
Sie machen einen Vorschlag, wonach alle Renten er-
höht werden sollen, unabhängig von der Rentenhöhe.
Das heißt, Sie sehen mehr Rente auch für die Reichen
vor. Das finden wir nicht sinnvoll. Wir meinen nicht,
dass jemand, der 4 000 Euro im Osten verdient, höhere
Rentenansprüche haben sollte als jemand, der 4 000
Euro im Westen verdient.
(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Es geht um
die Tarife und um die Branchen!)
In diesem Einkommensbereich gibt es schon jetzt meis-
tens gleiches Geld für gleiche Arbeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Richtig ist, dass die Durchschnittseinkommen im Os-
ten nach wie vor geringer sind. Aber da muss man an
den Ursachen ansetzen. Wir brauchen endlich einen ein-
heitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen
Branchentariflöhne. Wir brauchen mehr Allgemeinver-
bindlichkeitserklärungen, damit endlich auch im Osten
tatsächlich genauso viel bezahlt wird wie im Westen.
Wir müssen die Gewerkschaften und Arbeitgeber auffor-
dern, endlich mit dem Unsinn aufzuhören, die Tarife für
12712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) (C)
(D)(B)
Ost und West ungleich zu gestalten. Wir brauchen da
endlich gleiches Recht für West und Ost.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das brauchen wir nicht nur bei den Löhnen, sondern
auch in der Rente. Ich kann Ihnen versichern: Wir wer-
den weiter Druck machen für ein gleiches Rentenrecht in
Ost und West. Wir werden auch weiter Druck machen
für eine bessere Armutsbekämpfung – in Ost- und West-
deutschland. Insbesondere die Ostdeutschen würden von
einer Garantierente, wie wir sie vorschlagen, profitieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Heike Brehmer (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Grünen zum
Rentenrecht in Ost und West. Wenn ich mir Ihren Antrag
so anschaue, dann sehe ich, wie krampfhaft versucht
wird, Gerechtigkeit zu formulieren, eine Form von Ge-
rechtigkeit, mit der wir uns hier seit Jahren beschäftigen,
eine Gerechtigkeit, die 3 Millionen ostdeutsche Rentner
und 20 Millionen Rentner bundesweit betrifft. Betrachte
ich mir Ihren Antrag, dann muss ich sagen: Er steht für
mich – sicher zu Recht – unter dem Motto „Schnelligkeit
statt Qualität“.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch ver-
sprochen, dass es in dieser Legislaturperiode
sein soll!)
– Dazu komme ich noch, keine Sorge.
Im Koalitionsvertrag haben wir als christlich-liberale
Koalition vereinbart, noch in dieser Legislaturperiode
ein einheitliches Rentensystem in Ost und West einzu-
führen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Dann aber hurtig!)
Die christlich-liberale Koalition wird den Demografie-
bericht der Bundesregierung abwarten, der Ende des
Jahres vorliegen und uns die entscheidenden Zahlen zum
Sozial- und Rentensystem liefern wird.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hat doch damit
überhaupt nichts zu tun!)
Wir rechnen damit, dass wir gegen Ende des Jahres zu
einer Entscheidung kommen werden.
Ich warne im Interesse der betroffenen Rentner vor
undurchdachten Entscheidungen und Schnellschüssen.
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundeslän-
dern haben genauso hart gearbeitet wie ihre Altersgenos-
sen in den alten Bundesländern. Das sollten wir dabei
nicht vergessen. Die betroffenen Rentner fragen sich zu
Recht, nicht nur in den neuen Bundesländern, warum es
nach 20 Jahren der deutschen Einheit noch immer unter-
schiedliche Rentenwerte gibt.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Genau!)
Die Zusammenführung der Rentensysteme ist eine
große sozialpolitische und solidarische Leistung gewe-
sen. Allein im Jahr 2009 gab es über die Rentenversiche-
rungssysteme einen Transfer in Richtung Osten in Höhe
von 14,9 Milliarden Euro. Es wird oft kritisiert, dass die
Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern eine höhere
Anzahl an Entgeltpunkten sammeln. Man muss dabei
aber bedenken, dass der Rentenwert Ost um 12,1 Pro-
zent unter dem Rentenwert West liegt. Gleicht man den
Rentenwert nun aber an das westdeutsche Niveau an,
würde die Höherbewertung der Entgeltpunkte wegfallen.
Die Folge: Zukünftige Rentner, die heute relativ wenig
verdienen, könnten das Nachsehen haben.
Sicher hatten wir Anfang der 90er-Jahre angenom-
men: Die Rentenwerte gleichen sich über die Jahre allein
durch die Lohnentwicklung an. Betrachten wir die Reali-
tät der Lohnentwicklung in Ost und West, sieht es natür-
lich ganz anders aus. Ich möchte hier nur ein Beispiel
nennen – Frau Schmidt hat es schon erwähnt, und Herr
Strengmann-Kuhn hat auch darauf hingewiesen –: Die
Tarifpartner haben in der Pflege einen Stundenlohn von
8,50 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten vereinbart.
Wir müssen darauf hinwirken, dass die Lohnentwick-
lung und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, die
heute noch deutliche Unterschiede im Vergleich zu Ba-
den-Württemberg oder Bayern aufweisen, sich in den
nächsten Jahren verbessern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Je besser sich die Löhne in den neuen Bundesländern
entwickeln, desto schneller geschieht die Rentenanpas-
sung.
Bei der Diskussion zur Rentenanpassung gehen die
meisten Rentner davon aus, dass eine Rentenanglei-
chung auch eine Rentenerhöhung bedeutet. Für einige
Bürger wird dies zutreffen. Wird der Rentenwert ange-
glichen, wird es Gewinner und ebenso Verlierer geben.
Das ist so.
Als ostdeutsche Christdemokratin wünsche ich mir
natürlich, dass es möglichst keine Verlierer gibt, auch
wenn die Zahl der Gewinner vergleichsweise kleiner
werden könnte. Deshalb müssen wir zum Ende des Jah-
res den Bericht der Bundesregierung, der dann vorliegen
wird, genau prüfen und hier, wie im Koalitionsvertrag
vereinbart, noch vor Ende der Wahlperiode Klarheit
schaffen.
Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für die Be-
troffenen alles andere als befriedigend ist. Die christlich-
liberale Koalition hat sich ebenso gründlich wie ausgie-
big Zeit genommen, die Verfassungsgerichtsurteile im
SGB II und bei Hartz IV umzusetzen. Von daher die Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12713
Heike Brehmer
(A) (C)
(D)(B)
ladung an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, sich zu beteiligen,
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das machen wir doch!)
wenn wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzent-
wurf vorlegen werden, und sich nicht wie bei der Hartz-
IV-Gesetzgebung zum Bildungs- und Teilhabepaket ein-
fach aus der Verantwortung zu stehlen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem
Antrag fordern Sie die radikale Angleichung der Ost- an
die Westrente; Sie sind wieder ganz vorn mit dabei. Be-
kanntlich haben Sie sich ja wie keine andere Partei das
Banner der sozialen Gerechtigkeit über den Kaminsims
gehängt.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, sa-
gen Sie mal!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kehren
Sie erst einmal Ihren eigenen Hof, bevor Sie dem klei-
nen Mann vermeintliche Gerechtigkeit versprechen.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Na, Frau Kol-
legin!)
In der Rentenangleichung wären Ihnen die ehemaligen
DDR-Bürger dankbar dafür, wenn Sie einfach einen Teil
des Geldes aus dem SED-Parteivermögen für die Ren-
tenkasse zur Verfügung stellten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt
reicht es aber! Das ist alles schon klar! Ganz
tief in die Kiste! – Weitere Zurufe von der
LINKEN)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth von der
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir reden über das Rentenrecht Ost bzw. West. Ich
halte hier fest: Nach der Wende stand Deutschland vor
der großen Herausforderung, zwei unterschiedliche So-
zialsysteme miteinander zusammenzuführen. Dazu ge-
hörten die Rentensysteme in beiden Teilen Deutsch-
lands. Diesen Kraftakt haben wir innerhalb kurzer Zeit
zumindest im Hinblick auf diese Thematik geschafft,
und darauf können wir auch stolz sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
In der DDR gab es – Sie erinnern sich – ein völlig ma-
rodes Sozialsystem; die Altersvorsorge war abgeschrie-
ben. Dieses System wurde in einer riesigen Kraftanstren-
gung ersetzt. Die West- und Ostdeutschen haben
gemeinsam das marode Rentensystem der DDR über-
wunden und in ein gesamtdeutsches überführt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Ich erinnere Sie an die erbärmliche Rentenhöhe in der
DDR: durchschnittlich 400 bis 500 DDR-Mark.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was
kostete denn da ein Brötchen?)
Zudem war es kaum jemandem möglich, Finanz- oder
Sachwerte für das Alter anzusparen. Nach der Wende
stiegen die Renten erheblich. Auch das ist ein Punkt, auf
den man ruhig einmal stolz sein kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nicht vergessen werden darf – auch das ist wichtig,
wenn wir über Rentner und Rente reden –: das bessere
Sozialsystem, das bessere Gesundheitssystem, das bes-
sere Rentensystem und eine bessere Versorgung im Pfle-
gefall. Dies hat konkrete Auswirkungen zum Beispiel
auf die Lebenserwartung. Dass sich die Lebenserwar-
tung der Ostdeutschen in den letzten 20 Jahren massiv
erhöht hat, ist auch eine Folge des Rentensystems.
(Beifall bei der FDP – Manfred Grund [CDU/
CSU]: Sehr gut!)
Das sind doch alles Erfolgsgeschichten, die an dieser
Stelle auch einmal erwähnt werden müssen. Dass es Er-
folgsgeschichten sind, wollen Sie nicht hören; das tut
mir leid. Trotzdem sind es Erfolgsgeschichten.
Zur Vollendung der deutschen Einheit gehört nun
auch, dass wir überall in Deutschland das gleiche Ren-
tenrecht haben werden. Das ist eine Anstrengung, die
auch diese Bundesregierung leisten wird. Aber keine
Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir im
Grundsatz diese Unterschiedlichkeit haben. Dies ist und
bleibt ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Län-
dern den Löhnen. Das heißt, die Renten sind auch davon
abhängig, wie die Verdienstmöglichkeiten der Beschäf-
tigten im Osten sind. Wenn 40 Jahre lang Großbetriebe
komplett kaputtgewirtschaftet wurden, wenn der Mittel-
stand zerschlagen wurde, wenn Kleinstbetrieben kaum
Luft gelassen wurde, was glauben Sie, was man 20 Jahre
später an Wirtschaftskraft und Entlohnung aufbauen
kann?
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann
hätten Sie es nicht in den Einigungsvertrag hi-
neinschreiben dürfen!)
Sie haben eines der größten Verbrechen in diesem Teil
Deutschlands begangen und Schaden angerichtet. Jetzt
beschweren Sie sich, dass diejenigen, die versuchen, Ihr
Feuer zu löschen, das Feuer nicht schnell genug löschen.
So geht es auch nicht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ein
Unsinn!)
Weil man in der DDR kaum vorsorgen konnte, weil
man nur eine niedrige Rente in Aussicht hatte, weil es
übrigens auch keinen großen Unterschied zwischen Ar-
12714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) (C)
(D)(B)
beitern und Akademikern gab, wurden einst die Ost-
rentenpunkte aufgewertet. Das ist eine Schwierigkeit,
die wir ebenfalls ansprechen müssen. Es geht nicht nur
um Rentenauszahlung, sondern auch um die Bewertung
der Punkte. Dies muss mit abgearbeitet werden. Dazu
bedarf es keiner überhasteten Arbeit, sondern dazu be-
darf es der Genauigkeit.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über-
hastet? Hallo, 20 Jahre! Nichts überhastet!)
Das wird diese Koalition in dieser Legislaturperiode
leisten.
Sehr herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich nun das Wort dem Kollegen Ulrich Lange von
der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Jetzt
nicht die SED vergessen, Herr Kollege!)
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu Anfang halte ich ebenso wie der Kollege gerade eben
fest, dass sich das Rentensystem, wie wir es nach der
Wiedervereinigung für Deutschland geschaffen haben,
dem Grundsatz nach bewährt hat. Ich danke den Bürge-
rinnen und Bürgern für 20 Jahre Solidarität im Renten-
system, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Das
war ein echter Kraftakt in unserem Land, und meines Er-
achtens muss das heute auch einmal gesagt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das
Rentensystem in dieser Legislaturperiode anzugleichen.
Aber dass diese Angleichung im Detail schwierig ist und
dass es hierbei zwischen dem Vorschlag der Grünen oder
aber der vermeintlich großen Gerechtigkeit der Linken
große Differenzierungsprobleme gibt, haben die Vorred-
nerinnen und Vorredner schon sehr deutlich gemacht.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
„vermeintlich“ müssen Sie streichen!)
Wir haben eine Hochwertung der Entgeltpunkte im
Osten. Diese müssten wir dann im Sinne der Gerechtig-
keit abschaffen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)
Wir müssten den Umrechnungsfaktor angleichen. Es
gibt also viele Probleme und Punkte im Detail, die ich
jetzt nicht alle wiederholen möchte.
Angesichts der Komplexität und angesichts der
Schwierigkeit dieser Materie dürfen wir das Problem der
zwischen Ost und West möglicherweise bestehenden
Ungerechtigkeit nicht in einer emotionalen Debatte an-
gehen. Wir dürfen auch keine Schnellschüsse machen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
20 Jahre! Das ist kein Schnellschuss!)
– In diesen 20 Jahren – der Kollege hat es eben deutlich
gemacht – ist sehr viel geleistet worden. Ich glaube, dass
man darauf stolz sein kann und dies auch hier in aller
Deutlichkeit sagen darf.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen ist es nicht redlich, hier von Ungerechtig-
keit zu reden; vielmehr geht es darum, in einem langfris-
tigen Prozess diese Gleichheit zu schaffen. Darum sind
wir mit unserer Ministerin bemüht. Wir sind sicher, dass
wir hier zu einem richtigen, sinnvollen und ausgewoge-
nen Ergebnis kommen, nämlich zu einer gerechten Lö-
sung zwischen West und Ost, zwischen Ost und West,
innerhalb des Systems.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glei-
ches Rentenrecht in Ost und West“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5961, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5207 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4. Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine
gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/5962, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4192 abzulehnen. Wir stim-
men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen
der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen.
Sind die Schriftführer vollzählig an den Urnen? – Das
scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, abzustimmen. Die
Abstimmung ist eröffnet.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm-
karten eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, wieder
die Plätze einzunehmen.
1) Ergebnis Seite 12716 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12715
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der United Nations
Interim Force in Lebanon (UNIFIL) auf
Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 1937 (2010) vom 30. August 2010 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
– Drucksache 17/5864 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik
Deutschland unterstützt die UNIFIL-Mission zum
Schutz der libanesischen Küste. Dieser Schutz der liba-
nesischen Küste ist aus unserer Sicht aber keine Dauer-
aufgabe der Staatengemeinschaft und auch keine Dauer-
aufgabe für uns. Damit der Libanon diese Aufgabe
schultern kann, haben wir im vergangenen Jahr nach ei-
ner umfangreichen Debatte auch hier im Deutschen Bun-
destag umgesteuert.
Das geänderte Mandat setzt den Schwerpunkt auf die
Ausbildung der libanesischen Marine. In diesem Jahr
bleiben wir auf dem Kurs, den wir im letzten Jahr neu
eingeschlagen haben. Heute ist der Libanon in der Lage,
mit Radaranlagen die Küsten zu überwachen. Das ist ein
Erfolg unserer Unterstützung und wird auch die Sicher-
heit für die Handelsmarine erhöhen und damit die
Versorgung der Menschen im Libanon verbessern. Des-
wegen möchte ich vorab und zuallererst allen Frauen
und Männern, allen Soldatinnen und Soldaten danken,
die bei UNIFIL so viel erreicht haben und die unter sehr
großer persönlicher Entbehrung diesen Einsatz als stabi-
lisierenden Faktor in der Region tragen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Noch braucht der Libanon unsere Hilfe. Wir setzen
weiter auf Ausbildung und Training, weil wir uns damit
eine Perspektive auf Beendigung des Einsatzes erarbei-
ten können. Unser Engagement bleibt eingebettet in un-
sere Arbeit für dauerhaften Frieden und demokratische
Stabilität in der ganzen Region. Glaubwürdigkeit, Wohl-
wollen und Vertrauen werden uns entgegengebracht. Es
kommt nicht von ungefähr, dass alle Parteien – Israel,
der Libanon und insbesondere die Vereinten Nationen –
um eine Fortsetzung unseres Beitrages zu UNIFIL gebe-
ten haben.
Wir erleben, anknüpfend an die Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin von heute Morgen, natürlich eine
historische Zäsur in der arabischen Welt. Gerade in die-
sen Tagen und in diesen Monaten ist diese Zäsur natür-
lich der Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfindet.
In dem Streben nach mehr Freiheit, mehr Demokratie
und größerem persönlichen Wohlstand in der arabischen
Welt liegt auch eine große Chance für uns Europäer. Es
ist die Chance auf ein neues Kapitel der gesellschaftli-
chen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ende
der Diktaturen in Tunesien und in Ägypten gibt Hoff-
nung.
In anderen Teilen der Region überwiegt aber immer
noch Besorgnis. Auch im Libanon – darum kann man
nicht herumreden – ist die Lage in den letzten Monaten
nicht einfacher geworden. Seit Januar ist das Land ohne
Regierung. Eine Regierungsbildung ist nicht in Sicht.
Die Situation der Menschen in den palästinensischen
Flüchtlingslagern bleibt angespannt. Bei der Grenzfest-
legung mit Syrien herrscht Stillstand. Noch immer ver-
suchen die Regierungen in Syrien und im Iran, den Liba-
non zu dominieren. Hinweise auf Waffenlieferungen an
die Hisbollah sind erdrückend eindeutig.
Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme als Grund-
lage für die Entscheidung des Deutschen Bundestages
gehört also nicht nur das, was unsere Frauen und Männer
an Erfolgen erreicht haben, sondern natürlich auch eine
kritische Würdigung der Umstände einschließlich der
politischen Entwicklungen, die uns alle in diesem Hause
unzweifelhaft beunruhigen. Ich denke, man muss diesen
Punkt hier ausdrücklich ansprechen, weil man sonst
nicht zu einer abgewogenen Entscheidung kommen
kann. Der Eindruck, das sei ein leichter Einsatz, der Ein-
druck, alles sei in Ordnung und alles auf bestem Wege,
täuscht. Dies anzunehmen, wäre fahrlässig. Wir müssen
auch die Schwierigkeiten dieses Einsatzes, insbesondere
auch die politischen Schwierigkeiten dieses Einsatzes,
sehen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, ist nicht
nur ein Drama und schrecklich für die Menschen, die für
Freiheit auf die Straße gehen und Repression und Unter-
drückung erleiden, sondern das, was wir in diesen Tagen
in Syrien erleben, hat auch viel Störpotenzial für den Li-
banon. Anfang der Woche haben wir in Brüssel eine ent-
schlossene Antwort auf die fortgesetzte Repression der
syrischen Führung gegen das eigene Volk gegeben. Die
Sanktionen sind zweistufig beschlossen worden, übri-
gens auch in Einklang mit unseren Partnern, den Verei-
nigten Staaten von Amerika. Auch die Erklärung der G 8
in Deauville lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, was
die entsprechende Kritik an dem syrischen Präsidenten
12716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) (C)
(D)(B)
prozess eingeschaltet hat. Wir sind uns in der Europäi- beit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
Friedenslösung im Nahen Osten nur die Zwei-Staaten-
Lösung sein kann.
Ich will nicht wiederholen, was die Frau Bundeskanz-
lerin heute Morgen dazu gesagt hat. Ich will zum
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 503
nein: 63
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Michael Frieser
ten in Ostdeutschland“ geben: abgegebene Stimmen
566. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein 63, Enthaltun-
gen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
schen Union mit den Vereinigten Staaten einig, dass eine mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Ren-
und der syrischen Führung a
beschlossen und werden dem
weil sie zielgerichtet beschlo
Die Unterdrückung des sy
rausforderung der europäisch
sident Assad und sein engerer
schen Union derzeit nicht
bleiben eingefroren. Wenn M
in unserer unmittelbaren Na
den, dann muss die europäisc
unmissverständliche Antwor
ser Woche gezeigt, dass es er
meinen, wenn es um den Ein
schenrechte in unserer un
geht.
(Beifall bei der FDP
Zum Schluss möchte ich
der Dreh- und Angelpunkt f
Fortschritte im Nahost-Frie
Konflikt überlagert seit Jahrz
gen in der Region. Die Ere
chenendes haben gezeigt, wie
schen Israel, Libanon und S
münden. Wir begrüßen, da
Obama wieder sehr persönli
ngeht. Die Sanktionen sind
entsprechend auch wirken,
ssen worden sind.
rischen Volkes ist eine He-
en Wertegemeinschaft. Prä-
Zirkel sind in der Europäi-
willkommen. Ihre Konten
enschen- und Bürgerrechte
chbarschaft verhöhnt wer-
he Wertegemeinschaft eine
t geben. Europa hat in die-
nst ist und dass wir es ernst
satz für Freiheit und Men-
mittelbaren Nachbarschaft
und der CDU/CSU)
allerdings auch sagen, dass
ür die gesamte Region die
densprozess sind. Dieser
ehnten sämtliche Beziehun-
ignisse des vorletzten Wo-
schnell an der Grenze zwi-
yrien Konflikte in Gewalt
ss sich Präsident Barack
ch in den Nahost-Friedens-
Schluss nur noch eine Ergä
Fenster der Gelegenheit, viell
sches Fenster der Gelegenhe
ling neue Chancen für den N
dert. Es gilt aber auch
Friedensprozess ist entscheid
bischen Frühlings.
(Wolfgang Gehrcke [D
rech
Dieser gegenseitige Zusamm
den. Das ist die Nachricht, di
ben. Einseitige Schritte, als
noch einseitige Ausrufunge
Weg. Rückkehr zum Verhand
che – das ist es, was wir jetz
was die Bundesregierung unt
Ich danke für Ihre Aufmer
(Beifall bei der FDP
Vizepräsident Dr. Herm
Bevor wir mit der Ausspr
Ihnen das von den Schriftfüh
ermittelte Ergebnis der na
über die Beschlussempfehlun
nzung machen. Es ist ein
eicht ist es auch ein histori-
it, dass der arabische Früh-
ahost-Friedensprozess för-
umgekehrt: Der Nahost-
end für den Erfolg des ara-
IE LINKE]: Da hat er
t!)
enhang muss gesehen wer-
e wir an alle Beteiligten ge-
o weder der Siedlungsbau
n, sind nicht der richtige
lungstisch, direkte Gesprä-
t brauchen, und das ist es,
erstützt.
ksamkeit.
und der CDU/CSU)
ann Otto Solms:
ache fortfahren, möchte ich
rerinnen und Schriftführern
mentlichen Abstimmung
g des Ausschusses für Ar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12717
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)
Anita Schäfer (Saalstadt)
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster (Weil am
Rhein)
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)
Peter Weiß (Emmendingen)
Sabine Weiss (Wesel I)
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding (Heidelberg)
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Hubertus Heil (Peine)
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
(Schwandorf)
Werner Schieder (Weiden)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Carsten Schneider (Erfurt)
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
12718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)
Burkhardt Müller-Sönksen
(Dr. Rainer Stinner [FD
Als nächstem Redner erte
Kollegen Günter Gloser von
Günter Gloser (SPD):
Sehr geehrter Herr Präside
Kollegen! Die Verhältnisse im
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
(Lüdenscheid)
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck (Bremen)
Volker Beck (Köln)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
P]: Das ist eindeutig!)
ile ich jetzt das Wort dem
der SPD-Fraktion.
nt! Liebe Kolleginnen und
Nahen und Mittleren Os-
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
ten und in Nordafrika haben
Mit Sympathie und Begeiste
haltenem Atem verfolgen wi
nesien geschieht. Wir schau
Sorge nach Libyen, Syrien u
ten auch darüber, was die ric
halten dieser gewalttätigen R
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Müller (Köln)
sich tiefgreifend verändert.
rung, aber auch mit ange-
r, was in Ägypten und Tu-
en aber auch mit großer
nd in den Jemen. Wir strei-
htige Antwort auf das Ver-
egime ist.
Daniel Bahr (Münster)
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Dr. Martin Neumann
(Lausitz)
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-
Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12719
Günter Gloser
(A) (C)
(D)(B)
Wir verfolgen gespannt die Entwicklung im notwen-
digen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästi-
nensern. Herr Außenminister, wir unterstreichen, was
Sie zum Schluss gesagt haben: Jetzt öffnet sich zum wie-
derholten Male ein Fenster der Gelegenheit, um endlich
zu einer Lösung zu kommen.
Meine Forderung ist, neben diesen aktuellen Brenn-
punkten nicht die Länder zu vergessen, die gerade nicht
im Fokus stehen. Dazu gehören zum Beispiel Marokko
und Algerien, aber auch der Libanon. Insofern steht die
Verlängerung der UNIFIL-Mission in einem größeren
Zusammenhang.
UNIFIL ist ein Baustein der Stabilität im Libanon und
der regionalen Stabilität für die Nachbarn des Landes.
Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung
in der Region geleistet. Die Mission ist beispielhaft für
eine langfristige und präventive Friedenspolitik. Sie
vollzieht sich ohne große Schlagzeilen. So gilt auch
heute mein Dank allen Soldatinnen und Soldaten der ge-
samten Mission, die sich seit 2006 an diesem Einsatz be-
teiligt haben, aber sich auch auf die kommenden Ein-
sätze im Rahmen der UNIFIL-Mission vorbereiten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Sie leisten eine wichtige Arbeit für den Frieden, die in
der Öffentlichkeit abseits der vielen Brennpunkte viel zu
wenig gewürdigt wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
SPD-Fraktion hatte bei UNIFIL immer eine klare Linie:
Das politisch Machbare, aber auch das militärisch Mög-
liche, was für die Sicherung des Friedens im Nahen und
Mittleren Osten geleistet werden kann, findet unsere Zu-
stimmung, unabhängig davon, ob wir an der Regierung
sind oder in der Opposition. Der damalige Außenminis-
ter Frank-Walter Steinmeier hat 2006 keine Minute ge-
zögert, eine positive Antwort auf die Anfrage von UN-
Generalsekretär Kofi Annan nach einer deutschen Betei-
ligung an UNIFIL zu geben.
Wir erinnern uns: Die zentrale Aufgabe der maritimen
Komponente von UNIFIL ist es, Waffenschmuggel von
Seeseite zu unterbinden sowie die Streitkräfte des Lan-
des in die Lage zu versetzen, diese Aufgabe bald selbst-
ständig zu übernehmen. Dies war dringlich und ist nun
angesichts der instabilen innenpolitischen Lage im Liba-
non und der Schwächung der staatlichen Strukturen
durch den Krieg im Sommer 2006 umso dringlicher.
Die Mission hat ihre Aufgabe von 2006 bis heute in
vorbildlicher Weise erfüllt. Damit ist sie aber noch nicht
am Ende; denn die eigenen Fähigkeiten der libanesi-
schen Armee sind noch nicht ausreichend, um ohne die
internationale Präsenz auszukommen. Auch wurde der
Waffenschmuggel, wie schon gesagt, nur an der Seeseite
unterbunden; der Schmuggel über die Landgrenze mit
Syrien stellt in der Tat ein weiteres großes Problem dar.
Schon unter der letzten Bundesregierung mit SPD-Betei-
ligung wurde deshalb unter anderem eine enge Zusam-
menarbeit im Zollbereich begonnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier
nicht immer auf das Schwanken und Herumeiern der
FDP in der Opposition bis 2009 bei der Haltung zu
UNIFIL eingehen; das ist nach wie vor kein Ruhmesblatt
für die Liberalen. Ich frage Sie aber heute: Warum ist die
Bundesregierung, warum sind die FDP-Fraktion und die
Unionsfraktion im Falle Libanons für einen Einsatz der
Marine zur Verhinderung von Waffenschmuggel, im
Falle Libyens aber dagegen? Wir erinnern uns schmerz-
lich an den Abzug deutscher Marinekontingente und die
bis dahin nie dagewesene Aufkündigung der Bündnis-
solidarität im Falle Libyens. Ich frage noch einmal: Was
kann sinnvoller sein, als illegale Waffenlieferungen zu
unterbinden?
(Beifall bei der SPD)
In beiden Fällen, bei der Mission im Libanon und der
Mission in Libyen, gibt es ein eindeutiges Mandat des
UN-Sicherheitsrates. Es ist mit keinem Argument zu be-
gründen, dass sich die Bundeswehr an dem einen Einsatz
beteiligt, aber die Bundesregierung den anderen Einsatz
gegen Waffenlieferungen an das Regime Gaddafis ab-
lehnt. Ich will hier gar nicht von der Enthaltung
Deutschlands im Sicherheitsrat in dieser Frage sprechen.
Letztlich kann ich der Bundesregierung nur beschei-
nigen: Sie wenden doppelte Standards an. Genau dies,
liebe Kolleginnen und Kollegen, entspricht aber nicht
unserem langfristigen Ziel der Verrechtlichung von in-
ternationalen Beziehungen. Es schwächt die Rolle
Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Das ist nun wirk-
lich kein ermutigendes Zeichen deutscher Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen
wurde die Debatte über die Nahostpolitik von zwei lang
erwarteten Reden geprägt: Zunächst hat US-Präsident
Barack Obama eine, wie ich finde, richtungsweisende
Rede gehalten und eindringlich Verhandlungen als Weg
zur Zwei-Staaten-Lösung gefordert. Als Grundlage emp-
fahl er die Grenzen von 1967, auf die auch VN-Resolu-
tionen Bezug nehmen. Der israelische Ministerpräsident
hat dies wenige Tage später in seiner Rede vor dem Kon-
gress zurückgewiesen. Zwar sprach er von der Bereit-
schaft zu großzügigen Zugeständnissen an die Palästi-
nenser, blieb dabei aber vage und zugleich in allen
Kernpunkten möglicher Verhandlungen kompromisslos.
Worin besteht der Bezug dieser Vorgänge zu UNIFIL?
Erstens in der geografischen Nähe, zweitens in der gro-
ßen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die seit Jahr-
zehnten im Libanon leben, drittens in dem Zwischenfall
an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon im Au-
gust des vergangenen Jahres, bei dem vier Menschen
starben, und schließlich in den ebenfalls tödlichen
Grenzzwischenfällen vor nur gut zehn Tagen, als es an
verschiedenen Grenzen Israels zu Auseinandersetzungen
mit Grenztruppen kam.
All diese Punkte zeigen, wie eng die Stabilität des
Libanons mit der Sicherheit Israels verbunden ist. Da
verwundert es nicht, dass Israel nach wie vor die Präsenz
auch deutscher Truppen in der Region ausdrücklich be-
grüßt. Dies ist neben dem eigenen Interesse an der Stabi-
12720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Günter Gloser
(A) (C)
(D)(B)
lität in der Region insgesamt ein gewichtiger Grund für
unsere Zustimmung zu diesem Antrag.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vor kurzem hat der Sonderbeauftragte des Generalse-
kretärs der Vereinten Nationen, Michael Williams,
Deutschland und auch Berlin besucht. Er hat auch mit
Parlamentariern gesprochen. Diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die an diesen Gesprächen teilgenommen
haben, wissen, dass Michael Williams ausdrücklich un-
terstrichen hat, wie wichtig diese UNIFIL-Mission ist.
Sie ist nämlich auch ein sichtbares Zeichen dafür, dass
die Vereinten Nationen in der sich stark verändernden
Region weiter präsent sind. Es ist wichtig, dass in dieser
veränderten Umgebung die Fahnen der Vereinten Natio-
nen wehen und weiterhin ein deutscher Beitrag geleistet
wird. Dieser Beitrag ist, wie ich finde, viel wichtiger, als
die relativ kleine Zahl von 300 deutschen Soldatinnen
und Soldaten das vielleicht vermuten lässt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/
CSU])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister,
Dr. Thomas de Maizière.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol-
lege Gloser, über Libyen diskutieren wir ein anderes
Mal. Heute diskutieren wir über Libanon und Israel.
In der Sache ist nur noch zu ergänzen, dass das Man-
dat hinsichtlich der Höhe im Vergleich zum laufenden
Jahr unverändert bleibt.
Ich schließe mich dem hier allseits ausgesprochenen
Dank an die Soldatinnen und Soldaten an, beziehe mich
auf die Ausführungen unseres Außenministers, die ich
inhaltlich voll teile, und bitte um Ihre Zustimmung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Was die Dauer der Rede angeht, sollten Sie sich das
zum Beispiel nehmen, Kollege Gehrcke. – Das Wort hat
der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN – Markus Grübel
[CDU/CSU]: Die Opposition ist ratlos! –
Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wenn die Regierung nicht mehr
zu sagen hat!)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Respekt, Herr Verteidigungsminister. Ich weiß nicht, ob
das eine besondere Variante war, ob das eine besondere
Finte war oder ob das künftig Ihr Stil sein wird.
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das
war Stil!)
Ich finde es spannend, das herauszubekommen. Das war
eine überraschende Wendung. Allen Respekt! Das hat
mir Spaß gemacht.
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Na,
und uns erst!)
– Und Ihnen erst einmal.
Jetzt zur Sache. Ich hoffe, dass das, was ich jetzt aus-
führen werde, Ihnen nicht so viel Spaß macht. Das wird
man dann ja sehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte daran erinnern, dass bei den Debatten
über das UNIFIL-Mandat Gregor Gysi, Norman Paech,
der damals hier Abgeordneter war, und ich selbst immer
wieder betont haben, dass das UNIFIL-Mandat notwen-
dig war, um den Waffenstillstand hinzubekommen.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!)
Ohne das Mandat hätte es den Waffenstillstand nicht ge-
geben.
Ich war während des Krieges in Beirut. Ich habe gese-
hen, wie die Raketen dort eingeschlagen sind. Ich habe
gesehen, dass man nicht aus der Stadt herauskam. Ich
habe gesehen, dass sich die Reichen nach Syrien abset-
zen konnten und insbesondere die Situation in den paläs-
tinensischen Flüchtlingslagern katastrophal war. Viele
Menschen hatten überhaupt keine Chance, die Stadt zu
verlassen. All das hat mir die Notwendigkeit vor Augen
geführt, dass das abgeschlossen wird. Ich will hinzufü-
gen: Ich bin froh, dass der Waffenstillstand bis heute ge-
halten hat. Er ist zwar fragil und wurde immer wieder
gebrochen, im Wesentlichen hat er aber gehalten. Die Si-
tuation im Libanon, in Syrien und dem gesamten Raum
ist schwieriger geworden. Keiner kann eine Garantie ab-
geben, dass es beim Waffenstillstand bleiben wird.
Ich bin entsetzt über die Auseinandersetzungen in Sy-
rien und darüber, wie die Regierung unter Präsident
Assad mit den Demonstranten umgeht. Wer gegen das
eigene Volk mit Waffen vorgeht, verwirkt den Anspruch,
für das Volk sprechen zu dürfen. Das muss unbedingt be-
tont werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will jetzt keine Libyen-Debatte starten, sehr ge-
ehrte Herren Minister. Sie wissen aber ganz genau, dass
eine solche Resolution im Weltsicherheitsrat heute nicht
noch einmal verabschiedet würde. Die Erklärungen
Russlands, Chinas, Brasiliens und anderer Staaten besa-
gen eindeutig, dass sich diese Länder getäuscht fühlen.
Sie wissen, dass es derzeit keine Chance gibt, aus einem
Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, irgendwie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12721
Wolfgang Gehrcke
(A) (C)
(D)(B)
herauszukommen. Es hat sich erneut bestätigt: Krieg ist
kein Mittel, um politische Probleme zu lösen.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt komme ich zum Mandat selber. Zunächst habe
ich begründet, warum das Mandat überhaupt erteilt
wurde. Jetzt will ich Ihnen erklären, warum wir nicht zu-
gestimmt haben. Für mich gibt es drei sehr ernsthafte
Argumente dagegen. Ein Argument ist streckenweise
von der FDP, sogar bis in die Regierung vertreten wor-
den. Das macht es nicht besser, aber auch nicht schlech-
ter.
Erstes Argument. Es war nicht notwendig, ein Kapi-
tel-VII-Mandat zu erteilen. Es gab die grundsätzliche
Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich auf das Man-
dat einzulassen. Man hätte in der klassischen Form von
Blauhelm-Einsätzen auf Grundlage eines Kapitel-VI-
Mandates vorgehen können. Das ist leider ausgeschlagen
worden. Das habe ich immer für einen großen Fehler ge-
halten, und ich halte es heute noch für einen großen Feh-
ler.
Zweites Argument. Wir hatten vorgeschlagen, auf der
Landseite die Truppen auf beiden Seiten der Grenzen zu
stationieren. Das hätte die Neutralität der Vereinten Na-
tionen stärker unterstrichen.
Drittes Argument. Ich möchte nicht, dass deutsche
Soldaten in dieser Region eingesetzt werden. Das richtet
sich nicht gegen die Soldaten. Ich kann mir verschiedene
Szenarien vorstellen, wie deutsche Soldaten in diese
Auseinandersetzung einbezogen werden. Ich möchte
nicht, dass solche Szenarien Realität werden. Das war
für mich das wichtigste Argument dagegen.
Andere hingegen waren bereit, hier zuzustimmen. Es
gibt eine ganz bestimmte deutsche Geschichte. Diese ist
gestern hier in eigenartiger Art und Weise debattiert
worden. Ich ziehe aus der deutschen Geschichte die
Lehre, dass deutsche Soldaten in dieser Region nicht
mehr tätig werden sollen.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Herr Kollege, Sie sind doch an keiner Stelle
bereit, etwas zu machen! Sie sagen doch über-
all Nein!)
Ich bitte Sie, zumindest das zu akzeptieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UNIFIL
– das ist gerade auch vom Kollegen Gehrcke gesagt wor-
den – ist vom ersten Tage an ein Erfolg gewesen. Die
Mission hat den Frieden gesichert und mitgeholfen, vor
allem den Süden Libanons zu stabilisieren, wenn wir
auch von einer echten Stabilität noch weit entfernt sind.
Ich möchte mich selbstverständlich nicht nur dem
Dank an die Soldatinnen und Soldaten anschließen, son-
dern auch deren Angehörigen danken, die monatelang
von ihren Geliebten getrennt werden. Herzlichen Dank
für diese Toleranz.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben die UNIFIL-Mission immer unterstützt,
auch deswegen, weil sie tatsächlich geholfen hat, den
Krieg zu beenden. Ohne den Beschluss der Vereinten
Nationen als die rechtliche Grundlage für diesen Einsatz
und ohne den Einsatz selbst, den wir mit beschlossen ha-
ben, wäre dieser Krieg nicht zu Ende gegangen, und es
hätte den Waffenstillstand nicht gegeben.
Noch einmal zum Mandat: Man kann natürlich Kritik
am Mandat äußern, das werde ich auch gleich tun. Die
Zielsetzung des Mandates aber ist für mich und die
Mehrheit meiner Fraktion immer wieder Grund gewe-
sen, dem zuzustimmen.
Die Situation in der Region, auch im Libanon, verän-
dert sich jedoch. Sinn der Außenpolitik ist es, diese Dy-
namik zu begreifen und mitzugestalten. Wir bekommen
aber ein Mandat vorgelegt, das die Veränderungen in der
Region nicht berücksichtigt. Das ist enttäuschend. Dabei
hat sich so vieles verändert – Herr Außenminister, Sie
haben es eingangs selbst gesagt –: die Situation an den
Grenzen – vor wenigen Tagen haben wir es erlebt –, die
Debatte in den USA, die Reden der vergangenen Tage,
der Waffenschmuggel, der zwischen dem Libanon und
Syrien weiterläuft. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass
der UN-Generalsekretär alle Staaten auffordert, sich ver-
stärkt im Süden Libanons zu engagieren. Ein weiteres
Beispiel: Der Generalsekretär sagt, man brauche min-
destens neun Schiffe, um eine Mission erfolgreich aus-
zuführen. Derzeit gibt es nur acht Schiffe. Das ist auch
auf die von Deutschland ausgehende Reduktion zurück-
zuführen. All diesen Veränderungen gehen Sie nicht
nach. Sie werden dem nicht gerecht.
Ich gebe zu: Man braucht dafür Energie. In der deut-
schen Außenpolitik erkenne ich zurzeit wenig Energie.
Das sieht man zum Beispiel daran, dass man bei Libyen
für große Verwirrung gesorgt hat. Man hat gesagt, dass
man eine humanitäre Aktion durchführen will, und am
Ende stellte sich heraus, dass niemand diese verlangt
hatte. Das ist Kompensationsaußenpolitik. Diese macht
keinen Sinn und wird der großen Veränderung, die wir
zurzeit in der Welt erleben, nicht gerecht.
Es ist enttäuschend, wenn die Deutschen die Lead-
Funktion, die wir innehatten, wie eine heiße Kartoffel
behandeln und am Ende Brasilien die Lead-Funktion
von den Italienern übernimmt, unter anderem auch des-
wegen, weil die Deutschen sich dermaßen aus der Ver-
antwortung gezogen haben. Das ist besonders pikant,
Herr Verteidigungsminister, weil Sie sich in der letzten
Woche in Ihrer großen Rede auf die Brasilianer als Bei-
spiel für diejenigen Länder bezogen haben, die Aus-
landseinsätze aus globaler Perspektive betrachten. Sie
haben gesagt, aus unserem Wohlstand entstehe Verant-
wortung. Wie kann es dann sein, dass die Brasilianer da,
12722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Omid Nouripour
(A) (C)
(D)(B)
wo wir uns aus der Verantwortung stehlen, die Verant-
wortung übernehmen müssen?
Es ist auch pikant, wenn im Zusammenhang mit der
Ausbildung gesagt wird – das hat der Außenminister
heute wieder getan –, dass die Deutschen sich jetzt ver-
stärkt um die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte
kümmern wollen, damit dieser Einsatz am Ende des Ta-
ges überflüssig wird, und wenn gleichzeitig die militäri-
sche Ausbildungshilfe für den Libanon von 2009 auf
2010 von der Priorität 1 in die Priorität 2 herabgestuft
wird. Das kann man begründen; Sie tun es aber nicht.
Das alles ist von vorne bis hinten nicht kohärent; das ist
sehr bedauerlich.
Das alles ist Dienst nach Vorschrift. Wenn man sich
anschaut, wie sich die Welt verändert, wie diese Region
gerade auf dem Kopf steht und welch eine Dynamik
– diese birgt auch große Risiken in sich – in der gesam-
ten Region derzeit besteht, dann wissen wir, dass wir
eine Außenpolitik brauchen, die gestaltet und die nicht
das tut, was Sie tun, nämlich Dienst nach Vorschrift.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi-
dent! Viele Besucherinnen und Besucher, unter anderem
auch eine Schülergruppe, haben mich am heutigen Tag
gefragt, wie der Parlamentsalltag gestaltet ist. Als ich
dann berichtet habe, dass wir hier auch Bundeswehr-
mandate verlängern und wie wir über Mandate diskutie-
ren, hat mich eine Schülerin gefragt, wieso wir das nicht
einfacher oder besser organisieren, da dies wie ein Rou-
tinevorgang wirkt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich
großen Wert darauf lege, dass wir den Parlamentsvorbe-
halt hier im Deutschen Bundestag, selbst wenn es sich
um ein Mandat handelt, das weitestgehend unstrittig ist,
natürlich nicht in einem Ritual abhandeln, sondern die-
sen tatsächlich ernst nehmen. Das zeigen wir zum Bei-
spiel bei dem Afghanistan-Mandat, das wesentlich um-
strittener ist, indem wir den Fortschrittsbericht und
andere Unterlagen hinzuziehen, um unsere Entschei-
dungsfindung abzusichern.
Ich möchte all denjenigen, die ihren Dienst leisten,
und vor allen Dingen ihren Angehörigen sagen, dass ich
ihnen sehr dankbar bin – das ist auch schon von den vor-
herigen Rednern gesagt worden –, dass sie diesen wich-
tigen Beitrag leisten und damit dazu beitragen, dass un-
ser Land ein hohes Ansehen genießt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Die Sicherheit vor der Küste Libanons muss gewähr-
leistet werden. Dabei geht es darum, den Waffen-
schmuggel einzugrenzen, aber auch darum, die Fach-
leute der libanesischen Armee und Marine auszubilden,
damit sie einen eigenen Beitrag zur Sicherheit leisten
können. Diese zwei Punkte nehmen wir ernst und setzen
wir in dieser Legislaturperiode um; so steht es auch im
Koalitionsvertrag. Wir haben vereinbart, dass wir auf
eine schrittweise Reduzierung des deutschen Beitrages
zur Maritime Task Force hinwirken wollen. Mit dem
Mandat haben wir die Zahl der maximal einzusetzenden
Soldaten von 800 auf 300, also um über 60 Prozent, ge-
senkt. Der Auftrag aus dem August 2006 zur Ausbildung
ist bei weitem noch nicht erfüllt und muss deshalb weiter
ausgeführt werden.
Das UNIFIL-Mandat – selbst wenn es in seinem Ent-
stehen, auch hier in Deutschland, sehr umstritten war –
leistet, wie ich schon sagte, einen wichtigen Beitrag zur
Steigerung des Ansehens der Bundeswehr und natürlich
auch zur Handlungsfähigkeit der internationalen Ge-
meinschaft. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Man-
dat gerade auch innerhalb der Europäischen Union sehr
positiv begleitet wird. Allein schon die Vielzahl derjeni-
gen, die sich an dieser Mission beteiligen, zeigt, dass es
ein funktionierendes Mandat ist.
Seit 2006 leisten 15 Länder entweder größere oder
kleinere Beiträge zur UNIFIL Maritime Task Force, von
Belgien bis Bangladesch, von Italien bis Indonesien. Ich
glaube, dies ist nicht nur im Hinblick auf das Ansinnen
von UNIFIL wichtig, sondern auch ein wichtiger Beitrag
zu den operativen Fähigkeiten, die die Bundeswehr und
die internationale Gemeinschaft brauchen.
Die Lage im Libanon und in der Region insgesamt ist
keineswegs so positiv, wie ich das UNIFIL-Mandat ge-
rade dargestellt habe; es ist nur ein sehr kleiner Beitrag
zur Stabilisierung und zur Sicherheit. Im Libanon ist die
Situation sehr schwierig. Dort werden Christen bedroht.
Dies wollen wir ändern; das ist ein besonderes Anliegen
unserer Fraktion. Ich möchte deshalb die Gelegenheit
nutzen, nicht nur über den maritimen Teil der Sicherheit
im Libanon zu reden, sondern auch über das, was sonst
noch im Land passiert.
Am 27. März dieses Jahres explodierte in Zahle, im
Osten des Libanon, vor einer Syrisch-Orthodoxen Kir-
che eine Bombe. Es war nur Glück, dass die 2 Kilo TNT
an diesem Sonntag nur einen Sachschaden angerichtet
haben. Aber dieser Vorfall zeigt, auch wenn er bei wei-
tem nicht so spektakulär wie andere Vorfälle in der Re-
gion ist, dass die Situation im Libanon gerade für be-
drohte Minderheiten nach wie vor problematisch ist.
Daran wird deutlich, dass auch über das UNIFIL-Man-
dat hinaus die Sicherheit und Stabilität im Libanon so-
wie der Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere vor
unmenschlichem Kalkül und brutalen Methoden, wich-
tige Anliegen des Deutschen Bundestags und damit un-
serer Verantwortungsträger sein sollten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir können bei solchen Geschehnissen nicht tatenlos
zusehen. Hier ist aber nicht in erster Linie militärisches,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12723
Philipp Mißfelder
(A) (C)
(D)(B)
sondern vor allem politisches Engagement gefragt. Die
Bundesregierung bemüht sich sehr, in dieser Region
Pflöcke einzuschlagen. Der Deutsche Bundestag hat
mehrere Reisen in die Region durchgeführt und ist an
exponierter Stelle tätig. Die Bundeskanzlerin beispiels-
weise hat heute die Reise unseres Fraktionsvorsitzenden
nach Ägypten erwähnt.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch eine
größere Delegation des Auswärtigen Ausschusses Tune-
sien und Ägypten besucht hat. Damit haben wir verdeut-
licht, dass wir auch in der derzeitigen unruhigen Phase in
der arabischen Welt versuchen, enge Bande zu knüpfen
und eine wichtige Rolle zu spielen, wenngleich dies im
Spannungsverhältnis zwischen der Staatsräson der Siche-
rung des Existenzrechts Israels einerseits und der Erwar-
tungshaltung vieler junger Menschen in der arabischen
Welt andererseits ein sehr schwieriges Unterfangen ist.
Ich glaube, dass Sie alle, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, mit Ihrer politischen Arbeit wichtige Bei-
träge zu dem, was wir im militärischen Bereich erfolg-
reich tun, leisten. Wir müssen deutlich machen, dass
diese Region für uns sehr wichtig ist. Der Deutsche Bun-
destag muss sich insgesamt viel stärker um diese Region
bemühen, als es noch vor längerer Zeit der Fall war. Wir
dürfen dieses Thema nicht alleine den Mittelmeer-Anrai-
nerstaaten überlassen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5864 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten
– Drucksache 17/5897–
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Frak-
tion das Wort.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtau-
sendwende richtige, wichtige und ehrgeizige Ziele ge-
setzt, die acht sogenannten Millenniumsziele bzw., ins
Deutsche übersetzt, die Jahrtausendentwicklungsziele
der Vereinten Nationen.
Das erste Ziel: Die Vereinten Nationen wollen Hun-
ger und Armut bekämpfen; bis zum Jahr 2015 streben
sie eine Halbierung der Armut an.
Das zweite Ziel besteht darin, bis zum Jahr 2015 allen
Kinder auf der Erde eine Grundschulbildung zu ermögli-
chen.
Das dritte Ziel ist die Gleichstellung der Geschlechter
und die Stärkung der Rolle der Frauen.
Das vierte Ziel ist die Senkung der Kindersterblich-
keit um zwei Drittel bis zum Jahr 2015.
Das fünfte Ziel ist die Verbesserung der Gesundheits-
versorgung der Mütter und die Senkung der Müttersterb-
lichkeit um 75 Prozent bis 2015.
Das sechste Ziel ist die Bekämpfung von HIV/Aids,
Malaria und anderen schweren Krankheiten.
Das siebte Ziel ist die ökologische Nachhaltigkeit.
Das achte Ziel sind der Aufbau einer globalen Part-
nerschaft für Entwicklung und faire und gerechte Welt-
wirtschaftsstrukturen.
Ich habe diese Ziele ganz bewusst am Anfang hier
noch einmal genannt, weil ich glaube, dass nicht alle, die
uns heute zuschauen, diese acht Ziele kennen. Deswegen
ist es richtig und gut gewesen, dass die damalige
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2005 in
Deutschland eine deutsche Millenniumkampagne mit ins
Leben gerufen hat, die es auf UN-Ebene schon gab und
durch die hier in Deutschland gemeinsam mit vielen
Nichtregierungsorganisationen in der Bevölkerung dafür
geworben wurde, diese Ziele bekannt zu machen; denn
wir können in der Entwicklungszusammenarbeit nichts
erreichen, wenn nur wir als Fachleute wissen, worum es
geht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, bei den Bürgerin-
nen und Bürgern Verständnis dafür zu wecken und sie
mitzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen ist dann auch
bereit, Steuergelder dafür auszugeben, dass Menschen
aus Hunger und Armut befreit werden.
Die Kampagne hat erfolgreich gearbeitet. Seit 2005
hat sie etliche Aktionsbündnisse initiiert und unterstützt.
Ich nenne einmal beispielhaft das Aktionsbündnis
Rheinland-Pfalz, länderübergreifende Aktionsbündnisse
in Hessen und Thüringen, die Klimaschutz+ Stiftung
und die Jugendinitiative „Chasing the Dream“. Ein Er-
folg der Kampagne ist auch, dass mittlerweile über
80 Städte und Kreise in Deutschland die Millenniumser-
klärung der Städte und Gemeinden in Deutschland unter-
zeichnet haben, darunter auch Hanau in meinem Wahl-
kreis.
Es war eine wichtige Aktion der Kampagne, eine
Städtetour durchzuführen. Herr Hoppe, Sie erinnern
sich: Als Sie Vorsitzender des Ausschusses waren, stan-
den Millenniumstore vor dem Reichstag, durch die wir
die Bedeutung dieser acht Ziele auch noch einmal sicht-
bar machen konnten.
Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesell-
schaft, mit VENRO, mit der Kampagne „Deine Stimme
gegen Armut“ und mit Oxfam, um nur einige zu nennen,
die sich dort eingebracht haben. Wir konnten viele pro-
12724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Sascha Raabe
(A) (C)
(D)(B)
minente Unterstützer gewinnen, auch Fußballspieler,
zum Beispiel Philipp Lahm und eine ganze Reihe mehr.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben unzählige Stunden
in Eine-Welt-Läden und in Bürgergesprächen über diese
Ziele diskutiert und eine ganz hervorragende Arbeit ge-
leistet. An dieser Stelle möchte ich all denen, die diese
Kampagne geführt haben, auch Renée Ernst, ein herz-
liches Dankeschön für ihre Arbeit aussprechen.
(Beifall im ganzen Hause)
Wenn so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger
eine so erfolgreiche Arbeit machen, dann könnte man ja
meinen, dass der Bundesentwicklungsminister voran-
schreitet, diesen Menschen dankt und sagt: Es sind jetzt
noch ein paar Jahre bis zum Jahr 2015, eure tolle Arbeit
führe ich fort. – Das wäre eigentlich das Logischste der
Welt. Was aber macht dieser Entwicklungsminister? Was
macht Herr Niebel? Herr Niebel sagt: Eure Arbeit ist
schön und gut, aber Geld gibt es nicht mehr dafür. Ende
Juni 2011 stelle ich die Finanzierung ein, und ihr könnt
sehen, wo ihr bleibt.
Herr Minister, deshalb wundert es mich schon sehr,
dass Sie heute Vormittag erstmals zur Verleihung des
Walter-Scheel-Preises für Engagement in der Entwick-
lungszusammenarbeit eingeladen haben.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Hoch auf dem
gelben Wagen!)
Es ist sehr sinnvoll, so einen Preis zu stiften; das will ich
gar nicht Abrede stellen. Sie haben heute unter anderem
Prominente ausgezeichnet, die alle eine gute Arbeit ge-
leistet haben, wie Ulrich Wickert und Nia Künzer, die
Weltmeisterin im Fußball.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Nur den Raabe hat er vergessen!)
– Herr Kollege, andere haben die Auszeichnung viel
eher verdient. – Es wurden dort auch prominente Unter-
nehmer wie Dr. Michael Otto ausgezeichnet.
Wie kann man aber so einen Preis ins Leben rufen
und gleichzeitig Tausenden Ehrenamtlichen in Deutsch-
land im Prinzip die Tür verschließen und sagen: Ihr be-
kommt nichts, aber Prominente zeichne ich aus? Herr
Niebel, das ist schäbig. Deswegen fordern wir in unse-
rem Antrag, dass Sie diese Kampagne weiter finanzie-
ren. Sie sollten auch den vielen Tausenden ehrenamt-
lichen Bürgerinnen und Bürgern endlich Anerkennung
aussprechen, statt sie im Regen stehen zu lassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte aus dem Offenen Brief der Arbeitsge-
meinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutsch-
land zitieren, der uns heute erreicht hat. In dem Schrei-
ben an Sie, Herr Niebel, heißt es:
Die Eine Welt Landesnetzwerke haben diese Ent-
scheidung bei ihrem gestrigen Treffen diskutiert
und können sie überhaupt nicht nachvollziehen.
Wir halten sie für ein falsches politisches Signal
und eine schwere Enttäuschung für diejenigen, die
mit viel Zeit, Energie und großem persönlichen
Einsatz für eine gerechtere Welt und die Umsetzung
der Millenniumsziele ihren Beitrag leisten.
Das konterkariert ihre oft betonte Wertschätzung des
bürgerlichen Engagement ins Gegenteil.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Zur Sache bitte
und nicht nur persönlich diffamieren!)
Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister: Kehren Sie
um!
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, egal
welcher Fraktion Sie angehören, stimmen Sie unserem
Antrag zu! Denn es kann nicht sein, dass Strukturen, die
seit 2005 geschaffen wurden, jetzt auf einmal kaputtge-
hen, weil die Finanzierung ausbleibt. Denn wir haben die
Ziele noch längst nicht erreicht.
Die Begründung des Ministeriums ist ein Hohn. Das
Ministerium hat geschrieben, die Finanzierung der Kam-
pagne werde jetzt eingestellt, weil das Ziel erreicht sei.
Jeder, auch die Besucherinnen und Besucher auf der Tri-
büne, sollte sich ehrlich fragen, ob er über die acht Ziele
Bescheid gewusst hat. Denn das war das Ziel der Kam-
pagne.
Der Minister behauptet, alle Bürger in Deutschland
kennen die acht Entwicklungsziele der Vereinten Natio-
nen, sodass er kein Geld mehr für entsprechende Wer-
bung ausgeben muss. Das glauben Sie doch selbst nicht.
Es gibt noch sehr viel zu tun. Denn wir sind leider
noch weit davon entfernt, bis zum Jahr 2015 diese wich-
tigen Ziele zu erreichen. Dafür wird selbstverständlich
auch Geld gebraucht.
Auch deswegen war es richtig, dass die Initiatoren
und Mitstreiter der Kampagne Ihnen, Herr Minister, kri-
tisch gesagt haben, dass Ihre Politik in die falsche Rich-
tung geht. Denn Sie können nicht die Mittel für Entwick-
lungszusammenarbeit stagnieren lassen und in der
mittelfristigen Finanzplanung sogar kürzen wollen und
gleichzeitig behaupten, Sie hielten sich an diese Verspre-
chen.
Ich glaube nicht, dass Sie das, was als Grund für die
Einstellung der Kampagne genannt wurde, nämlich dass
alle Menschen in Deutschland diese Ziele kennen, ernst-
haft glauben. Das sind vielleicht 10 bis 20 Prozent, wie
wir aus Untersuchungen wissen. Sie wollten vielmehr
eine kritische Kampagne mundtot machen, die den Fin-
ger in die Wunde gelegt hat, nämlich dass Sie das Minis-
terium letztlich nur noch als Einrichtung zur Außenwirt-
schaftsförderung verstehen, statt sich im Interesse der
ärmsten Menschen an die Versprechen zu halten, die
Deutschland bei den Vereinten Nationen und in Europa
gegeben hat.
Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustim-
men. Die Millenniumkampagne darf nicht sterben. Sie
muss weitergehen und bis zum Jahr 2015 dafür sorgen,
dass Menschen auf der ganzen Welt Chancen haben und
aus Hunger und Armut herauskommen.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12725
Dr. Sascha Raabe
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Sabine Weiss von der
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf
man es nicht weiter festhalten wollen. Es geht heute in
dem SPD-Antrag um die Forderung, die deutsche UN-
Millenniumkampagne zu erhalten. Herr Raabe hat das
bereits ausgeführt.
Die UN-Millenniumkampagne gliedert sich in eine
nationale und eine internationale Kampagne. Die natio-
nale deutsche Kampagne sollte das Bewusstsein für die
Millenniumsziele in Deutschland schärfen, die interna-
tionale Kampagne das Bewusstsein in den Entwick-
lungsländern.
Die Förderung für die deutsche UN-Millenniumkam-
pagne läuft nun aus. Für die internationale Kampagne
wird derzeit eine Fortsetzung der Förderung geprüft.
Entwicklungspolitische Themen standen bisher bei
uns nicht immer vordergründig in dem Verdacht, die
Menschen auf die Straße zu locken. Viel zu weit weg
vom alltäglichen Leben hier, in immerhin einem der
reichsten Industrieländer der Welt, schienen Themen wie
die Bekämpfung des Hungers und der Malaria. Dieses
alte Klischee ist gottlob heute falsch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wie falsch es ist, haben die erfolgreichen Aktionen
und Kampagnen der deutschen UN-Millenniumkampa-
gne, aber auch der Kampagne von VENRO „Deine
Stimme gegen Armut“ und Kampagnen anderer Ak-
tionsgruppen gezeigt.
Mehr als 100 000 Menschen sind schon deutschland-
weit an einem Wochenende für ein entwicklungspoliti-
sches Thema wie beim „Stand Up“-Wochenende im Jahr
2008 auf die Straße gegangen. Laut VENRO haben mehr
als 740 000 Menschen in Deutschland bereits ihre
Stimme gegen die weltweite Armut erhoben. Die deut-
schen Kampagnen haben damit etwas geschafft, wovon
viele andere Veranstalter und Organisatoren von Kam-
pagnen nur träumen können.
Die deutsche Bevölkerung macht mit – so haben wir
es jetzt gesehen – im Kampf gegen die weltweite Armut
und für mehr globale Gerechtigkeit. Sie beteiligt sich ak-
tiv, prangert die weltweite Ungerechtigkeit an und leistet
ihren Beitrag, um das Problem der weltweiten Armut zu
bekämpfen. Dies ist sicherlich auch der deutschen UN-
Millenniumkampagne zu verdanken. Gemeinsam mit
der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und vielen
anderen zivilgesellschaftlichen Aktionsgruppen hat sie
in den vergangenen sechs Jahren immer wieder den Fin-
ger tief in die Wunde gelegt.
Durch ihren hartnäckigen Einsatz haben die Kampa-
gnen die Aufmerksamkeit auf das, wie ich finde, drin-
gendste Problem in unserer Welt, nämlich die weltweite
Armut, gerichtet. Sie haben dafür gesorgt, dass das
Elend des Hungers, fehlende Bildung und die Geiselhaft,
in die Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria ganze
Länder genommen haben, bei uns eben nicht in Verges-
senheit geraten. Sie haben aber auch uns Politikerinnen
und Politiker immer wieder an unsere Versprechen und
unsere Verantwortung erinnert sowie konsequentes Han-
deln angemahnt. Dafür bin ich dankbar; denn der öffent-
liche Druck, die Anstrengungen im Kampf gegen die
weltweite Armut weiter zu verstärken, ist eine wichtige
Unterstützung für uns Entwicklungspolitiker. So können
wir das Thema in den Fraktionen, im Bundestag und im
Wahlkreis immer wieder ganz oben auf der Agenda plat-
zieren.
Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat gemein-
sam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kampagnen die
Menschen in Deutschland erreicht und berührt. Sie ha-
ben wichtige Aufklärungsarbeit geleistet über die Mil-
lenniumsentwicklungsziele und damit über das Verspre-
chen, dass eine bessere und gerechtere Welt auch
tatsächlich möglich ist. Fast könnte man jetzt sagen:
Mission erfolgreich erfüllt. – Aber so einfach können
wir es uns natürlich nicht machen. Zu groß sind noch die
Herausforderungen bei der Erreichung der Millenniums-
entwicklungsziele, trotz aller Erfolge. Solange nach wie
vor fast 9 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich an
zumeist vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen
sterben, solange 72 Millionen Kindern im Grundschulal-
ter ihr Recht auf Bildung verwehrt bleibt und solange
schätzungsweise 1 Milliarde Menschen unterernährt
sind, so lange sollte und muss ein Aufschrei der Empö-
rung angesichts dieses Skandals durch uns und die ge-
samte Bevölkerung gehen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der SPD und der LINKEN)
Da Empörung allein aber noch keinen Hungernden
satt macht, keinem Kind eine Zukunft gibt und keine
werdende Mutter vor einem vermeidbaren Tod bei der
Geburt bewahrt, ist es damit natürlich nicht getan. Un-
sere Empörung muss einhergehen mit rationalen Überle-
gungen, was wir, die Entwicklungs- und Schwellenlän-
der sowie die Zivilgesellschaft besser machen können
und besser machen müssen. Um die Millenniumsziele zu
erreichen, müssen alle Akteure ihre Bemühungen weiter
konsequent verstärken. Die Zeit drängt, und wir müssen
besser werden. Um die Millenniumsziele zu erreichen,
brauchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit in den In-
dustrienationen, aber auch besonders in den Entwick-
lungs- und Schwellenländern. Nur wer die Millenniums-
entwicklungsziele kennt und über die einzelnen Ziele
Bescheid weiß, kann Druck auf alle Beteiligten ausüben,
die Anstrengungen für die Erreichung der Ziele zu ver-
stärken.
Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat die deut-
sche Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft über die
Millenniumsziele informiert und mobilisiert. Die För-
12726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Sabine Weiss (Wesel I)
(A) (C)
(D)(B)
dervereinbarung läuft nun – das wissen wir seit sechs
Jahren – zum 30. Juni dieses Jahres aus und wird auch
nicht verlängert werden. Auch wenn es nie genug öffent-
liche Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse und öffent-
lichen Druck für die Millenniumsziele geben kann, so
finde ich es dennoch konsequent, dass diese Förderung
nun ausläuft.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die deutsche Kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt.
Mittlerweile gibt es viele zivilgesellschaftliche Aktions-
gruppen, die diese Lücke bestens füllen können, weil sie,
um es plastisch zu sagen, schon lange das gleiche Feld
beackern. Beispielsweise schafft es die Kampagne von
VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ höchst erfolg-
reich und in beeindruckender Art und Weise, die Öffent-
lichkeit, Prominente und auch Politiker im Kampf gegen
die Armut zu mobilisieren. Wir reden doch immer alle
davon, dass wir Doppelstrukturen und Ineffizienzen ver-
meiden wollen. Wenn wir das wirklich ernst meinen,
dann sollten wir das, was wir in den Partnerländern for-
dern, auch gefälligst hier in Deutschland tun. Denn wie
heißt es so schön? – Kehre immer erst vor deiner eigenen
Tür.
Die deutsche Millenniumkampagne hat gute Arbeit
geleistet, ihre Aufgaben erfüllt. Das BMZ hat die Kam-
pagne mit insgesamt 3,3 Millionen Euro unterstützt. Nun
aber haben sich andere Kampagnen und Aktionsgruppen
etabliert, die die Aufgaben erfolgreich weiterführen und
ausbauen werden. Die Mittel, die bisher in die deutsche
UN-Millenniumkampagne geflossen sind, können nun
an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Mangelnde
Effizienz und nicht optimaler Mitteleinsatz sind doch
nach wie vor das Problem in der Entwicklungszusam-
menarbeit. An dieser Stelle macht das BMZ wieder ein-
mal ernst mit den Forderungen nach mehr Effizienz und
eben weniger Doppelstrukturen, und das ist richtig so.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Weiss, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Sascha Raabe?
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
Gerne.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Kollegin Weiss, Sie haben darauf hingewiesen,
dass man die Mittel effizient verwenden und darauf hin-
wirken muss, dass es bei der Öffentlichkeitsarbeit keine
Doppelstrukturen gibt. Das war Ihr Kernargument dafür,
dass die finanzielle Förderung der Kampagne eingestellt
wird. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass in diesem
Jahr der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministe-
riums um mehr als 300 000 Euro erhöht wurde, man aber
den Ehrenamtlichen die Gelder für ihre Öffentlichkeits-
arbeit streicht? Ist die Öffentlichkeitsarbeit eines Minis-
ters mehr wert als die von Tausenden Ehrenamtlichen,
die sich Tag für Tag in Kirchen und Nichtregierungsor-
ganisationen weltweit für die Bekämpfung von Hunger
und Armut einsetzen?
(Zuruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen]
[CDU/CSU])
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
Herr Dr. Raabe, sicherlich ist der Titel für die Öffent-
lichkeitsarbeit nicht ausschließlich für den Minister,
sondern auch für das Ministerium und für die Entwick-
lungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland
gedacht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gerade die Tatsache, dass die Mittel um 300 000 Euro
aufgestockt werden, zeigt doch, wie viel Wert im BMZ
weiterhin auf Kampagnen, auf die Entwicklungszusam-
menarbeit und damit auf die Menschen in den Entwick-
lungsländern gelegt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich hoffe, dass die deutsche Förderung der internatio-
nalen UN-Millenniumkampagne weitergeführt werden
kann; denn der Schlüssel zur Erreichung der Millenni-
umsentwicklungsziele liegt in den Entwicklungsländern
selbst. Dort müssen die Weichen richtig gestellt werden.
Nur durch gemeinsames Handeln von Regierungen,
Zivilgesellschaften und dem Privatsektor wird eine
nachhaltige Entwicklung und Verbesserung möglich
sein. Aber gerade in den Entwicklungsländern gibt es
teilweise große Informationsdefizite über die Millen-
niumsziele an sich, über den aktuellen Umsetzungsstand
und über die Anstrengungen der nationalen und interna-
tionalen Akteure zu deren Erreichung. Bedauerlicher-
weise – das wissen wir alle – ist es auch noch nicht in
alle Winkel dieser Welt vorgedrungen, dass die Millenni-
umsentwicklungsziele Grundrechte widerspiegeln, die
jedem Menschen zustehen müssen. Daher ist es von ent-
scheidender Bedeutung, das zivilgesellschaftliche Enga-
gement in den Entwicklungsländern zu mobilisieren und
zu unterstützen. Hier leistet die internationale UN-Mil-
lenniumkampagne wichtige Aufklärungsarbeit.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist aber auch an uns Politikern, die Bedeutung der
Millenniumsentwicklungsziele und der Entwicklungszu-
sammenarbeit immer wieder in den Wahlkreisen und
hier in Berlin zu thematisieren. Wir Entwicklungspoliti-
ker müssen unsere eigene Kampagne gegen die welt-
weite Armut ins Leben rufen.
Zusammengefasst: Die deutsche UN-Millennium-
kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Zivilgesellschaftli-
che Kampagnen werden weiter für den Kampf gegen die
weltweite Armut trommeln, hier in Deutschland und mit
unserer Unterstützung in den Entwicklungsländern. Ein
Auslaufen der Förderung ist folgerichtig, und daher leh-
nen wir den Antrag „Deutsche UN-Millenniumkampa-
gne erhalten“ ab. Wie ich eingangs sagte: Wenn ein Kind
laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhal-
ten wollen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12727
(A) (C)
(B)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Weiss, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem
heutigen Geburtstag.
(Beifall – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]:
Herzlichen Dank!)
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike
Hänsel von der Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Bundestag reagiert heute auf die Tatsache, dass
die Bundesregierung die Gelder für die deutsche
UN-Millenniumkampagne – das wurde hier schon mehr-
mals erwähnt – gestrichen hat. So kurz nach dem Bilanz-
gipfel, der letztes Jahr bei den Vereinten Nationen statt-
gefunden hat – Bilanz: zehn Jahre Millenniumserklärung –,
auf dem es wieder viele Versprechungen von der Bun-
desregierung gab, ist das, finde ich, ein Affront und eine
Geringschätzung der Arbeit von vielen Initiativen und
vielen Menschen. Das ist inakzeptabel.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Ich frage mich: Warum wurden die Gelder gestri-
chen? Um wie viel Geld geht es? Es geht um jährlich
500 000 Euro. Hier gab es schon verschiedene Verglei-
che, etwa mit Imagekampagnen, die die Bundesregie-
rung veranlasst. Zum Beispiel wurden letztes Jahr
3 Millionen Euro für eine Anzeigenkampagne für einen
neuen Gesetzentwurf ausgegeben. Im Verhältnis dazu ist
es völlig unverständlich, dass diese 500 000 Euro gestri-
chen werden. Deshalb halte ich die Begründung, die das
Ministerium gegeben hat, die hier wiederholt wurde,
auch von der Kollegin Weiss, die Ziele bei der Aufklä-
rung seien erreicht, schlichtweg für vorgeschoben.
Wir wissen, dass die Kampagne kritisch gearbeitet
und überprüft hat, was die Zusagen der Bundesregierung
angeht, was internationale Versprechen angeht, die gege-
ben wurden. Da ist die Bilanz zur Erfüllung schlecht.
Erst die Hälfte der bis 2015 zugesagten Mittel wurde zur
Verfügung gestellt. Da liegt die Bundesregierung weit
zurück. Das hat die Kampagne kritisiert. Ich glaube,
Herr Niebel, das ging Ihnen schlichtweg gegen den
Strich. Deswegen schaffen Sie hier einen Präzedenzfall
und zeigen, dass solche Kampagnen nicht mehr unter-
stützt werden. Das ist nicht demokratisch.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Ich möchte noch auf einen anderen Satz zurückkom-
men, den Sie in der Begründung gegeben haben. Den
halte ich für viel entscheidender. Das Ministerium hat
nämlich geschrieben: Der Schlüssel für das Erreichen der
Millenniumsziele liegt in den Entwicklungsländern
selbst. – Darauf möchte ich schon noch mit ein paar Sät-
zen eingehen. Das ist für mich nämlich ein bezeichnender
Satz, der die politische Ausrichtung der Bundesregierung
in der Entwicklungszusammenarbeit sehr deutlich be-
schreibt.
Sie drehen den Spieß jetzt um. Die Verantwortung für
Hunger, für Armut, für Unterentwicklung wird nun ein-
seitig den Ländern des Südens zugeschoben, und Stück
für Stück wird die Verantwortung der westlichen Indus-
triestaaten dadurch zurückgenommen, sowohl finanziell
als auch politisch. So geht es nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Kanzlerin hat es heute Morgen in ihrer Regie-
rungserklärung genauso gesagt: mehr Eigenverantwor-
tung der Regierungen in den Entwicklungsländern. Vor
allem hat sie eigene Einnahmen der Entwicklungsländer
gefordert. Sehr interessant finde ich das. Gleichzeitig
fordert nämlich die Bundesregierung in ihrer Roh-
stoffstrategie systematisch den Abbau zum Beispiel von
Schutzzöllen in den Rohstoffländern. Das sind aber ganz
große Einnahmequellen. Diese wollen Sie systematisch
abbauen. Das zeigt, dass hier eine Logik vorherrscht, die
von Doppelmoral geprägt ist.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben es
nicht verstanden! – Sabine Weiss [Wesel I]
[CDU/CSU]: Quatsch!)
Sie wollen schlichtweg die Verantwortung den Entwick-
lungsländern zuschieben und sich selbst Stück für Stück
zurücknehmen.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das glauben Sie
selbst nicht!).
Dies betrifft auch die Handelsstrukturen der Europäi-
schen Union und Deutschlands, die nach wie vor verhin-
dern, dass endlich gerechte Preise für Produkte aus den
Ländern des Südens gezahlt werden können, und die
auch systematisch verhindern, dass Konzerne nicht mehr
auf Kosten von billigen Arbeitskräften und unter Aus-
nutzung von miesesten Arbeitsbedingungen ihre Profite
machen können. Dies verhindern Sie durch Ihre Han-
delspolitik. Da sind wir in der Verantwortung. Die west-
lichen Industriestaaten haben hier Verantwortung für Ar-
mut, für Hunger, für Unterentwicklung. Da können Sie
sich nicht davonstehlen.
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
[Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind doch viel zu
intelligent, um zu glauben, was Sie hier sa-
gen!)
Genau diese Ausbeutungsstrukturen müssen wir be-
kämpfen. Wir müssen sie aber eben auch hier bewusst
machen. Was sind die Ursachen von Armut? Wir tragen
mit unserem Lebensstil zur Armut bei. Der Reichtum
hier basiert zum großen Teil auf der Armut der Men-
schen weltweit, und dafür brauchen wir umfassende
Aufklärung.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie vielleicht!)
Dafür müsste in meinen Augen die Millenniumkam-
pagne kritischer und politischer werden.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist linker
Lebensstil!)
Um dieses Bewusstsein hier weiter zu fördern, brauchen
wir auch Geld.
(D)
12728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Heike Hänsel
(A) (C)
(D)(B)
Das sind die grundsätzlichen Fragen, und deshalb un-
terstützen wir auch den Antrag. Wir brauchen viel mehr
Aufklärung über diese weltweiten Zusammenhänge. So,
wie Sie es machen, Herr Niebel, geht es nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Harald Leibrecht für die FDP-Frak-
tion.
(Beifall bei der FDP)
Harald Leibrecht (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn die deutsche UN-Millenniumkampagne über
sechs Jahre hinweg durchaus wertvolle Arbeit geleistet
hat, um die deutsche Öffentlichkeit mit kreativen Aktio-
nen über die UN-Millenniumsziele zu informieren und
Unterstützung für die Erreichung dieser Ziele zu gewin-
nen – wir brauchen heute ganz andere Wege, um die
Menschen im Land für dieses wichtige Thema zu gewin-
nen.
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Welche?)
Die FDP-Fraktion wird dem Antrag der SPD zum Er-
halt dieser Millenniumkampagne nicht zustimmen, und
ich erkläre Ihnen auch gerne, warum das so ist: Das
BMZ hat die deutsche UN-Millenniumkampagne seit
2005 mit insgesamt 3,3 Millionen Euro gefördert. Diese
Ausgaben hatten in der Vergangenheit durchaus ihre Be-
rechtigung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei
vielen Bürgern im Land jedoch kein unumstrittenes Poli-
tikfeld und braucht gerade darum auch mehr Öffentlich-
keit. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Ziele und unser
Handeln gegenüber den Bürgern immer wieder erklären
und sie für Fragen der Entwicklungspolitik sensibilisie-
ren.
Sicherlich hat die deutsche UN-Millenniumkampagne
mit dazu beigetragen, dass das Thema der Jahrtausend-
entwicklungsziele in der deutschen Öffentlichkeit mitt-
lerweile stärker verankert ist. Dass heute in der deutschen
Öffentlichkeit über diese wichtigen Entwicklungsziele
gesprochen und diskutiert wird, liegt aber weniger an
Werbekampagnen, sondern vielmehr an der erfolgrei-
chen Arbeit des BMZ und an Minister Niebel.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Lachen bei der SPD)
– Ja, früher hat doch kein Mensch außerhalb der deut-
schen Entwicklungscommunity trotz solcher teuren
Kampagnen etwas von den Jahrtausendentwicklungszie-
len gewusst, geschweige denn, dass man etwas darüber
erfahren hat, was das BMZ aktiv getan hat, um diese
Ziele zu erreichen.
Wir haben heute, was die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit anbetrifft, eine viel breitere und wesent-
lich besser informierte und vor allem interessierte Öf-
fentlichkeit. Das Thema MDGs findet in den Medien
statt, aber auch bei vielen Veranstaltungen von Nichtre-
gierungsorganisationen, in Schulen, bei den Kirchen und
den politischen Stiftungen. Fristete die Entwicklungszu-
sammenarbeit früher eher ein Mauerblümchendasein
und wurde über diese Jahrtausendentwicklungsziele we-
nig berichtet, so sind diese Themen heute sehr viel tiefer
im Bewusstsein der Menschen hier im Lande verankert.
Indem Entwicklungspolitik nicht mehr quasi hinter
verschlossenen Türen stattfindet, sondern immer trans-
parenter wird, nimmt sie die Öffentlichkeit auch mit. Wir
haben gestern zum Beispiel im Ausschuss über den Ent-
wurf der Entwicklungskampagne des BMZ gesprochen.
Dabei legte Dirk Niebel kein vorab beschlossenes Papier
vor, sondern ganz bewusst ein Konzept, das als Diskus-
sionsgrundlage für die kommenden Monate dient. Jetzt
hat jeder die Chance, sich bis November konstruktiv ein-
zubringen. Schon jetzt gibt es viele öffentliche Veran-
staltungen zu diesem Thema. Es sind gerade solche Ver-
anstaltungen von Nichtregierungsorganisationen und
anderen Akteuren, die weitaus besser als teure Öffent-
lichkeitskampagnen über die Fortschritte bei diesen
MDGs informieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die deutsche UN-Millenniumkampagne war von An-
fang an zeitlich bis zum 30. Juni 2011 begrenzt. Ich halte
es für gut und sinnvoll, dass wir diese Ausgaben in Zu-
kunft sparen und das Geld in die Projektarbeit in Ent-
wicklungsländern stecken. Dort wird es sehr viel drin-
gender benötigt.
In den vergangenen Jahren haben sich rund um die
deutsche UN-Millenniumkampagne viele Initiativen ge-
gründet, die sich für die Erreichung dieser Ziele aktiv
einsetzen. Diese Initiativen finden seit dem Regierungs-
wechsel im BMZ einen Ansprechpartner, der das ent-
wicklungspolitische Engagement der Zivilgesellschaft
wesentlich unterstützt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
Damit haben wir genau das erreicht, was wir immer
wollten: dass sich auch aus der Gesellschaft heraus Pro-
jekte und Initiativen entwickeln, die sich für die Errei-
chung dieser Jahrtausendentwicklungsziele in Deutsch-
land engagieren.
Damit keine Missverständnisse entstehen, meine Da-
men und Herren: Die Millenniumserklärung und deren
Ziele sind Richtschnur für die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit. Eine verantwortungsvolle Politik muss
auf den effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden
Finanzmittel achten, vor allem in Zeiten knapper Kas-
sen. Ich bin sehr froh, dass sich das BMZ diesem Grund-
satz verpflichtet sieht und auf gute Arbeit, nicht aber auf
teure Werbekampagnen setzt.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12729
(A) (C)
(D)(B)
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Völlig klar, der Antrag der SPD findet unsere Zustim-
mung, voll und ganz. Gar nicht klar ist, was die Bundes-
regierung bewogen hat, ausgerechnet beim deutschen
Zweig der UN-Millenniumkampagne den Rotstift anzu-
setzen. Ich habe den Reden heute aufmerksam zugehört;
es waren eigentlich gute Reden, die eher Argumente für
die Fortsetzung der Unterstützung gebracht haben.
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, genau!)
Die Schlussfolgerung ist für mich nicht nachvollzieh-
bar. Man sagt: Die Kampagne hat gut gearbeitet. – Viele
von uns haben an Aktionen mitgewirkt. Sascha Raabe
hat hier bereits die acht Millenniumstore, die vor dem
Reichstag aufgestellt wurden, noch einmal in Erinnerung
gerufen. Viele haben Veranstaltungen in den Wahlkrei-
sen gemacht. Es ist immer und immer wieder neu not-
wendig, auf die globalen Herausforderungen hinzuwei-
sen, für die Erreichung der Millenniumsziele zu werben.
Das ist doch nicht erreicht. Man kann doch nicht sagen:
Auftrag erfüllt, das Kind kann laufen, jetzt brauchen wir
das nicht mehr zu unterstützen.
Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die Mil-
lenniumsziele zu erreichen. Gerade bei der Bekämpfung
des Hungers geht die Entwicklung in die falsche Rich-
tung; die Zahl der Hungernden steigt wieder. Auch bei
der Bekämpfung von Müttersterblichkeit und Kinder-
sterblichkeit gibt es eben nicht die Erfolge, die notwen-
dig wären. Dafür gibt es viele Gründe.
Deshalb erschließt es sich mir nicht, dass wir nicht
auch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit enga-
giert und couragiert fortsetzen und die erfolgreiche Mil-
lenniumkampagne weiterhin unterstützen. Ist es etwa die
unliebsame Kritik der Millenniumkampagne an der Bun-
desregierung und an uns allen? Das wäre nicht in Ord-
nung; denn wir brauchen diese mahnenden Worte. Ich
erinnere daran, dass die Millenniumkampagne nicht nur
diese Bundesregierung für die Nichterfüllung der Ver-
sprechen kritisiert hat, sondern auch die Vorgängerregie-
rung. Dieser Kritik müssen wir uns stellen. Sie wissen,
jeder von uns weiß, dass zwischen dem Anspruch und
der Wirklichkeit noch eine große Lücke klafft. Deshalb
sollten wir uns auch weiter von der Millenniumkam-
pagne anspornen lassen.
Ich wünsche mir sehr – das habe ich auch heute Mor-
gen schon im Rahmen der G-8-Debatte gesagt –, dass
die Initiative, die aus allen fünf Fraktionen des Parla-
ments heraus entstanden ist, endlich die Versprechen zu
erfüllen und schon in den nächsten Haushaltsberatungen
genügend Mittel für Entwicklungsfinanzierung und hu-
manitäre Hilfe bereitzustellen, Ergebnisse zeitigt, dass
diese Kampagne vielleicht sogar noch vor der Sommer-
pause tatsächlich zu einem entwicklungspolitischen
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels hier in
diesem Parlament führt, so wie die Briten es uns vorge-
macht haben. Sie bitten uns inzwischen ja, nicht nachzu-
lassen; denn sie werden jetzt durch die Boulevardpresse
unter Druck gesetzt. Weil Großbritannien dabei ist, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, während andere ver-
gleichbare Industrienationen in Europa nicht mitziehen,
fragt die dortige Presse: Warum sollen wir Briten es al-
leine machen? – Wir würden den Briten also in den Rü-
cken fallen, wenn wir uns jetzt keinen Ruck gäben und
weitere Schritte in diese Richtung unternehmen würden.
(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] –
Zustimmung des Abg. Dr. Sascha Raabe
[SPD])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregie-
rung, die Streichung dieser Gelder wäre ein Eigentor. Es
ist jetzt schon ein Imageschaden entstanden. Diese Kam-
pagne steht auch nicht in Konkurrenz zu VENRO oder
zu anderen Kampagnen. Hier findet vielmehr eine Soli-
darisierung statt, und es werden von allen Seiten Briefe
des Inhaltes verschickt: Tut das bitte nicht!
Wir brauchen überall, von Flensburg bis Passau, viele
Kampagnen und Aktionen, die die Notwendigkeit des
Erreichens der Millenniumsziele deutlich machen. Neh-
men Sie diese unsinnige Kürzung zurück! Lassen Sie
uns gemeinsam einen Konsens für die Entwicklungs-
finanzierung finden!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5897 mit dem Titel
„Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Oppositions-
fraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
schen Abkommens zwischen der internationa-
len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
(jetzt: Republik Serbien) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
– Drucksache 17/5706 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-
ter Guido Westerwelle das Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
12730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Bitte erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich die Ein-
bringung des Mandates begründe, anlässlich eines be-
sonderen Ereignisses eine Bemerkung vorab mache:
Ratko Mladic wird des Völkermordes und der Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit beschuldigt und seit fast
16 Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Seine Fest-
nahme ist eine sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit
in Europa.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Ich habe soeben dem serbischen Präsidenten Tadic zu
dem Erfolg gratuliert und auch dazu, dass jetzt die Auf-
arbeitung des Unrechts der Balkankriege erfolgen kann,
weil die Voraussetzungen dafür nunmehr gegeben sind.
Serbien löst mit der Verhaftung von Ratko Mladic eine
langjährige Forderung der Europäischen Union und auch
des Chefanklägers des Internationalen Jugoslawien-Tri-
bunals ein.
Aber so groß der Erfolg ist, wir müssen jetzt in dieser
Stunde auch an die Opfer und an die Familien der Opfer
des Massakers von Srebrenica denken. Ihr mutmaßlicher
Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden.
Die Festnahme von Mladic schafft eine weitere
Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Bal-
kanregion. Ich möchte noch einmal mit Nachdruck un-
terstreichen: Aus Sicht der Bundesregierung haben alle
Länder des westlichen Balkans eine europäische Per-
spektive.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Status
des Kosovo ist geklärt. Die Grenzen im westlichen Bal-
kan sind gezogen. Im Juli des vergangenen Jahres, also
nach der letztmaligen Mandatierung durch den Deut-
schen Bundestag, hat der Internationale Gerichtshof be-
stätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo
im Einklang mit internationalem Recht erfolgte.
Kosovo hat im vergangenen Jahr sicherlich Fort-
schritte gemacht. Wer sagt: „Politisch ist im letzten Jahr
viel passiert, aber verändert hat sich wenig“, der sagt aus
unserer Sicht nur die halbe Wahrheit. Zwar mussten im
vergangenen Jahr die Parlamentswahlen in einigen
Wahlkreisen wiederholt werden. Entscheidend ist aber,
dass die Wahlen insgesamt friedlich und geordnet ver-
laufen sind. Entscheidend ist, dass Unregelmäßigkeiten
in rechtsstaatlicher Weise aus der Welt geschafft werden
konnten. Auch die Reaktion auf das, was dort festgestellt
worden ist, ist wichtig und bedeutsam.
Die Bürgerinnen und Bürger im Norden Kosovos ha-
ben sich mit ihrem Wahlboykott vor allem selbst gescha-
det. Sie berauben sich der Chance, die Politik Kosovos
mitzugestalten. Die Serben im Süden des Landes sind
viel weiter. Ihre Wahlbeteiligung lag höher als bei frühe-
ren Wahlen. Für den Süden sind die Wahlen ein Beispiel
dafür, dass die Trennlinien zwischen den Ethnien porö-
ser und durchlässiger werden, als radikale Kräfte immer
wieder behaupten.
Die Verfassung der Republik Kosovo reserviert von
120 Sitzen zehn Sitze für die serbische Minderheit;
13 serbische Kandidaten wurden gewählt. Für andere
Minderheiten reserviert die Verfassung ebenfalls zehn
Sitze; zwölf Minderheitenvertreter wurden gewählt.
Heutzutage wird im Kosovo eben nicht nur nach ethni-
schen, sondern zunehmend auch nach politischen Ge-
sichtspunkten entschieden. Wenn man bedenkt, dass sich
im Februar erst zum dritten Mal der Tag der Unabhän-
gigkeitserklärung Kosovos gejährt hat, dann muss man
sagen, dass dies bemerkenswerte Fortschritte sind, die in
dem politischen Zusammenhang unseres Mandats heute
nicht unberücksichtigt bleiben sollten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Richtig ist, dass seit der letzten KFOR-Debatte zwei
Staatspräsidenten zurücktreten mussten. Richtig ist aber
auch, dass das politische Vakuum nicht zu Unfrieden
und Gewalt führte. Die Verfassung wurde eingehalten.
Alle politischen Akteure haben die Entscheidung des
Verfassungsgerichts respektiert. Es ist ein Zeichen für
eine positive Entwicklung im Land, dass die Selbsthei-
lungskräfte der Institutionen funktionieren.
Noch sind viele Konflikte ungelöst; auch das festzu-
stellen, gehört zu einer angemessenen und umfassenden
Lagebeurteilung dazu. Diejenigen, die dort gewesen sind
und Gespräche geführt haben, können aus diesen Ge-
sprächen von vielen Ängsten und Unsicherheiten berich-
ten. Die Lage im Norden Kosovos bleibt angespannt.
Das Problem der Parallelstrukturen ist nicht gelöst. Der
Schutz der serbisch-orthodoxen Klöster bleibt eine hoch-
sensible Sicherheitsfrage. Das erfordert auch weiterhin
den Rückhalt durch KFOR.
Die kosovarischen Sicherheitskräfte übernehmen
schrittweise mehr Verantwortung. Schon jetzt garantiert
die lokale Polizei die Sicherheit von sechs der neun be-
sonders schutzwürdigen serbischen Kulturdenkmäler.
Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter sta-
bilisiert. Eine Reduzierung der internationalen Militär-
präsenz und damit auch der Kräfte der Bundeswehr ist
möglich. Es ist die zweite Reduzierung seit Antritt dieser
Bundesregierung. Im letzten Jahr sank die Mandatsober-
grenze von 3 500 Soldatinnen und Soldaten auf 2 500.
Jetzt reduzieren wir in dem Antrag, den wir Ihnen vorle-
gen, erneut, und zwar auf 1 850 Kräfte.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es soll aber auch hinzugefügt werden: Kosovo wird
noch viele Jahre auf Unterstützung auch durch die Euro-
päische Union angewiesen sein. Das hat auch der Fort-
schrittsbericht der Europäischen Kommission im De-
zember 2010 deutlich gemacht. Die Kommission hat
auch Fortschritte in der Justiz und beim Kampf gegen or-
ganisierte Kriminalität angemahnt. Noch häufen sich
Klagen über die politische Beeinflussung der Gerichte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12731
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) (C)
(D)(B)
Noch ist Kosovo von europäischen Standards weit ent-
fernt.
Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten der EU-
Rechtsstaatsmission EULEX, die Ermittlungen im Zu-
sammenhang mit den Vorwürfen, die die Berichterstatter
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates er-
hoben haben, zu führen. Die Führung Kosovos hat ihre
Unterstützung bei der Aufklärung angekündigt. Wir wer-
den sie natürlich an ihren Taten messen.
Dies ist ein langjähriges Engagement, auch ein lang-
jähriges militärisches Engagement. Aber wir sehen, dass
es gut war, Ausdauer zu haben und sich der Verantwor-
tung zu stellen. Wir wollen nie vergessen, wie die Lage
Mitte und auch noch Ende der 90er-Jahre gewesen ist.
Manche fragen: Was geht uns das an? Spätestens dann,
wenn man sich daran erinnert, wie viele Hunderttau-
sende von Flüchtlingen aus der Region seinerzeit nach
Deutschland gekommen sind, weiß man, dass Kosovo
nicht irgendwo ist und dass nicht irgendwelche anderen
betroffen sind. Das sind wir selbst; das ist Europa. Des-
wegen ist es richtig, dass dieser Einsatz auch unter den
veränderten Umständen mit den veränderten Rahmenda-
ten fortgesetzt wird. Wir bitten um Ihre Zustimmung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Michael Groschek für die SPD-
Fraktion.
Michael Groschek (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat,
Herr Außenminister: KFOR ist seit 1999 zu einer Er-
folgsgeschichte vernetzter Sicherheitspolitik geworden.
Anders als das bei anderen Mandaten der Fall ist, ist das
wirklich überprüfbar, nachvollziehbar und im Ergebnis
unzweifelhaft. Deshalb gebührt unser Dank den Solda-
tinnen und Soldaten, aber auch allen anderen Einsatz-
kräften; denn hier gibt es ein vorbildliches Zusammen-
wirken aller.
Man muss daran erinnern, was am Beginn des Einsat-
zes stand: Der Versuch von Staatenbildung – was ange-
sichts grausamer Kriegsverbrechen und Vertreibung im-
mer wichtiger wird – und ethnische Konflikte, die wir in
Europa für unmöglich gehalten hätten. Wenn wir heute
in die Region blicken, finden wir einen befriedeten Sü-
den und einen Norden, der halbwegs sicher ist und nur
noch relativ wenig Eskalationspotenzial birgt. Deshalb
noch einmal: Allen Beteiligten ein herzlicher Dank für
diesen Jahrzehnte dauernden Einsatz im Kosovo und in
Serbien.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben am Wochenende vernehmen können, bei-
spielsweise im NDR, dass sich ein Teil unserer Soldatin-
nen und Soldaten über Langeweile im Einsatz beklagt.
Wenn das den Tatsachen entspricht, dann ist auch das ein
Erfolgsindiz. Soldatinnen und Soldaten, die sich im Ein-
satzgebiet langweilen, sind allemal besser dran als dieje-
nigen, die um Leib und Leben fürchten müssen. Auch
deshalb ist der Einsatz der KFOR eine Erfolgsgeschichte
der Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam in unter-
schiedlichen Regierungskonstellationen verantwortet ha-
ben.
Ja, wir ziehen uns Stück um Stück zurück. Wir redu-
zieren das Mandat von ursprünglich 6 000 Bundeswehr-
soldaten auf maximal 1 850 Soldaten. Unsere Zustim-
mung zu dem Mandat ist gewiss, weil auch wir sehen,
dass die KFOR und unsere Streitkräfte im Grunde nur
noch die Überlebensversicherung im Hintergrund bilden.
Im Vordergrund stehen die nationale Polizei, die para-
militärische Miliz und das, was EULEX als internatio-
nale Polizeimacht bieten kann. Die schrittweise Über-
gabe der Verantwortung an die kosovarische Seite kann
man nur begrüßen. Die Republik Kosovo sagt selbst:
Bitte bleibt, ein Restrisiko wollen wir mit eurer Hilfe ab-
decken, weil unsere eigene Kraft und Staatlichkeit noch
nicht ausreichen. – Trotzdem ist es für uns eine grundle-
gende Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nicht durch
das Militär gesichert werden kann, sondern nur durch
Demokratie und Wohlstand.
Wenn man Demokratie und Wohlstand als Grundlage
nimmt, dann weiß man, dass nur Europa die Alternative
zu Vertreibung und Zerstörung ist. Bei diesem langen
Marsch des Kosovo und Serbiens nach Europa haben
auch Sozialdemokraten Blutzoll gezahlt. Es war ein so-
zialdemokratischer Ministerpräsident, der von wirren
Nationalisten in Serbien ermordet wurde, weil er seine
Nation mutig nach Europa führen wollte. Solche Männer
und diesen Geist wollen wir stärken.
Wir würden uns gerade heute von der Bundesregie-
rung, Herr Außenminister – nicht in Ihrer Rede, aber in
der Rede, die die Bundeskanzlerin heute Morgen gehal-
ten hat –, mehr Mut zu Europa wünschen, mehr Be-
kenntnis zu und Aktivität für Europa. In dieser Hinsicht
haben wir heute vieles vermisst. Wir hatten das Gefühl,
dass Teile der Regierung und der Regierungskoalition
nicht bestrebt sind, die Stammtische zu überzeugen, son-
dern sich nach wie vor von ebendiesen über den Tisch
ziehen lassen. Das ist sehr bedauerlich.
(Beifall bei der SPD)
Mut macht dagegen die private Initiative in vielen Be-
reichen, unter anderem die Investitionsabsicht des an-
sonsten viel gescholtenen RWE: 350 Millionen Euro sol-
len in den nächsten Jahren in Wasserkraft in Serbien
investiert werden. Das ist eine sehr sinnvolle Investition,
die wir ausdrücklich begrüßen, weil sie die nachhaltige
Entwicklung in der Region fördert. Investitionsbereit-
schaft setzt aber auch Investitionssicherheit voraus. Da
hapert es noch an manchem. Ich darf daran erinnern,
dass beispielsweise der WAZ-Konzern in einer Kumpa-
nei von Politik und Wirtschaft auf dem Feld der Medien-
wirtschaft übelst ausgebootet werden sollte. Das ist das
Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Da muss in Serbien
und der Region noch nachgearbeitet werden, wenn wir
die Investitionen mobilisieren wollen, die wir brauchen,
um die Region nach vorne zu bringen.
12732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Michael Groschek
(A) (C)
(D)(B)
Für uns endet die Verantwortung eben nicht mit dem
Abzug der letzten Soldatin oder des letzten Soldaten.
Vielmehr bekennen wir uns zu dem Prinzip, die Ent-
wicklung weiter zu fördern. Da muss die Politik – gerade
wir, für die die Perspektive Europa alternativlos ist – ei-
nen Beitrag dazu leisten, beiden Seiten zu helfen, sich
aus ihrer Opferrolle zu emanzipieren. Wer immer nur mit
dem Blick des Opfers auf den Nachbarn schaut, hat nicht
die Kraft und die Fähigkeit, nach vorne zu blicken, über
den Horizont zu schauen und mutig in Richtung Europa
zu gehen. Ich finde schon, dass gerade heute, wo Mladic
in Haft genommen wurde, ein Tag ist, um sich zur Euro-
päisierung und zu einer Teilhabe beider Staaten im Rah-
men der Europäischen Union zu bekennen. Der Weg
dorthin ist lang; das wissen wir.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um einen sicher-
heitspolitischen Punkt anzusprechen, der uns in dieser
Woche im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskon-
trolle und Nichtverbreitung“ beschäftigt hat: die Streu-
bombenverminung Serbiens. Ein serbisches Opfer hat
sehr eindrucksvoll geschildert, wie es als Bombenent-
schärfer mit der Streubombenmunition in Kontakt ge-
kommen ist und körperlich versehrt wurde. Wir konnten
in der Zeit nachlesen, auf wie skandalöse Weise bei-
spielsweise unsere staatlichen Zuschüsse zur Riester-
Rente missbraucht werden, um in die Produktion von
verbotener und geächteter Streubombenmunition zu in-
vestieren. Hier beginnt unsere Verantwortung für eine
nachhaltige Entwicklung: Wir müssen gemeinsam nicht
nur fordern, das Streubombenverbot juristisch durchzu-
setzen und abzusichern, sondern wir müssen die Produk-
tion von Streubomben dadurch auch praktisch verun-
möglichen, dass wir ein Verbot von Investitionen in die
Produktion dieser grässlichen Waffen erwirken. Das
wäre ein Ausrufezeichen, welches wir uns von dieser
Bundesregierung wünschen würden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
In diesem Sinne: Jede Unterstützung für das Mandat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de
Maizière.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Geschichtliche Entwicklungen vollziehen sich
in Geschichten und Namen: Der Außenminister hat an
Mladic, seine Verbrechen und seine Verhaftung erinnert.
Herr Groschek hat an Herrn Djindjic erinnert, der ermor-
det worden ist. Auch ich will mit einer Geschichte be-
ginnen, aber mit einer schönen: Vor rund zwei Wochen,
am 10. Mai, wurde das Erzengelkloster im Bistrica-Tal
bei Prizren von der Kosovo Force an die kosovarischen
Sicherheitsbehörden übergeben, als sechstes von insge-
samt neun serbischen Kulturgütern. Diese Übergabe
hatte für das deutsche Kontingent eine ganz besondere,
auch emotionale Bedeutung, war es doch die Bundes-
wehr, die dieses Kloster über viele Jahre zu schützen
hatte.
Bei den schweren Unruhen im März 2004 mussten
unsere Soldaten nämlich die wenigen dort ansässigen
serbischen Mönche evakuieren, um sie so vor Schlim-
merem zu bewahren. Das Kloster selbst erlitt schwerste
Schäden. Der Wiederaufbau ist zwischenzeitlich abge-
schlossen, auch mithilfe der Bundeswehr. Die kleine Ge-
schichte über das Kloster erzählt eigentlich die ganze
Geschichte dieses Einsatzes.
Seit diesen Unruhen ist es auch dank der Präsenz von
KFOR nie wieder zu Ausschreitungen solchen Ausma-
ßes gekommen. Es gibt sie noch, die gelegentlichen Zwi-
schenfälle; Sie haben darauf hingewiesen. Die Lage im
Norden des Kosovo bleibt gespannt. Aber insgesamt hat
sich die Sicherheitslage im Kosovo nachhaltig stabili-
siert.
Zur Stunde versehen im Kosovo noch rund
1 000 deutsche Soldaten ihren Dienst bei KFOR. Wir
werden dieses Kontingent zeitnah auf 900 Soldatinnen
und Soldaten reduzieren. Da fragt man sich: Warum er-
bitten wir ein Mandat von höchstens 1 850, wenn es
doch nur 900 sind? Die Antwort besteht darin, dass wir
500 in Deutschland in Reserve stehende Soldaten eines
Operational-Reserve-Force-Bataillons bereithalten – das
ist mit den Kosovaren abgestimmt –, damit man, wenn
es zu Unruhen käme, schnell eingreifen könnte. Der Rest
bezieht sich auf Personalüberhänge bei Kontingentwech-
seln und Ähnliches. Die Reduzierung von derzeit mögli-
chen 2 500 auf mögliche 1 850 Soldatinnen und Solda-
ten steht in vollem Einklang mit der laufenden
Absenkung der Gesamtstärke von KFOR.
Es ist schon gesagt worden – ich unterstreiche das –:
Die Strategie ist erfolgreich. Sie mündet zunehmend in
politische Aktivitäten. Natürlich – der Außenminister
hat darauf hingewiesen – müssen die kosovarische Re-
gierung und auch die serbische Regierung einen Beitrag
dazu leisten, insbesondere mit Blick auf die Grenz- und
Statusfragen, die sie haben. Aber wir wünschen uns na-
türlich auch – ich sage das heute aufgrund der netten
Stimmung, in der wir sind, ganz zurückhaltend – mehr
rechtsstaatliche Fortschritte, gerade im Kosovo. Das ge-
hört dazu.
An diesem Erfolg der internationalen Gemeinschaft
– daran will ich heute einmal erinnern – haben insgesamt
110 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 im
Einsatz mitgewirkt. Manche Doppelzählung ist dabei,
weil manche mehrfach im Einsatz waren; das weiß ich
durchaus. Auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Aber
diese Zahl macht deutlich, um welche Dimension es
geht: In zehn Jahren haben dort weit über 100 000 ver-
schiedene deutsche Soldaten ihren Einsatz geleistet. Ih-
nen sowie den zivilen Mitarbeitern bei UNMIK und
EULEX sei auch von mir an dieser Stelle ganz herzlich
gedankt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12733
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
(A) (C)
(D)(B)
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Unsere Soldaten leisten eine gute Arbeit. Ich war im
März vor Ort und habe mich selbst davon überzeugt. Wir
sind dort hochgeschätzt bei unseren Partnern, bei der ko-
sovarischen Regierung und der Opposition, also auf al-
len Seiten. Deshalb wird Deutschland nun zum dritten
Mal in Folge und zum sechsten Mal insgesamt den
Kommandanten, den COMKFOR, also den Chef von
KFOR insgesamt, für ein weiteres Jahr stellen. Ich
glaube, das ist eine Auszeichnung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich über
die Unterstützung dieses Hohen Hauses und bitte in der
zweiten Lesung um Zustimmung zur Mandatsverlänge-
rung.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Inge Höger für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Inge Höger (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als
zwölf Jahre ist die NATO schon im Kosovo präsent. In
vielen Bereichen des Landes ist die Lage heute verhee-
render als vor Beginn des NATO-Krieges.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP:
Was? – Elke Hoff [FDP]: Das kann ja nicht
wahr sein! – Michael Brand [CDU/CSU]: Gut,
wenn man Feindbilder pflegt!)
Die verschiedenen internationalen Akteure, besonders
die NATO und die EU, haben neben militärischen Aktio-
nen auch in zivilen, polizeilichen und wirtschaftlichen
Bereichen in das Land eingegriffen. Die Situation in die-
ser Balkanregion hat sich dadurch grundlegend verän-
dert. Verbessert hat sie sich nicht, im Gegenteil.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist zynisch,
was Sie hier sagen!)
Vor der NATO-Intervention war es vor allem die
schlechte ökonomische Situation, die neben dem serbi-
schen und albanischen Nationalismus die Lage im
Kosovo destabilisiert hat. Obwohl es im ehemaligen
Jugoslawien eine Art Länderfinanzausgleich zur Unter-
stützung des Kosovo gab, lag das Einkommen dort pro
Kopf nur bei etwa der Hälfte dessen, was im Rest Jugo-
slawiens erzielt wurde. Nach zwölf Jahren Besatzung
liegt das Einkommen im Kosovo nun bei weniger als ei-
nem Viertel dessen, was in Serbien verdient wird,
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das stimmt
doch gar nicht, Frau Höger!)
und die Schere geht zunehmend weiter auseinander.
Etwa die Hälfte der Menschen im Kosovo ist arbeitslos.
Mehr als ein Drittel lebt in Armut,
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Was hat das
mit der Bundeswehr zu tun?)
und beinahe 20 Prozent leben in extremer Armut. Diese
Menschen müssen von weniger als 94 Cent pro Tag le-
ben.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE], an die CDU/
CSU gewandt: Das können Sie sich ruhig ein-
mal anhören! – Gegenruf von der CDU/CSU:
Aber man muss nicht jeden Unsinn verkraf-
ten!)
Sie können ja versuchen, mit 94 Cent pro Tag auszu-
kommen.
Angesichts dessen ist klar, dass die im Mandatsantrag
erwähnte „weitestgehende“ Ruhe bestenfalls oberfläch-
lich ist. Hier zeigt sich überdeutlich: Das Mantra der
Bundesregierung, Sicherheit sei die Voraussetzung für
Entwicklung, funktioniert nicht. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Wenn die Menschen eine Entwicklungs-
perspektive haben, dann wird auch die Sicherheitslage
besser.
(Beifall bei der LINKEN)
Doch genau hier haben die Besatzer auf ganzer Linie
versagt. Die ethnische Spaltung des Landes hat sich in
den letzten zwölf Jahren verfestigt. Es sind zwar nahezu
alle kosovo-albanischen Flüchtlinge in das Land zurück-
gekehrt, von den 230 000 serbischen Flüchtlingen aber
gerade einmal 15 000. Davon mussten 4 000 bei den Un-
ruhen 2004 erneut fliehen. Für Roma sieht die Lage noch
schlechter aus. Sie werden im Kosovo verfolgt. Für diese
Bevölkerungsgruppe ist die Lebenssituation ziemlich
aussichtslos. Trotzdem finden nach wie vor Sammelab-
schiebungen aus Deutschland statt. Eine humane Politik
sieht anders aus.
(Beifall bei der LINKEN)
Institutionen, die mit westlicher Hilfe im Kosovo auf-
gebaut wurden, haben wenig zur Demokratisierung bei-
getragen. Für die Privatisierungen ist beispielsweise die
Kosovo Trust Agency zuständig. Sie hat mit zur Aus-
breitung von Korruption beigetragen. Der Sonderermitt-
ler des Europarates, Dick Marty, gibt der KFOR und
auch der Bundeswehr wesentliche Mitschuld an der Aus-
breitung von organisierter Kriminalität, von Menschen-
handel und illegalen Organtransplantationen.
(Zuruf von der FDP: Das ist unglaublich! –
Michael Brand [CDU/CSU]: Bei der Rede
kann man nur mit Valium auskommen! – Ge-
genruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]:
Das müssen Sie einfach mal aushalten!)
Eine solche Mitschuld ist in Untersuchungen und Be-
richten nachgewiesen worden. Die internationale zivile
und militärische Präsenz ist mit dafür verantwortlich,
dass Bordelle mit Zwangsprostituierten gute Geschäfte
machen.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie
sind doch verblendet!)
12734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Inge Höger
(A) (C)
(D)(B)
Das sieht auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
so. Diese Studie berichtet übrigens auch davon, dass die
kosovarische Bevölkerung in der internationalen Präsenz
„überhebliche Protektoratsherren“ sieht.
Die Linke fordert ein Ende der NATO-Besatzung. Die
frei werdenden Gelder könnten dann zur Verbesserung
der Situation der Menschen vor Ort eingesetzt werden.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] –
Michael Brand [CDU/CSU]: Da klatscht nur
noch einer bei Ihnen!)
Vor allem aber ist die Einsicht nötig, dass die bisherige
Kosovo-Politik ein grundlegender Fehler war. Das vor-
liegende Mandat führt nur weiter in die politische Sack-
gasse. Die Linke lehnt die Mandatsverlängerung ab.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand
[CDU/CSU]: Gut, dass der Außenminister
über die Opfer gesprochen hat! – Weiterer Zu-
ruf von der CDU/CSU: Mit der Sackgasse
kennen Sie sich ja aus!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Präsenz deutscher Soldaten im Kosovo beruht auf der
UN-Sicherheitsresolution 1244 aus dem Jahr 1999.
Nicht nur Russland, auch Serbien hat seinerzeit der Sta-
tionierung der internationalen Truppen zugestimmt. Die
völkerrechtliche Legitimität ist damit im Gegensatz zur
vorangegangenen nicht UN-mandatierten NATO-Inter-
vention unstreitig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Überzeugendste an diesem Einsatz aber ist, dass er
sich konsequent selbst überflüssig macht. Erfreulich ist
die Reduzierung der Truppen von ursprünglich 50 000
Soldaten auf jetzt 5 500, davon noch 900 deutsche. Die
weitere Reduzierung ist geplant. Die Multinational
Battle Groups wurden aufgelöst und durch Monitoring
Teams ersetzt. Der Flugbetrieb der Bundeswehr wurde
eingestellt, und die Hubschrauber wurden zurückverlegt.
Die größten Herausforderungen für die 2 Millionen Ein-
wohner des Kosovo sind nicht militärischer, sondern
polizeilicher und rechtsstaatlicher Natur. Dieser Tatsache
tragen der schrittweise Abzug der Truppen und die
Übertragung der Aufgaben auf die Kosovo Police Force
Rechnung.
Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Trotz ei-
nes gewissen Wirtschaftswachstums liegt die Jugendar-
beitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei über
60 Prozent. Die ethnische Teilung verursacht nach wie
vor Spannungen. Die meisten der 200 000 Kosovo-Ser-
ben leben in der Region um Mitrovica mit eigenen Ver-
waltungsstrukturen. Korruption und mafiose Strukturen
prägen das Machtgefüge im Kosovo. Bei einer Fahrt
durch das Land springt einem sofort die unerklärlich
große Zahl von Baustellen ins Auge. Man fragt sich, wa-
rum all die Hotels und Tankstellen nie fertig werden und
als Bauruinen die Landschaft verschandeln. Die Ant-
wort: Drogenhandel und Geldwäsche sind die vorherr-
schenden Einnahmequellen.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE], an die
Koalition gewandt: Zuhören!)
Besorgniserregend ist darüber hinaus der Ausbau der
Kosovo Security Force zu einer milizartigen Streitkraft,
obwohl diese ursprünglich allein für Evakuierung,
Brandbekämpfung und Minenräumung eingerichtet
wurde. Eine solche bewaffnete Miliz kann leicht zur
Keimzelle neuer bewaffneter ethnischer Auseinanderset-
zungen werden. Umso bedauerlicher ist es, dass diese
2 000 Kräfte gerade erst mit 900 deutschen G-36-Ge-
wehren von Heckler & Koch beliefert worden sind.
Der verständliche Wunsch nach Ruhe und Frieden im
Land darf nicht dazu führen, dass die organisierte Krimi-
nalität, die bis in die Regierung hineinreicht, verschont
bleibt.
(Inge Höger [DIE LINKE]: Das ist aber so!)
Die europäische Rechtsstaatsmission EULEX muss da-
für alle erforderliche Unterstützung bekommen, auch
wenn Ermittlungserfolge bei der Korruptionsbekämp-
fung gelegentlich Demonstrationen und Widerstand her-
vorrufen. EULEX ist die größte zivile Mission der EU
mit 1 400 Polizisten, 50 Richtern, 30 Staatsanwälten und
76 Zollbeamten. Von dem Erfolg dieser Arbeit wird ab-
hängen, ob sich das Kosovo eines Tages in die EU inte-
grieren lassen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Auch müssen Kosovo und Serbien Wege einer prag-
matischen Annäherung finden, wenn sich für beide eine
europäische Perspektive auftun soll. Hoffnung macht die
von Serbien mitgetragene UN-Resolution vom Oktober
letzten Jahres, in der genau dies gefordert wird. Hoff-
nung macht natürlich auch die heutige Verhaftung des
gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic.
Schließen möchte ich mit einem Appell an die Bun-
desregierung, die Abschiebung der Roma in das Kosovo
zu beenden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der Menschenrechtskommissar des Europarates,
Thomas Hammarberg, hat die Lebensbedingungen der
abgeschobenen Roma im Kosovo als humanitäre Kata-
strophe bezeichnet. Die Hälfte der 12 000 ausreisepflich-
tigen Roma ist jünger als 18. Zwei Drittel von ihnen sind
in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele von
ihnen sprechen weder serbisch noch albanisch, und nur
die wenigsten haben die Chance, im Kosovo eine Schule
zu besuchen. Ein Drittel dieser Kinder in den Lagern ha-
ben laut Grundrechte-Report nicht genug zu essen. Erin-
nern wir uns an die Rede von Zoni Weisz am 27. Januar
dieses Jahres hier im Bundestag und an unsere Verant-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12735
Katja Keul
(A) (C)
(D)(B)
wortung und Verpflichtung gegenüber den Roma und
Sinti Europas.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Beenden Sie die Abschiebung der Roma in das Kosovo!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die Fraktion
der CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Si-
cherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. Juni 1999 die
Resolution 1244 verabschiedete, sprach das Generalse-
kretariat der Vereinten Nationen von einer Tragödie im
Kosovo. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit ent-
fernt. Deshalb fand ich es unmöglich, dass hier gerade
diejenigen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser Stabili-
sierung geleistet haben, als Besatzer bezeichnet worden
sind. Ich glaube, das war ein Missgriff, der in dieser De-
batte nichts verloren hatte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ging damals für die Kosovaren um ihr Überleben.
Elf Jahre später hat sich viel zum Guten gewendet. Vor
elf Jahren haben die Vereinten Nationen uns angesichts
einer humanitären Tragödie den Auftrag gegeben, ein si-
cheres Umfeld für alle Menschen im Kosovo zu schaf-
fen. Wir erinnern uns: Deutschland hat es sich nicht
leicht gemacht, bei diesem Einsatz mitzumachen und
Verantwortung zu übernehmen. Vor elf Jahren beschloss
der Deutsche Bundestag ein Mandat mit einer Ober-
grenze von 8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem
Mandat mit 8 500 Mann vom 12. Juni 1999 und dem
Mandat mit 1 850 Mann, das heute zur Rede steht, ist er-
sichtlich. Der zivil-militärische Friedenseinsatz hat Er-
folg gezeigt. Deshalb dürfen wir heute davon ausgehen,
dass KFOR mit maximal 1 800 deutschen Soldatinnen
und Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Vor diesem
Hintergrund kann niemand behaupten, die Männer und
Frauen der Kosovo Force hätten in den elf Jahren nicht
viel erreicht.
Die internationale Gemeinschaft musste diese Tragö-
die stoppen. Die Präsenz ist weiterhin notwendig. Wir
investieren damit auch in die Zukunft Europas. Den Er-
folg stellte kürzlich auch die Neue Zürcher Zeitung fest,
die schrieb:
Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebro-
chen: Mehr und mehr Serben nehmen am politi-
schen Leben teil, profitieren von den Minderheiten-
rechten und -quoten und spielen eine zunehmend
wichtige Rolle in der Politik in Kosovo.
Dies ist letztendlich ein Verdienst unserer politischen
Initiativen, insbesondere der Initiativen, die unser Au-
ßenminister in den vergangenen zwei Jahren gestartet
hat. Diesen Erfolg möchte ich hier nicht unerwähnt las-
sen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wie steht es um die Sicherheit? Generalmajor Erhard
Bühler, der deutsche Kommandeur der KFOR-Truppen,
hat am 22. April dieses Jahres die Aufgabe so beschrie-
ben – ich zitiere erneut –: „Für mich ist es wichtig, Auf-
gaben der KFOR auf die Behörden des Kosovo zu über-
tragen, insbesondere an die Kosovo Police. Es ist kein
Geheimnis, dass ich eine hohe Meinung von der Kosovo
Police habe.“ – Dies ist tatsächlich ein großer Erfolg und
zeigt, dass wir – nach der kosovarischen Polizei und den
Polizisten von EUPOL – nur noch die dritte Linie der Si-
cherheit garantieren. Wir leisten einen wichtigen Beitrag
als Absicherung für den Fall, dass es wieder zu größeren
Problemen kommt.
Minister de Maizière hat vorhin das sehr anschauliche
Beispiel des Schutzes der Mönche und Schwestern in
den Klöstern genannt. Dies zeigt, wie wichtig dieser Ein-
satz war und welch hohen symbolischen Stellenwert ein-
zelne Maßnahmen der Bundeswehr im Kosovo hatten.
Dies ist aus meiner Sicht ein historisch ganz wichtiger
Punkt. Ich weise noch einmal darauf hin, dass in der Ge-
schichte sehr dramatische und schlimme Dinge auf dem
Balkan geschehen sind, für die Deutschland verantwort-
lich war, dass Deutschland an dieser Stelle aber eine gute
Spur hinterlassen hat. Dafür bin ich den deutschen Sol-
datinnen und Soldaten außerordentlich dankbar.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte diese Debatte nutzen, um unser Engage-
ment in der gesamten Region des Balkans auch über die-
ses Mandat hinaus deutlich zu machen. Die Fortschritte
sind bereits angesprochen worden. Natürlich wird es
weiterhin wichtige Themen geben, mit denen wir uns be-
schäftigen müssen. Die Zukunft der Region insgesamt
liegt unserer Meinung nach innerhalb der Europäischen
Union. Dies betrachte ich auch als eine Vision für die
Europäische Union; nicht kurzfristig, aber langfristig ist
dies ein wichtiger Schritt. Auch Serbien sieht seine Zu-
kunft, wie wir aus vielen Gesprächen wissen, in der EU
und hat am 22. Dezember 2009 einen Beitrittsantrag ge-
stellt. Dafür bedarf es natürlich einer echten EU-Per-
spektive. Die Voraussetzung dafür ist die Klärung des
Verhältnisses zwischen dem Kosovo und Serbien.
Serbien hat sein Anliegen im Hinblick auf eine recht-
liche Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Ko-
sovo mit gutem Recht vor dem Internationalen Gerichts-
hof in Den Haag vorgetragen; das steht Serbien frei. Der
verantwortungsvolle Umgang der Serben mit der Ant-
wort des IGH hat uns die Hoffnung gegeben, dass allen
klar ist: Es geht ernsthaft darum, dass Serbien und das
12736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Philipp Mißfelder
(A) (C)
(D)(B)
Kosovo ihre Konflikte friedlich lösen und letztlich als
gute Nachbarn zusammenleben. Dazu bedarf es aller-
dings weiterer Schritte, und bis dahin ist es noch ein lan-
ger Weg.
Gestern mussten wir leider die Meldung lesen, dass
Serbiens Präsident Tadic das Gipfeltreffen zwischen Prä-
sident Obama und den Staatschefs aus Ost- und Süd-
europa in Warschau boykottieren möchte. Der Grund sei,
dass auch die Präsidentin des Kosovo eingeladen ist.
Wenn das stimmt, muss man sagen: Das ist der falsche
Weg. Dies bedarf zwar keiner Geißelung, aber des Hin-
weises, dass wir uns das so nicht vorstellen. Wir halten
es für den richtigen Weg, sich gemeinsam an einen Tisch
zu setzen und die Gemeinsamkeiten zu betonen. Das
sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir in den ver-
gangenen Monaten sehr gute Gespräche mit serbischen
Politikern geführt haben. Insofern hat mich die gestrige
Meldung überrascht und gleichzeitig enttäuscht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Unsere Fraktion wirbt für die Verlängerung dieses
Mandats. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5706 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunter-
nehmen in den neuen Ländern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Altschulden der ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen streichen
– Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungs-
unternehmen neu ausrichten
– Drucksachen 17/4698, 17/5124 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema
„Altschuldenentlastung für die Wohnungsunternehmen
in den neuen Bundesländern“ begleitet uns schon seit der
Wiedervereinigung. Die Altschulden sind eine Last aus
der DDR-Zeit, die es gemeinsam zu schultern galt und
die wir zurzeit gemeinsam schultern. Die Umstellung
von einer staatlich zentral gesteuerten Planwirtschaft auf
die Erfordernisse der sozialen Marktwirtschaft hat viele
Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vor enorme
Herausforderungen gestellt. Ohne die Städtebauförde-
rung im Allgemeinen und die Altschuldenregelungen im
Besonderen wären viele Wohnungsunternehmen seiner-
zeit nicht überlebensfähig gewesen. Die Unionsfraktion
will an der bewährten Struktur des Wohnungsmarktes,
bestehend aus kommunalen, genossenschaftlichen und
privaten Wohnungsunternehmen, festhalten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Altschuldenhilfe trägt Sorge dafür, dass dies, zumin-
dest für Teile, auch möglich ist.
Das empirica-Gutachten, auf das sich insbesondere
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezieht, zeigt, dass
die Maßnahmen zur Altschuldenregelung gewirkt haben
und noch immer wirken. Bisher haben über 300 Unter-
nehmen eine Bewilligung für zusätzliche Altschulden-
hilfe erhalten. Von den 1,1 Milliarden Euro, die dafür be-
reitgestellt worden sind, stehen bis 2013 noch circa
180 Millionen Euro zur Verfügung.
Mit Blick auf die Zeit nach 2013 wollen wir von der
christlich-liberalen Koalition nach Lösungen suchen, da-
mit der Prozess des Stadtumbaus nicht ins Stocken gerät.
Dazu wollen wir den vorgesehenen Bericht aus dem
BMVBS zum Stadtumbau Ost, die Evaluierung des
Stadtumbaus Ost, im nächsten Jahr, im Jahre 2012, ab-
warten. Dann werden wir die aktuelle Situation prüfen
und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen auch
für die Altschuldenhilfe ziehen, aber weniger mit Blick
auf die wirtschaftliche Situation der Wohnungsunterneh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12737
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) (C)
(D)(B)
men, sondern mehr mit Blick auf die wohnungspoliti-
sche Situation der Akteure und Unternehmen, die sich
aktiv in die Stadtentwicklung in den Kommunen einbrin-
gen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jah-
ren hat sich die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen
Wohnungsunternehmen stetig und merklich verbessert
mit der Folge, dass die Altschulden keine wesentlichen
Auswirkungen mehr auf die ostdeutsche Wohnungswirt-
schaft haben.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist ja ei-
genartig! Da gibt es doch ganz andere Meldun-
gen!)
– Ich komme dazu, Herr Hacker. – Dabei ist Folgendes
zu sehen: Die allermeisten Unternehmen im Osten haben
nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das verdient
unsere Anerkennung. Sie haben ihre eigene Verwaltung
konsolidiert, durch Sanierung attraktiven Wohnraum ge-
schaffen, der auch nachgefragt wird, angemessene Miet-
preiserhöhungen durchgeführt, was nicht immer leicht
war, und natürlich auch Wohnungsbestand verkauft. Die
allermeisten Wohnungsunternehmen sind diesen schwie-
rigen Weg gegangen und haben es aus eigener Kraft ge-
schafft, nicht mehr durch Altschulden in ihrem Fortbe-
stand gefährdet zu sein.
Im Koalitionsvertrag haben Christdemokraten und Li-
berale vereinbart, Investitionen in den Innenstädten zu
fördern. So sollen durch den Stadtumbau Ost die Innen-
städte aufgewertet und die Sanierung der Altbausubstanz
gestärkt werden. Durch das empirica-Gutachten, das uns
vorliegt und das wir sehr intensiv ausgewertet haben,
wird diese Idee bestätigt. Allerdings ist zu beachten, dass
Investitionen in die Innenstädte nicht in direktem Zu-
sammenhang mit der Altschuldenregelung im Osten ste-
hen, sondern ein Thema der Städtebauförderung insge-
samt sind. Mein Kollege Peter Götz wird nachfolgend
nähere Ausführungen dazu machen.
Da uns als Union die bewährte Struktur aus kommu-
nalem, genossenschaftlichem und privatem Wohnungs-
eigentum wichtig ist, möchte ich erwähnen, dass
insbesondere in den Innenstädten viele private Immobi-
lienbesitzer vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie
die kommunale Wohnungswirtschaft.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr
richtig!)
Auch sie sind seit 1990 hohe Verbindlichkeiten einge-
gangen und haben mit ihrem Engagement zu einer er-
heblichen Aufwertung und Verbesserung der Situation
der Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern bei-
getragen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich selber komme aus Ostthüringen. Der größte Teil
meines Wahlkreises ist ländlich geprägt. Da die Einwoh-
nerzahl insgesamt sinkt, wird insbesondere auch der
ländliche Teil meines Wahlkreises betroffen sein. So
zeichnet sich ab, dass der Leerstand in den kleinen Städ-
ten und auch in den Dörfern bedrohlich wachsen wird.
Hier werden wir nach Lösungen suchen müssen, die je-
nen Hausbesitzern helfen, die Investitionen vorgenom-
men und so zu einer erheblichen Aufwertung ostdeut-
scher Städte und auch Gemeinden beigetragen haben.
Dass wir auch in diesem Bereich eine Lösung finden,
ist mir persönlich wichtig; denn ich möchte nicht, dass
sich am Ende, wie in der DDR, nur der Staat um die Ge-
staltung des Lebens- und Wohnumfeldes in den Städten
und Dörfern kümmert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Privates Engagement im Bereich des Wohnens muss un-
terstützt und gefördert werden. Nur so werden wir dafür
Sorge tragen, dass wir langfristig einen ausgewogenen
und attraktiven Wohnungsmarkt in Deutschland behal-
ten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD-
Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Vogel, Sie haben hier ein Lied gesungen,
das zum Teil mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung
steht. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass in den
letzten zwei Jahrzehnten viel geleistet worden ist. Aber
es geht heute um die Problematik Altschuldenentlastung.
Ich stelle nicht infrage, dass wir die Vielgestaltigkeit
des Wohneigentums in den neuen Ländern erhalten und
weiterentwickeln wollen und dass private Grundstücks-
eigentümer an den staatlichen Fördermaßnahmen betei-
ligt werden sollen. Das ist alles unbestritten. Heute geht
es konkret um die Altschuldenproblematik,
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
Das ist doch schon mal eine Aussage!)
und es geht um die Städtebauförderpolitik dieser Bun-
desregierung im Allgemeinen.
(Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul-
den nichts zu tun!)
– Darum geht es im Allgemeinen, Herr Döring; denn die
Politik der Bundesregierung ist nicht von nachhaltigen
Anstrengungen bei der Lösung stadtentwicklungspoliti-
scher Themen in den neuen Ländern geprägt.
(Patrick Döring [FDP]: Unsere Haushalts-
politik ist auch nachhaltig!)
Das kann man weder von der Bundesregierung noch von
der schwarz-gelben Koalition in diesem Hause sagen.
Damit geben Sie, wie ich finde, ein sehr wichtiges Pfund
auf, das in der Städtebauförderung in Deutschland viele
Jahre prägend war. Daraus konnten wir die guten Ergeb-
nisse erzielen.
12738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Hans-Joachim Hacker
(A) (C)
(D)(B)
Ich erinnere nur daran, dass Sie die Programme
„Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ abgewertet ha-
ben. Das weiß jeder. Das sagen Ihnen alle Wohnungs-
unternehmen. Dafür werden Sie kritisiert.
(Patrick Döring [FDP]: Das hat aber mit Alt-
schuldenhilfe nichts zu tun!)
– Jetzt komme ich zur Altschuldenhilfe, Herr Döring.
Bei der Altschuldenhilfe zeigen Sie nicht einen einzi-
gen Ansatz. Sie haben selber ein Gutachten in Auftrag
gegeben, das Ihnen konkrete Hinweise zur Entwicklung
einer Politik gibt. Dieses Gutachten negieren Sie. Damit
ist beides in Verbindung zu bringen; denn wir müssen
Abriss und Sanierung als Einheit sehen.
(Patrick Döring [FDP]: Das ist ja das
Problem!)
Abriss und Sanierung sind zwei Seiten einer Medaille.
Diese beiden Seiten nehmen Sie nicht wahr.
Wir sind dafür, dass wir weiter Abriss und Aufwer-
tung vornehmen. Für uns sind neben den Innenstädten,
die in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende
Rolle spielen werden, auch die Plattenbaugebiete weiter-
hin wichtig, weil wir wohnungspolitisch betrachtet noch
Jahrzehnte weiter mit ihnen leben müssen.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Es hat auch
niemand gesagt, dass die nicht wichtig sind!
Das ist alles nicht verboten! Die sind wichtig!)
– Das ist auch nicht das Thema, Frau Müller. Das Thema
ist, dass wir dort helfen müssen, wo noch mehr getan
werden muss. Wir haben aus der DDR-Zeit die schon er-
wähnten Altschulden übernommen.
(Patrick Döring [FDP]: Wir haben sie nicht
übernommen!)
Derzeit liegen immer noch 7,6 Milliarden Euro Altschul-
den auf den ostdeutschen Wohnungsunternehmen.
Es gab sicherlich unterschiedliche Aktivitäten. Damit
haben Sie recht, Herr Vogel. Dass das Altschuldenhilfe-
Gesetz enorm geholfen hat, bestreitet die SPD auch
nicht. Ich sage nur: Gerade vor dem Hintergrund, dass
letzte Woche die Berlin-Brandenburger Wohnungsunter-
nehmen einen Hilferuf an die Bundesregierung gerichtet
haben, müssen wir jetzt aktive Politik machen, Herr
Mücke. Haben Sie den mitbekommen? – Sie haben sich
in den Haushaltsberatungen dankenswerterweise kräftig
ins Zeug gelegt und wollten die Städtebaufördermittel
ein bisschen aufstocken. Aber leider ist nicht viel dabei
herausgekommen. – Noch einmal zurück zu dem Appell
aus Berlin-Brandenburg, lieber Herr Staatssekretär
Mücke.
(Patrick Döring [FDP]: Es wäre schön, wenn
beide Länder ihre Mittel richtig verwenden
würden!)
Der Hilferuf aus Berlin-Brandenburg, der von den Mi-
nistern anderer Länder und auch von den Wohnungs-
unternehmen unterstützt wird, Herr Döring, lautet im
Wesentlichen: Im Jahr 2016 könnte jede siebte Wohnung
in Berlin-Brandenburg unbewohnt sein.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das gilt aber
nicht nur für den Osten!)
– Damit komme ich zu Ihnen, Frau Müller. Wir machen
doch in der SPD keine nach Ost und West sortierte Woh-
nungspolitik. Es gibt eine andere Fraktion, die das viel-
leicht in der Vergangenheit konnte; aber heute kann sie
das auch nicht mehr.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Genau! – Heidrun
Bluhm [DIE LINKE]: Uns?)
– Ja, Frau Bluhm, genau Sie. Sie konnten in der Vergan-
genheit Ost und West schön differenziert darstellen. Das
gelingt Ihnen heute nicht mehr. Sie haben nun auch Kol-
leginnen und Kollegen aus dem alten Bundesgebiet. Ich
bin sehr gespannt, wie die Kollegen zu einem solchen
Ost-West-Denken stehen, das uns eigentlich im 21. Jahr
der deutschen Einheit fremd werden sollte.
Aber bleiben wir bei den Altschulden.
Wie gesagt, 2010 war jede zwölfte Wohnung unbe-
wohnt. Hier ist ein enormer Anstieg zu befürchten. Jede
leerstehende Wohnung belastet die Wohnungsunterneh-
men jedes Jahr mit 3 500 Euro für Tilgung und Zinsen.
Das ist ein Strick, der die Unternehmen einschnürt. Das
ist die eine Seite. Die andere Seite ist die starke Abwan-
derung aus den neuen Ländern. Insbesondere mobile
junge Menschen wandern ab. Das können wir nur be-
dingt beeinflussen, Stichwort „demografische Entwick-
lung“. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Darauf
müssen sich die Unternehmen mittel- und langfristig ein-
stellen. Sie müssen sanieren, attraktive Wohnungen
schaffen und vor allen Dingen – ich will den Fokus auch
auf die alten Menschen in den neuen Ländern richten –
für altersgerechte Wohnsubstanz sorgen. Das alles geht
nur, wenn wir bei der Altschuldenhilfe vorankommen.
Wir weisen mit unserem Antrag konkret den Weg,
wie man das Problem lösen kann. Diesen können Bund
und Länder gemeinsam gehen. Frau Kollegin Bluhm,
unser Weg sieht ein bisschen anders aus als Ihrer. Wir
streichen nicht einfach die Altschulden. Das war auch
nicht Politik der letzten 20 Jahre. Wir können heute eine
lange Diskussion über das Zustandekommen der Alt-
schulden – das hatte etwas mit der Währungsumstellung,
den Sparguthaben und dem Einsatz dieser Sparguthaben
in der DDR zu tun – führen. Aber das würde keinem
Wohnungsunternehmen und auch keinem Mieter in den
neuen Ländern helfen. Wir müssen vielmehr Lösungen
suchen und finden und dann Beschlüsse fassen, die kon-
kret helfen.
Unsere Lösung sieht wie folgt aus: Wir fordern in un-
serem Antrag den Bund auf, jetzt Gespräche mit den
Ländern aufzunehmen. Herr Mücke, dieser Appell rich-
tet sich an die Bundesregierung. Wir fordern, dass die
Regierung dem Deutschen Bundestag eine abschlie-
ßende Regelung zur Beschlussfassung vorlegt, die eine
bessere Finanzausstattung der Städtebauförderung sowie
eine bessere Förderung der energetischen Sanierung und
des altersgerechten Umbaus vorsieht. Herr Götz, wir ha-
ben vielleicht in den nächsten Wochen noch Gelegen-
heit, darüber intensive Gespräche zu führen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12739
Hans-Joachim Hacker
(A) (C)
(D)(B)
(Peter Götz [CDU/CSU]: Das werden wir
tun!)
Herr Vogel, Sie haben an Ihren Koalitionsvertrag er-
innert. Aus diesem will ich jetzt nicht zitieren. Aber ich
erinnere Sie daran, dass Sie dort die konkrete Verpflich-
tung eingegangen sind, eine Lösung zu finden, die dafür
sorgt, dass die Wohnungsunternehmen nicht durch den
Leerstand gefährdet werden. Das, was Sie hierzu im Ko-
alitionsvertrag festgeschrieben haben, ist richtig.
(Patrick Döring [FDP]: Ein guter Koalitions-
vertrag!)
Dieses Versprechen sollten Sie jetzt einlösen, Herr
Döring; denn ansonsten werden die Folgekosten die
Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern – das ha-
ben wir nach 1990 gesehen – überrollen. Wir sind bei
ungefähr 30 Milliarden Euro gestartet. 1994 waren es
bereits 50 Milliarden Euro. Die Hilfe war zwar richtig,
kam aber zu spät.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie haben in dieser Woche gezeigt, dass Sie lernfähig
sind. Dafür möchte ich Ihnen ein Kompliment ausspre-
chen.
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
Das ist schon länger so! Aber das ist Ihnen erst
in dieser Woche aufgefallen!)
– Herr Vogel, das ist mir schon öfter aufgefallen. Aber
Sie sollten das hier auch vertreten.
Herr Götz, Sie haben sich bei der Privilegierung von
Kinderlärm in Kitas bewegt.
(Patrick Döring [FDP]: Was Sie in der letzten
Legislaturperiode abgelehnt haben!)
Obwohl Sie unseren ersten Antrag zu diesem Thema im
Bundestag in dieser Legislaturperiode abgelehnt haben,
haben Sie nun eine Regelung vorgelegt, der wir zustim-
men konnten. Die kleinen Differenzen, die es gab – diese
waren für uns nicht ganz unwichtig –, will ich noch ein-
mal in Erinnerung rufen. Aber das hat am Ende das Er-
reichen des großen Ziels nicht beeinträchtigt.
Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Kehrtwende
in Ihrer Energiepolitik vollzogen und befürworten nun
den Atomausstieg, ohne dass sich die technischen Be-
dingungen in den deutschen Atomkraftwerken verändert
haben. Ich traue Ihnen Kraft und Mut zu, bei der Alt-
schuldenproblematik ebenso zu agieren. Ich rufe Ihnen
zu: Bringen Sie den Mut auf, den letzten notwendigen
Schritt bei der Entlastung der ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen von Altschulden zu gehen! Lösen Sie jetzt
Ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag ein! Sie
haben jetzt die Chance, unserem Antrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, bitte stei-
gen Sie in das Boot!
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Petra Müller (Aachen) (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim „Stadtumbau Ost“ soll die Aufwertung von
Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
gestärkt und der Rückbau der technischen und so-
zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge-
löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun-
ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge-
fährdet werden.
Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag der christ-
lich-liberalen Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende des letzten
Jahres gab es insgesamt 780 000 Wohnungen in
Deutschland, die leer standen, Tendenz steigend. Das
heißt, 3,7 Prozent, also fast 4 Prozent des deutschen
Wohnraums waren nicht vermietet. Das ist marktökono-
misch ein Problem, volkswirtschaftlich und vor allem
sozial. Aber dieser Leerstand muss differenziert betrach-
tet werden, um am Ende zu einer differenzierten Lösung
zu gelangen.
Die Analysen der Marktforschung sagen uns natürlich
mehr: Von den 780 000 Wohnungen sind 380 000 Woh-
nungen in Ostdeutschland leer. Das sind 6,6 Prozent im
Vergleich zu 2,7 Prozent im Westen. Damit scheint das
Sorgenkind ausgemacht: Betroffen sind vor allem die so-
zialistischen Plattenbausiedlungen, betroffen sind die
Rechtsnachfolger der DDR-volkseigenen Wohnungs-
baugesellschaften. Diese Unternehmen leiden erstens am
Leerstand, an einer unattraktiven Wohnsubstanz und
zweitens an der Kreditlast der Planwirtschaft. Aber auch
das ist wieder nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig zei-
gen Studien, dass sich die Leerstandsquoten Ost und
West seit 2001 annähern. Das ist die Sach- und Fakten-
lage.
In dem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag des
BMVBS – das ist schon mehrfach hier angeklungen –
wurde der Wohnungsmarkt untersucht. Es kommt zu ei-
nem Ergebnis. Das Ergebnis ist unter anderem begrü-
ßenswert: Die Ertragslage der ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen hat sich im Wesentlichen verbessert. Diese
Gutachten wurden übrigens vom GdW und von Haus &
Grund begleitet. Das Gutachten besagt weiter: Noch nie
ging es der ostdeutschen Wohnungswirtschaft so gut.
(Zuruf von der FDP: So ist das!)
Für 200 Wohnungsunternehmen stehen bis 2013 noch
rund 170 Millionen Euro bereits bewilligte Mittel zum
Abruf bereit. Die Frage ist nun: Soll die Altschuldenhilfe
über das Jahr 2013 hinaus fortgeführt werden?
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: 2012!)
– 2013 gibt es ja noch Mittel. Man muss erst einmal ab-
rufen. Aber darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr
Kollege Hacker.
Kolleginnen und Kollegen, seriös kann ich Ihnen da-
rauf heute, vor dem Sommer des Jahres 2011, keine ver-
bindliche Antwort geben. Vielmehr vertrete ich die Auf-
fassung, dass wir uns in 2012 die Situation in den
12740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Petra Müller (Aachen)
(A) (C)
(D)(B)
ostdeutschen Ländern erneut ansehen müssen, den Abru-
fungsstand der Mittel betrachten und danach seriöse Ent-
scheidungen treffen.
Fakt ist: Die Altschulden machen heute gut
20 Prozent der langfristigen Verbindlichkeiten der Woh-
nungsunternehmen in Ostdeutschland aus. Damit gefähr-
den die Altschulden diese Unternehmen nicht. Dement-
sprechend ist es für eine Fortführung des Stadtumbaus
nicht zwingend notwendig, die Altschuldenhilfe nach
2013 weiter fortzuführen; denn sie werden bis dahin ab-
nehmen. Zudem erfolgen zurzeit in Ost und in West wei-
tere Abrisse, ganz einfach aus betriebswirtschaftlichen
Gründen, weil damit die Leerstandskosten reduziert wer-
den. Es werden auch sanierte Gebäude abgerissen. Das
sind ganz normale Vorgänge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich
an dieser Stelle nicht falsch. Als fast einzige Rednerin zu
diesem Thema komme ich nicht aus dem Osten. Die
Problematik der Altschuldenhilfe habe ich sehr wohl
verstanden. Aber ich möchte Sie darum bitten, das
empirica-Gutachten ohne Vorbehalte und ohne Vorur-
teile zu lesen.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
sich zu bemühen, die Altschuldenhilfe fortzuführen. Sie
können sicher sein: Bemühen werden wir uns. Die
christlich-liberale Koalition wird mit dem Programm
„Stadtumbau Ost“ weiterhin erfolgreich und kontinuier-
lich die Probleme der Städte und Gemeinden lösen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Kurz ist es eben bei meinen Vorrednern schon ange-
klungen: Diese Probleme resultieren nicht aus den Alt-
schulden; sie resultieren aus den momentanen Wand-
lungsprozessen.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aus beidem!)
Diese sind in ganz Deutschland zu beobachten. Ich rede
von Schrumpfungsprozessen im Osten genauso wie im
Westen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Schrump-
fungsprozesse in den nächsten Jahren durch die ganze
Republik fortsetzen werden. Das hat etwas mit der Be-
völkerungsentwicklung und mit dem demografischen
Wandel zu tun. Diese Tatsache müssen wir für ganz
Deutschland akzeptieren. Städtebaulich und politisch ist
das selbstverständlich zu begleiten, aber es ist 20 Jahre
nach der deutschen Einheit einfach Normalität.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Stärkung der Innenstädte, Nahverdichtung, Rückbau
von Splittersiedlungen, das ist langfristig der einzig
gangbare Weg. Deshalb sollten wir in puncto Altschul-
den auch über eine Kopplungsregelung nachdenken: Es
wird eine Altschuldenhilfeentlastung gewährt, wenn ein
Unternehmen Wohngebäude ab dem Baujahr 1949 oder
1950 abreißt und den Entlastungsbetrag in die Sanierung
von Wohngebäuden in den Innenstädten, die nämlich ge-
stärkt werden müssen, investiert. Auch das ist übrigens
ein Ergebnis des Gutachtens.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja, das unter-
stützen wir auch!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
schließend ganz schnell noch eine Bemerkung machen.
Alles will finanziert werden, auch die Altschuldenhilfe.
Angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung
räumen wir der Städtebauförderung und damit dem
„Stadtumbau Ost“ absolute Priorität ein.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das zeigt sich
nicht in den Zahlen!)
Der „Stadtumbau Ost“ erreicht einen großen Adressaten-
kreis,
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Der Haushalt
sieht anders aus!)
wirkt spezifisch und punktgenau und erhält den Kommu-
nen und Regionen heimatbezogene Gestaltungshoheit.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Frau Müller,
der Haushalt! Schauen Sie doch einmal in den
Haushalt hinein!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die
Anträge lehnt die FDP-Bundestagsfraktion ab.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Müller, früher habe ich immer Herz-
klopfen bekommen, wenn ich hierher musste, weil ich so
aufgeregt war, hier zu reden. Heute habe ich Herzklop-
fen bekommen, als ich Ihrer Rede folgen musste, aber
nicht deshalb, weil sie so gut war, sondern deshalb, weil
sie mich beschämt. Ich verzeihe Ihnen das aber, weil Sie
eben nicht aus den neuen Bundesländern kommen.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ich bin der
größte anzunehmende Wessi! Ich weiß!)
Mehr als ein Jahr ist es schon her, dass wir uns hier im
Plenum mit dem Thema Altschulden befasst haben. Seit-
dem hat es eine Reihe von Debatten, Expertengesprä-
chen, Anhörungen und neuen Anträgen gegeben, zuletzt
ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gut-
achten, das hier mehrfach angesprochen wurde, dazu
wieder Stellungnahmen und noch eine Anhörung. Im
Ergebnis sind wir bisher keinen Millimeter weiterge-
kommen. Dabei haben Sie selbst in den Koalitionsver-
trag geschrieben, dass der Stadtumbau in den neuen
Bundesländern nicht durch ungelöste Altschuldenpro-
bleme gefährdet werden soll.
Aber genau das tun Sie. Entgegen allen im vergange-
nen Jahr eingeholten Expertenmeinungen, entgegen den
Stellungnahmen aus der Wohnungs- und Immobilien-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12741
Heidrun Bluhm
(A) (C)
(D)(B)
wirtschaft, entgegen den Forderungen der ostdeutschen
Bauminister, vieler Kommunalpolitiker, des Deutschen
Städtetages, entgegen auch den Schlussfolgerungen Ih-
res eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens „Altschul-
denhilfe und Stadtumbau“ ignoriert diese Bundesregie-
rung hartnäckig die Realität in vielen ostdeutschen
Städten,
(Patrick Döring [FDP]: Sie haben das Gutach-
ten nicht verstanden! Sie haben noch über
100 Millionen zur Verfügung!)
die ohne Altschuldenentlastung der Wohnungsunterneh-
men den notwendigen Stadtumbauprozess zukünftig
nicht mehr werden schultern können und deswegen in
eine neue Abwärtsspirale kommen, nachdem sie die
erste so halbwegs überlebt haben.
(Patrick Döring [FDP]: Erst einmal die Mittel
abrufen, die da sind!)
Sie feiern heute auch noch, dass es ihnen heute etwas
besser geht, aber Sie sorgen dafür, dass es ihnen morgen
wieder schlechter geht.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
[FDP]: Es sind doch Mittel nicht abgerufen!
Wir können über Ihre persönlichen Interessen
bei der Frage sprechen!)
Die demografische Entwicklung, speziell in Ost-
deutschland, produziert dort eine neue Leerstandswelle.
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
Stadtumbau und Altschuldenhilfe sind zwei
verschiedene Dinge!)
Wachsender Leerstand verschärft die wirtschaftliche Si-
tuation vieler Wohnungsunternehmen und schwächt ihre
Kreditwürdigkeit, und auch das wissen Sie. Leerste-
hende Häuser, selbst in besten Innenstadtlagen, suchen
heute Investoren und halten die Mieter nicht vom Weg-
zug ab.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das hat aber
doch mit der Altschuldenhilfe nichts zu tun!
Das ist der demografische Wandel! – Patrick
Döring [FDP]: Das ist der blanke Lobbyis-
mus!)
Dass ein CSU-Politiker aus Traunstein das nicht verste-
hen kann oder will, ist vielleicht noch verständlich, aber
wenn ein CDU-Politiker aus dem Wahlkreis Greiz – Al-
tenburger Land oder Politiker aus der FDP aus den
neuen Bundesländern das nicht sehen können, sind sie
blind oder für die Probleme ihres Wahlkreises nicht of-
fen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Natürlich
sehen wir das! – Volkmar Vogel [Kleinsaara]
[CDU/CSU]: Wir werden Lösungen finden!)
Das Streichen der noch verbliebenen 7,6 Milliarden
Euro Altschulden – so beziffert sie das Gutachten des
Bauministeriums – könnte ein eigenes Konjunkturpro-
gramm sein.
(Patrick Döring [FDP]: Ja, da sprechen wir
mal über Ihre persönlichen wirtschaftlichen
Interessen!)
Wie bei der Städtebauförderung würde die so gewon-
nene Investitionskraft der Wohnungsunternehmen ein
Vielfaches an Investitionsvolumen mobilisieren und
nicht nur den Stadtumbau schlechthin am Leben erhal-
ten,
(Beifall bei der LINKEN)
sondern zugleich ein Grundstock an Eigenkapital für den
dringend notwendigen ökologischen und barrierefreien
Umbau des Wohnungsbestandes und für die ebenso not-
wendige Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus
sein.
(Sebastian Körber [FDP]: Was hat das denn
mit den Altschulden zu tun?)
Die Begründung, warum eine Streichung der Alt-
schulden angeblich nicht möglich sein soll, ist wirklich
abenteuerlich. Ich zitiere hier den Minister Ramsauer
aus der Leipziger Volkszeitung vom Februar dieses Jah-
res:
Angesichts der Haushaltskonsolidierungsvorgaben
sieht die Bundesregierung gegenwärtig die Priorität
bei der Finanzierung der Städtebauförderung.
Ich habe das dreimal gelesen und mir dann überlegt,
doch zu lachen. Eigentlich müsste man über so viel Ver-
logenheit des Fachministers weinen.
Meine Damen und Herren, den Antrag der SPD leh-
nen wir ebenfalls ab, und bei dem der Bündnisgrünen
werden wir uns enthalten, weil beide die Bundesregie-
rung beauftragen wollen, eine neue bzw. andere Fortfüh-
rung für die Altschuldenentlastung zu finden. Dieses
Grundvertrauen haben wir nicht. Dafür bietet die Linke
eine Lösung: Streichen Sie die Altschulden!
(Patrick Döring [FDP]: Woher nehmen wir die
6 Milliarden?)
Die Bundesregierung hat bisher nichts vorgelegt und
wird es auch nicht tun. Der Fachminister kann es einfach
nicht.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Die Altschuldenhilfe war lange ein wohnungswirt-
schaftliches Instrument. Es ging also darum, bestimmten
Wohnungsunternehmen das Überleben zu sichern. Ich
sehe die Altschuldenhilfe heute aber als städtebauliches
Instrument. Wer will, dass das Programm „Stadtumbau
Ost“ erfolgreich sein soll, der muss die Altschuldenhilfe
über das Jahr 2013 hinaus verlängern.
(Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)
12742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Stephan Kühn
(A) (C)
(D)(B)
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ziele des
Programms „Stadtumbau Ost“: Die Sanierung der Alt-
bausubstanz soll verstärkt werden und eine Aufwertung
der Innenstadtbereiche stattfinden. Gleichzeitig – das ist
auch ein Beschluss des Bundestages – sollen weitere
200 000 bis 250 000 Wohnungen vom Markt genommen
werden.
Wenden wir uns dem empirica-Gutachten zu: Dort
wird deutlich, dass Unternehmen, die abgerissen haben,
solche Unternehmen waren, die die Altschuldenhilfe in
Anspruch nehmen konnten. 90 Prozent der Abrisse wa-
ren Abrisse von Unternehmen, die Altschuldenhilfe in
Anspruch genommen haben. Rückbaupotenziale – so
steht es auch in dem Gutachten – haben aber im Wesent-
lichen nur noch die Unternehmen, die bisher keine Alt-
schuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten.
(Patrick Döring [FDP]: Aber die machen heute
Gewinne! Anders als vor zehn Jahren!)
Das sind rund zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen. Wenn sie nicht von Altschulden entlastet
werden, werden sie nicht zurückbauen; denn sie bleiben
schließlich auf diesen Schulden sitzen.
Dies erklärt auch die rückläufigen Abrisszahlen und
berührt damit natürlich auch die Frage, ob das Ziel des
Stadtumbaus Ost an dieser Stelle erreicht werden kann.
Waren 2005 noch 60 000 Wohnungseinheiten rückge-
baut worden, waren es im vergangenen Jahr gerade noch
13 000.
Es ist klar, dass angesichts des demografischen Wan-
dels in Ostdeutschland weiterer Rückbau notwendig ist.
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Den demogra-
fischen Wandel gibt es überall!)
Insbesondere in den Schrumpfungsregionen Ostdeutsch-
lands befinden sich die Wohnungsunternehmen, die be-
sonders stark von den Altschulden betroffen sind. Dies
sollten wir bei der Debatte beachten. Hier liegt eine dop-
pelte Belastung vor: einerseits angesichts schrumpfender
Märkte geringere Mieterlöse und andererseits drückende
Altschulden, die summa summarum zu einer Investiti-
onsbremse führen. Wir wollen aber, dass sich alle Unter-
nehmen an der energetischen Sanierung und an dem
Thema barrierefreies und altengerechtes Wohnen beteili-
gen.
(Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul-
denhilfe nichts zu tun!)
Dies gelingt ihnen nicht, wenn sie keine wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen dafür vorfinden.
Das empirica-Gutachten macht meines Erachtens ei-
nen sehr intelligenten Vorschlag. Es sagt nämlich, alle
Unternehmen könnten künftig Altschuldenhilfe in An-
spruch nehmen, und der Entlastungsbeitrag wird eins zu
eins in die Altbaubestände in den Innenstädten inves-
tiert. Wir schlagen zusätzlich vor: oder auch in Quar-
tiere, die gemäß entsprechender integrierter Stadtent-
wicklungskonzepte dauerhaft für die Wohnraum-
versorgung notwendig sind. Ein solcher Vorschlag wird
in der Wohnungswirtschaft begrüßt. Dort sagt man, man
wolle das Geld nicht in den Schuldendienst stecken, son-
dern investieren. Dies wollen wir natürlich auch. Wenn
man sich die volkswirtschaftlichen Aspekte anguckt, er-
reichen wir damit natürlich auch eine Hebelwirkung, wie
es bei der Städtebauförderung der Fall ist.
Zu den Kosten: Uns ist auch klar – ich sitze im Haus-
haltsausschuss –, 7,6 Milliarden Euro wird man ange-
sichts der Haushaltsrahmenbedingungen nicht berappen
können. Für eine Verlängerung der Altschuldenhilfe
steht in Rede, dass sie bis 2016 zu neuen Kosten von
600 Millionen Euro führt. Das bedeutet, dass alle Rück-
baumaßnahmen mit Altschuldenhilfe erfolgen und dass
es innerhalb von fünf Jahren möglich ist, dieses Volu-
men von 200 000 bis 250 000 Wohneinheiten zurückzu-
bauen. Das halte ich für nicht mehr realistisch, auch an-
gesichts der momentanen Rückbauzahlen. Es wird also
ein wesentlich längerer Zeitraum in Anspruch genom-
men werden müssen. Entsprechend ist dann auch die Be-
lastung durch die Gewährung einer Altschuldenhilfe ge-
ringer. 79 Millionen Euro stehen in diesem Haushalts-
jahr für die Altenschuldenhilfe bereit. Wenn man davon
ausgeht, dass man den weiteren Rückbau über einen län-
geren Zeitraum als bis 2016 strecken muss, dann wird
deutlich, dass keine neuen Haushaltsbelastungen existie-
ren, sondern dass man sozusagen das Niveau der bisher
gezahlten Altschuldenhilfe in dieser Höhe wird fort-
schreiben können.
Im Koalitionsvertrag – das ist schon zitiert worden –
wird klar gesagt: Der Erfolg des Stadtumbaus Ost soll
nicht durch die ungelöste Altschuldenproblematik ge-
fährdet werden. Aber genau das droht unserer Ansicht
nach. Ich frage mich, wozu wir ein Gutachten machen
lassen, wenn die darin formulierten Empfehlungen nicht
aufgegriffen werden. Ich habe auch kein Verständnis,
wenn Lösungen auf dem Tisch liegen, dass wir das wei-
ter beobachten und noch einmal evaluieren. Das ist nicht
die Schlussfolgerung, die man aus dem Gutachten zie-
hen kann. Zudem brauchen die Unternehmen langfris-
tige Planungssicherheit. Sie ist unter der Bedingung der
ungeklärten Frage, wie es mit der Altschuldenhilfe wei-
tergeht, nicht gegeben.
Die Ostministerpräsidenten haben sich klar geäußert.
Sie treten für die Fortführung der Altschuldenhilfe ein,
also für eine Anschlussregelung. Das können wir heute
beschließen, meine Damen und Herren, denn dazu liegt
ein Antrag von uns vor. Ich freue mich, wenn Sie diesem
Antrag zustimmen.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Frak-
tion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Peter Götz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstrit-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12743
Peter Götz
(A) (C)
(D)(B)
tig: Zahlreiche Städte und Gemeinden sind von einem
nachwirkenden demografischen und wirtschaftlichen
Strukturwandel betroffen. Das gilt vor allem im Osten
unseres Landes.
Mit dem 2002 aufgelegten Programm „Stadtumbau
Ost“ konnte viel zur Stabilisierung, Rückgewinnung und
Sicherung des Lebensumfeldes der Menschen erreicht
werden. Die Altschuldenhilfe war dabei eine wichtige
Unterstützung. Sie gab den begünstigten Wohnungsun-
ternehmen – ich betone, den begünstigten Wohnungsun-
ternehmen – einen sehr positiven Schub. Die Entlastung
von Altschulden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass
die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften sowie die
kommunalen Wohnungsgesellschaften heute erheblich
besser dastehen als jemals zuvor in ihrer Geschichte.
Viele von uns erinnern sich noch: Nach dem Zusam-
menbruch des Kommunismus und dem Ende des Sozia-
lismus in der DDR vor 20 Jahren lagen die Altschulden
bei über 30 Milliarden Euro.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: D-Mark!)
Davon hat der Steuerzahler bis heute mehr als die Hälfte
übernommen. Ich meine, diese großartige Solidarleis-
tung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger unse-
res Landes für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft soll-
ten wir zunächst einmal dankbar anerkennen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Diesen Dank an den deutschen Steuerzahler verbinde
ich auch gerne mit einem Dank an die vielen deutschen
Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die durch ihr
Engagement die Wohnqualität in den Städten und Ge-
meinden maßgeblich aufgewertet haben. Kombiniert mit
Fördermitteln vor allem aus dem Programm „Stadtum-
bau Ost“ wurde in vielen ostdeutschen Kommunen die
Innenentwicklung zu einem echten Erfolgsmodell. So
hat dieses Programm circa 400 Städten und Gemeinden
bei der Bewältigung des Strukturwandels sehr geholfen.
Mein Kollege Vogel, aber auch meine Kollegin Müller
haben darauf hingewiesen.
Nur noch einmal zur Erinnerung, Frau Kollegin
Bluhm: In der Vergangenheit wurden die Fördermittel
für die Altschuldenhilfe mehrmals – ich betone: mehr-
mals – auf über 1,1 Milliarden Euro aufgestockt, und
bislang sind, was vorhin auch gesagt worden ist, die Gel-
der überhaupt nicht in diesem Umfang abgerufen.
Es ist richtig, dass wir in nächster Zeit einige Fragen
beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Gibt es nach
dem Auslaufen der Befristung ab 2013 – nur zur Erinne-
rung: Wir befinden uns im Jahr 2011 – einen Anschluss?
Die zweite Frage ist: Wie sieht dieser Anschluss gegebe-
nenfalls aus?
Herr Kollege Hacker, zu Ihrer Beruhigung: Sie kön-
nen davon ausgehen, dass wir eine gute Lösung finden
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das wiederholt zitierte empirica-Gutachten kam übri-
gens zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Alt-
schuldenentlastung für den Erfolg des Programms „Stad-
tumbau Ost“ nicht zwingend erforderlich ist. Für uns in
der Union geht es in Zukunft primär um städtebauliche
Kriterien und weniger um Kriterien für Unternehmen;
denn sonst müssten wir zu Recht auch der Frage nachge-
hen, was mit den vielen privaten Eigentümern geschieht,
die keine Altschuldenentlastung erhalten haben.
Nach dem Ergebnis des empirica-Gutachtens hat sich
die Ertragslage ostdeutscher Wohnungsunternehmen
– auch das ist unstrittig – wesentlich und kontinuierlich
verbessert. Deshalb ist es nur konsequent, wie dort vor-
geschlagen wurde, den Schwerpunkt auf die Sanierung
der Altbauten in den Innenstädten zu legen. Dies kommt
unseren Zielen – Herr Kollege Hacker, Sie hatten vorhin
dieses Thema angesprochen –, die wir uns in diesen Ta-
gen im Zusammenhang mit der energetischen Stadtsa-
nierung gesteckt haben, weit entgegen.
Wir wollen und sollten unsere Förderkulisse bei den
Städtebauförderprogrammen neu definieren. Deshalb
wollen wir erreichen, dass wir die Städtebauförderung
im kommenden Jahr auf dem diesjährigen Niveau von
455 Millionen Euro verstetigen. Wichtig ist dabei, dass
der eindeutige Schwerpunkt auf die Innenentwicklung
unserer Städte und Gemeinden gelegt wird. Wir, das
heißt Bund, Länder und Gemeinden, müssen in gemein-
samer Anstrengung gute Rahmenbedingungen für urba-
nes Leben in den Orts- und Stadtteilzentren setzen und
die Städte und Gemeinden dabei nach Kräften unterstüt-
zen.
Neben den zunehmend wichtiger werdenden Themen
der energetischen Sanierung dürfen wir auch die Baukul-
tur nicht aus den Augen verlieren.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns unsere vielen
Programme genau anschauen und prüfen, wie wir insge-
samt die Effizienz steigern können. Der Stadtumbau
wird dabei auch in Zukunft eine ganz wichtige, entschei-
dende Rolle spielen, und zwar – das sage ich bewusst –
im Osten, aber auch im Westen unseres Landes.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30
unserer Geschäftsordnung erhält Kollegin Heidrun Bluhm.
(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kann sie uns
erklären, wo sie arbeitet!)
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Döring hat während meiner Rede mit seinem Zwi-
schenruf zumindest suggeriert, dass ich persönliche wirt-
schaftliche Interessen haben könnte, mich für die Strei-
chung der Altschulden einzusetzen.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ist das so?)
Ich erkläre hiermit, dass ich bisher weder ein Woh-
nungsunternehmen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
geleitet habe noch eins gekauft habe.
12744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Heidrun Bluhm
(A) (C)
(D)(B)
Ich erkläre hiermit, dass ich von Altschulden selbst
nirgendwo belastet bin und dass ich nur und ausschließ-
lich parteipolitisch, meinem Fachgebiet entsprechend,
mit meiner Sachkompetenz für die ostdeutschen Bundes-
länder hier für meine Fraktion gesprochen habe.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
CDU/CSU: Sie sind eine Altlast!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5000.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1154 mit dem Titel
„Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in
den neuen Ländern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-
men.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1148 mit dem Ti-
tel „Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunterneh-
men streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunter-
nehmen neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5124,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4698 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor-
schriften
– Drucksachen 17/4984, 17/5392 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
– Drucksache 17/5953 (neu) –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Kerstin Tack
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Friedrich Ostendorff
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ur-
sachen bekämpfen
– Drucksachen 17/5377, 17/5953 (neu) –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Kerstin Tack
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Friedrich Ostendorff
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Alois Gerig (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittel-
sicherheit ist ein hohes Gut. Die christlich-liberale
Koalition hat bewiesen: Wir handeln schnell und ent-
schlossen, wenn es darum geht, Sicherheitslücken zu
schließen.
Zum Jahreswechsel 2010/11 wurden durch kriminelle
Machenschaften Futtermittel mit Dioxin verunreinigt.
Der Dioxinskandal hat eine große mediale Welle verur-
sacht und die Verbraucher verunsichert. Wie wir heute
alle wissen, bestand glücklicherweise zu keinem Zeit-
punkt eine gesundheitliche Gefahr für die Menschen.
Die Behörden haben länderübergreifend schnell, konse-
quent und umsichtig reagiert.
Bereits im Januar hat sich Frau Bundesministerin Ilse
Aigner mit den Ländern auf den „Aktionsplan Verbrau-
cherschutz in der Futtermittelkette“ verständigt und wich-
tige Anstrengungen zum Thema auf EU-Ebene initiiert.
Die Bundesregierung hat im März eine Rechtsverordnung
auf den Weg gebracht, die die Futtermittelkontrolle aus-
weitet, eine Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe
einführt und eine Trennung der Produktionsströme für
technische und nichttechnische Fette vorschreibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12745
Alois Gerig
(A) (C)
(D)(B)
Heute beraten und entscheiden wir über Änderungen
im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch mit dem
Ziel, weitere wichtige Punkte des Aktionsplans umzuset-
zen. Gleichwohl möchte ich schon anmerken, dass kri-
minelle Energie auch damit nicht gänzlich verhindert,
aber durch das Engerziehen des Netzes deutlich einge-
dämmt werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hier die wichtigsten Inhalte, verbunden mit dem
Dank an Frau Aigner und das BMELV für die rasche
Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs:
Künftig müssen Lebensmittel- und Futtermittelher-
steller sowie Laboratorien gesundheitsbedenkliche Stoffe,
die sie in untersuchten Lebens- oder Futtermitteln fest-
gestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Die
Meldepflicht besteht unter anderem für Dioxine und Fu-
rane. Dioxinprobleme können durch dieses Monitoring
somit früher als bisher erkannt und Gegenmaßnahmen
können schneller eingeleitet werden. Eigenkontrollen
haben sich allgemein in der Wirtschaft etabliert und be-
währt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch dieser Dio-
xinskandal durch die Eigenkontrolle eines Unterneh-
mens aufgedeckt wurde. Wichtig ist dabei allerdings
schon, dass die Unternehmen aufgrund der Kontroller-
gebnisse nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden.
Vorschnell veröffentlichte Eigenkontrollergebnisse, die
sich häufig auf Vorprodukte beziehen, würden zu einer
erheblichen Verwirrung führen.
Die Sanktionsmöglichkeiten des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzes werden deutlich ausgeweitet. Dies
wird durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen erreicht: Der Bußgeldrahmen wird verdoppelt.
Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat geahndet, und
schwere Verstöße werden künftig sogar mit bis zu zwei
Jahren Freiheitsstrafe belegt. Und dies ist gut so.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte in Erinnerung rufen: Der Dioxinskandal
führte bei Verbrauchern verständlicherweise zu starker
Verunsicherung und Kaufzurückhaltung. Der damit ein-
hergehende Preisverfall war ein schwerer Schlag für die
Unternehmen der gesamten Land- und Ernährungswirt-
schaft. Besonders betroffen waren landwirtschaftliche
Familienbetriebe. Zeitweilig waren fast 5 000 Höfe ge-
sperrt. So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen.
Die Opposition sollte solche Vorfälle bitte nicht dazu
missbrauchen, die herkömmliche Landwirtschaft infrage
zu stellen und eine ökologische Agrarwende herbeizure-
den.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wir alle wissen genau: Das eine hat mit dem anderen
überhaupt nichts zu tun.
Die wichtigsten Botschaften an unsere Verbraucher
müssen jetzt lauten: Unsere Landwirtschaft ist in der ge-
botenen Vielfalt unverzichtbar, um die Verbraucher mit
bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen. Deutsche Le-
bensmittel sind weltweit mit die sichersten; die Kontrol-
len sind dicht und streng. Absolute Sicherheit vor krimi-
nellen Machenschaften gibt es nicht. Kaufen Sie bewusst
ein. Stärken Sie zum Beispiel mit einem gezielten Griff
ins Lebensmittelregal die heimische Produktion.
Eine abschließende Bitte an die Opposition. Gefähr-
den Sie durch überzogene Forderungen nicht die Nah-
rungsmittelproduktion in deutschen Landen. Dies kann
zu empfindlichen Fehlentwicklungen und zu Produk-
tionsverlagerungen führen, wie wir das im Bereich der
Hühnerhaltung erlebt haben.
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
Sonst sind am Ende die Verbraucher, die wir alle doch
schützen wollen, die Verlierer.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Koalition lässt es nicht zu, dass schwarze Schafe
das Ansehen der deutschen Land- und Ernährungswirt-
schaft schädigen. Es geht auch um den Erhalt der Be-
triebe und um die dazugehörigen Arbeitsplätze. Darüber
hinaus schützen wir die Gesundheit der Verbraucher und
stärken ihr Vertrauen in deutsche Lebensmittel. Ich bitte
Sie: Stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Kerstin Tack (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns
heute abschließend in zweiter und dritter Beratung mit
der Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbu-
ches. Es gibt zwei Punkte aus dem 14-Punkte-Plan, die
die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vor
vier Monaten im Zuge des Dioxinskandals vereinbart
hat. Ich möchte betonen: vor vier Monaten. Es wurde
nämlich behauptet, man sei fix gewesen. Zur Verdeutli-
chung: Es ist bereits vier Monate her.
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Danke
für die Anerkennung!)
Mit der Gesetzesänderung wird die Meldepflicht für
private Labore festgeschrieben. Künftig müssen sie be-
denkliche Mengen an gesundheitsgefährdenden und da-
her nicht erwünschten Stoffen, die sie in untersuchten
Lebens- und Futtermitteln feststellen, an die zuständigen
Behörden melden. Ferner werden die Lebens- und Fut-
termittelunternehmen verpflichtet, den zuständigen Be-
hörden ebenfalls Ergebnisse der Eigenkontrollen mitzu-
teilen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Gesetzesinitiative
ausdrücklich, weil sie Teil des schon Anfang des Jahres
von uns vorgelegten Aktionsplanes gewesen ist, den die
Bundesregierung in weiten Teilen übernommen hat.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: So kann man es
auch sehen!)
12746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Kerstin Tack
(A) (C)
(D)(B)
Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunter-
nehmen, Ergebnisse der Eigenkontrollen an die zuständi-
gen Behörden zu melden, ist ein Fortschritt. Allerdings
sind noch weitere strenge Kontrollen von Futterfetten
vorzuschreiben, und die Hersteller müssen verpflichtet
werden, jede Charge beproben zu lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Futtermittelfette sind als Haupteingangsquelle der
fettlöslichen Dioxine besonders sensibel; sie sind deshalb
schärfer zu überwachen. Auch muss eine offene und voll-
ständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe um-
gesetzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass
nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen
können.
Mit der Meldepflicht für die privaten Labore werden
diese ganz besonders in die Informationskette des aufzu-
bauenden Frühwarnsystems einbezogen; ihnen wird eine
neue Beteiligungsrolle zugeschrieben. Die Meldepflicht
bedeutet auch eine neue Herausforderung hinsichtlich
der Gestaltung der Aufträge der Unternehmen an die La-
bore; denn bisher waren die Labore oft nicht unterrich-
tet, was mit den Stoffen, die sie zur Beprobung bekom-
men hatten, tatsächlich passieren sollte. Das wird sich
künftig, wenn die Labore in die Mitteilungskette einbe-
zogen werden, deutlich ändern müssen. Auch war bisher
die Beurteilung der Ergebnisse nicht Teil des Laborauf-
trages. Vielmehr ging es ausschließlich um die Mittei-
lung der Untersuchungsergebnisse.
Die notwendige Rechtsverordnung, die jetzt dieses
Gesetz untermauern soll, ist besonders wichtig. Wir er-
warten deswegen eine Vorlage dieser Rechtsverordnung
noch vor der Sommerpause; denn die Labore sind verun-
sichert.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber 2011,
bitte!)
– Genau, vor der Sommerpause 2011; davon gehe ich
aus. – Die Labore wissen in der Regel nicht, wie sie das
Gesetz umzusetzen haben. Die Bundesregierung bleibt
die Vorlage schuldig.
Eines ist klar und wichtig: Dieses Gesetz beschreibt
nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 14-Punkte-Plan.
Mit den ergriffenen Maßnahmen, die hier heute zur Be-
schlussfassung stehen, wird keine bessere Information
der Verbraucherinnen und Verbraucher verwirklicht. Die
Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit wird nicht deut-
lich erhöht. Der Verwaltungsvollzug wird nicht effizien-
ter. Der Informationsfluss zwischen Gemeinden, Län-
dern und Bund wird nicht effektiv und wirksam
verstärkt. Dazu sind weitere Maßnahmen erforderlich,
auf deren Vorlage wir noch warten.
Die Novellierung des Verbraucherinformationsgeset-
zes muss endlich erfolgen. In der Novelle muss geregelt
werden, dass sämtliche Untersuchungsergebnisse der be-
trieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Unter-
suchungsergebnisse in aufgearbeiteter Form in einer Da-
tenbank veröffentlicht werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Um die aktive Information der Verbraucherinnen und
Verbraucher über Grenzwertüberschreitungen zu ge-
währleisten, müssen die Behörden verpflichtet werden,
Untersuchungsergebnisse von sich aus zu veröffentli-
chen. Hierzu ist § 40 LFGB in das Verbraucherinforma-
tionsgesetz zu integrieren und die Sollvorschrift in
§ 40 LFGB in eine Istvorschrift umzuwandeln. Die Ab-
wägungsklausel ist zu streichen. Auf einer Internetseite
sind Ross und Reiter sehr deutlich zu benennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung ist auch noch die Vorlage einer Positivliste schul-
dig. Diese soll auf europäischer Ebene verbindlich fest-
gelegt werden; das ist richtig. Aber wir unterstützen
ganz ausdrücklich die Forderung, die die Bundesländer
der Bundesregierung gestellt haben: Wenn wir auf der
europäischen Ebene zu keiner Lösung kommen, dann
muss es eine nationale Lösung für die Positivliste geben.
Wir unterstützen die Bundesländer auch darin, zu sagen:
Wenn eine Umsetzung in Europa bis Sommer 2011 nicht
möglich ist, dann erwarten wir eine nationale Regelung
und bitten die Bundesregierung, diese hier vorzulegen.
Eine besondere Herausforderung besteht auch und ge-
rade bei der Schaffung von Haftungsregelungen. Die
Landwirte, die letztendlich die Opfer und Leidtragenden
des Dioxinskandals waren, sind beträchtlich zu Schaden
gekommen; dieser Schaden ist bisher nicht abgegolten.
Deshalb brauchen wir hier schnellstmöglich und drin-
gend Vorschläge, wie eine Haftungsregelung in Zukunft
aussehen kann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es ist vernünftig, wenn die Bundesregierung jetzt
sagt: Wir wollen uns mithilfe einer Studie weiter beraten
lassen. Ich warne aber davor, hier zu viel Zeit ins Land
gehen zu lassen. Bisher hat es nicht einmal eine Vergabe
gegeben. Wir können uns aber vorstellen, dass ein neuer
Skandal kommt, vielleicht auch in geringerer Dimen-
sion. Dann hätten wir jedoch nichts auf den Weg ge-
bracht. Insofern gehen wir davon aus, dass der Bundes-
regierung die richtige Zeitschiene sehr wohl bekannt ist:
Es muss zügig gehandelt werden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich
Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-
gierung auch auf, die Umstände des Dioxinskandals zum
Anlass zu nehmen, einen Gesetzentwurf zur Regelung
des Informantenschutzes vorzulegen. Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, die die zuständigen Behörden über
Missstände im eigenen Betrieb informieren, müssen ge-
setzlich vor Benachteiligungen geschützt werden. Be-
reits in der öffentlichen Anhörung des Verbraucheraus-
schusses am 4. Juni 2008 ist die Notwendigkeit einer
solchen gesetzlichen Regelung deutlich geworden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12747
Kerstin Tack
(A) (C)
(D)(B)
Wir brauchen eine gläserne Produktion und eine funk-
tionierende Verbraucherinformation. Leider schützt die
Koalition die Futtermittelpanscher und nicht die Ver-
braucherinnen und Verbraucher.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ganz genau! –
Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist jetzt voll-
kommener Blödsinn!)
Sie schlägt nämlich vor, dass die Öffentlichkeit von
Grenzwertüberschreitungen nichts erfährt, solange die
so produzierten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gelan-
gen. Wir wollen das nicht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deshalb schlagen wir in unserem Entschließungsantrag
eine Veröffentlichungspflicht vor. Aus unserer Sicht
sieht so eine vernünftige Verbraucherpolitik aus. Wir bit-
ten daher um Unterstützung unseres Entschließungsan-
trags.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan
für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Verabschiedung des heute vorliegenden Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Fut-
termittelgesetzbuchs kommen wir einen ganz bedeuten-
den Schritt weiter bei der Umsetzung des 14-Punkte-
Plans, den die Bundesregierung und die Länder gemein-
sam beschlossen haben: unbedenkliche Futtermittel,
sichere Lebensmittel und Transparenz für den Verbrau-
cher. Die überwiegende Zustimmung, jetzt auch vonsei-
ten der SPD, bestätigt, dass wir damit auf dem richtigen
Weg sind. Das ist, glaube ich, gut.
Zum Jahreswechsel ist entdeckt worden, dass ein Be-
trieb Futterfette, die den zulässigen Höchstgehalt an
Dioxin überschritten hatten, an 25 Futtermittelwerke
weiterverkauft hat. Es muss herausgestellt werden: Die-
ser Betrieb hat kriminell gehandelt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das ist das Problem, mit dem wir es im Augenblick zu
tun haben. Wir haben es nicht mit einem Skandal, son-
dern mit dem kriminellen Handeln eines Betriebes zu
tun. In der Folge sind knapp 5 000 landwirtschaftliche
Betriebe gesperrt worden. Wir müssen sehen, dass diese
Betriebe wirtschaftliche Folgen zu tragen hatten. Es kam
zu einem Preisverfall bei Eiern und Schweinefleisch, der
die wirtschaftliche Situation dieser Betriebe erheblich
belastet hat.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht
festgestellt: Es bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Daher, Frau Tack,
geht es an diesem Punkt nicht um Verbraucherschutz.
Die Verbraucher waren nicht gefährdet.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja! Das
kann man hinterher sagen!)
Es geht vielmehr darum, dass wir es den Betrieben er-
schweren, kriminell zu handeln, und dass wir die Folgen
kriminellen Handelns eingrenzen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es handelt sich also nicht um einen Skandal. Verbrau-
cherschutz heißt im Übrigen: Wenn eine Gefahr besteht,
dann muss gewarnt werden. Wenn keine Gefahr besteht,
dann sind die Behörden aufgerufen, zu beruhigen.
Auch wenn es keine Gefahr gegeben hat, sind wir uns
alle darüber einig, dass Handeln geboten ist. Futtermittel
sind Lebensmittel für Tiere. Abfallentsorgung durch den
Tiermagen wollen wir nicht. Aber wir wissen auch: Kein
Gesetz schützt vor kriminellem Handeln. Kriminelles
Handeln muss erschwert werden; deswegen dieser Ge-
setzentwurf. Wir müssen verantwortlich arbeitende Be-
triebe schützen. Das erreichen wir mit einer Melde-
pflicht für Labore, die jetzt eingeführt werden soll. Wir
erhalten ein Dioxin-Monitoring, das uns in Zukunft bes-
ser in die Lage versetzt, zu beurteilen, in welchen Regio-
nen es Probleme gibt und in welchen nicht.
Dioxine sind langlebige Umweltgifte. Ihr Entstehen
kann nicht vollständig verhindert werden. Aber wir kön-
nen feststellen, dass seit 1990 der Dioxingehalt in unse-
ren Lebensmitteln gesenkt worden ist und heute nur
noch ein Drittel des damaligen Wertes beträgt.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Da haben wir
ja Glück gehabt!)
Mein Kollege hat zu Recht herausgestellt, dass das
Fehlverhalten dieses Betriebes nur wegen der Eigenkon-
trollen eines Futtermittelwerkes entdeckt worden ist.
Deswegen muss unsere Konsequenz lauten, dass wir die
Eigenkontrollen stärken.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Der Weg, den die SPD uns vorschlägt – Betriebe an den
Pranger stellen und Denunziantentum fördern –, ist ge-
nau der falsche Weg. Das dürfen wir nicht tun. Damit be-
kommen wir keine Eigenverantwortung. Ich wiederhole:
Was Sie von der SPD vorschlagen, ist genau der falsche
Weg.
(Beifall bei der FDP)
Wir wissen, dass die Produzenten die Verantwortung
für ihre Produkte tragen. Diese Verantwortung kann ih-
nen niemand abnehmen. Wir wissen auch, dass Lebens-
mittelkontrollen das Ziel haben, Fehlverhalten aufzude-
cken und das Eigeninteresse der Unternehmen an der
Qualität ihrer Produkte zu stärken.
Anfang dieses Jahres hat man versucht, moderne
Landwirtschaft mit dem kriminellen Fehlverhalten eines
Betriebes in Schleswig-Holstein in Verbindung zu brin-
12748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) (C)
(D)(B)
gen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen; er war schlicht
und ergreifend falsch. Betroffen waren vor allem kleine
Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst gemischt ha-
ben. Moderne Landwirtschaft schont die Natur, vermei-
det Arbeitsunfälle – ein, wie ich meine, ganz wichtiges
Thema – und produziert qualitativ hochwertige Lebens-
mittel.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Bei dem
Dioxinvorfall sprechen wir von einer kriminellen Hand-
lung, die dazu geführt hat, dass eine Reihe landwirt-
schaftlicher Betriebe existenziell gefährdet wurde. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher befanden sich zu kei-
nem Zeitpunkt in irgendeiner Gefahr.
Gleichzeitig wird landauf, landab über die Belastung
von Gemüse mit EHEC-Bakterien diskutiert. Hier han-
delt es sich um eine reale Gefahr. Inzwischen gibt es
über 500 Erkrankungen und möglicherweise einige To-
desfälle. Dieses Syndrom gefährdet die Menschen und
kann langfristige Gesundheitsschäden zur Folge haben.
Als Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz müssen wir uns davon freimachen,
jeglichen sogenannten Skandalen hinterherzulaufen.
Stattdessen müssen wir die Menschen vor den realen
Gefahren schützen. Reale Gefahren im Lebensmittelbe-
reich, liebe Kolleginnen von der SPD-Fraktion, sind ins-
besondere Hygienemängel sowie Belastungen von Le-
bensmitteln mit Bakterien. Gegen diese Gefahren hilft
nur das Einhalten von Hygienevorschriften. Die Lebens-
mittelhygiene gilt für den Bereich der Produktion, be-
trifft aber auch jeden einzelnen Haushalt.
Ich bitte Sie herzlich: Schützen Sie die Menschen vor
den realen Gefahren und diskutieren Sie nicht die ver-
meintlichen Gefahren. Das nimmt den Menschen Le-
bensqualität und Vertrauen. An dieser Stelle will ich
ganz deutlich die Vorwürfe vonseiten der SPD und der
CDU/CSU gegenüber dem Robert-Koch-Institut zurück-
weisen. Wir brauchen Fachbehörden, die fachlich arbei-
ten und ihr fachliches Wissen der Öffentlichkeit mittei-
len. Das hat das Robert-Koch-Institut zu Recht getan.
Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit, wenn Sie
weiterhin Lebensmittel aus deutscher Produktion genie-
ßen; denn sie sind ausgesprochen gut.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Karin Binder (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit unserer Le-
bensmittel ist keine Geheimsache. Mögliche Schadstoff-
belastungen sind keine Betriebsgeheimnisse.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht,
zu erfahren, was in ihrem Essen ist und wie die Lebens-
mittel erzeugt wurden. Nur ein offener Umgang mit In-
formationen über den Herstellungsprozess und die Be-
standteile unserer Lebensmittel sorgt letztendlich für
einen sauberen Teller. Das ist für mich die zentrale Lehre
aus dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres.
Zur Verbesserung der Sicherheit unserer Lebensmittel
hatten sich Bund und Länder auf einen 14-Punkte-Plan
verständigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf geht
zwar in die richtige Richtung, aber leider nur einen win-
zig kleinen Schritt. Die Koalition greift in ihrem Gesetz-
entwurf lediglich 2 von 14 Punkten dieses Plans auf und
setzt damit nur einen Bruchteil der erforderlichen Maß-
nahmen um.
Die Linke hatte schon frühzeitig einen umfassenden
Antrag zur Bewältigung des Dioxinskandals vorgelegt.
Zur Vorsorge und Vermeidung ähnlich gelagerter Fälle
müssen wir die richtigen Lehren aus dieser böswilligen
Panscherei ziehen. Es gilt, die Ursachen zu bekämpfen,
statt an den Symptomen herumzudoktern.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kollege Gehring, die Eigenkontrolle hat sich be-
währt. Ich frage Sie nur, wie? Ein anderer Betrieb hat da-
rauf aufmerksam gemacht, dass etwas falsch läuft. Das
hat nicht die Eigenkontrolle bewirkt. Die Eigenkontrol-
len müssen klaren Regelungen unterworfen werden. Vor
allem müssen die Daten gemeldet werden, damit sofort
reagiert werden kann. Wir brauchen die Verpflichtung
der Labore.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Machen
wir doch! – Franz-Josef Holzenkamp [CDU/
CSU]: Haben wir doch alles erledigt!)
Es braucht eine verbindliche Verpflichtung. Es braucht
dazu auch ein Register und eine Akkreditierung dieser
Labore.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Haben
Sie den Gesetzentwurf gelesen?)
Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Betriebe aus
dem Staub machen, indem sie ausländische Labore be-
auftragen, die unseren Gesetzen nicht unterworfen sind.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein, das
haben wir doch verhindert!)
– Das steht nicht in Ihrem Gesetzentwurf.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Christel
Happach-Kasan [FDP]: Doch!)
Ich will auf drei Punkte näher eingehen.
Erstens. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die
unter der Koalition von SPD und Grünen eingeleitete
Reduzierung staatlicher Kontrollen und der vermeintli-
che Ersatz durch Eigenkontrollen der Betriebe nach de-
ren Regeln funktioniert nicht. Dieses Experiment hat das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gekos-
tet. Die Linke möchte deshalb eine betriebliche Zertifi-
zierung nach strengen gesetzlichen Vorgaben. Diese
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12749
Karin Binder
(A) (C)
(D)(B)
müssen für die gesamte Erzeugungskette, vom Stall bis
zur Ladentheke, gelten.
(Beifall bei der LINKEN)
Die daraus entstehenden Kosten sind auf die beteiligten
Branchen umzulegen.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Und dann auf
die Verbraucher!)
Zweitens: Meldepflichten für die Labore ohne Hinter-
türchen. Im Gesetzentwurf der Regierung wird eine Mel-
depflicht für die Überschreitung von Grenzwerten oder
unerlaubten Zusatzstoffen auf die privaten Labore be-
schränkt. Wir möchten eine Ausweitung der Melde-
pflicht auch auf private Zertifizierungssysteme, zum
Beispiel auf QS, das Prüfsystem Qualitätssicherung.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Register und Ähnliches habe ich schon angesprochen.
Aber auch die Frage, wie die Unternehmen und La-
bore überwacht werden sollen, wurde uns bisher nicht
beantwortet. Die Kontrollbehörden der Länder sind
schon heute überfordert. Einige Bundesländer befinden
sich bereits in einer Haushaltsnotlage und werden weiter
zu Einsparungsmaßnahmen gezwungen. In einem inter-
nationalen Futtermittelmarkt und einer globalisierten Le-
bensmittelindustrie ist deshalb eine finanzielle Beteili-
gung des Bundes an diesen zusätzlichen Aufgaben der
Länder unerlässlich.
Drittens. Wissen ist Verbrauchermacht. Die wich-
tigste Frage bleibt: Wie erfahren Verbraucherinnen und
Verbraucher von Schadstoffbelastungen bei Lebensmit-
teln? Die richtige Antwort könnte das Verbraucherinfor-
mationsgesetz liefern. Hier sollte eine Pflicht zur Veröf-
fentlichung durch die verursachenden Unternehmen,
aber auch eine aktive Informationspflicht der damit be-
fassten Behörden verankert werden. Nur dann können
wir wirklich von Verbraucherschutz reden. Aber nach al-
len bisherigen Anzeichen ist leider zu vermuten, dass
Frau Aigner ihrem Ruf treu bleibt und über Ankündigun-
gen nicht hinausgeht.
Wir sagen nach wie vor: Den Behörden gemeldete
Daten und Ergebnisse der Laboruntersuchungen der Be-
triebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige
Verbraucherinformationen. Das muss Bestandteil des
Verbraucherinformationsgesetzes werden. Nur so wird
Verbraucherschutz verbessert.
Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Punkte
umfasst der Dioxinaktionsplan, der nach dem Dio-
xinskandal im Januar dieses Jahres zwischen den Bun-
desländern und Ministerin Aigner vereinbart wurde.
Drei Punkte wollen Sie jetzt, nach vier Monaten, endlich
umsetzen. Viele andere Punkte, darunter so zentrale
Ziele wie die verbindliche staatliche Positivliste für Fut-
termittel, die Transparenz für Verbraucher und die Pro-
dukthaftung, werden weiterhin nicht umgesetzt.
Zur Positivliste für Futtermittel erklärte Frau Aigner
gestern, man sehe in Deutschland die etablierte Positiv-
liste der Wirtschaft als sinnvolles und vertrauensbilden-
des Instrument an und setze sich ansonsten für eine EU-
weite Liste ein. Da Frau Aigner mit der Positivliste, wie
wir alle wissen, in Brüssel gescheitert ist, bedeutet das
doch, dass es keine verbindliche Positivliste geben wird,
stattdessen die unverbindliche und ungenügende Liste
der Wirtschaft. Damit sind Sie an diesem entscheidenden
Punkt gescheitert.
Die Transparenz für Verbraucher verschieben Sie auf
die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, die Sie
schon zigmal verschoben haben, weil Sie sich in der Ko-
alition nicht einigen. Würden Sie es mit der Information
der Verbraucher ernst meinen, müssten Sie heute unse-
rem Änderungsantrag zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Durch die Schaffung eines neuen § 40 Abs. 1 a im Le-
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch schlagen wir
Grünen eine gesetzliche Grundlage vor, um nachgewie-
sene Rechtsverstöße unter Nennung des Namens des je-
weiligen Unternehmens veröffentlichen zu können.
(Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Das ist genau das, was Sie von der Koalition gestern im
Ausschuss für den Gastronomiebereich vorgeschlagen
haben.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja! Aber da ging
es doch um etwas ganz anderes!)
Meine Damen und Herren, was gilt bei Ihnen mehr:
das Wort der Ministerin, die am 19. Januar dieses Jahres
an diesem Pult sagte: „Wir sind zu Transparenz ver-
pflichtet“, oder das Wort von Frau Happach-Kasan von
der FDP, die gestern im Agrarausschuss sagte: „Wir ma-
chen nichts, was nicht im Interesse der Unternehmen
ist“?
(Widerspruch bei der FDP – Dr. Christel
Happach-Kasan [FDP]: Quatsch! Das habe ich
doch gar nicht gesagt! – Dr. Erik Schweickert
[FDP]: Was? Den Nachweis will ich sehen!)
Ihr Problem ist: Sie machen keine Politik für die Ver-
braucher und keine Politik für die Bäuerinnen und die
Bauern, sondern nur Politik für die Industrie.
Ich möchte aus AGRA-EUROPE vom 9. Mai dieses
Jahres zitieren:
Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes …,
Manfred Nüssel, baut bei den Neuerungen im Fut-
termittelrecht nach der überstandenen Dioxin-Krise
auf den Einfluss führender Agrarpolitiker der CDU.
Vor Agrarjournalisten in Berlin nannte Nüssel dabei
12750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Friedrich Ostendorff
(A) (C)
(D)(B)
vergangene Woche konkret den agrarpolitischen
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz-
Josef Holzenkamp,
(Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!)
den Abgeordneten Johannes Röring sowie den
Staatssekretär … Peter Bleser.
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hört! Hört!)
Nicht zuletzt bei ihnen hofft er auf ein offenes Ohr
für die Belange der Branche.
Natürlich, Herr Nüssel, haben diese Herren ein offenes
Ohr für die Branche. Schließlich sind sie in vielfältiger
und einzigartiger Weise Teil dieser Branche.
Das Problem von Frau Aigner ist, dass sie von Agrar-
funktionären eingekesselt ist, die jeden positiven Ansatz
blockieren, egal ob beim Verbot der Käfighaltung von
Hühnern, beim Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden,
bei der Kampagne „Wahrheit und Klarheit“, bei der
Charta für Landwirtschaft oder beim Dioxin-Aktions-
plan. Jegliche Initiative der Ministerin wird von den ei-
genen Leuten geblockt, boykottiert oder verwässert.
Meine Damen und Herren von der Koalition, solange
bei Ihnen Funktionäre der Agrarindustrie das Sagen ha-
ben,
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was? Wer ist
denn hier der Funktionär?)
werden Sie keinen einzigen Lebensmittelskandal aufklä-
ren, nichts zur Abschaffung der Massentierhaltung zu-
stande bringen, keinen einzigen Missstand in der Land-
wirtschaft beheben und weiterhin Agrarpolitik für die
Agrarindustrie und nicht für die Bäuerinnen und Bauern
machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat unsere Kolle-
gin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzinterven-
tion das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit zu ei-
ner Kurzintervention.
Lieber Kollege Ostendorff, ist es nicht so, dass wir
gemeinsam festgestellt haben, dass die Verbraucherin-
nen und Verbraucher beim diesjährigen Dioxinvorfall
nicht gefährdet waren? Ist es nicht auch so, dass wir ge-
meinsam festgestellt haben, dass bäuerliche Betriebe, die
das Futter selbst mischen, die also Getreide produzieren
und Futterfette einmischen, um eine gesunde Ernährung
der Tiere zu gewährleisten, durch diesen Vorfall beson-
ders geschädigt worden sind? Sind wir uns nicht einig,
dass es wichtig ist, die gut und sorgfältig arbeitenden
landwirtschaftlichen Betriebe im Lande vor kriminellem
Handeln zu schützen? Ist es nicht richtig, dass der
Schutz genau dieser mittelständischen landwirtschaftli-
chen Betriebe auch im Interesse einer Politik, die sich
für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch-
land einsetzt, sein muss?
Ich dachte, wir wären uns in diesen Punkten einig. Ich
bin etwas enttäuscht, Herr Kollege Ostendorff, dass Sie
als Landwirt nicht das Interesse der Landwirte, die or-
dentlich arbeiten, im Fokus haben, sondern stattdessen
eine Skandalisierung betreiben, wie es auch die Medien
getan haben. Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass
eine Menge landwirtschaftlicher Betriebe durch die Vor-
fälle in Schleswig-Holstein in ihrer Existenz gefährdet
worden sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nun darf ich das Wort
zur Gegenrede erteilen. Bitte schön, Herr Kollege.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Es ist für Mitglieder kleiner Fraktionen, denen nur
eine kurze Redezeit zur Verfügung steht, immer wieder
erfreulich, auf diesem Wege die Gelegenheit zu bekom-
men, eine zweite Rede zu halten.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ach! Was soll
denn das jetzt?)
Frau Happach-Kasan, wenn Sie mir bei den vielfälti-
gen Gelegenheiten, bei denen wir über dieses Thema
diskutiert haben, zugehört hätten, dann hätten Sie gehört,
dass ich in jeder Rede, die ich halte, deutlich mache
– das habe ich auch heute getan –, dass ich in genau den
Punkten, die Sie angesprochen haben, anderer Meinung
bin als Sie.
Ich sage: Hier ging es um einen Betrieb in Schleswig-
Holstein, der Futterfette herstellt und kriminell gehan-
delt hat. Dieser Betrieb hatte sehr große Futtermühlen
als Abnehmer. Mir als praktizierendem Landwirt ist
nicht bekannt, dass kleine Bauern besonders viel Misch-
futter kaufen. Meine These ist, dass kleinbäuerliche Be-
triebe ihr Getreide in der Regel selbst mahlen und nicht
Kunden von Futtermittelmischwerken sind und nicht in
großem Stile Futtermittel aus Futtermittelmischwerken
beziehen. Ihre Logik erschließt sich mir nicht. Ich
glaube, hier müssen Sie genauer zuhören. Ich bin an die-
sem Punkt immer sehr entschieden und klar. Ich sage: In
der Realität ist es genau umgekehrt.
Die Verbraucher waren nicht gefährdet. Nein, es ist
zum Glück niemand akut erkrankt. Das behauptet auch
niemand. Es ist mir nicht bekannt, dass es irgendeine
wissenschaftliche Quelle gibt, die besagt: Wenn du dei-
nem Körper Dioxin zuführst, dann wirst du akut krank,
wie das jetzt beim EHEC-Bakterium der Fall ist, wenn
es das HUS auslöst. Mein Wissensstand ist bisher – Frau
Happach-Kasan, Sie sind Wissenschaftlerin; ich bin
Praktiker und habe nie studiert –, dass Dioxin im Fettge-
webe angereichert wird. Wenn Sie anderer Meinung
sind, dann wäre es interessant, nach dieser Sitzung zu er-
fahren, welche Erkenntnisse Sie diesbezüglich gewon-
nen haben. Mein Erkenntnisstand ist: Es wird im Fettge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12751
Friedrich Ostendorff
(A) (C)
(D)(B)
webe angereichert, und natürlich ist irgendwann eine
Schwelle erreicht, ab der der Mensch akut gefährdet ist.
Wir wollen hier aber nicht skandalisierend reden, wie
Sie das tun.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Sie reden nicht
skandalisierend?)
Ich glaube, das müssen wir sehr seriös abarbeiten. Es
gilt, diese Einträge von Umweltgiften zu minimieren.
Ich glaube, die Gesellschaft ist in der Vergangenheit
vielleicht etwas leichtfertig mit Stoffen wie Dioxin um-
gegangen. Ich denke, dass wir allen Bauern und Bäuerin-
nen, deren Betriebe ohne ihr eigenes Verschulden ge-
sperrt wurden und die ihre Produkte am Markt nicht
absetzen konnten, natürlich allen Schutz geben müssen;
denn sie brauchen unser aller Solidarität. Das ist völlig
unbestritten.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ja, dann
geben Sie sie ihnen doch!)
Das müssen wir endlich anpacken.
Wir hätten erwartet, dass es Vorschläge dafür gibt,
wie solchen Betrieben, die ohne Not in eine wirtschaftli-
che Existenzgefährdung geraten sind und geächtet wer-
den, weil sie gesperrt sind – das bleibt ja nicht verborgen –,
in Zukunft wirksam geholfen werden kann, sodass sie,
wenn sie Futtermittel am Markt beziehen, sicher sein
können, dass diese Futtermittel sauber sind und die
Branche das Ihrige tut, um die Haftung zu übernehmen,
falls es bei diesen Futtermitteln zu Auffälligkeiten
kommt.
Die Branche, die Sie mit Ihren Vorschlägen fördern
wollen, macht sich einen schlanken Fuß und übernimmt
eben keine Verantwortung. Die betroffenen Bäuerinnen
und Bauern sind völlig alleine mit ihren Nöten, mit ihren
Sorgen und auch mit dem wirtschaftlichen Misserfolg,
der damit natürlich einhergeht.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Ostendorff. –
Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan, Sie haben das Ange-
bot zum persönlichen Gespräch gehört. Da wir bis kurz
vor Mitternacht fertig werden, besteht sicher noch die
Gelegenheit dazu, bevor wir für morgen zur nächsten
Sitzung einladen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Als Nächster hat der Kollege Johannes Röring für die
Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kol-
lege.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Johannes Röring (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade festge-
stellt, dass die Verdopplung der Redezeit noch längst
nicht zur Verdopplung der Erkenntnisse führt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris
Gleicke [SPD]: Da sind wir ja gespannt! –
Kerstin Tack [SPD]: Sag mal deine Erkennt-
nisse!)
Im Januar dieses Jahres mussten wir alle im Rahmen
der Dioxinkrise miterleben, dass das Fehlverhalten eines
Einzelnen bundesweit große Verunsicherung und große
Schäden ausgelöst hat. Die Verbraucherinnen und Ver-
braucher waren in höchstem Maße verunsichert und
wussten nicht, welche Lebensmittel am Ende noch si-
cher waren. Die Produzenten dieser Lebensmittel, die
Landwirte, standen völlig unverschuldet am Pranger.
Viele Teilnehmer der Produktionskette waren von den
Folgewirkungen betroffen.
Auch wenn das Thema Dioxin mittlerweile weitestge-
hend aus der medialen Berichterstattung verschwunden
ist, haben sowohl die direkt als auch die indirekt betrof-
fenen Landwirte die finanziellen Folgen der Krise hart
gespürt. Nach einer aktuellen Analyse der Dow Jones
News sind die marktbedingten Preisrückgänge durch
diese Krise auf etwa 100 Millionen Euro zu beziffern.
Damit wir eine ähnliche Situation nicht wieder erleben
müssen, haben wir schnell gehandelt.
(Iris Gleicke [SPD]: Schnell?)
An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal ein kla-
res Wort zur Medienberichterstattung, aber auch zum
Verhalten der Opposition sagen. Wie hier in teils unver-
antwortlicher Weise Ängste geschürt wurden, war mehr
als unanständig und nicht angebracht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es wurde pauschalisiert und verleumdet und sogar die
Landwirtschaft selbst angegriffen. Man hat versucht, aus
Opfern Täter zu machen. Das war ein starker Schlag in
das Gesicht unserer Bäuerinnen und Bauern,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die sich tagtäglich – das möchte ich an dieser Stelle beto-
nen – mit großer Verantwortung um ihre Tiere kümmern.
Dieses Verhalten möchte ich deutlich verurteilen. Die
Zahl der anwesenden Agrarpolitiker der Opposition
zeigt, wie wichtig Sie unsere Bäuerinnen und Bauern
nehmen: Ihre Reihen sind sehr schwach besetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Fakten zeigen, dass die Behörden der Länder, der
Bund, aber auch die EU schnell und gut zusammengear-
beitet haben und das durch die Wirtschaft aufgebaute
System der Transparenz und Rückverfolgbarkeit gegrif-
fen hat. Sie haben den Futtermittelskandal aufgedeckt.
Viele Betriebe haben schon vorher Eigenkontrollen
durchgeführt und machen dies auch heute noch. Der Ur-
sprung und vor allen Dingen die Wege der Futtermittel
sind sehr schnell aufgedeckt worden.
Im Gegensatz zur Opposition haben wir nicht Effekt-
hascherei und Populismus betrieben.
(Kerstin Tack [SPD]: Schon mal ein bisschen
Niveau hineinbringen!)
Wir haben direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle ge-
handelt. Im Zentrum des Aktionsplans steht nämlich,
dass wir die Sicherheitsstandards der Futtermittelkette
12752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Johannes Röring
(A) (C)
(D)(B)
weiter erhöhen und die Melde- und Kontrollpflichten
verschärfen wollen. Wir wollen also – das betone ich
ausdrücklich – das bestehende System verbessern und
weiterentwickeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mit der heute zu beschließenden Änderung des Le-
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden wir
nur wenige Monate nach der Entwicklung des Aktions-
plans erste Teile gesetzgeberisch umsetzen. Wir wollen
eine zuverlässige Kontrolle aller Glieder der Lebensmit-
telproduktionskette. Sowohl die Verbraucher als auch
insbesondere die Beteiligten der Wertschöpfungskette
inklusive der Bäuerinnen und Bauern brauchen auf allen
Ebenen Sicherheit hinsichtlich Qualität und Herkunft der
Produkte.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege Röring, wir haben die Chance zu einer
Zwischenfrage von der linken Seite, den Sozialdemokra-
ten. Würden Sie sie zulassen? Sie müssen das nicht.
Johannes Röring (CDU/CSU):
Gerne, Kollege Priesmeier.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Herr Kollege Röring, stimmen Sie mir zu, dass durch
das Verhalten des damaligen niedersächsischen Staatsse-
kretärs anlässlich des Besuches der Ministerin in Olden-
burg und den Erkenntnisstand, den er zu dem damaligen
Zeitpunkt hatte, die Krise, die Sie in wesentlichen Teilen
der Opposition anlasten, in besonderer Weise befördert
worden ist? Wenn Sie mir nicht zustimmen, dann bitte
ich Sie, das zu begründen. – Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Das war die Zwischenfrage unseres Kollegen
Priesmeier. – Bitte schön, Herr Kollege Röring.
Johannes Röring (CDU/CSU):
Lieber Kollege Wilhelm Priesmeier, ich stimme die-
ser Erkenntnis nicht zu; denn wir haben – das habe ich
eben deutlich gemacht – gerade durch die Eigenkontrol-
len im System sehr schnell die Herkunft dieser Futter-
chargen nachvollzogen und erkannt. Das wäre vor eini-
gen Jahren noch nicht möglich gewesen.
Dass es in einem System, wie wir es kennen, zu kri-
minellem Handeln kommt, werden wir auch durch die
schärfsten gesetzlichen Maßnahmen letzten Endes nie
unterbinden können. Deswegen sind wir dabei, es pra-
xisgerecht und vernünftig weiterzuentwickeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie ha-
ben es zu spät gemerkt!)
Die Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelge-
setzbuchs wird nun konkret. Die Meldepflicht der priva-
ten Laboratorien ist vorgeschrieben. Die Eigenkontrolle
wird verstärkt berücksichtigt. Ein Punkt, der meines Er-
achtens andiskutiert, aber noch nicht umgesetzt worden
ist, ist die Versicherungspflicht für Futtermittelunterneh-
mer zum Schutz aller Partner in der Kette. Hinsichtlich
der neuen Vorgaben zur Eigenkontrolle möchte ich gerne
auf die öffentliche Anhörung Bezug nehmen, die wir zu
diesem Thema durchgeführt haben. Dort haben uns viele
Experten bestätigt, dass bereits heute ein hohes Maß an
verantwortungsbewusster Eigenkontrolle durch die Un-
ternehmen vorhanden ist. Wir fügen deshalb der Kon-
trollkette nur eine sinnvolle Informationspflicht hinzu,
die bedeutet, dass alle Lebensmittel- und Futtermittel-
hersteller Ergebnisse von Eigenkontrollen zu Dioxinen
den zuständigen Behörden mitteilen müssen. Weitere,
darüber hinausgehende Mitteilungsverpflichtungen der
Unternehmen lehnen wir deutlich ab, da wir Vorverur-
teilungen verhindern wollen, um nicht unnötigerweise
Unternehmensexistenzen und – damit einhergehend –
Arbeitsplätze zu gefährden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wer das noch nicht richtig verinnerlicht und verstan-
den hat, der muss sich nur die Ereignisse dieser Tage an-
schauen. Wer gestern Abend und heute Morgen die Mel-
dungen zu der Frage, woher das gefährliche Bakterium
kommt, verfolgt hat, der hat mitbekommen, was ver-
frühte Meldungen und Vorverurteilungen bewirken kön-
nen. Das hat Konsequenzen für den Handel. Unschul-
dige Gemüseerzeuger aus Norddeutschland haben
erhebliche Probleme und beklagen Millionenschäden an
einem Tag. Heute war zu hören, dass die Behörden nach
intensiven Bemühungen aufgedeckt haben, woher die
Gefahr kommt. Es waren am Ende – ich glaube, ich sage
damit nicht zu viel – grüne Gurken.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sehr
komisch!)
Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahegetreten bin. Ich
möchte das nur als Beispiel nennen, um deutlich zu ma-
chen, wie schnell Vorverurteilungen ganze Produktions-
zweige in Gefahr bringen können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich sage noch einmal: Die Lebensmittel in Deutsch-
land waren noch niemals von so hoher Qualität und so
sicher wie in der heutigen Zeit. Wir wollen, dass das
auch in Zukunft so bleibt. Der deutschen Agrar- und Er-
nährungswirtschaft soll man vertrauen können. Qualität
und Sicherheit sind Markenzeichen dieser Branche. Ich
denke, dass durch die nun zu beschließenden gesetz-
lichen Vorgaben dies weiter zu verdeutlichen ist. Wir als
Regierungskoalition haben gezeigt, was schnelles und
sachorientiertes Handeln bedeutet
(Lachen bei der SPD)
und dass wir erfolgreiche Politik machen können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12753
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Johannes Röring.
Tagesordnungspunkt 13 a: Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Le-
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer
Vorschriften. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953
(neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksachen 17/4984 und 17/5392 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5958
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Änderungs-
antrag ist damit abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-
zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-
haltungen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5959. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 13 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ursachen be-
kämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953
(neu), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/5377 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5953 (neu) empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen-
probe! – Keine. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Versorgung der privat Versicherten im Basis-
tarif sicherstellen
– Drucksache 17/5524 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit
(14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja
Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-
Selbstständige bezahlbar gestalten
– Drucksachen 17/777, 17/5566 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Lanfermann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Private Kranken- und Pflegeversicherung –
Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
dürftige
– Drucksachen 17/780, 17/5630 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Maag
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf-
fung der Benachteiligung von privat versicher-
ten Bezieherinnen und Beziehern von
Arbeitslosengeld II
– Drucksache 17/548 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)
– Drucksache 17/5629 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Ich verzichte auf die Ver-
lesung der einzelnen Namen; die Namen liegen uns vor,
12754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
und die entsprechenden Reden sind beim Protokoll ein-
gegangen1).
Tagesordnungspunkt 14 a: Es wird interfraktionell
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5524 an
den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. – Alle
sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 14 b: Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussfassung auf
Drucksache 17/5566, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/777 mit dem Titel „Gesetzliche
Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar
gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und
die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! –
Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 c: Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5630, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/780 mit dem Titel „Private Kranken-
und Pflegeversicherung – Existenzminimum zukünftig
auch für Hilfebedürftige“ abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-
fraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! –
Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 14 d: Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5629, den Entwurf eines Gesetzes zur
Abschaffung der Benachteiligung von privat versicher-
ten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosen-
geld II der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/548 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? –
Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist in der zweiten
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung eine weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsge-
setzes
– Drucksache 17/3122 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 17/5930 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Burkhard Lischka
Marco Buschmann
1) Anlage 3
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger
Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, wer-
den die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor.
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Wir beraten und beschließen heute in zweiter und
dritter Lesung das Dritte Gesetz zur Änderung des Um-
wandlungsgesetzes. Es dient der Umsetzung der Richtli-
nie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates, die Änderungen bereits bestehender Richtlinien
(Richtlinie 77/91/EWG, 78/855/EWG, 82/891/EWG und
2005/56/EG) hinsichtlich der Berichts- und Dokumenta-
tionspflichten bei Verschmelzungen und Spaltungen von
Gesellschaften vorsieht.
Die heute zu beschließenden Änderungen des Um-
wandlungsrechts stellen einen weiteren wichtigen Bau-
stein im Rahmen der kontinuierlichen Fortentwicklung
des Unternehmensrechts in Deutschland dar. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf, an dem im Rahmen des parlamen-
tarischen Beratungsverfahrens mehrere wichtige Ände-
rungen vorgenommen wurden, leistet einen Beitrag zur
weiteren Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutsch-
land. Denn Unternehmen werden bei Umwandlungen
künftig von Einsparungen profitieren und mit einem ge-
ringeren Verwaltungsaufwand konfrontiert als bisher. So
können künftig etwa die Prüfung der Sacheinlagen und
des Verschmelzungsvertrags durch denselben Sachver-
ständigen vorgenommen werden. Eine Zwischenbilanz
wird künftig dann entbehrlich sein, wenn alle Anteils-
inhaber sämtlicher beteiligter Rechtsträger durch nota-
riell beurkundete Erklärung darauf verzichten oder ein
Halbjahresfinanzbericht gemäß § 37 w des Wertpapier-
handelsgesetzes veröffentlicht wurde.
Daneben können Aktionären mit ihrer Einwilligung
Unterlagen in Zukunft auf dem Wege elektronischer
Kommunikation übermittelt werden. Auf eine Versen-
dung in Papierform kann verzichtet werden. Konzern-
verschmelzungen werden dadurch vereinfacht, dass bei
Konzernverschmelzungen auf eine Aktiengesellschaft
bei 100-prozentiger Beteiligung die Notwendigkeit eines
Verschmelzungsbeschlusses nicht wie bisher nur hin-
sichtlich der Beschlussfassung bei der übernehmenden
Aktiengesellschaft, sondern auch bei der übertragenden
Kapitalgesellschaft entfällt, wenn der übernehmenden
Aktiengesellschaft sämtliche Anteile der übertragenden
Aktiengesellschaft gehören. Den berechtigten Interessen
an einer Unterrichtung des Betriebsrats über geplante
Konzernverschmelzungen wird dabei durch eine vom
Rechtsausschuss angeregte gesetzliche Klarstellung
Rechnung getragen.
Ein wichtiges Element des vorliegenden Änderungs-
gesetzes zum Umwandlungsrecht ist die Einführung des
verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out. Gehören der
übernehmenden Gesellschaft mindestens 90 Prozent des
Grundkapitals einer übertragenden Aktiengesellschaft,
kann die Hauptversammlung der übertragenden Aktien-
gesellschaft einen Squeeze-out-Beschluss fassen. Wäh-
rend der allgemeine aktienrechtliche Squeeze-out eine
Dr. Stephan Harbarth
(A) (C)
(D)(B)
mindestens 95-prozentige Beteiligung voraussetzt, ist
der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out – wie von der
Richtlinie vorgesehen – bereits ab einer 90-prozentigen
Beteiligung möglich. Zu Recht war darauf hingewiesen
worden, dass der vorgelegte Regierungsentwurf die
Möglichkeit eröffnet hätte, bei nur 90-prozentiger Betei-
ligung zunächst in Ausübung der neu geschaffenen ge-
setzlichen Regelung einen verschmelzungsrechtlichen
Squeeze-out durchführen zu können, ohne sodann auch
die Verschmelzung durchzuführen. Dieser Umgehungs-
möglichkeit ist aus Gründen der inhaltlichen Konsistenz
der Rechtsordnung nunmehr durch vom Rechtsaus-
schuss beschlossene Änderungen ein Riegel vorgescho-
ben worden. Wenngleich mit den vorliegenden umwand-
lungsrechtlichen Änderungen die von der Richtlinie
eröffneten Möglichkeiten an allen Stellen in rechtspoli-
tisch überzeugender Weise umgesetzt wurden, besteht im
Umwandlungsrecht weiterer Handlungsbedarf, der im
Rahmen der hier anstehenden Richtlinienumsetzung the-
matisch nicht tangiert war.
Als wichtige rechtspolitische Herausforderungen des
Umwandlungsrechts, die im vorliegenden Gesetzentwurf
nicht behandelt werden, seien exemplarisch nur drei ge-
nannt:
Erstens besteht weiterhin eine rechtspolitisch kaum
zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Aktionäre
des übertragenden und des übernehmenden Rechtsträ-
gers bei der Rüge des Umtauschverhältnisses im Rah-
men von Verschmelzungen.
Zweitens sind etwaige Ausgleichsleistungen an Aktio-
näre, die durch das Umtauschverhältnis übervorteilt
werden, nach derzeitiger Rechtslage nur in Form von
Geldleistungen, nicht jedoch in Form von Anteilsgewäh-
rungen möglich. Die letztere Option wäre aber deshalb
sinnvoll, weil sie Liquiditätsdruck von Unternehmen
nähme, die an Umwandlungsvorgängen beteiligt sind.
Drittens wird man kritisch zu hinterfragen haben, ob
die Notwendigkeit einer aufwendigen Hauptversamm-
lung in allen Fällen der Ausgliederung wirklich sachge-
recht ist.
Diese Fragen in den kommenden Monaten aufzugrei-
fen, stünde dem Gesetzgeber nach unserer Überzeugung
gut zu Gesicht. Wir freuen uns auch insoweit auf ähnlich
konstruktive Beratungen, wie wir sie bei den Erörterun-
gen im Hinblick auf das heute zu verabschiedende Dritte
Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes erleben
durften.
Burkhard Lischka (SPD):
Wir verabschieden hier einen Gesetzentwurf von im-
menser Tragweite für das Wirtschaftsleben – und wir
verabschieden ihn vollkommen ohne öffentliche Begleit-
musik. Eigentlich sollte einen das wundern. Genau eine
Berichterstattung im „Handelsblatt“ habe ich gefunden,
ansonsten nichts, was rauscht im Blätterwald.
Sicher, der Gesetzentwurf setzt zuallererst europäi-
sche Vorgaben aus dem Herbst 2009 um – gerade noch
fristgerecht übrigens, bis Ende Juni 2011 war Zeit. Und
er ist alles in allem handwerklich solide gemacht.
Zu Protokoll
Trotzdem: Einen intensiven Blick ist er wert. Die Re-
gelungen für die Spaltung und Verschmelzung von Un-
ternehmen werden stark verändert. Das hat große Aus-
wirkungen auf Konzernverschmelzungen und alle davon
Betroffenen: die Entscheiderinnen und Entscheider in
den beteiligten Unternehmen, die Aktionärinnen und Ak-
tionäre und nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter, die Kundinnen und Kunden. Es sollte darum
nicht nur ein Spezialthema für ein paar Unternehmens-
juristen sein. Wenn Politik zum Ziel hat, die Chancen für
mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu erhöhen,
indem die Investitionsfähigkeit und Innovationskraft der
privaten Wirtschaft gestärkt werden, dann ist ein moder-
nes, praktikables Umwandlungsrecht ein Baustein dazu.
Und das Umwandlungsrecht wird mit dieser Novelle in
der Tat von ein paar bürokratischen Hürden entschlackt.
Die Konzernumwandlung wird entlang den EU-Vorga-
ben straffer und kosteneffizienter. Unnötige Berichts-
und Informationspflichten werden gestrichen, Kosten-
ersparnisse unter anderem dadurch eröffnet, dass auf
Zwischenbilanzen verzichtet werden kann oder dass im
Falle einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft die-
selben Sachverständigen mit der Prüfung sowohl der
Sacheinlagen als auch des Verschmelzungsvertrages be-
auftragt werden können. Alles gut also?
Bessere, stringentere Lösungen, bei denen die Wirt-
schaft auch noch bares Geld spart, begrüße ich. Verein-
fachung darf aber nicht so weit gehen, dass als „Neben-
wirkung“ die Rechte wichtiger Gruppen unter den Tisch
zu fallen drohen, wie es mit der Unterrichtung der
Betriebsräte fast passiert wäre. Im Gesetzentwurf der
Bundesregierung sollte geregelt werden, dass ein Ver-
schmelzungsbeschluss des Anteilsinhabers der übertra-
genen Kapitalgesellschaft dann nicht erforderlich ist,
wenn sich das gesamte Stammgrundkapital einer über-
tragenen Kapitalgesellschaft in der Hand einer über-
nehmenden Aktiengesellschaft befindet. Damit war
quasi der Anknüpfungspunkt für die Betriebsratszulei-
tung „weggespart“. Der Zeitpunkt, wann die Betriebs-
räte zu unterrichten sind, hätte sich nicht mehr exakt be-
stimmen lassen. Darauf hatte der DGB hingewiesen. Wir
Sozialdemokraten haben diesen Punkt aufgenommen,
ihn auch bei der Expertenanhörung in den Fokus ge-
rückt und eine Klarstellung erreichen können. Dieses
Versäumnis des Gesetzgebers ist also dank sozialdemo-
kratischen Engagements erfolgreich eingefangen
worden. Gerade wenn Verfahren einfacher und über-
sichtlicher werden sollen, ist es extrem wichtig, die Un-
terrichtungspflichten der Vertretungsorgane sorgsam
auszutarieren. Da dürfen wir uns keinen Lapsus leisten.
Denn hier geht um zentrale Transparenzfragen, um das
Miteinander von Unternehmensführung und Mitarbei-
tervertretung. Wie wichtig diese Fragen sind, hat uns die
Finanz- und Wirtschaftskrise ja wohl wirklich überdeut-
lich vor Augen geführt.
Beispiel zwei: der Squeeze-out. Der Gesetzentwurf
verändert die rechtlichen Anforderungen bei der Ver-
schmelzung und Spaltung unter der Beteiligung von Ak-
tiengesellschaften; insbesondere geht es um die Ver-
schmelzung von 100-prozentigen Tochtergesellschaften
mit der Muttergesellschaft. Die zentrale und für die Pra-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12755
gegebene Reden
Burkhard Lischka
(A) (C)
(D)(B)
xis bedeutendste Regelung ist der neu gestaltete
Squeeze-out. Wir verändern die Vorgaben, nach denen
der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak-
tiengesellschaft erzwungen werden kann. Auch hier geht
es um Wirkungen und Nebenwirkungen. Mit Blick auf
die Regelungen zum Squeeze-out muss der Gesetzgeber
sicherstellen, dass die neue Regelschwelle von jetzt
90 Prozent nicht dadurch ausgehebelt werden kann,
dass ein Squeeze-out nach § 62 UmwG-E durchgeführt
und auf die anschließende Verschmelzung verzichtet
wird. Das Wirksamwerden des Sqeeze-out an eine Ein-
tragung der Konzernverschmelzung zu binden, war not-
wendig. Diese Hintertür haben wir im Rechtsausschuss
zugeschlagen. Das war wichtig. So bleibt das Fazit: Der
Prozess der Konzernverschmelzungen wird durch einen
sachgerechten Gesetzentwurf erleichtert. Meine Frak-
tion wird ihn mittragen.
Marco Buschmann (FDP):
Bereits im Jahre 2007 hat sich der Europäische Rat
darauf verständigt, die Verwaltungslasten für Unterneh-
men bis zum Jahre 2012 um 25 Prozent zu verringern.
Zu diesem Zweck haben die europäischen Institutionen
die Umwandlungsrichtlinie Richtlinie 2009/109/EG auf
den Weg gebracht, mit dem Ziel, den Verwaltungs- und
Kostenaufwand aufgrund von Veröffentlichungs- und
Dokumentationspflichten auf ein Minimum zu beschrän-
ken.
Die FDP-Bundestagsfraktion teilt das Ziel, Unter-
nehmen und insbesondere den Mittelstand von überflüs-
sigen Bürokratielasten zu befreien. Vor diesem Hinter-
grund begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf in
der Fassung, den er durch die Änderungsanträge der
Koalitionsfraktionen bekommen soll, als konsequente
Umsetzung dieser Zielvorgabe.
Durch den heute zu beratenden Regierungsentwurf
für das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungs-
rechts und den Änderungsantrag der Regierungskoali-
tionen soll die Richtlinie 2009/109/EG in nationales
Recht umgesetzt werden. Schon der Regierungsentwurf
vom 7. Juli 2010 hat in verschiedenen Bereichen eine
Erleichterung bedeutet. Zum Beispiel ermöglicht der
Entwurf die Übermittlung von Dokumenten auf elektro-
nischem Wege. Des Weiteren kann die Prüfung der Sach-
einlagen und des Verschmelzungsvertrages zukünftig
durch denselben Sachverständigen erfolgen.
Wichtige Änderungen im Umwandlungsrecht ergaben
sich jedoch aus dem erweiterten Berichterstatterge-
spräch vom 9. Februar 2011. Für die konstruktive Mit-
arbeit möchte ich mich daher bei den Berichterstattern
aller Fraktionen bedanken und insbesondere bei den an-
gehörten Sachverständigen für ihre hilfreiche Unterstüt-
zung. Die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Kollegen
Lischka und Frau Kollegin Hönlinger, verlief sehr sach-
kundig und konstruktiv.
Zwei wichtige Ergebnisse möchte ich dabei heraus-
stellen: Zum einen war im Regierungsentwurf vorgese-
hen, die Unterrichtungspflicht im deutschen Recht nicht
nur auf die Aktiengesellschaft zu beschränken, sondern
Zu Protokoll
auf Unternehmen sämtlicher Rechtsformen auszuweiten.
Der Regierungsentwurf setzte hier also europäisches
Recht nicht eins zu eins um, sondern schickte sich an,
Berichtspflichten anlässlich einer Richtlinienumsetzung
auszuweiten. Wir haben hier auf eine Umsetzung eins zu
eins bestanden. Denn die Ausweitung von Berichts-
pflichten steht im Widerspruch zum erklärten Ziel der
Richtlinie, nämlich Unternehmen von bürokratischen
Informationspflichten zu entlasten. Entlastung erreicht
man aber nicht durch Ausweitung, sondern nur durch
Beseitigung oder Vermeidung von Informationspflich-
ten.
Die wohl wichtigste Änderung erfährt der Regie-
rungsentwurf auf Initiative der Koalitionsfraktionen
durch die Stärkung des sachlichen und zeitlichen Zu-
sammenhangs zwischen dem erleichterten Squeeze-out
anlässlich einer Verschmelzung und der dazu erforderli-
chen Verschmelzung selbst. Das war erforderlich, da der
konzernrechtliche Squeeze-out anlässlich einer Ver-
schmelzung unter erleichterten Bedingungen erfolgen
kann als andere Formen des Squeeze-out. Hier war man
sich in der Fachwelt einig, dass sich Missbrauchs- bzw.
Umgehungsmöglichkeiten für die erhöhten Vorgaben ei-
nes regulären Squeeze-outs ergeben. Für meine Frak-
tion stand es auch nie zur Debatte, die Voraussetzungen
für Squeeze-out allgemein abzusenken. Denn es geht
hier um Eigentumspositionen von Aktionären. Das ist
nicht nur angesichts von Art. 14 GG ein hohes Gut. Da-
mit spielt man nicht. Hier haben die Koalitionsfraktio-
nen im Zusammenspiel mit den Sachverständigen, die
wir dazu gehört haben, einen Weg gefunden, um diese
Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten auszu-
schließen. So wird der erleichterte Squeeze-out anläss-
lich einer Verschmelzung erst mit der Eintragung des
Verschmelzungsbeschlusses wirksam. So kann nicht ein-
fach ein erleichterter Squeeze-out wirksam durchgeführt
werden, ohne nicht auch die Verschmelzung durchzufüh-
ren, um derentwillen man das Privileg erleichterter Vo-
raussetzungen erhält. Zum anderen erhalten wir aber
die Vorteile des Instruments. Denn es ist dennoch
möglich, im Zusammenhang mit einer Verschmelzung
den von der Richtlinie geforderten Squeeze-out bei einer
90-prozentigen Tochtergesellschaft durchzuführen.
Insgesamt ist das Ergebnis ein guter Schritt in die
richtige Richtung: die Entlastung der Unternehmen von
Bürokratie und Kosten. Ich werbe hier daher um Ihre
Zustimmung!
Richard Pitterle (DIE LINKE):
Die Änderungen des hier vorliegenden Umwand-
lungsgesetzes betreffen insbesondere die Veröffentli-
chungs- und Dokumentationspflichten jedes an der Ver-
schmelzung oder Spaltung beteiligten Rechtsträgers
sowie die Erleichterung eines Squeeze-out, also den
Ausschluss eines Gesellschafters. Wenn wir dem Gesetz
zustimmen, dann nicht, weil wir den zugrunde liegenden
Vorgängen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt
sind. Von Markus M. Ronner stammt der Satz: „Das
Zeitalter der Fusionen hat Unternehmer als bloße Über-
nehmer entlarvt. Und mancher hat sich dabei übernom-
men.“
12756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Richard Pitterle
(A) (C)
(D)(B)
Als Finanzpolitiker finde ich die Einschätzung zutref-
fend, wonach eine Fusion der Zusammenschluss von
zwei Unternehmen zum Abbau von Verlusten sei, die sie
alleine nie gehabt hätten. Regelmäßig sind diese Vor-
gänge mit einem Personalabbau verbunden, wie es der
jüngste Fall bei der Verschmelzung der Dresdner Bank
und der Commerzbank gezeigt hat. Der konzernweite
Personalabbau betraf hierbei 9 000 Vollzeitstellen, da-
von rund 6 500 in Deutschland. Daher ist für uns ent-
scheidend, dass mit der vorliegenden Gesetzesänderung
keine Verschlechterung der Rechte der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer einhergeht und die Beteiligungs-
rechte des Betriebsrats nicht beschnitten werden.
Die Ergänzungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E
legen den Fristbeginn für die Unterrichtung des Be-
triebsrates über die Verschmelzung fest. Nunmehr ist
spätestens mit Abschluss des Verschmelzungsvertrages
die Verpflichtung zu erfüllen, diesen dem Betriebsrat zuzu-
leiten. Die Änderungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E
knüpfen das Wirksamwerden des Übertragungsbe-
schlusses nunmehr an die Eintragung des Verschmel-
zungsbeschlusses in das Handelsregister. Damit ist si-
chergestellt, dass ein konzernverschmelzungsrechtlicher
Squeeze-out, der bei 90 Prozent möglich ist, gegenüber
dem sonstigen aktienrechtlichen Squeeze-out bei 95 Pro-
zent nicht missbraucht wird, indem eine Verschmelzung
angedacht wird, ein Squeeze-out durchgeführt wird und
die Verschmelzung sodann scheitert.
Die letzten Änderungen, die nach der Anhörung er-
folgten und auf Hinweise der Sachverständigen zurück-
gehen, begrüßen wir daher. Ebenfalls begrüßen wir,
dass das BMJ sich auf die notwendigen Umsetzungen
aus der Änderungsrichtlinie für Verschmelzungen und
Spaltungen beschränkt hat und nicht, wie von einigen
Sachverständigen verlangt wurde, eine Reihe weiterer
Vorschläge, die damit nur mittelbar im Zusammenhang
stehen, aufgenommen hat. Der konzernverschmelzungs-
rechtliche Squeeze-out bei 90 Prozent ergibt sich zwin-
gend aus der umzusetzenden Richtlinie. Insoweit ist dies
zwar aus dem Blickpunkt des Gesellschaftsrechts nicht
befriedigend, es dürfte jedoch kein rechtlicher Hand-
lungsspielraum verbleiben, die Schwelle auf 95 Prozent
hochzusetzen.
Bei einer künftigen Reform des Umwandlungsrechts
wäre zu überlegen, wie die Rechte der Arbeitnehmer ge-
stärkt werden können. Der Sachverständige Ernst
Büchele hatte in der Anhörung vorgeschlagen, das über-
nehmende Unternehmen zu verpflichten, für eine Über-
gangszeit von etwa fünf Jahren eine Beschäftigungsga-
rantie abzugeben. Würde diese nicht eingehalten, wäre
eine je nach Dauer der Beschäftigung gestaffelte Aus-
gleichszahlung in ein Sondervermögen zu leisten, das
die Kreditanstalt für Wiederaufbau verwaltet. Die damit
gesammelten Mittel dürfen nur verwendet werden, um
neue Arbeitsplätze zu schaffen, entweder innerhalb von
bestehenden oder erst noch zu gründenden Unterneh-
men. Dazu können auch reine Beschäftigungsgesell-
schaften gehören, die Arbeitnehmer so lange auf-
nehmen, bis sie am regulären Arbeitsmarkt wieder
untergekommen sind oder das – nahende – Rentenalter
erreichen.
Zu Protokoll
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir beraten heute das Dritte Gesetz zur Änderung des
Umwandlungsgesetzes. Das Umwandlungsgesetz regelt
die Umwandlung von Rechtsträgern, die ihren Sitz in
Deutschland haben. Insbesondere geht es dabei um Ver-
schmelzungen, Spaltungen, Formenwechsel sowie Ver-
mögensübertragungen von gesellschafts-, vereins- oder
genossenschaftsrechtlich organisierten Rechtsträgern.
In dem Dritten Gesetz zur Änderung des Umwandlungs-
gesetzes führen wir EU-rechtliche Vorgaben in das deut-
sche Recht ein. Wir Grünen haben uns an diesem Ge-
setzgebungsprozess konstruktiv beteiligt.
Der Hauptpunkt, der mit dieser Gesetzesänderung
vorgenommen wird, ist die Absenkung des Squeeze-out.
Unter einem Squeeze-out ist ein unter Zwang vollzoge-
ner Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak-
tiengesellschaft zu verstehen. Das bedeutet: Wenn ein
Aktionär – direkt oder über von ihm abhängige Unter-
nehmen – mindestens 95 Prozent des Grundkapitals ei-
ner Aktiengesellschaft hält, kann er die restlichen Aktio-
näre gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aus
dem Unternehmen drängen. Mit dem Gesetzentwurf sen-
ken wir die Squeeze-out-Schwelle entsprechend der eu-
ropäischen Vorgaben auf 90 Prozent.
Uns ist bewusst, dass eine Absenkung der Squeeze-
out-Schwelle nicht unproblematisch ist. Dieser Zwangs-
ausschluss der Minderheitsaktionäre stellt einen erheb-
lichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position der
Minderheitsaktionäre dar.
Schon jetzt zeigt sich die Rechtsprechung zunehmend
großzügig. Beispielsweise hält sie auch Fälle für
unbedenklich, in denen der Hauptaktionär die für den
Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre erforderliche
Beteiligungsquote von 95 Prozent erst durch ein Wertpa-
pierdarlehen erreicht hat. Vor diesem Hintergrund begrü-
ßen wir, dass der Regierungsentwurf den Schwellenwert
von 95 Prozent für den ,,normalen“ gesellschaftsrechtli-
chen und übernahmerechtlichen Squeeze-out unangetas-
tet lässt. Für den Zwangsausschluss im Zusammenhang
mit einer Konzernverschmelzung im Aktienrecht müssen
wir hingegen die Absenkung des Schwellenwertes auf
90 Prozent im Gesetz etablieren, da dieses den europa-
rechtlichen Vorgaben entspricht. Begrüßenswert ist zu-
dem, dass mit diesem Gesetzentwurf die Transparenz für
Aktionäre erhöht wird. Mit der Einführung des neuen
§ 64 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes schreiben wir die
Unterrichtungspflicht über Vermögensänderungen auch
für Verschmelzungen von Aktiengesellschaften fest. Bis-
her gab es diese Verpflichtung nur bei Spaltungen von
Aktiengesellschaften.
Abschließend ist hervorzuheben, dass wir mit diesem
Gesetzentwurf im Hinblick auf die Vorbereitung einer
Hauptversammlung Bürokratie abbauen. Überflüssige
Kosten werden für Unternehmen minimiert. Durch die
Gesetzesänderung können die die Hauptversammlung
vorbereitenden Unterlagen den Aktionären auf elektro-
nischem Wege zugeleitet werden. Das bedeutet nicht nur
eine erhebliche Ersparnis an Papier und Zeit, sondern
kommt auch unserer Umwelt zugute. Wir Grünen unter-
stützen daher das Gesetzesvorhaben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12757
gegebene Reden
12758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5930, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3122 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig.
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch
keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. – Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? –
Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivile Krisenprävention ins Zentrum deut-
scher Außenpolitik rücken
– Drucksache 17/5910 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin
Müller (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Den friedenspolitischen und krisenpräventi-
ven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen
– Drucksachen 17/4043, 17/5307 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Michael Roth (Heringen)
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-
mit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in die-
ser Debatte ist unsere Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort.
Bitte schön, Kollegin Kerstin Müller.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als Kofi Annan 1999 nach den Ereignis-
sen von Srebrenica und Ruanda von allen UNO-Mit-
gliedstaaten eine Kultur der Prävention einforderte, da
schien es fast, als hätte die Weltgemeinschaft einmal ver-
standen. Auf dem Weltgipfel 2005 sagte sie nicht nur der
Armut den Kampf an; sie versprach bedrohten Men-
schen mit dem Konzept der Responsibility to Protect
auch mehr Schutz vor Kriegsgewalt und die Stärkung
von Menschenrechten und Demokratie.
Wir haben in Deutschland unter Rot-Grün 2004 den
Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ und den Ausbau
ziviler Instrumente wie das ZIF, den Zivilen Friedens-
dienst oder auch zivik beschlossen. Wir hatten damals
eine klare Vision, nämlich: Deutschland will und muss
vor allem eines sein: zivile Friedensmacht in der Welt.
Heute müssen wir feststellen, dass ausgerechnet jetzt,
da Deutschland im Sicherheitsrat sitzt und zivile Krisen-
prävention gefragt ist wie nie, zum Beispiel in Tunesien,
in Ägypten oder im Sudan, die zivile Krisenprävention
vor sich hindümpelt. Das, finden wir, ist nicht hinnehm-
bar.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])
Die zivile Krisenprävention ist antriebslos, weil es
keine erkennbare friedens- und sicherheitspolitische Ge-
samtstrategie der Bundesregierung gibt. Ich nehme ein-
mal das Beispiel der Bundeswehrreform, die zwar breit
diskutiert wird, aber völlig losgelöst vom Aktionsplan
„Zivile Krisenprävention“ ist. Der Vorrang „Zivil vor
Militär“ kommt dabei unter die Räder. Die Schieflage
zwischen Zivil und Militär bei der Mittelvergabe ver-
schärft sich weiter.
Der Begriff der vernetzten Sicherheit, von dem Sie
immer reden, verkommt dabei zur Floskel. Am Ende
wird das Militär das Zivile nur noch stärker dominieren.
Das, finden wir, ist eine falsche Entwicklung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Zivile Krisenprävention ist auch führungslos – so
könnte man sagen –, weil nämlich der zuständige Res-
sortkreis weder politische Macht noch eigene Ressour-
cen hat, und sie ist orientierungslos, weil zum Beispiel
der Beirat, den es immerhin gibt, zu einem Alibi-
gremium verkommen ist. Das ist die Bilanz der Tätigkeit
der hochrangigen Fachleute, die da sitzen.
Wir meinen: Das muss sich ändern. Deshalb haben
wir diesen Antrag eingebracht, in dem wir konkrete Vor-
schläge dazu machen, wie wir die zivile Krisenpräven-
tion wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik rü-
cken können und wie wir endlich eine internationale
Vorreiterrolle bei der zivilen Krisenprävention gewinnen
oder zurückgewinnen können.
Was ist erforderlich? Wir müssen zunächst einmal
den Aktionsplan zu einem nationalen zivilen Planziel
weiterentwickeln – das klingt technisch, aber das ist das,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12759
Kerstin Müller (Köln)
(A) (C)
(D)(B)
was die Europäische Union von uns schon seit längerem
erwartet –, weil wir sonst nicht die nötigen Instrumente
haben, um beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und De-
mokratie in Konfliktländern angemessen dabei zu sein.
Dem müssen Sie sich stellen. Meiner Meinung nach
tun Sie das nicht. Ein paar Beispiele: Warum ist
Deutschland als größtes Land in der EU noch nicht ein-
mal in der Lage, auch nur annähernd die bereits 2004 zu-
gesagten 900 Polizisten für Friedensmissionen oder auch
ausreichendes Personal für den EAD zur Verfügung zu
stellen? Warum ist Deutschland als drittgrößter Beitrags-
zahler der UNO mit weit weniger als 2 Prozent Personal-
anteil – das alles hat das ZIF wunderbar aufgelistet – in
UNO-Friedensmissionen vertreten?
Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständ-
lich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Ko-
alition, heute unserem Antrag zum EAD nicht zustim-
men können. So würde man an dieser Stelle einmal ein
Stück vorwärtskommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wichtig ist auch, dass die vorbeugende Diplomatie
und die Konfliktvermittlung gestärkt werden. Dazu ha-
ben Sie sich schon 2009 im EU-Rat verpflichtet; aber
passiert ist nichts. Jetzt, als dies bei den Umbrüchen in
der arabischen Welt notwendig war, war zum Beispiel
die Europäische Union nicht in der Lage, schnell Ver-
mittler vor Ort zu entsenden.
Etwas, was ganz wichtig ist, haben wir auch auf den
Reisen des Unterausschusses zu hören bekommen und
gesehen: Wir müssen viel vorausschauender und syste-
matischer Personalpools für Polizei-, Verwaltungs- und
Rechtsstaatsexperten aufbauen, die wir dann in EU-Mis-
sionen, UNO-Missionen oder auch zur Afrikanischen
Union entsenden können. Dabei sind auch Frauen ge-
fragt, wie es die Sicherheitsratsresolution 1325 verlangt.
Wichtig ist auch, eine Lageanalyse zu entwickeln.
Dazu sind ressortübergreifende Frühwarnsysteme erfor-
derlich. Aber auch das gibt es bisher nicht; da ist selbst
die Afrikanische Union weiter, wie wir sehen konnten.
(Heiterkeit bei der FDP)
– Ja, die haben das, wir haben es noch nicht.
Schließlich muss auch der Beirat ein klares Mandat
erhalten, damit künftig bei Early Warning die Expertise
der Zivilgesellschaft auch tatsächlich einbezogen wird.
Ich glaube, dass unsere Instrumente wirkungslos blei-
ben, wenn der politische Wille nicht da ist. Das heißt, der
Ressortkreis muss politische Entscheidungskompetenz
erhalten, er muss politisch hoch angesetzt sein, er
braucht einen Mr. oder eine Mrs. Krisenprävention, und
er muss endlich so etwas wie Ressourcenpooling ma-
chen können, wie wir es von anderen Ländern, zum Bei-
spiel von Großbritannien, schon längst kennen.
Ich komme zum Schluss. Ich höre schon: Na ja, aber
wir haben doch jetzt den Unterausschuss für zivile Kri-
senprävention. Ich kann nur sagen: Das ist ein Instru-
ment des Parlaments. Geht man auf die Website des
Auswärtigen Amtes zur zivilen Krisenprävention, um zu
sehen, was die Bundesregierung macht, kommt als Ers-
tes der Unterausschuss. Der Unterausschuss ist ein Par-
lamentsausschuss. Ich finde es ja schön, dass die Bun-
desregierung darauf stolz ist. Aber das Handeln des
Unterausschusses, in dem wir natürlich gern engagiert
mit Ihnen zusammenarbeiten, ersetzt nicht das Handeln
der Bundesregierung, das wir von ihr erwarten.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Roderich
Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich Kiesewetter.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt kommt
Vernunft in die Debatte!)
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Müller, es ist ja schön, wie engagiert Sie die Dinge anpa-
cken.
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist wichtig!)
Sie wollen immer das Zivile in das Zentrum der Außen-
politik rücken. Aber ich denke, es ist auch wichtig, das
in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das mache ich immer!)
Es geht nicht, immer nur Pläne zu fordern oder Pläne zu
entwickeln. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Pa-
pieren nennen, die meiner Fraktion wichtig sind und für
die wir gearbeitet haben. Eine so umfassende Sicher-
heitsstrategie, wie Sie sie mit Ihrem Antrag einbringen,
haben wir bereits im Mai 2008 verabschiedet, Frau Kol-
legin Müller.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will auf etwas anderes hinaus. Es geht darum, den
Gedanken der zivilen Krisenprävention in die Köpfe zu
pflanzen. Wir haben eine Institution in Deutschland, die
dazu durchaus geeignet wäre; das ist die Bundesakade-
mie für Sicherheitspolitik. Sie ist stark vom Verteidi-
gungsministerium und vom Auswärtigen Amt geprägt,
hat Gutes geleistet und die Sicherheitspolitik in Deutsch-
land vorangebracht. Es wäre eine geeignete Maßnahme
– dies schlagen wir vonseiten unserer Fraktion vor –, die
Bundesakademie auszubauen, sie mit dem Bundesminis-
terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbinden
und dort auch ein Forum für den zivilen Friedensdienst
anzubieten. Das ist ein konkreter Vorschlag, der von den
vielen Papierplänen weggeht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Roderich Kiesewetter
(A) (C)
(D)(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um um-
fassende Sicherheit. Der Ansatz vernetzter Sicherheit
war im letzten Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit
greift weiter. Wir werden in den nächsten zehn Jahren
Entwicklungen erleben – wir sehen es gerade in Nordaf-
rika –, die zeigen, dass im Zusammenhang mit dem Si-
cherheitsbegriff auch soziale Sicherheit eine Rolle spielt.
Umfassende Sicherheit bedeutet nicht nur Krisenvor-
und -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen
Friedensdienste als auch Fragen der Entwicklungspolitik
ein. Es geht eben weiter als das, was bisher im Fokus Ih-
rer Kritik war.
Sicherheitsvorsorge und Krisenbewältigung sind also
kein Selbstzweck, sondern ein ganz entscheidender
Punkt, den sich auch die Europäische Union auf ihr Pa-
nier geschrieben hat. Ich nenne ein Beispiel dafür: Die
neue Europäische Nachbarschaftspolitik, über die wir
gestern im Europaausschuss und vor einiger Zeit auch
im Auswärtigen Ausschuss gesprochen haben, leistet ei-
nen wesentlichen Beitrag. In den Jahren 2007 bis 2013
stellt die Europäische Union über 11 Milliarden Euro für
die Nachbarschaftspolitik zur Verfügung. Für uns, die
Union, ist Nachbarschaftspolitik – ich glaube auch für
die gesamte Koalition zu sprechen – zivile Krisenvor-
sorge. Dies bedeutet, dass wir Deutschen allein
500 Millionen Euro jährlich zusätzlich leisten, weil wir
in der Europäischen Union einen Anteil von 28 Prozent
an diesen 11 Milliarden Euro zu tragen haben.
Dazu kommt Entwicklungspolitik als wichtiger Eck-
pfeiler der zivilen Krisenprävention. Für den Bundes-
haushalt 2012 ist eine Steigerung des BMZ-Plafonds um
fast 114 Millionen Euro vorgesehen. Für die Förderung
des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika und im
Nahen Osten werden dem Auswärtigen Amt zusätzlich
50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das ist
ganzheitliche Außenpolitik.
So viel zu Ihrer Kritik, die Mittel würden gekürzt. Of-
fiziell sind sie – das kann man nachlesen – auf der Höhe
von 2007, inoffiziell sogar ein Vielfaches höher. Ich
glaube, ich habe das deutlich herausgestellt.
Wichtig ist doch, dass wir Konflikte frühzeitig erken-
nen. Wir brauchen das Frühwarnsystem – darin sind wir
uns einig – und müssen Mittel ziviler und entwicklungs-
politischer Krisenprävention aufgreifen. Dabei geht es
nicht nur um die Förderung guter Regierungsführung,
sondern auch um die diplomatische Vermittlung und die
Mediation. Dazu kommen die Krisennachsorge und der
Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio, in der Re-
gel mit einem Mandat der Vereinten Nationen.
Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus, und wir
alle wissen: Erfolgreiche Politik lebt in allererster Linie
von der Betrachtung der Wirklichkeit. Wo die militäri-
sche Unterstützung der Krisenbewältigung unausweich-
lich wird, müssen militärische Mittel mit Instrumenten
ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusam-
menwirken.
Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird sicherlich
erweitert werden; umfassende Sicherheit streben wir an.
Dazu gehört auch menschliche Sicherheit. Dies müssen
wir wirksam umsetzen. Uns in der Fraktion treibt es
wirklich um, die Wirksamkeit der Mittel ziviler Krisen-
prävention noch weiter zu verbessern. Ich möchte das an
einer Reihe von Punkten darstellen.
Erstens kommt es darauf an, egal um welche Art von
Mission es sich handelt, ob zivil, polizeilich oder militä-
risch, dass wir in der Ausbildung, in der Vorbereitung
Expertise für kulturelle Befindlichkeiten vermitteln. Das
haben wir in Afghanistan intensiv gelernt.
Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch
im VN-Mandat festzulegen. Erfolg und Misserfolg einer
Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir
brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden
müssen.
Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere natio-
nalen Interessen hin überprüft werden. Wir brauchen
folglich eine föderale – andere nennen sie nationale – Si-
cherheitsstrategie, deren Umsetzung wir auch jährlich
im Parlament diskutieren sollten. Die Umsetzung wird
sicherlich ein interessanter Punkt, Frau Müller und Frau
Bulmahn, in unserem Unterausschuss.
Ich komme zum vierten Punkt. Zur rechtzeitigen Auf-
deckung von Krisen ist ein Frühwarnsystem erforder-
lich, zu dem auch Nichtregierungsorganisationen einen
wesentlichen Beitrag leisten können. In diesem Zusam-
menhang könnten wir Ihrem Antrag inhaltlich folgen;
das können wir aber in nur sehr wenigen Punkten.
Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen
für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausge-
bildetem Personal schaffen. Sie beklagen, dass sich so
wenige Frauen bewerben. Aber es ist ja auch so: Wenn
nur 15 Prozent der Bewerber Frauen sind und dann für
20 Prozent der Stellen Frauen ausgewählt werden,
spricht das für die Qualität der Frauen. Ich sehe hierin
keine Benachteiligung. Machen Sie Werbung, damit sich
endlich mehr Frauen bewerben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Konzept der zi-
vilen Krisenprävention ist zwar klar und wurde vielfach
auf dem Papier bekräftigt. Wichtig ist aber – damit habe
ich auch eingeleitet –, dass sechstens das vernetzte Den-
ken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten
der Fachministerien und im Friedensdienst verankert ist.
Dazu brauchen wir mehr Vernetzung des konzeptionellen
Denkens und gemeinsame Schulungen oder Ausbildun-
gen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller
Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivi-
len Partner untereinander wie auch mit der lokalen Bevöl-
kerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete inter-
nationale Plattform sind Regionalkonferenzen; national
sollten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik
aufwerten. Über diesen Ansatz sollten wir intensiv nach-
denken, weil wir damit auf bestehende Ressourcen bauen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Antrag
enthält zwar einige interessante Ansätze, die wir vertie-
fen könnten; aber die Fundamentalkritik, die er enthält,
können wir überhaupt nicht teilen. Ich habe heute deut-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12761
Roderich Kiesewetter
(A) (C)
(D)(B)
lich gemacht, wie eine konstruktive, umfassende, ganz-
heitliche Sicherheitspolitik aussehen kann.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Edelgard
Bulmahn.
(Beifall bei der SPD)
Edelgard Bulmahn (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe als junge Abgeordnete hier im Deut-
schen Bundestag erlebt, wie über die schrecklichen Er-
eignisse in Srebrenica und Ruanda diskutiert wurde. Ich
habe auch die Hilflosigkeit erlebt, die viele Kolleginnen
und Kollegen, ich selber auch, damals dabei empfunden
haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass die internationale
Staatengemeinschaft aus diesen schrecklichen Ereignis-
sen die richtigen Konsequenzen gezogen hat, nämlich
einmal die Konsequenz, der zivilen Krisenprävention ein
erheblich größeres Gewicht in ihrer Politik zu geben,
und auch die Konsequenz, rechtzeitig Maßnahmen der
zivilen Krisenprävention einzusetzen. Diesen Prinzipien
trägt sie Rechnung, indem sie rechtzeitig Verantwortung
auf sich nimmt, um zum Beispiel Völkermord zu verhin-
dern.
Vor zehn Jahren hat die damalige rot-grüne Bundesre-
gierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenpräven-
tion, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die
Weichen dafür gestellt, dass auch die deutsche Außen-
und Sicherheitspolitik ausdrücklich darauf abstellt, inter-
nationale und innerstaatliche Konflikte friedlich zu lö-
sen. Ein weiterer Meilenstein war der Aktionsplan aus
dem Jahr 2004. Die Prävention von Gewalt und Krieg
und die zivile Konfliktbearbeitung sollten – das war das
Ziel – grundsätzlich Vorrang gegenüber militärischen In-
terventionen haben.
Mit dem Aktionsplan wurden die Voraussetzungen
und die Strukturen dafür geschaffen, zum Beispiel das
ZIF. Diese Strukturen, die wir mithilfe des Aktionsplans
geschaffen haben, finden international hohe Anerken-
nung. Hier wird auch sehr wirkungsvolle Arbeit geleis-
tet. Für viele Nichtregierungsorganisationen bildet der
Aktionsplan übrigens den Rahmen, in dem sie ihre wich-
tige und notwendige Arbeit durchführen und ausbauen
können.
Ein weiteres wichtiges Zeichen war die Einrichtung
des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und ver-
netzte Sicherheit“ in dieser Legislaturperiode. Mithilfe
dieses Unterausschusses ist erstmals eine kontinuierliche
parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle sicherge-
stellt. Auch das ist ganz wichtig und eine entscheidende
Voraussetzung dafür, dass zivile Krisenprävention wirk-
lich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, die
sie braucht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Arbeit im Unterausschuss – ich denke, das kann
ich für alle Kolleginnen und Kollegen sagen – ist kon-
struktiv und auch zielgerichtet. Dennoch dürfen wir
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich denke, das
müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen –, der
Versuchung erliegen, alle Fragen, Probleme und Strate-
gien ziviler Konfliktlösung ausschließlich im Unteraus-
schuss zu behandeln, sodass sich die anderen Aus-
schüsse, sei es der Auswärtige Ausschuss oder der
Verteidigungsausschuss, oder auch das gesamte Parla-
ment überhaupt nicht mehr mit diesen Fragen befassen.
Das wäre eine falsche Entwicklung. Vielmehr müssen
wir beides tun. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir
heute Abend eine Debatte über die Ziele und Instru-
mente ziviler Krisenprävention führen. Ein Blick auf die
Uhr, ganz offen gesagt, macht aber auch deutlich, dass
die parlamentarische Aufmerksamkeit noch ausbaufähig
ist.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Ausbaufähig, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor
allen Dingen auch das Engagement der Bundesregie-
rung.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie hat es leider versäumt, in ihrer Außenpolitik der zivi-
len Krisenprävention die prioritäre Rolle, die sie haben
muss, zu geben. Ihr kommt derzeit diese prioritäre Rolle
nicht zu. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Bun-
desregierung die zivile Krisenprävention finanziell aus-
bluten lässt. Fast ein Drittel der Mittel für Krisenpräven-
tion, Friedenssicherung und Konfliktbewältigung – meine
Kollegin hat darauf hingewiesen – ist schlichtweg weg-
gefallen. Man kann natürlich auch so Schwerpunkte set-
zen – keine Frage. Aber diese Schwerpunkte zeigen in
die falsche Richtung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zu Recht haben deshalb die führenden deutschen Frie-
densforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Friedens-
gutachten die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundes-
regierung in wirklich ungewöhnlich scharfer Form
kritisiert. Sie fordern mit Nachdruck Vorrang für zivile
Strukturen ein. Die Stichworte, die hier genannt werden,
lauten: Krisenprävention, Konfliktanalyse, Konfliktbear-
beitung, nachsorgende Konfliktbearbeitung und Diplo-
matie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen – das
trifft auf Parlamentarier aller Fraktionen zu –, dass es
zwar nicht überflüssig ist, in Sonntagsreden die Bedeu-
tung ziviler Krisenprävention zu betonen und zu unter-
streichen – das ist sogar gut –, aber auch nicht ausrei-
chend ist, wie es so schön heißt.
(Beifall bei der SPD)
Eine gute Politik zeichnet sich eben dadurch aus, dass
bei Entscheidungen am darauffolgenden Montag der zi-
12762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Edelgard Bulmahn
(A) (C)
(D)(B)
vilen Krisenprävention tatsächlich Vorrang eingeräumt
wird. Das geht aber nicht, ohne dass dafür eine Basis ge-
schaffen wird.
In diesem Zusammenhang müssen wir leider auch
über das Geld reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union und der FDP, sorgen Sie dafür – da haben
Sie ganz bestimmt die Unterstützung der Opposition –,
dass die Mittelausstattung für die Bereiche der zivilen
Krisenprävention und auch für die Entwicklungshilfe
2012 wieder deutlich verbessert wird
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
und dass sie in der mittelfristigen Finanzplanung – auch
das ist wichtig – mit den gebotenen Zuwächsen abge-
sichert wird. Zivile Krisenprävention und zivile Kon-
fliktbearbeitung erfordern nämlich einen langfristigen
Ansatz. Sie können keine Kurzatmigkeit vertragen; das
muss man einfach so klar und deutlich sagen. Wenn sie
kurzatmig betrieben werden, dann zeigen sie keine Wir-
kung. Hier bedarf es also einer langfristigen Verlässlich-
keit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Mehr Verlässlichkeit und politische Durchschlags-
kraft sind im Übrigen auch in der personellen und inhalt-
lichen Begleitung dieses Themenbereiches dringend er-
forderlich. Der Ressortkreis ist sinnvoll – das wird
niemand bestreiten –, aber nicht ausreichend; das muss
ich auch an dieser Stelle sagen. Ein Staatssekretärsaus-
schuss, wie ihn die SPD-Fraktion und auch Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag vorgeschlagen haben, ist
sinnvoll; denn damit wird ein Gremium geschaffen, das
mit echten und finanziellen Entscheidungskompetenzen
ausgestattet ist. Genau das brauchen wir. Ich würde mich
sehr freuen, wenn die Koalitionsfraktionen sich diesem
Vorschlag anschließen würden. Es ist für niemanden von
Nachteil, wenn er gute Vorschläge aufgreift. Man sollte
sich in der Politik nicht genieren, dies zu tun.
(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass die Koalitionsfraktio-
nen diesen Vorschlag aufgreifen. Über den Vorschlag,
den Sie, Herr Kollege Kiesewetter, gemacht haben, näm-
lich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu einem
Zentrum für zivile Krisenprävention auszubauen, sollten
wir im Unterausschuss diskutieren.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber bitte kon-
trovers!)
Es ist aber sicherlich richtig, dass dies keine Alternative
ist zu dem Vorschlag, den ich vorhin gemacht habe; denn
beide Vorschläge beinhalten unterschiedliche Zielset-
zungen. Wir werden sicherlich noch mehrere Schritte
unternehmen müssen, damit wir das Ziel erreichen, der
zivilen Krisenprävention ein größeres Gewicht zu verlei-
hen.
Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärti-
gen Amt, eine wichtige Schnittstelle, muss aus seinem
Schattendasein herausgeführt werden. Auch das ist rich-
tigerweise angesprochen worden. Es reicht, ganz offen
gesagt, nicht aus, dass dieser Beirat Informationen von
der Bundesregierung erhält. Wir müssen das Potenzial
und die Kompetenzen, die im Beirat vorhanden sind,
besser nutzen. Dazu gehört auch, dass der Beirat eine ge-
stalterische Rolle spielt.
Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Forderun-
gen, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hin-
blick auf den Ausbau ziviler Krisenprävention in ihrem
Antrag formuliert hat, in weiten Teilen mit Forderungen
in unserem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in
den Deutschen Bundestag eingebracht haben, decken.
Wir werden ihn daher mit allen Kräften unterstützen. Ich
hoffe, dass wir für die Beratungen über beide Anträge im
Ausschuss und Unterausschuss eine gute Grundlage ha-
ben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir haben Ihnen zu danken. – Jetzt spricht für die
Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte
schön, Kollege Joachim Spatz.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Joachim Spatz (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie der SPD-Antrag, der hier vor einigen Wo-
chen eingebracht worden ist, enthält auch der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen einige bedenkenswerte An-
sätze. Das ist kein Zufall; denn die meisten Themen fu-
ßen auf Ergebnissen, die wir im Unterausschuss „Zivile
Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ gemeinsam
erarbeitet haben. Diese Anträge greifen gewissermaßen
dem vor, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollen
nämlich im Herbst dieses Jahres einen Bericht vorlegen
und eine Agenda mit Blick auf das, was noch zu tun ist,
beifügen.
Eines der Themen ist die mangelnde Aufmerksam-
keit, die das Thema zivile Krisenprävention in der Öf-
fentlichkeit genießt. Der ehemalige Kollege Nachtwei
sagt zu diesem Thema, wir sollten mehr Konflikt wagen.
Ich hoffe, dass diese Vorgabe, ein Stück weit Konflikt zu
wagen – auch wenn er in der Sache nicht deutlich besteht –,
dem Analyseteil des Antrags der Grünen geschuldet ist;
denn einige Punkte, die dort erwähnt werden, kann man
eher unter einen typischen Oppositionsreflex subsumie-
ren und nicht unter eine tatsächliche Analyse dessen,
was geschieht.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele.
Erstens. Es wurde gesagt, dass es noch nie so viele
Friedensmissionen der VN gab. Unser Beitrag rangiere
auf Rang 43. Die ganze Wahrheit ist, dass Bangladesch
mit 10 800 Soldaten, Pakistan mit 10 700 Soldaten oder
Nigeria mit 5 800 Soldaten vertreten sind. Über die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12763
Joachim Spatz
(A) (C)
(D)(B)
Gründe will ich mich ausschweigen, jeder kann sie sich
denken.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja? Warum denn?)
Es gehört zur ganzen Wahrheit, festzustellen, dass der
Einsatz für manche Länder vielleicht attraktiver ist. Wir
sind diejenigen, die möchten, dass Kräfte aus sich in der
Region befindenden Ländern entsprechende VN-Missio-
nen bedienen und nicht immer nur die Europäer oder die
Amerikaner. Man kann nicht fordern und am selben Tag
kritisieren, dass wir unser Engagement an dieser Stelle
zurückfahren.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die sind nicht näher am Kongo
dran als Deutschland!)
Im Übrigen gehört zum Gesamtbild auch, dass wir an
Aktionen der UN beteiligt sind, auch wenn es sich nicht
um VN-Mandate handelt.
Der zweite Punkt sind die Mittelkürzungen im Aus-
wärtigen Amt. Natürlich werden Sie immer diejenigen,
die in der Koalition für dieses Thema einstehen, im Res-
sourcenwettbewerb auf Ihrer Seite haben; aber es kann
nicht sein, dass wir die zivile Krisenprävention haus-
haltsstellengenau diskutieren. Vielmehr dürfen gerade
diejenigen, die einen ressortübergreifenden Ansatz für
sinnvoll halten, nicht vergessen, dass wir eine erhebliche
Mittelaufstockung im zivilen Teil des Afghanistan-Ein-
satzes zu verzeichnen haben und auch in den Nordafrika-
Einsatz erheblich mehr Geld investieren. Wenn wir die
Haushaltsstellenlogik für eine Sekunde beiseitelassen
und den umfassenden Ansatz betrachten, dann wird
deutlich, dass wir sehr viel mehr als bisher in diesen Be-
reich investieren.
Mein dritter Punkt ist die vernetzte Sicherheit. Eines
verstehe ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht
– wenn man einmal von der Diskussion, die einige in der
NGO-Szene zu dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ und
seiner Problematik führen, absieht –: Es geht doch nicht,
dass Sie in Ihrem Antrag an verschiedenen Stellen auf
der einen Seite behaupten, die Bundesregierung wolle
dem Primat des zivilen Ansatzes nicht zum Durchbruch
verhelfen, und auf der anderen Seite die militärische Zu-
rückhaltung in Libyen kritisieren. Das passt nicht zu-
sammen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass man,
wenn man den Grundsatz der Responsibility to Protect
hochhält – wenn man dies anders beurteilt als die Bun-
desregierung, dann kann man das tun –, nicht im selben
Atemzug kritisieren kann, dass wir das Primat des Zivi-
len nicht zur Umsetzung bringen. Das passt nicht zusam-
men.
(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das haben wir nicht getan!)
In der weiteren Beratung werden wir natürlich die gu-
ten Aspekte, die in den vorliegenden Anträgen vorhan-
den sind, berücksichtigen, auch beim Thema Kapazitäts-
aufbau. Das sei sehr wohl anerkannt. Aber bei den
Themen Polizei, Verwaltung oder Justizaufbau müssen
wir natürlich dicke Bretter bohren. Das alles wird nicht
so schnell funktionieren, wie es auch in den USA, die
das an vielen Stellen vorgemacht haben, nicht funktio-
niert hat, ohne dass es einen entsprechenden Ressour-
cenwettbewerb im Kongress gegeben hat. Diejenigen,
die sich für das Thema interessieren, werden den Res-
sourcenwettbewerb gerne mitmachen, um für das ge-
meinsame Ziel der zivilen Krisenprävention einen noch
stärkeren Beitrag zu leisten und eine noch größere Auf-
merksamkeit in Deutschland zu erreichen.
Danke schön.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. – Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin
Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
(Beifall bei der LINKEN)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
28 Kriege und 126 weitere Gewaltkonflikte erschüttern
in diesem Moment unseren Planeten. Diese vielen Kon-
flikte erfordern ganz dringend von uns, zu überlegen,
was wir dazu beitragen können, dass sie ohne Gewalt be-
arbeitet und gelöst werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen ist die Stärkung der zivilen Konfliktbearbei-
tung ein wichtiges Anliegen, insbesondere für eine Frie-
denspartei wie die Linke.
Die Grünen schlagen nun viele einzelne Maßnahmen
vor, die zum Teil in die richtige Richtung weisen:
Erstens wollen Sie den Aktionsplan „Zivile Krisen-
prävention“ weiterentwickeln und ihn mit klaren Ziel-
vorgaben, Strategien und einem Zeitplan versehen. Das
ist, um es einmal mit den Worten der Kollegin Bulmahn
zu sagen, „sinnvoll …, aber nicht ausreichend“. Ohne
eine klare Abgrenzung zu militärischen Maßnahmen
bleiben der Aktionsplan und Ihr Antrag leider nur Fas-
sade.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens. Auch den systematischen Aufbau ziviler
Ressourcen, wenn es zum Beispiel um Richter oder Ver-
waltungsfachleute für zivile Missionen geht, unterstüt-
zen wir. Wir sind allerdings dagegen, Polizeimissionen
etwa in Afghanistan als schlecht verkappten Ersatz für
Militäreinsätze zu benutzen, nur weil sie vielleicht poli-
tisch leichter durchzusetzen sind. Ich hoffe, da habe ich
Sie an unserer Seite. Denn einen solchen Missbrauch
von Polizistinnen und Polizisten lehnt die Linke ab.
(Beifall bei der LINKEN)
12764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Kathrin Vogler
(A) (C)
(D)(B)
Drittens haben wir im letzten Jahr die schwarz-gelben
Kürzungen der Mittel im Bereich der zivilen Konfliktbe-
arbeitung gemeinsam scharf kritisiert. Auch die Linke
fordert mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen
in der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Aber die Mittel
für die schwarz-gelbe Bundeswehrreform, für die Ihr
Parteivorsitzender Cem Özdemir schon seine Unterstüt-
zung zugesagt hat, liebe Frau Müller, können nicht mehr
für anderes, Sinnvolleres ausgegeben werden. Das muss
auch einmal gesagt werden.
Bei einem solchen Sammelsurium politischer Forde-
rungen wie in Ihrem Antrag muss man schon einmal ge-
nauer hinschauen, vor allem, um zu erkennen, was fehlt.
Mich hat zum Beispiel gewundert, dass Sie gar nichts zu
einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und den Roh-
stoffkonflikten sagen. Gerade jetzt, wo die sudanesische
Armee in die Erdölprovinz Abyei einmarschiert ist, liegt
das Thema bei solch einem Antrag doch auf der Hand.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Die allermeisten Konflikte haben doch wirtschaftli-
che Hintergründe, für die die Bundesrepublik und die
EU mit ihrer Außenwirtschaftspolitik mitverantwortlich
sind. Wir hatten einmal einen Bundespräsidenten – ich
weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern –, der das ganz of-
fen ausgesprochen hat und dann gehen musste. Was wir
brauchen, ist eine konsequente Krisenprävention durch
gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen und sozial-
ökologischen Umbau.
(Beifall bei der LINKEN)
Last, not least: Der Knackpunkt bei der Glaubwürdig-
keit friedlicher und ziviler Außenpolitik ist für die Linke
der Gewaltverzicht, der in Ihrem Antrag leider gar nicht
vorkommt. Ich sage es auch mit Blick auf die Position
von SPD und Grünen zum Libyen-Krieg: Wer – unter
welchem Vorwand auch immer – Kriege führt, der kann
meiner Ansicht nach keine glaubwürdige Friedenspolitik
machen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie schreiben selbst, dass es im Zusammenhang mit dem
„Schutz der Zivilbevölkerung“ und „der Bekämpfung
nichtstaatlicher Gewaltakteure“ „schier unlösbare Di-
lemmata“ gibt. Ja, genauso ist es doch: Krieg ist kein
Schutz vor Gewalt; Krieg bedeutet immer Gewalt gegen
die Zivilbevölkerung. Das sehen wir in Afghanistan, in
Libyen und überall da, wo die NATO Kriege führt.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Die NATO Kriege führt? – Philipp Mißfelder
[CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber! Das ist ja
schon wieder wie heute Nachmittag!)
Gerade deswegen ist die zivile Konfliktbearbeitung so
wichtig.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
hier müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen: zivile
Konfliktbearbeitung nur als Feigenblättchen für Militär-
einsätze oder als echte Alternative zu einer Politik der
Gewalt. Sie kritisieren den Begriff der vernetzten Si-
cherheit nur halbherzig. Sie tun so, als hätten die NGOs
ein Wahrnehmungsproblem, wenn sie diesen Begriff kri-
tisieren; man müsse ihn nur klarer formulieren und bes-
ser kommunizieren. Nein, das sehe ich nicht so.
(Joachim Spatz [FDP]: Wir schon!)
Dieser Begriff weist in die ganz falsche Richtung. Das
ganze Konzept gehört auf den Müllhaufen. Ich bitte Sie
da um Unterstützung.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich komme zum Schluss. Treten Sie bitte mit uns ge-
meinsam dafür ein, dass der Gewaltverzicht zum Leit-
bild deutscher Außenpolitik wird und die zivile Kon-
fliktbearbeitung zu seinem Instrumentenkasten. Dabei
hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir lassen Ihnen aber keine
Mogelpackungen durchgehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler von der
Fraktion Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Alois Karl. Bitte schön, Kol-
lege Alois Karl.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Alois Karl (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag
der Grünen, der auch die friedenspolitischen und präven-
tiven Aufträge des Europäischen Auswärtigen Dienstes
berührt. Wenn man schon etwas länger im Haus tätig ist,
weiß man, dass sich dieser Antrag in eine Reihe von An-
trägen eingliedert, die in regelmäßigen Abständen einge-
bracht werden. Man kann sie als Gutmenschenanträge
bezeichnen. Wahrscheinlich sind sie Ausdruck Ihrer Tra-
dition als Friedensbewegung. Man könnte meinen, wir
hörten Versatzstücke aus Redebeiträgen, die bei Oster-
märschen gehalten wurden.
Heute soll es also um den Europäischen Auswärtigen
Dienst gehen. Die Außenpolitik Europas soll auf die
Friedensbemühungen, auf friedenserhaltende Maßnah-
men reduziert werden. Krisenprävention und Konflikt-
bearbeitung, die ausgeglichene Besetzung der Positionen
durch Männer und Frauen und Gender-Mainstreaming
sollen weltweit eingeführt werden.
Liebe Frau Müller, die Vorgeschichte des Europäi-
schen Auswärtigen Dienstes stützt Ihre Forderungen al-
lerdings nicht. Der Auswärtige Dienst ist vor ungefähr
einem halben Jahr eingerichtet worden und hat die Ar-
beit aufgenommen. Er soll ermöglichen – das ist die In-
tention –, dass Europa mit einer Stimme spricht. Der
vielstimmige Chor Europas, von dem früher immer die
Rede war, soll aufhören, zu existieren. Der Spruch aus
Amerika, Europa solle eine Telefonnummer haben, ist
uns in Erinnerung. Das wollten wir mit der Einrichtung
des Europäischen Auswärtigen Dienstes in die Wege lei-
ten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12765
Alois Karl
(A) (C)
(D)(B)
Wir wollen keine Doppelstrukturen. Wir wollen die
Koordinierung der zivilen, aber auch der militärischen
Aufgaben im Europäischen Auswärtigen Dienst zusam-
menführen. Wir wissen, dass es gemeinschaftliche Ver-
teidigungsbemühungen geben muss. Das zeigt sich da-
ran, dass der Europäische Auswärtige Dienst Aufgaben
der gemeinschaftlichen Verteidigungs- und Sicherheits-
politik übernommen hat und der Militärstab hinzuge-
kommen ist.
Sicherheitspolitische Aufgaben ergeben sich welt-
weit, also über Europa hinaus. Der Balkan-Konflikt, der
Kosovo, Bosnien-Herzegowina und afrikanische Staaten
fordern uns. Auch das gehört zur europäischen Außen-
politik. Hierzu gehören aber auch die humanitären Auf-
gaben, die Beachtung der Menschenrechte und der freie
und faire Handel, gerade auch in der Außenwirtschafts-
politik.
Warum die Kollegin der Linken, die das Feld leider
schon räumen musste, in diesem Zusammenhang gesagt
hat, dass der Konflikt im Südsudan die Außenwirt-
schaftspolitik in einer schändlichen Weise beeinträchtigt,
bleibt ihr Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Konflikt,
der sich um das Öl im Südsudan dreht, anderen zugute-
kommt, zum Beispiel den Chinesen, und es dabei in gar
keiner Weise um deutsche Interessen geht. Ich meine,
dass die Aussage, dass Gewalt gegen die Zivilbevölke-
rung auch durch unser Handeln ausgelöst wird, völlig
verkehrt ist. Da sollten sich die Linken zurückhalten und
vielleicht einmal darüber nachdenken, wie das 1968 bei
dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war, welche
Gewalt damals gegen die Zivilbevölkerung verübt wor-
den ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Militärische Mittel sind die Ultima Ratio. Das wissen
wir. Wir wissen auch, dass die Menschenrechte Gegen-
stand der auswärtigen Politik in Deutschland und Ame-
rika sind. Rein ziviles Handeln ist in der Außen- und Si-
cherheitspolitik aber nicht möglich. Wir wissen, dass wir
noch einen weiten Weg zu einer abgestimmten europäi-
schen Außenpolitik vor uns haben. Das wird klar, wenn
wir uns das Vorgehen im Zusammenhang mit dem Li-
byen-Konflikt anschauen: Frankreich und Großbritan-
nien haben im Sicherheitsrat für die militärische Opera-
tion gestimmt. Deutschland hat zwar dagegen gestimmt,
unterstützt aber die humanitären Einsätze und hilft bei
der medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Der EAD ist noch nicht so weit. Das wissen wir. Das
unglückliche Auftreten Europas im Zusammenhang mit
Libyen liegt möglicherweise auch daran, dass die Domi-
nanz der Hohen Vertreterin, Lady Ashton, noch im Ver-
borgenen blüht. Möglicherweise liegt es nicht nur an der
verborgenen Dominanz, sondern vielleicht auch an der
verborgenen Kompetenz.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Weg
ist klar. Wir möchten, wie es der Kollege Roderich
Kiesewetter gesagt hat, in Europa eine vernetzte und
umfassende Sicherheitspolitik leisten. Uns ist klar, dass
eine einseitige Ausrichtung der Außen- und Sicherheits-
politik nicht zum Erfolg führen kann. Die Koalition hat
schon vor Jahresfrist einen entsprechenden Antrag ein-
gebracht und durchgesetzt. Darin heißt es, dass die
Kunst guter Politik darin besteht, den zivilen und militä-
rischen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik
den richtigen Stellenwert zukommen zu lassen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, jetzt haben Sie es geschafft. Sie haben
eine Zwischenfrage hervorgerufen. Würden Sie die zu-
lassen?
Alois Karl (CDU/CSU):
Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Die Kolle-
gin kann dann gleich eine Kurzintervention machen.
Da der Antrag der Grünen die Bedeutung des Zusam-
menspiels der zivilen und militärischen Aspekte ver-
kennt, ist diesem Antrag schon allein aus diesem Grunde
kein Erfolg beschieden. Ich denke, wir lehnen ihn mit
großer Mehrheit ab. Mehr ist mit diesem Antrag leider
nicht zu machen.
Ich danke herzlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege Alois Karl. – Jetzt zu einer
Kurzintervention unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte
schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Wo waren Sie denn
gerade? Wären Sie mal dabeigeblieben!)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Herr Kollege, ich habe dem Kollegen Karl direkt ge-
sagt, dass ich den Saal kurz verlassen musste. Von daher
ist Ihre Bemerkung eine ziemliche Zumutung.
(Zurufe von der CDU/CSU: Die ganze Rede
war eine Zumutung!)
Ich möchte mich jetzt nicht auf die ganze Rede bezie-
hen, sondern nur auf die Schlusspassage, insbesondere
auf den Satz, in dem Sie gesagt haben, dass diese Koali-
tion das Zusammenspiel von militärischen und zivilen
Instrumenten besonders in den Mittelpunkt ihres Han-
delns stellt. Offensichtlich haben Sie nach zehn Jahren
Afghanistan-Krieg immer noch nicht gemerkt, dass wir
uns mit den militärischen Mitteln in eine Sackgasse be-
geben.
Ich möchte Sie als Bundesregierung auffordern, da-
raus endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Sie sollten die zehn Jahre Afghanistan-Krieg auswerten,
bewerten und schließlich feststellen, dass alle uns ver-
kündeten politischen Ziele dieses militärischen Einsatzes
nicht erreicht worden sind und der Einsatz gescheitert
ist. Sie sollten jetzt auf die zivile Konfliktbearbeitung
setzen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäi-
schen Union und dem Europäischen Auswärtigen
Dienst. Sie sollten dem Einsatz eine zivile Grundlage ge-
ben. Der fatale Weg der Unterordnung des Zivilen unter
das Militär, des Missbrauchs von humanitären Hilfsorga-
nisationen für militärstrategische Ziele, der Konditionie-
12766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Kathrin Vogler
(A) (C)
(D)(B)
rung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für
militärstrategische Ziele muss aufgegeben werden. Sie
müssen sich auf einen neuen Weg machen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
CDU/CSU: Diese Kurzintervention ist ein
Missbrauch!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Alois Karl, Sie haben die Möglichkeit zu ei-
ner Erwiderung.
Alois Karl (CDU/CSU):
Auf Ihre Rede, so bedeutend sie auch war, bin ich in
meiner Rede nicht eingegangen, da Sie vorhin leider
weg mussten. Sie sprechen in Ihrer Kurzintervention ein
ganz anderes Thema an. Dazu möchte ich Ihnen in aller
Klarheit sagen: Die Intervention in Afghanistan wurde
unter der Regierung von Gerhard Schröder und Joschka
Fischer eingeleitet. Wir mussten sie jetzt weiterführen.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Beenden Sie es
doch!)
In unserer Regierungszeit werden die deutschen Solda-
ten Afghanistan verlassen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Der zivile Einsatz in
Afghanistan hat dazu geführt, dass Hunderttausende von
Mädchen erstmals eine Schule besuchen können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist ein ziviler Aspekt des Einsatzes in Afghanistan.
Wenn wir heute Tausende von Polizisten ausbilden, um
damit Afghanistan in die Lage zu versetzen, das Heft des
Handelns dort selbst in die Hand zu nehmen, dann be-
deutet das eine hervorragende Perspektive für das ge-
knechtete Land, das über Jahrhunderte nicht selbst über
sich bestimmen konnte. Ich meine, dass sich der Einsatz,
wenn sich diese Ziele alsbald realisiert haben, gelohnt
hat. Ich gratuliere und danke allen, die dort ihre schwere
und schwierige Arbeit machen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen herzlichen Dank. – Ich glaube, wir stimmen
überein, dass ich die Aussprache jetzt schließe.
Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/5910 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Den friedenspolitischen und krisen-
präventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5307,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4043 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? –
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
zu der Mitteilung der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi-
schen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
(KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge-
setzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
Katastrophenabwehr in Europa effektiv ge-
stalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu der Mitteilung der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi-
schen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
(KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge-
setzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
– Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Gerold Reichenbach
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Frank Tempel
Dr. Konstantin von Notz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Ich verzichte auf die
Verlesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. –
Sie sind damit einverstanden.
(A) (C)
(D)(B)
Beatrix Philipp (CDU/CSU):
Wir sprechen heute über zwei Anträge: über den An-
trag der Koalitionsfraktionen „Katastrophenabwehr in
Europa effektiv gestalten“ und über den Antrag der
Fraktion Die Linke. Beide Anträge beruhen auf der Mit-
teilung der Kommission an das Europäische Parlament
und den Rat: „Auf dem Weg zu einer verstärkten euro-
päischen Katastrophenabwehr: Die Rolle von Katastro-
phenschutz und humanitärer Hilfe.“ Diese Mitteilung
der EU-Kommission an das Europäische Parlament und
den Rat soll Grundlage sein – für einen effektiveren Ka-
tastrophenschutz. Damit wird eine doppelte Zielsetzung
verfolgt: Erstens sollen bestehende europäische Ab-
wehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitglied-
staaten ausgebaut werden, und zweitens soll für den Ka-
tastrophenfall ein europäisches Notfallabwehrzentrum
als neue Plattform für den Informationsaustausch und
somit eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene ein-
gerichtet werden.
Aber bei allem Verständnis für Bemühungen um Ver-
besserungen der Teufel steckt wieder mal im Detail: Be-
reits im Februar dieses Jahres befasste sich der Deut-
sche Bundestag mit einem Antrag der Fraktion Die
Linke. Bis heute hat sich unsere Auffassung zu diesem
Antrag nicht geändert, sodass ich, um unnötige Wieder-
holungen zu vermeiden, auf das bereits im Februar Ge-
sagte verweisen kann.
Nun zum Antrag der christlich-liberalen Koalitions-
fraktionen, der im Grundsatz die Vorschläge der Kom-
mission, eine effektivere und effizientere Katastrophen-
abwehr zu entwickeln, unterstützt. Wer wollte das nicht!
Als grundsätzliche Maßnahmen dafür sind vorgese-
hen: die Entwicklung von sogenannten Referenzszena-
rien für die wichtigsten Arten von Katastrophen, die
weitere Inventarisierung bestehender nationaler Res-
sourcen – auch im Bereich Transport und Logistik – und
die damit verbundene Beschleunigung bei der Mobilisie-
rung. Dazu gehört es auch, die Instrumente des Kata-
strophenschutzes und der humanitären Hilfe besser mit-
einander zu verbinden.
Wir hoffen, dass die daraus erwarteten Synergie-
effekte auch die Arbeit der Vereinten Nationen unterstüt-
zen. Eine grundsätzlich bessere Zusammenarbeit
verschiedener europäischer Einrichtungen kann nur be-
grüßt werden. So befürworten wir die engere Verzah-
nung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
und die verstärkte Koordinierung zwischen dem Beob-
achtungs- und Informationszentrum – bekannt unter
dem Namen Monitoring and Information Center, kurz
MIC – und der Krisenstelle für humanitäre Hilfe,
ECHO. Aber die Schaffung einer neuen EU-Einsatzzen-
trale in Form eines unabhängigen und weisungsgebun-
denen europäischen Notfallabwehrzentrums müssen wir
ablehnen. Dies würde Art. 196 AEUV widersprechen
und ist zudem auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst.
Eine derartige „EU-Einsatzzentrale“ würde im Übrigen
dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich
später noch eingehen werde.
Um dem europäischen Gemeinschaftsgedanken aber
Rechnung zu tragen, wird auch die verbesserte Sichtbar-
Zu Protokoll
machung der EU-Hilfen – in Form von Beschriftung auf
Transportgütern und Bekleidung – als positiv erachtet.
Es sollten aber die nationalen Symbole der Entsende-
staaten weiterhin Erwähnung finden. Auch wenn dies,
oberflächlich betrachtet, als unbedeutend für die effekti-
vere Katastrophenabwehr erscheint, so haben die Bür-
gerinnen und Bürger der EU ein Recht auf genaue,
umfassende Informationen über die Reaktionen der
Europäischen Union im Katastrophenfall.
Aber, da nichts so gut ist, dass es nicht noch besser
werden könnte, unterstreicht der Antrag der Koalitions-
fraktionen mehrere Forderungen des Deutschen Bun-
destages gegenüber der Kommission. Die Ziele der Eu-
ropäischen Union sind klar: Unterstützung und
Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem
Gebiet des Katastrophenschutzes, Förderung einer schnel-
len und effizienten Zusammenarbeit zwischen den einzel-
staatlichen Katastrophenschutzstellen und Verbesserung
der Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf in-
ternationaler Ebene. So nachzulesen im Art. 196 des Ver-
trages über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
AEUV. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen der
Zusammenarbeit deutlich markiert werden.
So finden wir in Abs. 2 des Art. 196 AEUV den Hin-
weis auf die Selbstständigkeit und das bereits erwähnte
Subsidiaritätsprinzip.
Dort heißt es – ich zitiere:
Das Europäische Parlament und der Rat erlassen,
unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, gemäß dem
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforder-
lichen Maßnahmen zur Verfolgung der Ziele des
Absatzes 1.
Die Einhaltung des Substitutionsverbotes und die Be-
achtung des Subsidiaritätsprinzips sind unabdingbar.
Zur Verdeutlichung: Das Substitutionsverbot meint, dass
EU-Maßnahmen nicht an die Stelle der Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten treten dürfen, sie nicht ersetzen
dürfen. Flankiert wird das Verbot vom besagten Subsi-
diaritätsprinzip, das bedeutet, dass auf EU-Recht nur
zurückzugreifen ist, wenn keine nationalen Vorschriften
bestehen. Will heißen: zuerst immer die kleine Einheit.
Dieses Prinzip ist eine der wesentlichen Verhaltensre-
geln, die sich der Staatenbund 1992 mit dem Maastrichter
Vertrag auferlegt hat. Wir kennen es aus vielen Bereichen.
Deutschland ist mit seinem dezentralen Katastrophen-
schutzsystem sehr gut aufgestellt. Die Feuerwehren, die
vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, die auf eh-
renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio-
nalen Strukturen beruhen, haben sich in der Vergangen-
heit stets bewährt. In Deutschland engagieren sich über
1,36 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastro-
phenschutz.
Zu einer verantwortungsbewussten Daseinsvorsorge
des Staates aber gehört die Schaffung einer flächende-
ckenden Struktur im Katastrophenschutz; dies ist eine
Kernaufgabe. Viele Hilfsorganisationen – Malteser,
Johanniter, DRK, ASB, um nur einige zu nennen – und
auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk genießen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12767
gegebene Reden
Beatrix Philipp
(A) (C)
(D)(B)
im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Und das
sehr begründet! Hier werden Kompetenz und die Verbin-
dung zwischen Haupt- und Ehrenamt besonders deutlich
sichtbar. Die Helferinnen und Helfer beweisen das täg-
lich in ihren inländischen und ausländischen Einsätzen.
Diesen Freiwilligen können wir dankbar sein, ja, wir
können stolz auf sie sein!
Anspruch und Ausgangsbasis darf sicherlich der
hohe deutsche Standard sein. Wenn in einem anderen
Mitgliedstaat dieser allerdings nicht erreicht wird, so ist
es zunächst Aufgabe dieses Staates, durch eigene An-
strengungen aufzuschließen. Das bedeutet: Die EU muss
koordinierend darauf hinwirken, dass die Lücken durch
die Mitgliedstaaten selbst geschlossen werden. Es darf
also durch die EU zu keiner „Vergemeinschaftung“ der
Defizite der Mitgliedstaaten im Katastrophenschutz
kommen. Ich betone aber, dass sich Deutschland seiner
solidarischen Rolle in der Europäischen Gemeinschaft
bewusst ist und sich der Verantwortung nicht entziehen
will und auch nicht wird. Deutschland hat mit seinen
Nachbarstaaten und weiteren Ländern bilaterale Hilfe-
leistungsabkommen geschlossen. Diese bilateralen Not-
hilfemechanismen sind regelmäßig zuerst zu aktivieren,
bevor auf die Katastrophenschutzinstrumente der EU
insgesamt zurückgegriffen wird. Dies ist zurzeit auch
gängige Praxis.
Ich betone erneut: Eine von den Mitgliedstaaten un-
abhängige, eigenständige Katastrophenabwehr auf EU-
Ebene lehnen wir ab. Die Verantwortung hat bei den
Mitgliedstaaten zu verbleiben. Auch bei der Errichtung
eines Ressourcenpools muss das volle Verfügungsrecht
und insbesondere das Letztentscheidungsrecht über den
Einsatz der Ressourcen bei den Mitgliedstaaten verblei-
ben.
Nicht zuletzt die Ereignisse in Japan haben erneut
– und das sehr schmerzlich – verdeutlicht, dass Kata-
strophen keine ausschließlich nationalen Angelegenhei-
ten sind. Weltweit hat sich die Zahl der Katastrophen
zwischen 1975 und heute auf das Fünffache – von 78 auf
knapp 400 – erhöht. Allein in Europa waren in den letz-
ten 20 Jahren mehr als 29 Millionen Menschen von Na-
turkatastrophen betroffen. Dass die Abwehr von Kata-
strophen keine allein nationale Aufgabe ist, ist allen
Beteiligten bewusst. Wir müssen alle handeln, dies aber
im Rahmen von nationalem und europäischem Recht.
Abschließend fasse ich zusammen und zitiere aus un-
serem Antrag: Die Bundesregierung ist – erstens – auf-
gefordert, die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen
als Grundlage für die Verhandlungspositionen zu
künftigen Rechtsänderungsvorschlägen im Rahmen
der Europäischen Katastrophenabwehr zu nutzen;
2. bei allen Überlegungen und Maßnahmen zum
Ausbau des europäischen Katastrophenschutzes auf
die Beachtung des Substitutionsverbots und des
Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken;
3. Maßnahmen zu unterstützen, die das Gemein-
schaftsverfahren effizienter und effektiver machen
sowie die Mobilisierung der verfügbaren Ressour-
Zu Protokoll
cen beschleunigen, bei gleichzeitiger Förderung
der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten.
Ich darf Sie bitten, der Beschlussempfehlung des In-
nenausschusses zu folgen.
Gabriele Fograscher (SPD):
Zunächst möchte ich für meine Fraktion klarstellen,
dass der europäische Koordinierungsmechanismus bei
internationalen Einsätzen intensiv mit dem Koordinie-
rungsmechanismus der Vereinten Nationen zusammen-
arbeiten muss. Bei internationalen Einsätzen außerhalb
der EU ist der Koordinierungsmechanismus der Verein-
ten Nationen verbindlich, Europa ist hier nur unterstüt-
zend tätig.
Zu begrüßen ist, dass wir durch die vorliegenden An-
träge heute über den Katastrophenschutz und die huma-
nitäre Hilfe auf EU-Ebene diskutieren. Trotz aller
notwendigen Kritik an den vorliegenden Kommissions-
mitteilungen bedeuten diese Vorlagen in keiner Weise
eine drohende Militarisierung der europäischen Außen-
politik und der europäischen Katastrophenhilfe.
Neben den durchaus richtigen Ansätzen im Koali-
tionsantrag erwarten wir, dass die Bundesregierung zü-
gig ein eigenes Konzept für das im Lissabonner Vertrag
festgeschriebene humanitäre Freiwilligencorps vorlegt.
Teil dieses Konzeptes muss es sein, die in Deutschland
bewährten Freiwilligenstrukturen in der humanitären
Hilfe, die durch das THW, das DRK, die Feuerwehren
sowie eine weitere große Zahl nicht staatlicher Hilfs-
organisationen geprägt sind, mit ihrem Potenzial und ih-
rer Kompetenz vernünftig einzubinden. Auch hier darf
auf europäischer Ebene kein Parallel- oder Konkurrenz-
mechanismus geschaffen werden. Unsere Befürchtung
ist, dass die Bundesregierung abwartet und die entspre-
chenden Konzepte von anderen europäischen Ländern
in deren Sinne gestaltet und vorgelegt werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tre-
ten für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten
der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein,
und dies sowohl auf nationaler, als auch auf internatio-
naler Ebene.
Ich möchte hier nur an einige Initiativen, etwa die un-
ter Rot-Grün vorgenommene Einrichtung des Bundes-
amtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
oder auch die von der Großen Koalition fortgesetzte
Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Kata-
strophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergän-
zungsgesetz erinnern. Da bekannt ist, dass Katastrophen
und Krisen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, und
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tief ver-
wurzelt sind in der Tradition internationaler humanitä-
rer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationa-
len Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene.
Dabei haben wir immer betont, dass sich das subsidiäre
Prinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt
hat und auch für die europäische Ebene gelten muss.
Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefah-
ren und Herausforderungen muss es im Interesse aller
europäischen Länder sein, zuerst die örtlichen und
12768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Gabriele Fograscher
(A) (C)
(D)(B)
nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu
stärken und auszubauen. Darüber hinaus ist es für uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entschei-
dend, angesichts der Herausforderung und der Größe
drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Kata-
strophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstren-
gungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen.
Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des
Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien ge-
genüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung
der Katastrophenprävention heißt auch stärkere An-
strengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur
Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaf-
ten und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und
Steuerungssysteme.
Die Zunahme internationaler Krisenherde erfordert
eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninter-
ventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch
Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr
gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das
Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisatio-
nen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in in-
ternationalen Krisenszenarien gespielt haben, spielen
und spielen werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind
bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür einge-
treten, die zivile gegenüber der militärischen Kompo-
nente bei der Bewältigung von Krisenlagen zu stärken,
und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch
im Rahmen der internationalen Mechanismen.
Wir stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastro-
phenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf na-
tionaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte
nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der CDU/
CSU zu einer stärkeren Militarisierung des Katastro-
phenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalis-
musreform I als auch in der Großen Koalition am klaren
Widerstand der Sozialdemokratischen Partei gescheitert
sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich
militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amts-
hilfe den Katastrophenschutz unterstützen können, so
wie dies unser Grundgesetz vorsieht, und dies gilt nicht
nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im
Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zu-
ständigkeiten kommen, und gerade in sogenannten kom-
plexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber
dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt
nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für interna-
tionale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität
muss bestehen. Und hier ist der Antrag der Linken ein-
deutig über das Ziel hinausgeschossen. In bestimmten
Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstüt-
zung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen
angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transport-
bereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich
zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern
auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden
Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Ge-
rät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte.
Zu Protokoll
Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi-
schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder-
heiten anderer europäischer Länder zu respektieren.
Die Nutzung von militärischen Mitteln der Mitglied-
staaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien
geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich
Bezug nimmt. Und diese Osloer Leitlinien umfassen
eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen
wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch
Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen
nach der Definition dieser Leitlinien auch das Techni-
sche Hilfswerk gehört. Die Bundesrepublik Deutschland
wird künftig nicht auf den Einsatz des Technischen Hilfs-
werks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen
im Ausland verzichten. Viele Länder beneiden uns um
unseren zivilen Katastrophenschutz. Deshalb werden
wir ihn auch weiterhin stärken.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am
besten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an
den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus-
gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich-
keiten. Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bis-
herige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz
muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt
werden. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen
und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufga-
ben des Staates.
Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu-
sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen
uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt
bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den
Zentralisierungsabsichten der EU. Das gezierte antimi-
litärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht
nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung
von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophen-
abwehr. Wie der Antrag der Linken zu Recht ausdrückt,
ist auch davor zu warnen, die Sichtbarkeit der EU-Hil-
fen als Selbstzweck zu verfolgen.
Bei der Katastrophenabwehr kommt es in erster Linie
auf das Vorhandensein leistungsfähiger und effizienter
Katastrophenabwehrkapazitäten in den Mitgliedstaaten
an. Die Bereitstellung eigener Ressourcen auf EU-
Ebene einschließlich der operativen Verfügungsgewalt
der Kommission über diese Ressourcen würde die Mit-
gliedstaaten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen,
statt diese zu fördern; das wäre kontraproduktiv. Zudem
würde sie gegen Art. 196 AEUV verstoßen. Die Unter-
stützung und Ergänzung durch die EU darf sich danach
allein auf die Tätigkeit der Mitgliedstaaten beziehen.
Für eine parallele Zuständigkeit der Union gibt es keine
Rechtsgrundlage. Basis für gemeinsame Einsätze sind
daher allein die Ressourcen der Mitgliedstaaten. In der
Bundesrepublik Deutschland sind für den operativen
Bereich maßgeblich die Länder zuständig. Im dezentra-
len deutschen Katastrophenschutzsystem spielen vor al-
lem die Feuerwehren sowie viele nicht staatliche
Hilfsorganisationen eine Rolle, die auf bewährten eh-
renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12769
gegebene Reden
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) (C)
(D)(B)
nalen Strukturen beruhen. Das Technische Hilfswerk
steht regelmäßig auch bei Katastrophen im inner- und
außereuropäischen Ausland zur Verfügung.
Es ist nicht Aufgabe der EU, eine eigene Katastro-
phenabwehr neben derjenigen der Mitgliedstaaten auf-
zubauen. Dies würde nicht zuletzt die hervorragenden
ehrenamtlichen Kräfte des Bevölkerungsschutzes in
Deutschland in ihrer Arbeitsweise maßgeblich beein-
trächtigen.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Am vergangenen Sonntag, dem 22. Mai, eröffnete die
Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine
Ashton, eine Vertretung der EU in der libyschen Stadt
Bengasi. Diese wird in demselben Gebäude unterge-
bracht sein wie die Vertretung der Vereinten Nationen
und zahlreiche internationale Organisationen, darunter
auch das Office for the Coordination of Humanitarian
Affairs, OCHA, der UN. Von dessen Zustimmung hängt
die Durchführung der EU-Militärmission EUFOR Libya
ab, die gegenwärtig vorbereitet wird. Offiziell soll dieser
Einsatz humanitäre Ziele verfolgen, aber auch Boden-
truppen, unter anderem aus der European Battlegroup,
beinhalten. Wie praktisch, dass sich der Europäische
Auswärtige Dienst, EAD, der diesen Einsatz vorbereitet,
in Bengasi bereits mit der humanitären Organisation,
die ihm das Plazet erteilen soll, ein Dach teilt.
Viele humanitäre Organisationen haben sich jedoch
sehr deutlich gegen einen solchen geplanten Militärein-
satz der EU gewandt, weil sie unter diesen Bedingungen
ihre Arbeit kaum fortsetzen könnten. Sie nehmen der EU
auch ganz zu Recht ihre humanitäre Zielsetzung nicht
ab, weil die EU zugleich Flüchtlinge aus Libyen brutal
zurückweist und ertrinken lässt. Die Linke schließt sich
hier den Ärzten ohne Grenzen an, die vor einer Woche in
einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs
der EU schrieben:
Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch,
mit dem Eingreifen in den Krieg Zivilisten zu schüt-
zen. Andererseits schließen sie gleichzeitig die
Grenzen für die Opfer dieses Krieges – unter dem
Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Ein-
wanderer verhindern zu müssen.
Ihre vermeintliche Humanität hört spätestens an den
EU-Außengrenzen auf und ist an Ihrem Umgang mit
schutzsuchenden Menschen erkennbar. Statt immer nur
zu schießen, sollten Bundesregierung und EU endlich
anfangen, tatsächlich zu helfen, indem man Schutzsu-
chende aufnimmt.
Wie katastrophal die Folgen eines militärischen Ein-
satzes zur humanitären Hilfe sein können, hat sich An-
fang der 1990er-Jahre in Somalia gezeigt. Das Schei-
tern dieses Konzeptes bei der UN-Mission UNOSOM
und dem US-Einsatz „Restore Hope“ hat Folgen bis
heute. Fast 9 Millionen Menschen am Horn von Afrika
sind nach Angaben des World Food Programme, WFP,
von Lebensmittellieferungen abhängig. Am 18. Mai
warnten Hilfsorganisationen vor einer weiteren Ver-
schärfung des Hungers in Somalia aufgrund ausbleiben-
Zu Protokoll
der Regenfälle und fehlender finanzieller Mittel. Etwa
53 Millionen US-Dollar würden benötigt, um die Men-
schen mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch was tut die
EU? Sie finanziert aus den Mitteln des Europäischen
Entwicklungsfonds einen sinnlosen Häuserkampf zwi-
schen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia,
AMISOM, und Milizen in Mogadischu, der jährlich
500 Millionen US-Dollar verschlingt. Das alles hat sehr
viel mit der Mitteilung der Kommission zu europäischem
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun; denn
all diese Maßnahmen werden vom EAD koordiniert.
Dieser soll zukünftig eine noch zentralere Rolle bei
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe spielen und
– so die EU-Kommission – die „Kohärenz zwischen der
Katastrophenabwehr einerseits und möglichen politi-
schen und sicherheitspolitischen Elementen“ verbes-
sern. Der EAD hat aber den Zweck – das hat die EU-Au-
ßenbeauftragte Catherine Ashton in ihrer Rede vor dem
Europäischen Parlament am 10. März 2010 sehr deut-
lich gesagt –, den europäischen Zugriff auf die weltwei-
ten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu verbessern
und gegen die aufstrebenden Schwellenländer zu vertei-
digen. Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe ver-
kommen somit zum bloßen Instrument imperialer
Machtpolitik. Die Begriffe „Schutz“, „Hilfe“ und „Hu-
manität“ verlieren damit, wie durch die in ihrem Namen
durchgeführten bzw. anvisierten Regime Changes in
Côte d’Ivoire, immer weiter an Legitimität und Sub-
stanz. Schutzbedürftige werden von der Bundesregie-
rung und der EU instrumentalisiert, und fast könnte man
argwöhnen, dass die deutschen und europäischen Au-
ßenpolitiker von CDU bis SPD und von Grünen bis FDP
auf die nächste Katastrophe warten, um unter dem
Deckmantel des Katastrophenschutzes intervenieren zu
können.
Im Sahel beispielsweise hat in den vergangenen Jah-
ren eine Katastrophe die andere abgelöst. Dürren folg-
ten heftige Regenfälle und hinterließen fast 10 Millionen
Menschen abhängig von Lebensmittellieferungen. Auch
wenn diese Wetterphänomene in dieser Region nicht neu
sind, liegt ein Zusammenhang mit dem Klimawandel und
damit auch mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise
nahe. Wie reagierte hier die EU? Die Außenbeauftragte
Ashton hat vor wenigen Wochen ihren Entwurf für eine
Sahel-Strategie vorgelegt. Von den vorangegangenen
Dürren ist hierin nicht die Rede, dafür umso mehr von
Terrorismus und organisierter Kriminalität, die auch
Pipelines und die Sicherheit der Bürger in der EU ge-
fährden würden. Not und Hunger der Bevölkerung
scheinen in diesem Papier nur insoweit eine Rolle zu
spielen, als sie den „Nährboden“ für Terrorismus berei-
ten würden. Die Notwendigkeit von Hilfslieferungen
wird hier nicht durch das Gebot der Menschlichkeit oder
der Solidarität begründet, sondern dadurch, dass damit
das Vertrauen in den Staat gestärkt und der Einfluss der
Islamisten zurückgedrängt werden könnte. Das finde ich
abscheulich; dies ist ein menschenverachtendes Doku-
ment!
Im Kern geht es in der Sahel-Strategie jedoch darum,
die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den
Sahel-Staaten – allesamt keine Staaten, die man als
12770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Sevim Daðdelen
(A) (C)
(D)(B)
Sevim Dağdelen
Rechtsstaaten bezeichnen könnte – zu fördern und diese
polizeilich und militärisch aufzurüsten. 700 Millionen
Euro unter anderem aus dem „Instrument für Stabilität“
sind hierfür vorgesehen. Aus dem Europäischen Ent-
wicklungsfonds sollen weitere Mittel mobilisiert wer-
den: fast 1 Milliarde Euro für Regierungen, die aus
Militärputschen hervorgegangen sind, und für deren
Streitkräfte, welche die eigentliche Macht im Staate dar-
stellen. Das ist eine Nachricht, die sehr wohl verstanden
wurde: Vergangene Woche haben die Außenminister Al-
geriens, Nigers, Malis und Mauretaniens in Bamako zu-
gesagt, bis zu 75 000 Soldaten für den Krieg gegen den
Terror bereitzustellen. Die Nachricht kam auch bei der
jeweiligen Opposition an, die bereits eindringlich vor
einer weiteren Militarisierung des Sahel warnt. 1 Mil-
liarde Euro und 75 000 Soldaten gegen 300 mutmaßli-
che Al-Qaida-Kämpfer, das ist unglaubwürdig. Offen-
sichtlich geht es hier um die militärische Stabilisierung
autoritärer Regime. Finanziert werden soll diese aus
denselben Töpfen, die in der Mitteilung der Kommission
dem Katastrophenschutz und der humanitären Hilfe die-
nen sollen. Damit entlarvt sich endgültig, was hier unter
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu verstehen
ist. Die Linke lehnt nach wie vor die Unterstützung von
autoritären Regimen ab!
Im Gegensatz zu allen anderen hier vertretenen Frak-
tionen lehnt die Linke das Konzept der vernetzten
Sicherheit, das den Vorschlägen der Kommission
zugrunde liegt, ab. Die Linke ist ebenso gegen die In-
strumentalisierung humanitärer Hilfe für sicherheits-
politische und wirtschaftliche Interessen wie gegen die
zunehmende Militarisierung des Bevölkerungsschutzes
innerhalb der EU, die beide untrennbar mit diesem Kon-
zept verbunden sind. Die Linke ist für die strikte Tren-
nung von militärischen und zivilen Kapazitäten und den
konsequenten Abbau Ersterer zugunsten Letzterer. Nur
durch den Ausbau rein ziviler und unabhängiger Kapa-
zitäten des Bevölkerungsschutzes und deren möglichst
bevölkerungsnahe – das heißt kommunale und föderale –
Kontrolle kann ihre Instrumentalisierung verhindert und
ihre Effizienz gewährleistet werden. Denn der Schutz
und die Hilfe für Menschen in Not ist kein Mittel zum
Zweck, sondern reiner Selbstzweck – und so muss es
auch bleiben.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Wir begrüßen den Vorstoß der Europäischen Kom-
mission für Verbesserungen der Zusammenarbeit im Ka-
tastrophenschutz. Menschen unmittelbar, schnell und
wirksam Soforthilfe bei Katastrophen zukommen zu las-
sen, ist ein vorrangiges Ziel der Solidargemeinschaft
EU. Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal
mehr und auf ganz brutale Weise aus dem täglichen Ver-
drängen der Möglichkeit einer derartigen, vorher in die-
sem Ausmaß für uns alle unvorstellbaren Katastrophe
gerissen. Schmerzhaft vor Augen geführt wurde uns, in
welchem Ausmaß unser gewohnter Alltag durch kata-
strophische Entwicklungen bedroht ist, die zudem oft-
mals in vielerlei Hinsicht menschengemacht und damit
grundsätzlich vermeidbar erscheinen. Und so muss nach
Zu Protokoll
Fukushima auch für den Katastrophenschutz gelten:
Business as usual geht nicht mehr.
Wer von einer veränderten Sachlage bei der Bewer-
tung der Atompolitik ausgeht, wie dies die Bundesregie-
rung nunmehr von sich behauptet, muss auch beim Ka-
tastrophenschutz konsequent sein. Die Risiken von
Großschadenslagen – das hat Japan gezeigt – können
kumulativ eintreten, und sie sprengen alle unsere bishe-
rigen Übungs- und Einsatzszenarien. An die Politik
gewendet gilt hier stets die Frage: Haben wir alles Men-
schenmögliche getan, um die etwaigen Folgen derarti-
ger Katastrophen bestmöglich abzumildern oder sie gar
im Vorfeld zu verhindern? Das Undenkbare denken und
Vorsorge treffen, darin besteht die Herausforderung des
Bevölkerungsschutzes, auch wenn und gerade weil wir
wissen: Katastrophen sind per se das zumeist nicht
Planbare, das Unvorhersehbare. Und: Das Ereignis
selbst muss noch nicht automatisch zu einer Katastrophe
werden.
Tatsächliche Katastrophen, die im Grunde genommen
ja nichts anderes sind als die Überforderung einer Ge-
sellschaft, mit einer bestimmten Bedrohung adäquat um-
zugehen, entstehen oftmals erst durch das Zusammen-
spiel vielfältiger Faktoren, von denen die einen mehr
beeinflusst, die anderen weniger beeinflusst werden kön-
nen. Sicher ist: Die Vulnerabilität unserer modernen
Gesellschaften auf einem möglichst geringen Niveau zu
halten, ist wohl die größte Herausforderung für den Ka-
tastrophenschutz. So wissen wir alle: Der technologi-
sche Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits
ermöglicht er uns, frühzeitig potenziell katastrophale
Entwicklungen einzuschätzen und sie zu bekämpfen, an-
dererseits sind die Folgen einer erst einmal eingesetzten
Katastrophe durch die Abhängigkeit moderner Gesell-
schaften von kritischen Infrastrukturen hoch. Wir wis-
sen: Für eine möglichst effektive Begegnung der Aus-
wirkungen eines potenziell katastrophalen Ereignisses
ist eine koordinierte Vorgehensweise aller hieran Betei-
ligten von immenser Bedeutung. Wir wissen auch: Kata-
strophen kennen keine Grenzen. Daher begrüßen wir es,
dass die EU mit ihrer Mitteilung Vorschläge für notwen-
dige Einzelschritte einer verbesserten EU-Krisenab-
wehr vorgelegt hat. Anstrengungen in dieser Richtung
reichen bereits einige Jahre zurück, darunter hervorzu-
heben insbesondere der Barnier-Report.
Der Ansatz der Kommission ist in seinen wesentli-
chen Punkten zu begrüßen. Besonders wichtig und her-
vorzuheben ist, dass die Katastrophenvorsorge seitens
der Kommission auch als primäre Prävention von Risi-
koherden mitgedacht wird und hier weitere konkrete
Schritte angekündigt werden. Denn wir müssen vor al-
lem an die Ursachen von Krisen, an die Risikoherde ran.
Als gutes Beispiel hierfür mag die neueste TAB-Studie
des Deutschen Bundestages dienen, die mit Blick auf das
besonders gefährliche Szenario breitflächiger und län-
ger andauernder Stromausfälle eine Abkehr von zentra-
lisierten Stromnetzen und eine Hinwendung zu erneuer-
baren Energien empfiehlt, mit denen robustere dezen-
trale Stromnetze auch in Katastrophenfällen aufrecht-
erhalten werden können. Gleichwohl gilt der alte
Spruch, wonach bei aller Prävention die nächste Kata-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12771
gegebene Reden
12772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Dr. Konstantin von Notz
(A) (C)
(D)(B)
strophe bestimmt kommen wird, auch hier bei uns in ei-
nem vermeintlich besonders sicheren und gut organi-
sierten Gemeinwesen. Sie wird uns auf dem falschen Fuß
erwischen, und sie wird natürlich – verzeihen Sie mir
diese von vielen schon als Phrase empfundene Wendung
– vor allem eines nicht machen, nämlich an nationalen
Grenzen innehalten. Diese Erfahrung kennen wir zur
Genüge bei den typischen Hochwasserkatastrophen, die
unser Land immer wieder treffen. Zum Glück kennen wir
sie noch nicht für anders gelagerte Fälle, zum Beispiel
Terroranschläge mit katastrophischen Auswirkungen,
oder gar Atomkatastrophen. So unwahrscheinlich diese
Möglichkeiten immer noch vielen erscheinen mögen, die
Aufgabe des Katastrophenschutzes muss diese Szenarien
aufnehmen und verarbeiten.
Genau deshalb ist es überhaupt nicht zureichend,
wenn die Koalitionsfraktionen beantragen, weiterhin
nahezu ausschließlich auf nationale Bewältigungs- und
Koordinationskapazitäten der Mitgliedstaaten zu setzen
und der Europäischen Union lediglich eine reaktive
Rolle zuzuweisen. Damit wird einmal mehr eine Heran-
gehensweise im Bevölkerungsschutz perpetuiert, die
noch immer meint, gesetzliche Aufgabenverteilungen
und Befugnisse zum Maßstab für die Bewertung der
Realität sprich: konkrete Krisenszenarien nehmen zu
können.
Als trauriges Ergebnis zu besichtigen ist unter ande-
rem deshalb ein nationales System des Krisenmanage-
ments, das sich keinem Laien mehr erschließt und bei
einer schweren Katastrophe vermutlich völlig unzurei-
chende Koordinierungsleistungen erbringen würde.
Umgekehrt hingegen würde ein Schuh draus, denn erst
in der konkreten Auswertung realistischer Krisenszena-
rien und Übungen erschließt sich induktiv der Bedarf
bei den Bewältigungsstrukturen. Die Vorschläge der
Kommission sind ein schlüssiger Schritt für die Bewälti-
gung grenzüberschreitender Szenarien hier bei uns in
Europa, aber auch für den Einsatz von EU-Mitteln in
Drittstaaten.
Einig sind wir uns hier im Bundestag offenbar, was
die Notwendigkeit der Planung auch auf EU-Ebene für
bestimmte Szenarien, die Inventarisierung von nationa-
len Ressourcen und die beschleunigte Mobilisierung der
Ressourcen angeht.
Die Sorge der Linken, dass die Pläne der Kommission
eine Militarisierung des Bevölkerungsschutzes einläuten
könnten, teilen wir nicht. Auch wir würden derartige
Entwicklungen selbstverständlich ablehnen. Die Mittei-
lung bekennt sich jedoch eindeutig zu den Oslo-Leit-
linien und damit zu dem Grundsatz, dass nur im absolu-
ten Ausnahmefall eine entsprechende Heranziehung mi-
litärischer Kräfte infrage kommt.
Die Zusammenlegung der Krisenstellen des MIC,
Monitoring and Information Centre, und der GD ECHO,
Generaldirektion Humanitäre Hilfe der Europäischen
Kommission, ist konsequent, weil es zahlreiche Über-
schneidungen zwischen den Katastrophenschutzanfor-
derungen und der humanitären Hilfe – Schutz und Ver-
sorgung, die über Erstversorgung hinausgeht – gibt und
es aus unserer Sicht durchaus Sinn macht, die notwen-
dige Vorbereitungs- und Planungsarbeit von den rein re-
aktiven, auf die Ad-hoc-Zurufe der Mitgliedstaaten an-
gewiesenen Maßnahmen zu lösen, um so die rasche und
effiziente Handlungsfähigkeit in Notfällen aufzubauen
und zu gewährleisten. Die Behauptung der Koalitions-
fraktion, damit würde das bundesdeutsche bewährte
System der Präsenz von Millionen von Helferinnen und
Helfern in der Fläche infrage gestellt, teilen wir explizit
nicht, zumal sie auch nicht näher begründet wird. Viel-
mehr wird unser bewährtes System insbesondere der eh-
renamtlichen Mitarbeit in einer Vielzahl von Hilfsorga-
nisationen weiterhin neben und kumulativ zu den
Koordinierungsaufgaben auf nationaler wie auch euro-
päischer Ebene zur Anwendung kommen.
Den Einwand der fehlenden Rechtsgrundlage für eine
derartige Verbindung bereits bestehender und zulässiger
Kompetenzen sehen wir nicht, wenn bei der rechtlichen
Ausgestaltung entsprechend präzise festgelegt wird, wo-
rin die konkreten Aufgaben und Befugnisse liegen kön-
nen und sollten. Fragen des Bevölkerungsschutzes sind
mit einer besonders hohen Verantwortung verbunden
und geben Anlass, von kurzfristigen politischen Überle-
gungen abzusehen sowie auch bei bestimmten abstrakte-
ren Leitlinien des eigenen politischen Handelns Vorsicht
walten zu lassen. Mögen die oft vorgetragenen Beden-
ken hinsichtlich eines sich verselbstständigenden Aus-
baus des europäischen Agenturwesens in Einzelfällen
durchaus ihre Berechtigung haben, so dürfen diese doch
nicht zu einer pauschalen Ablehnung notwendiger und
in der Sache gerechtfertigter Erweiterungen europäi-
scher Handlungsmöglichkeiten führen. Die Vorbereitung
auf und die Unterstützung bei Katastrophen, die an un-
seren Landes- wie auch Staatsgrenzen nicht haltmachen
und deren Bewältigung außerordentliche Anstrengungen
erfordern, zählt zu diesen notwendigen Erweiterungen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses auf Drucksache 17/5809. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/5194 mit dem Titel „Katastro-
phenabwehr in Europa effektiv gestalten“. Es handelt
sich hier um eine Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes zu
der Mitteilung der Kommission an das Europäische Par-
lament und den Rat „Auf dem Weg zu einer verstärkten
europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Kata-
strophenschutz und humanitärer Hilfe“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-
fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? –
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4672 zu der eben genannten Mitteilung der
Kommission. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialde-
mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12773
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
Fraktion Die Linke. Enthaltungen somit keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-
Unterlagen-Gesetzes
– Drucksache 17/5894 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Rechtsausschuss
Mir sind eine Reihe von Rednerinnen und Rednern
gemeldet. Ich gehe der Reihenfolge nach vor.
Erste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die
Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin
Philipp.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Beatrix Philipp (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Alle wissen es: Kaum ein Gesetz verlässt den Deut-
schen Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Weil
jetzt und heute schon feststeht, dass es eine Anhörung
zum Stasi-Unterlagen-Gesetz geben wird, die wir als
CDU/CSU-Fraktion besonders ernst nehmen werden,
weil die Betroffenen dort in großer Anzahl anwesend
sein werden und angehört werden sollen, weil wir jetzt
schon Änderungsbedarf kennen, der aus den Fraktionen
angemeldet wurde, und weil wir in einer so sensiblen
Angelegenheit wie der des Umgangs mit Stasiunterlagen
auf eine breite Mehrheit in diesem Hohen Hause hoffen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
wären wir bereit gewesen, unsere Reden heute zu Proto-
koll zu geben, so wie es im Übrigen im Ablaufplan vor-
gesehen war.
Auch der Verlauf der Beiratssitzung am Montag die-
ser Woche war ein so eindeutiger und einstimmiger
Beweis des Vertrauens für Roland Jahn über alle Par-
teigrenzen hinweg – ich unterstreiche das ganz aus-
drücklich; alle wissen, warum ich das tue –, dass dem ei-
gentlich nichts mehr hinzuzufügen ist, außer dass man
Roland Jahn vielleicht ermuntern könnte und sollte, auf
seinem Weg fortzuschreiten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, jedem, der es bisher noch
nicht wusste, sage ich: In einer Aktuellen Stunde am
28. Januar 2010 wurde besonders deutlich, dass die
Überprüfungsfristen im Stasi-Unterlagen-Gesetz würden
verlängert werden müssen. Denn im Brandenburger
Landtag, der im September 2009 gewählt worden war,
hatten 7 von 88 Abgeordneten eine Stasivergangenheit,
entweder als offizielle oder als inoffizielle Mitarbeiter.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Ein Skandal! – Weiterer Zuruf von der CDU/
CSU: Was? Wie ist denn das passiert?)
Diese 7 Abgeordneten waren von der Linksfraktion. Ein
Abgeordneter wurde daraufhin sogar aus der Linksfrak-
tion ausgeschlossen – etwas, das wir Ihnen gestern in ei-
nem anderen Zusammenhang nahegelegt hatten, an-
scheinend aber erfolglos. So weit die Vergangenheit, von
der manche vielleicht schon glaubten, man müsse sich
damit in dieser Hinsicht nicht mehr befassen.
Auch heute, da wir in erster Lesung die Novellierung
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten, gibt es in Bran-
denburg wieder eine Stasidiskussion. Ich finde sie ei-
gentlich empörend. Der Justizminister, Dr. Volkmar
Schöneburg von der Linkspartei,
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ein Justiz-
minister von der Linkspartei? Das ist doch ein
Widerspruch in sich!)
musste Anfang Mai dieses Jahres bekannt geben, dass
bei 13 Brandenburger Richterinnen und Richtern eine
haupt- bzw. nebenamtliche Stasitätigkeit bekannt sei
oder bekannt gewesen sei. Mehr noch: Bei insgesamt
152 Angehörigen der Brandenburger Justiz gibt es Hin-
weise auf eine frühere Stasitätigkeit.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Unglaublich!)
Die sich daraus ergebende Konsequenz, alle Richterin-
nen und Richter auf eine frühere Stasitätigkeit hin zu
überprüfen, zieht der Justizminister nicht einmal in Be-
tracht.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das kann doch wohl nicht angehen!)
Ich zitiere aus einem Interview mit dem brandenbur-
gischen Justizminister, zu lesen in der Märkischen Allge-
meinen vom 18. Mai dieses Jahres:
Ich halte das
– er meint eine Überprüfung –
für unverhältnismäßig. Es kann nicht darum gehen,
allein die Neugierde zu befriedigen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja schlimm!
Es gibt wirklich schlimme Menschen in dieser
Partei!)
Befriedigung von Neugier? Man kann es gar nicht glau-
ben. Welche Auffassung vom Richteramt spricht aus ei-
ner solchen Aussage, welcher Anspruch an den eigenen
Stand? Welche – ich formuliere es einmal etwas locker –
Dickfälligkeit – „mangelnde Sensibilität“ beschreibt es
zu wenig – in Bezug auf die Integrität des öffentlichen
Dienstes und der Richterschaft in Besonderheit spricht
daraus? Glauben Sie, dass die Opfer dafür Verständnis
haben? Glauben Sie, dass es in einem Rechtsstaat akzep-
tabel ist, wenn ein Richter, der nach einem Bericht des
RBB-Magazins Klartext zu DDR-Zeiten Haftbefehle ge-
12774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Beatrix Philipp
(A) (C)
(D)(B)
gen Ausreisewillige erlassen hat, sein Amt ausüben
kann?
(Zuruf von der CDU/CSU: Oh! Oh!)
Konkret ging es um den Fall der Filmemacherin
Sibylle Schönemann und ihres Mannes. Beide waren für
die DEFA tätig und stellten einen Ausreiseantrag. Mit
der Begründung „Beeinträchtigung staatlicher oder ge-
sellschaftlicher Tätigkeit“ wurden die beiden inhaftiert.
Den beiden damals sechs- und achtjährigen Töchtern
wurde bei der Festnahme der Eltern gesagt, sie seien am
Nachmittag zurück.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist ja schlimm!)
Die Familie sah sich nach einem Jahr im Westen wieder.
Die Familie war freigekauft worden. Der Richter, der da-
mals die Haftbefehle erlassen hat, ist heute immer noch
als Richter in Potsdam tätig. Ich finde das unglaublich.
(Reiner Deutschmann [FDP]: Das ist ja ein
Skandal! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup]
[CDU/CSU]: Was? Nicht zu fassen! – Weitere
Zurufe von der CDU/CSU: Ekelhaft! – Un-
glaublich!)
Das ist eigentlich unzumutbar, nicht nur für Stasiopfer,
sondern auch für jeden anderen, der dort vor Gericht
steht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da spricht ein Justizminister von Unverhältnismäßig-
keit, wenn Richterinnen und Richter überprüft werden
sollen, und von Neugier. Ist es nicht eher unverhältnis-
mäßig, die Biografien der vielen Stasiopfer zu missach-
ten und zu verdrängen? Nicht nur bei der Brandenburger
Justiz, sondern auch bei der Brandenburger Polizei ka-
men aktuell drei Stasifälle ans Licht. Aber auch dies
bleibt wohl ohne Konsequenzen. Die Menschen sind ir-
ritiert, die Opfer empört und erneut verletzt. Dieser Jus-
tizminister, so meinen wir, ist untragbar.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, warum novellieren wir das
Stasi-Unterlagen-Gesetz nun schon zum achten Mal?
Abgesehen davon, dass die Chronologie dieses Gesetzes
sehr interessant ist, zeigt sie deutlich, wie sensibel mit
diesem Gesetz auf unterschiedliche Entwicklungen re-
agiert wurde, indem man es aktualisierte, das heißt no-
vellierte. Unser Kollege Hartmut Büttner hat bereits am
14. November 1991 im Deutschen Bundestag angedeu-
tet, dass es bei den Novellierungen immer wieder um
Anpassungen an die Realität gehen wird. Ich habe leider
nicht genug Zeit, das ausführlicher vorzutragen, aber im
Wesentlichen geht es um folgende Neuerungen:
Erstens. Die Überprüfungsfrist soll bis zum 31. De-
zember 2019 verlängert werden.
Zweitens. Der überprüfbare Kreis soll erweitert wer-
den.
Drittens. Auch für nahe Angehörige soll der Zugang
zu den Akten Verstorbener und Vermisster erleichtert
werden.
Meine Damen und Herren, ich habe eben darauf hin-
gewiesen, dass wir für die bereits anberaumte Anhörung
sehr offen sind. Deswegen kann ich mich an dieser Stelle
kurzfassen.
Ich möchte damit schließen, dass der SPD-Vordenker
Egon Bahr jüngst wieder einmal einen Schlussstrich ge-
fordert hat. Seine Rede zum 75. Geburtstag des ehemali-
gen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe
ist so unglaublich, dass man einfach fassungslos davor
steht. Zu den unglaublichen Passagen gehört auch seine
Beurteilung des Bemühens von Roland Jahn, nach einer
Lösung für die 47 ehemaligen Stasimitarbeiter in der
Stasi-Unterlagen-Behörde zu suchen. Wir sollten Roland
Jahn bei seiner Suche nach Lösungen unterstützen, statt
ihn mit böswilligen Unterstellungen zu beleidigen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wie gesagt: Wir hoffen diesmal auf einen breiten
Konsens bei der Novellierung und meinen, dass wir das
den Opfern schuldig sind.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Philipp.
Ich will jetzt Folgendes geschäftsleitend sagen: Der
Kollege Wolfgang Thierse hat seine Rede für die Sozial-
demokraten zu Protokoll gegeben. Des Weiteren haben
unser Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und auch die Frau Kollegin
Dr. Lukrezia Jochimsen ihre Reden zu Protokoll gege-
ben1). Auf Wunsch der Fraktionsgeschäftsführung der
Linken weise ich darauf hin, dass sie wegen Krankheit
hier nicht anwesend sein kann.
(Iris Gleicke [SPD]: Deswegen haben die an-
deren ihre Reden auch zu Protokoll gegeben!
Darauf weise ich jetzt hin! So viel zum An-
stand in diesem Hause!)
Somit machen wir jetzt in der Reihenfolge weiter, die
mir vorliegt. – Das Wort hat jetzt zunächst der Kollege
Reiner Deutschmann für die Fraktion der FDP. Bitte
schön, Kollege Reiner Deutschmann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Reiner Deutschmann (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung des Stasi-
unrechts ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leis-
tungen infolge der friedlichen Revolution von 1989. Ich
bin stolz darauf, dass es gelungen ist, die Akten der Stasi
im Interesse der Opfer, aber auch im Interesse der Bür-
gerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch der
Nachwelt zu sichern und aufzuarbeiten.
Inzwischen liegt es 21 Jahre zurück, dass beherzte
Frauen und Männer mit der Besetzung der Stasizentrale
1) Anlage 4
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12775
Reiner Deutschmann
(A) (C)
(D)(B)
in Berlin-Lichtenberg und anderer regionaler Stasiein-
richtungen, wie beispielsweise auch in Leipzig und Er-
furt, die Akten sicherten. Garant für die Aufarbeitung
der damals gesicherten Akten ist das 1991 beschlossene
und heute zur Novellierung vorliegende Stasi-Unterla-
gen-Gesetz.
Der darin geregelte sehr sensible und transparente
Umgang mit den Akten entspricht dem Gerechtigkeits-
empfinden der Menschen. Wenn bei der Aufarbeitung in
den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Großes geleistet
wurde, so besteht doch noch immer ein riesiger Hand-
lungsbedarf bei der Erschließung der Akten.
Mit der uns heute vorliegenden Novelle des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes verlängert die christlich-liberale Ko-
alition eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzes bis
zum Jahre 2019. Die Überprüfung von Angestellten und
Beamten des öffentlichen Dienstes und anderer sensibler
öffentlicher Bereiche bleibt damit möglich. Zugleich ha-
ben wir uns ganz bewusst entschlossen, den überprüfba-
ren Personenkreis wieder auszuweiten, nachdem er 2007
eingeschränkt worden ist.
Warum tun wir das? Es geht nicht darum, den zuletzt
geschätzten über 90 000 offiziellen und über 150 000 in-
offiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit ein erfolg-
reiches Berufsleben und ihren Platz in der Gesellschaft
zu verwehren. Wir wollen nur nicht, dass ehemalige Sta-
simitarbeiter in sensible Positionen des öffentlichen
Dienstes und anderer staatsnaher Einrichtungen gelan-
gen können.
(Beifall bei der FDP)
Die Staatssicherheit hat Karrieren verhindert, Exis-
tenzen vernichtet und Lebensläufe negativ beeinflusst.
Was die Stasi ihren Opfern anzutun in der Lage war,
kann man sehr gut im ehemaligen Untersuchungsgefäng-
nis der Staatssicherheit in der jetzigen Gedenkstätte in
Berlin-Hohenschönhausen erleben. Es ist den Opfern
nicht zuzumuten, dass die Täter ungehindert in der öf-
fentlichen Verwaltung des wiedervereinigten Deutsch-
land Karriere machen, während die Opfer bis heute unter
den Folgen der Drangsalierung zu leiden haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wie aktuell das Thema ist, zeigen die jüngsten Stasi-
fälle aus Brandenburg. Meine liebe Kollegin Beatrix
Philipp hat dazu ja schon einiges im Detail erläutert.
Hier ist es über Jahre hinweg versäumt worden, diese
Dinge aufzuarbeiten. Ich denke, es ist manches nachzu-
holen. Man kann Herrn Platzeck nur empfehlen, endlich
tätig zu werden.
Aber auch in den alten Bundesländern herrscht Nach-
holbedarf. Schließlich waren dort 3 000 IM für die Aus-
landsspionageabteilung tätig, und zwar insbesondere in
Bundesministerien und Bundesbehörden. Viele von ih-
nen leben heute unenttarnt.
Für uns bleibt klar: In der Aufarbeitung darf nicht
zwischen Ost und West unterschieden werden. Diese
Novellierung darf als bewusstes Signal der Koalitions-
fraktionen, der CDU/CSU und der FDP, verstanden wer-
den, dass es zur Aufarbeitung des Stasiunrechts keine
Alternative gibt. Auch in diesem Sinne stellen wir uns
voll und ganz hinter Roland Jahn. Mit uns wird es keine
Schlussstrichdebatte geben.
Danke.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Rainer Deutschmann. – Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Wanderwitz.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Margit Funk, Anne Gabel, Hanni und Helmi Geyer,
Elisabeth Garske, Jutta Giersch, Helgard Göttert, Margot
Jann, Magda Müller, Martel Oerthel, Sigrid Seime und
Maria Stein kennen Sie vielleicht nicht – noch nicht.
Diese Frauen sind die Gründungsmitglieder des Frauen-
kreises der ehemaligen Hoheneckerinnen, der sich am
26. April 1991 gegründet hat.
Warum spreche ich das heute an? Ich glaube, die
meisten von uns wissen, was sich abgesehen davon, dass
es ein Ortsteil einer schönen erzgebirgischen Stadt in
meinem Wahlkreis ist, alles hinter Hoheneck verbirgt,
nämlich das berüchtigte Frauenzuchthaus der ehemali-
gen DDR, in dem viele Tausend der über 180 000 poli-
tischen Gefangenen der ehemaligen DDR jahrelang ge-
sessen haben. 34 000 von ihnen sind im Übrigen für rund
3,5 Milliarden DM freigekauft worden: organisierter
Menschenhandel der SED.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig! Genau
so! – Zuruf von der LINKEN: Und der Bun-
desrepublik!)
– Ich denke, den Zuruf „Und der Bundesrepublik!“ von
einer Kollegin, den ich eben gehört habe, können wir
gerne ins Protokoll aufnehmen. Dem brauchen wir nicht
mehr viel hinzuzufügen, um deutlich zu machen, dass
Sie immer noch nichts verstanden haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Wir haben am 13. Mai – das war am Freitag der vor-
vergangenen Woche – einen Festakt zum 20. Jahrestag
der Gründung des Frauenkreises in Hoheneck begangen,
unter anderem im Beisein unseres Bundespräsidenten,
der eine beeindruckende Rede gehalten hat, wie auch
vieler der betroffenen Frauen, die dort anwesend waren,
und auch im Beisein unseres Stasiunterlagenbeauftrag-
ten, Roland Jahn, und des ARD-Vorsitzenden und SWR-
Intendanten Peter Boudgoust. Er war dort, weil am
9. November um 20.15 Uhr der große SWR-Fernsehfilm
Hoheneck war gestern ausgestrahlt wird.
Auf der Homepage des SWR findet sich eine Kurzzu-
sammenfassung:
Carola Weber erschrickt bis ins Mark, als sie den
neuen Kollegen ihres Mannes Jochen zum ersten
Mal hört – diese Stimme kennt sie aus der
12776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Marco Wanderwitz
(A) (C)
(D)(B)
schlimmsten Zeit ihres Lebens. Carola ist über-
zeugt, dass Dr. Limberg Arzt im Dienst der Stasi
war und sie während ihrer Haftzeit im DDR-Frau-
engefängnis Hoheneck misshandelte. Carola kon-
frontiert den Arzt mit ihrer Erinnerung, doch
Limberg streitet ab. Getrieben von dem Bedürfnis,
ein Bekenntnis des Arztes zu hören, versucht
Carola alles, um Limbergs Identität zu beweisen.
Eine Geschichte aus dem wahren Leben der ehemaligen
DDR.
Besonders bedrückend finde ich den Teil, der nach
der friedlichen Revolution spielt und den es leider so
auch nicht nur einmal gegeben hat. Deswegen möchte
ich heute der ARD herzlich für dieses Programm am
9. November danken,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu dem mehr als nur der Spielfilm gehört. Beispiels-
weise wird noch eine Dokumentation über Hoheneck ge-
zeigt, und es sollen Diskussionen stattfinden.
Erinnerung darf nie zu Ende sein. Denn zum einen
sind die Täter unter uns und viele noch immer uner-
kannt. Zum anderen ist es für zukünftige Generationen
wichtig – gerade das ist das Anliegen der Frauen von Ho-
heneck –, nicht zu vergessen und die richtigen Lehren
aus den Problemen der Vergangenheit zu ziehen. Die
Opfer fühlen sich häufig – Kollegin Philipp hat das
schon angesprochen – allein gelassen, unverstanden,
nicht ausreichend rehabilitiert und vor allen Dingen im
Verhältnis zu den Tätern nicht hinreichend gewürdigt.
Das alles ist völlig verständlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der politischen Verantwortung, in der sich viele in
diesem Haus stehen sehen, kommen wir unter anderem
mit der vorliegenden Novelle nach; auch das hat Beatrix
Philipp schon angesprochen. Roland Jahn steht dieser
Tage in der Kritik. Er hat heute der Leipziger Volkszei-
tung ein, wie ich finde, schönes Interview gegeben. Auf
die Frage, warum er aus der Beschäftigung der 47 ehe-
maligen Stasimitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Be-
hörde ein so großes Thema macht, hat er eine beeindru-
ckende und einfache Antwort gegeben: „Ich verstehe die
Sicht der Opfer.“ Ich denke, dem ist nichts mehr hinzu-
zufügen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. – Jetzt
spricht für die Fraktion der Freien Demokraten unser
Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick
Kurth.
(Beifall bei der FDP)
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, dass wir
noch zu so später Stunde über dieses Thema reden. Ich
finde es wichtig und richtig, dass wir darüber eine Aus-
sprache führen. Formal gesehen würden wir in dieser
Legislaturperiode noch einmal über die Staatssicherheit
reden, nämlich dann, wenn die nächsten Lesungen anste-
hen. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch mehrfach
über das Thema reden werden. Es wird genügend Anlass
dafür geben.
Das Thema ist trotz der vielen anderen Themen so
wichtig, weil die Stasi-Unterlagen-Behörde und das
Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Erfolgsgeschichte sind.
Wir wissen um die Entstehung und die Diskussionen,
aber auch um die Befürchtungen und die Kritik, die die
Stasi-Unterlagen-Behörde über die Jahre begleitete.
Aber als Zwischenresümee können wir ziehen, dass es
sich hier um eine Erfolgsgeschichte handelt.
Die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht im Mittel-
punkt, genauso wie die Opferaufklärung, Gewissheit für
diejenigen zu schaffen, die mutig waren, aber auch für
Unschuldige. Wir wollen verstehen, wie dieser Geheim-
dienst funktionierte. Über die Jahre kommt immer mehr
ans Tageslicht. Die Sicherung von Akten und Beweisen
ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Eine solche Aufar-
beitung hätte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg,
nach der Nazidiktatur, geben müssen. Sie hat es nun
nach der SED-Diktatur gegeben. Wenn es nach Ihnen ge-
gangen wäre, meine Damen und Herren von der Linken,
hätten wir eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt,
sondern das, was wir in den 50er-Jahren gemacht haben,
wiederholt. Ich finde es richtig, dass wir, das Parlament,
der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem Stasi-Unterla-
gen-Gesetz Rückhalt geben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat mithilfe des Stasi-
Unterlagen-Gesetzes rechtsstaatlich sehr sauber und für
die Opfer nachvollziehbar gut gearbeitet. Die Zahlen der
Opfer, die sich jetzt melden, mehren sich; denn die Be-
treffenden haben das Erlebte endlich verarbeitet. Zahl-
reiche Akten sind noch nicht aufbereitet und nicht wie-
derhergestellt. Die Aufdeckung zahlreicher Stasifälle,
die wir immer wieder erleben, geht nicht zuletzt auf das
Wirken der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück.
Die furchtbare Geschichtsvergessenheit der Linken
spricht für sich. Wenn aber Herr Wiefelspütz von der
SPD, der sein gesamtes Leben und seine politische Kar-
riere auf einem freiheitlichen System aufgebaut hat, den
Stasi-Unterlagen-Chef Jahn, der für genau diese Freiheit
gekämpft hat und dafür von der Uni geworfen, von sei-
ner Familie getrennt, inhaftiert und unter Zwang ausge-
wiesen wurde, einen Menschenjäger und einen Eiferer
mit Schaum vor dem Mund nennt,
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Unglaublich!)
dann muss ich sagen, dass eine Grenze erreicht ist, die
nicht zu tolerieren ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
Gleicke [SPD]: Dennoch sollten wir zur
Kenntnis nehmen, dass er sich entschuldigt
hat!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12777
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) (C)
(D)(B)
Auf die Geschichte der Stasi und auf das DDR-Un-
recht kann niemand stolz sein. Auf die Aufarbeitung und
die Bearbeitung der Stasiaktivitäten können wir Deut-
schen alle sehr stolz sein. Mit dem vorliegenden Entwurf
eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterla-
gen-Gesetzes wurde die Voraussetzung dafür geschaffen,
dass die Erfolgsgeschichte der Unrechtsaufarbeitung
fortgeführt werden kann.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk-
samkeit und für Ihre zahlreiche Teilnahme. Danke
schön.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5894 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und
weiterer Abgeordneter
Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen
in der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach-
haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem
Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“
– Drucksache 17/5885 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Alle Reden sind, so sagt mir die Verwaltung, zu Pro-
tokoll gegeben worden. Widerspruch dagegen erhebt
sich nicht. Sie sind also damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5885 an den Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die Revision der OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
1) Anlage 5
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
den OECD-Leitsätzen für multinationale
Unternehmen
– Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ullrich Meßmer
Serkan Tören
Annette Groth
Volker Beck (Köln)
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen liegen uns
vor.
Jürgen Klimke (CDU/CSU):
Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Ver-
braucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem
etwas nicht passt, zum Beispiel, wenn einem nicht ge-
fällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden
große, meist global agierende Konzerne ihre Waren pro-
duzieren und verkaufen.
Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die
als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in
Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt
geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meis-
tens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken
mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Da-
ran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber
auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbraucher-
macht einsetzen und Macht auf große Konzerne und
manchmal sogar ganze Länder ausüben – wenn sie sich
zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu
protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste
und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement
politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu
geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden
überdacht und geändert haben.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, in der sich die
westliche Verbrauchermacht durchgesetzt hat. Beispiel
Südafrika: in den 80er-Jahren demonstrierten viele em-
pörte Menschen überall auf der Welt gegen das grau-
same Apartheidregime in Südafrika, das Schwarze wie
Menschen zweiter Klasse behandelt und oft grausam un-
terdrückt hat. In Deutschland riefen vor allem evangeli-
sche Frauenverbände dazu auf, südafrikanische Waren
konsequent zu meiden. Mit Erfolg: Viele Verbraucher
beteiligten sich an diesem sogenannten Früchteboykott.
Viele Waren aus Südafrika blieben bei den Händlern lie-
gen. Bis in die 90er-Jahre flammten die Proteste immer
wieder auf. Weltweite Demonstrationen und massive
Wirtschaftssanktionen brachten Südafrika schließlich an
den Rand des Staatsbankrotts.
Beispiel FCKW: Ende der 80er-Jahre machten Wis-
senschaftler als Ursache für das 1985 entdeckte Ozon-
loch sogenannte Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz:
FCKW, aus. Dieses Treibgas wurde vorwiegend in Kühl-
Jürgen Klimke
(A) (C)
(D)(B)
schränken und Spraydosen verwendet. Und wieder zeig-
ten Verbraucher und Aktivisten ihren Einfluss. Sie mie-
den FCKW-haltige Produkte konsequent. Greenpeace-
Aktivisten in Deutschland besetzten ein Werk von
Hoechst, einem der größten FCKW-Produzenten welt-
weit. Die Verbraucherproteste hatten Erfolg: Kühl-
schränke durften kein FCKW mehr enthalten, und auch
Spraydosen ließen sich bald nur noch „ohne Treibgas“
verkaufen. 1989 wurde die Produktion von FCKW EU-
weit verboten.
Jetzt ist es wieder an der Zeit, dass die deutschen Ver-
braucher sich gegen multinationale Konzerne wehren,
denn fast monatlich hören wir in den Medien, dass Tex-
tilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum
der deutschen Textilproduktion, auf die Straße gehen
und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.
Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Lan-
des, in denen auch zahlreiche westliche Firmen, wie zum
Beispiel H & M und Levi Strauss, produzieren lassen,
protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine
Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen
Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Ver-
sammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar ge-
sagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir
sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzepta-
bel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtli-
chen Grundsätze unserer westlichen Industriegesell-
schaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwor-
tung deutscher und internationaler Unternehmen muss
sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in
unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verant-
wortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deut-
schen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unterneh-
mensverantwortung positiv auch für die Arbeits-
bedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen
muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen
wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für
gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunter-
nehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die
neue Form des „Social Business“ einen Mehrwert für
jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg be-
reits kräftig eingeschlagen. Ich möchte an dieser Stelle
unter anderem die Otto AG, Puma, hessennatur oder
Adidas nennen. Diese Unternehmen haben bei dem
CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest
positiv abgeschnitten.
Gerade die Otto AG, ein Unternehmen aus meinem
Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere
Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das
Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von
„Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger
Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangla-
desch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich
akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt.
Diesen Schritt unternimmt die Otto AG gerade unter
dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“-
Vorhaben in Afrika, Vorhaben, bei denen für Baumwoll-
farmer Know-how-Transfer geleistet wurde, damit sie
zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei de-
nen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe
Zu Protokoll
gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen-
rechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit die-
sem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher
Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervor-
zuheben.
Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder im Ge-
genteil des öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-
Stellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK gesche-
hen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema
umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei
diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben
dürfen, und würde mir wünschen, dass gerade auch die
Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen,
sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu orga-
nisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verant-
wortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deut-
schen Mittelstand immer wieder grundsätzlich mora-
lisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegen-
teil. Dies sollte sich die Opposition endlich mal hinter
die Ohren schreiben.
Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse-
ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna-
tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch
eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu-
sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar-
beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht,
mit dem Aktionsplan CSR einen neuen Benchmark für
die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen.
Ziel der Initiative ist, verstärkt kleine und mittelstän-
dische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig
soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerken-
nung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregie-
rung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unter-
nehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will.
Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter
anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor-
getragen, und damit ist klar, welchen Weg die Bundesre-
publik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bun-
desregierung und die internationale Gemeinschaft die
Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale
Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in
meiner Fraktion, auch in dem gesamten Haus, sehr un-
terschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der
Leitlinien, bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Ver-
besserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die
Bundesregierung die Überarbeitung der Leitsätze mit
der OECD weiter aufgeschlossen vorantreibt. Es ist zu
beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige
Instrument sind, das die Förderung globaler Unterneh-
mensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich
diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein
Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leit-
linien sein – gerade auch was die Vorbildfunktion ge-
genüber anderen Partnern betrifft.
Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/
CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis-
kussionsprozess angesprochen werden müssen:
Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formu-
lierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in ei-
12778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Jürgen Klimke
(A) (C)
(D)(B)
nem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu disku-
tieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares
Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie
möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Un-
ternehmens ausgeweitet werden können.
Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche
Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aus-
sehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich
halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen, die nicht nach-
haltig wirtschaften, von staatlichen Förderinstrumenten
eine Zeit lang ausgeschlossen werden.
Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die
Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich
von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die
Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit
dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein
und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die
Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will.
Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes
für Geschädigte gegenüber den internationalen Unter-
nehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang
kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungs-
politik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Aus-
land ins Spiel.
Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsbera-
tung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwick-
lungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungs-
verhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals
deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine
Handhabe haben, Sozialstandards in den produzieren-
den Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssys-
teme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es
auch nicht gerecht, wenn deutsche und internationale
Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationa-
len Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch
in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen,
ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort
ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO,
die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht neh-
men, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger
und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden
die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnor-
men in den Partnerländern nicht ernst genommen, da
die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffas-
sung, dass wir auch hier einen neuen internationalen
Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen
finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir
alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverant-
wortung erkennen müssen. Wir müssen internationale
Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen füh-
ren, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR
erhält.
Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lau-
ten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstan-
dards zwischen importierenden deutschen und interna-
tionalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung
Zu Protokoll
nimmt sich dieser Maxime an. Es ist der moralische An-
spruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu fol-
gen.
Ullrich Meßmer (SPD):
2011 ist ein wichtiges Jahr, was die Verantwortung
globaler Unternehmen für soziale, ökologische und vor
allem menschenrechtliche Fragen anbelangt. Die
OECD-Leitsätze, die Erklärung der ILO über multina-
tionale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der UN
Global Compact stecken hierfür den Rahmen ab.
Die OECD-Leitsätze gelten in diesem Kontext als
das am weitesten reichende Instrument zur Stärkung
der Unternehmensverantwortung. Die OECD-Leitsätze
beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Arbeits- und
Sozialstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuer-
ehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz.
Für die Mitgliedstaaten der OECD sowie für elf weitere
Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben,
sind diese Vorgaben verbindlich.
Sie müssen über sogenannte Nationale Kontaktstellen
die Leitsätze implementieren, deren Einhaltung überwa-
chen sowie Beschwerden über mögliche Verstöße gegen
die Leitsätze entgegennehmen. Das bedeutet, dass die
Leitsätze für die weltweite Tätigkeit aller multinationa-
len Unternehmen gelten, die in diesen Staaten beheima-
tet sind. Für Unternehmen allerdings sind sie freiwillig,
das heißt, die Leitsätze sind rechtlich nicht bindend. Sie
beziehen sich außerdem nur auf Unternehmen aus den
Unterzeichnerstaaten und erfassen damit eine ganze
Reihe von international agierenden Unternehmen nicht.
Die Leitsätze verfügen außerdem über keinerlei Sank-
tionsmechanismen bei Verstößen gegen die selbst aufer-
legten Standards seitens der Unternehmen – sieht man
von einer möglichen Rufschädigung für das Unterneh-
men einmal ab.
Und bei einem strittigen Verlauf eines Beschwerde-
verfahrens gibt es keinerlei Revisionsmechanismen für
die Opfer. Dies wirkt sich besonders gravierend bei
Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aus.
Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ha-
ben darüber hinaus die häufig mangelhafte Umsetzung
der Leitsätze kritisiert. Daher eröffnet die Überarbei-
tung der OECD-Leitsätze die große Chance, sie zu ei-
nem schlagkräftigen Instrument der globalen Unterneh-
mensverantwortung – besonders hinsichtlich der
menschenrechtlichen Verantwortung – zu machen. Wir
begrüßen es als SPD daher außerordentlich, dass die
überarbeiteten Leitsätze ein eigenes Kapitel über Men-
schenrechte haben werden. Wir wünschen uns, dass die
Einhaltung der Menschenrechte in diesem Zusammen-
hang für Unternehmen gleichsam zur Pflicht erhoben
wird.
Die Nationalen Kontaktstellen, NKS, die Anlauf-
punkte für Beschwerden gegen Unternehmen, sollen un-
seren Vorstellungen nach zu unabhängigen Gremien um-
gestaltet und auf Mindeststandards verpflichtet werden.
Auf diesem Weg sollen gravierende Qualitätsunter-
schiede zwischen den NKS verschiedener Nationen ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12779
gegebene Reden
Ullrich Meßmer
(A) (C)
(D)(B)
mieden und Beschwerden vor einem neutralen Gremium
im Sinne der Opfer behandelt werden.
In diesem Zusammenhang spielt auch der sogenannte
Investment Nexus eine entscheidende Rolle: Beschwer-
den vor den NKS können mit dem Hinweis auf einen feh-
lenden direkten Investitionsbezug häufig abgewiesen
werden. Auf diese Weise werden die Zulieferbetriebe oft
von den Leitsätzen nicht erreicht. Wir wünschen den
Wegfall des Investment Nexus, damit die Schutzwirkung
der Leitsätze für mögliche Opfer von Menschenrechts-
verletzungen insgesamt erhöht wird. Gleichzeitig sind
wir uns aber bewusst, dass eine solche Forderung nur
praktikabel ist, wenn das jeweilige Unternehmen kon-
krete Einwirkungsmöglichkeiten auf seine Zulieferbezie-
hungen hat. Wir fordern weiter, dass Verstöße gegen die
Leitsätze für Unternehmen zukünftig Konsequenzen ha-
ben sollen. Denkbar wäre ein zeitweiliger Ausschluss
von Exportgarantien oder die grundsätzliche Koppelung
der Leitsätze (und ihrer Einhaltung) an die Vergabe
staatlicher Kredite, Bürgschaften und anderer staatli-
cher Unterstützungsmaßnahmen für Auslandsinvestitio-
nen.
Verbessert werden sollten darüber hinaus die Offen-
legungspflichten für multinationale Unternehmen. Hier
sollten die Leitsätze zukünftig eine länderbezogene
Rechnungslegungspflicht fordern, damit problematische
Transaktionen – zum Beispiel über Steueroasen – sicht-
bar werden.
Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf,
sich dafür einzusetzen, dass Staaten, die nicht Mitglied
der OECD sind, sich den Leitsätzen für multinationale
Unternehmen anschließen, das Menschenrechtskapitel
auch den Stand der internationalen Diskussion wider-
spiegelt, die Lieferkette so weit wie möglich in den Gel-
tungsbereich der Leitsätze integriert wird, die Kern-
arbeitsnormen der ILO eingehalten werden, die Arbeit
der NKS unabhängig und auf einheitliche Mindeststan-
dards verpflichtet wird, eine juristische Berufungsin-
stanz und ein Sanktionsmechanismus für die Leitsätze
geschaffen werden, länderbezogene Rechnungspflichten
in den Leitsätzen verankert und die Akzeptanz und die
Bekanntheit der Leitsätze erhöht werden. Dann können
die Leitsätze tatsächlich ihre Schutzfunktion für die
Menschenrechte in global tätigen Unternehmen voll ent-
falten.
Serkan Tören (FDP):
In der heutigen abschließenden Beratung der Be-
schlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten An-
trag der Fraktion der SPD und den Antrag der Fraktion
Die Linke. Aus Sicht der FDP sind die Anträge weder
substanziiert noch bieten sie inhaltlich etwas Neues.
Worum geht es genau? Es wurden die OECD-Leit-
sätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines
Revisionsverfahrens überprüft. Bei diesen Leitlinien
handelt es sich um den weltweit einzigen multilateralen
und umfassend anerkannten Kodex zur Förderung glo-
baler Unternehmensverantwortung. Der Abschluss des
Verfahrens ist für Mitte 2011 geplant.
Zu Protokoll
Die SPD nimmt dies zum Anlass für einen Antrag, der
folgende Kernforderungen enthält: Die Leitsätze sollen
im Rahmen der Revision verschärft werden, indem Sank-
tionsmöglichkeiten für den Fall ihrer Verletzung vorge-
sehen sind. Für die Nationalen Kontaktstellen, welche in
Deutschland beim BMWi angesiedelt sind, sollen ein-
heitliche Mindeststandards gelten. Der bisherige Gel-
tungsbereich der OECD-Leitsätze soll über den Investi-
tionsbezug hinaus ausgeweitet werden. Ferner soll bei
Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze geworben
werden.
Diesen Forderungen der SPD ist aus Sicht der FDP
wie folgt zu entgegnen: Die christlich-liberale Koalition
strebt an, die OECD-Leitsätze in erster Linie zu verbrei-
ten, statt zu vertiefen. Bislang haben sich alle 31 OECD-
Staaten und 12 weitere Industrienationen zu den OECD-
Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung in Staaten, die
einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche
etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger
Schritt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang
China und Indien. Eine Vertiefung bzw. Verschärfung
der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken und
darüber hinaus Unternehmen aus Staaten, die den
OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnach-
teile verschaffen. Sanktionsmöglichkeiten stellen eine
deutliche Verschärfung der OECD-Leitsätze dar, die für
das Ziel kontraproduktiv sind, ihre Akzeptanz zu erhö-
hen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermu-
tigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze sind
die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung
der Nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler
Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung
der SPD hinfällig. Die christlich-liberale Koalition
strebt in den derzeitigen Revisionsverhandlungen an,
den Investmentnexus beizubehalten. Das heißt, Be-
schwerden können nur dann zugelassen werden, wenn
ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Dies ist
vor dem Hintergrund des Ziels, eine Verbreitung der
OECD-Leitsätze anzustreben, auch nur logisch und da-
her sachgerecht. Die Forderung der SPD nach dem Wer-
ben bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze
widerspricht den zentralen Forderungen des SPD-An-
trags nach einer Verschärfung der OECD-Leitsätze und
ist daher nicht schlüssig. Der Antrag der SPD wird da-
her von der FDP abgelehnt.
Vollkommen abstrus sind zum Teil die Forderungen
der Linken in ihrem Antrag. So fordert die Linke unter
anderem, dass in der EU ansässige Unternehmen
„wahrheitsgemäße Informationen über die Auswirkun-
gen ihrer aktuellen und geplanten Geschäftstätigkeit auf
Menschen und Umwelt veröffentlichen sollen“; Forde-
rung 7. Aus Sicht der FDP ist dies vehement zurückzu-
weisen. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von In-
formationen ist vielleicht in einer Planwirtschaft
realisierbar. Unter den Bedingungen eines globalen
Wettbewerbs ist dies jedoch völlig weltfremd, insbeson-
dere wenn über geplante Geschäftsaktivitäten Auskünfte
offengelegt werden müssen. Im Lichte dieser Ausführun-
gen ist der Antrag der Linken abzulehnen.
12780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
(A) (C)
(D)(B)
Annette Groth (DIE LINKE):
Mit der Debatte über die OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen greift der Deutsche Bundestag
endlich die Forderungen vieler entwicklungspolitischer
Organisationen nach Überarbeitung der seit 1976 gel-
tenden Leitsätze auf. Schon 1976 haben die entwick-
lungspolitischen Organisationen darauf hingewiesen,
dass durch die fehlende Verbindlichkeit der Leitsätze die
Gefahr besteht, dass es zu keiner substanziellen Verän-
derung der Arbeit der multinationalen Unternehmen
kommen wird. Diese Befürchtungen der entwicklungs-
politischen NGOs haben sich leider bestätigt. Die Frak-
tion Die Linke unterstützt die Aussage des UN-Sonder-
beauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte, John
Ruggie, der in seinem Abschlussbericht von einer „Re-
gelungslücke“ bezüglich internationaler Unternehmen
spricht. Organisationen wie Germanwatch weisen zu
Recht darauf hin, dass „die Umsetzung der OECD-Leit-
sätze in Deutschland, insbesondere bei der Bearbeitung
von Beschwerdefällen, enorm verbesserungsbedürftig
ist“.
So haben in Deutschland Nichtregierungsorganisa-
tionen und Gewerkschaften seit der Revision der Leitli-
nien im Jahr 2000 bislang elf Beschwerden eingereicht.
Von diesen Beschwerden waren Firmen wie Adidas,
Bayer, Continental, Ratiopharm sowie Siemens und
Daimler-Chrysler betroffen. Von der deutschen Kontakt-
stelle, NKS, wurden von diesen elf vorgetragenen Fällen
lediglich drei Beschwerden angenommen. Diese restrik-
tive Arbeit der deutschen Kontaktstelle zeigt eine nicht
akzeptable und äußerst restriktive Interpretation der
OECD-Leitsätze durch die deutsche Nationale Kontakt-
stelle. Für die Fraktion Die Linke ist deutlich, dass die
OECD-Leitsätze nur dann zu einem wirksamen Instru-
ment gegen unternehmerisches Fehlverhalten weiterent-
wickelt werden können, wenn sie verbindlich festge-
schrieben werden und klare Anforderungen an nationale
Kontaktstellen enthalten. Zurzeit müssen wir feststellen,
dass selbst bei schwerem unternehmerischem Fehlver-
halten durch transnationale Konzerne eine konkrete Ver-
urteilung dieses Verhaltens durch die Nationalen Kon-
taktstellen häufig nicht stattfindet.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass
unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeits-
und Sozialstandards verbunden werden muss. Wir wol-
len erreichen, dass durch solche verbindlichen Anforde-
rungen an Umweltschutz- und Verbraucherschutzkrite-
rien alle Betroffenen gegen unternehmerisches Handeln
vorgehen können, wenn die vorgeschriebenen Standards
nicht eingehalten werden. Auch wollen wir erreichen,
dass menschenrechtliche Forderungen als einklagbarer
Bestandteil unternehmerischen Handelns beachtet wer-
den müssen und alle Unternehmen, die gegen menschen-
rechtliche Standards verstoßen, mit konkreten Sanktio-
nen rechnen müssen. Hierfür wollen wir die OECD-
Leitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Einhaltung
von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen
weiterentwickeln.
Nur unser Antrag fordert, dass hierfür eine funda-
mentale Veränderung der bisherigen Rechte von Betrof-
fenen notwendig ist. Eine grundlegende Voraussetzung
Zu Protokoll
dafür ist eine deutlich bessere personelle Ausstattung
der Nationalen Kontaktstellen. Bisher stehen riesige Ab-
teilungen und Anwaltskanzleien von Großkonzernen ein-
zelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kon-
taktstellen gegenüber. Wir wollen die Chancengleichheit
zwischen Kontaktstellen und transnationalen Konzernen
verbessern.
Bislang ist die deutsche NKS im Bundeswirtschafts-
ministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen
angesiedelt. Dies halten wir für eine unabhängige Über-
prüfung von transnationalen Unternehmen für nicht an-
gebracht. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig
organisiert werden. Wir wollen erreichen, dass die Na-
tionalen Kontaktstellen paritätisch zwischen Vertrete-
rinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften,
Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen be-
setzt werden. Nur wenn es gelingt, unabhängige Vertre-
terinnen und Vertreter von Gewerkschaften und NGOs
als gleichberechtigte Mitglieder in die nationalen Kon-
taktstellen zu integrieren, ist eine bessere, von Regie-
rungsinteressen unabhängigere Kontrolle der trans-
nationalen Unternehmen durchsetzbar.
Notwendig ist auch die Durchsetzung der Forderung,
dass multinationale Unternehmen für die Verstöße ihrer
Subunternehmen und Zulieferer haften müssen. Alle
selbständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe
müssen in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und
die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüber-
schreitende Investitionstätigkeiten, auf alle Investitio-
nen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unter-
nehmen erweitert werden.
Die Leitsätze werden erst dann eine größere Wirk-
samkeit erzielen, wenn Betroffene die Möglichkeit erhal-
ten, bei Zuwiderhandlungen von Unternehmen ihre For-
derungen individuell vor den jeweiligen nationalen
Gerichten einzuklagen. Dies setzt voraus, dass alle Bür-
gerinnen und Bürgern einen ungehinderten und kosten-
freien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhal-
ten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger
sind. Die Linke möchte die Chance nutzen, mit der Revi-
sion der OECD-Leitsätze einen wirklich qualitativen
Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen-
über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Bis-
her sieht es jedoch so aus, dass sich die Bundesregie-
rung einem solchen qualitativen Schritt verweigert.
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Fürth habe ich
seit geraumer Zeit viel mit einem deutschen Vorzeige-
unternehmen zu tun. Adidas – ein Global Player im
Sportartikelbereich, der laut Selbstaussage auch in den
Bereichen Umwelt und Soziales richtungsweisend sein
möchte, „um das Leben der Menschen zu verbessern“.
„Adidas is all in“ – so der Slogan des Unternehmens.
Auch die Arbeitsstandards und die Bezahlung? Man
muss ja nicht gleich davon ausgehen, dass man es bei ei-
ner internationalen Aktiengesellschaft mit einer karitati-
ven Einrichtung zu tun hat. Erschreckend ist jedoch, wie
weit im Falle Adidas die Selbsteinschätzung von der
Wirklichkeit entfernt liegt. Gerade einmal 72 Cent Stun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12781
gegebene Reden
12782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Uwe Kekeritz
(A) (C)
(D)(B)
denlohn verdienen die Näherinnen und Näher in der Fa-
brik „Ocean Sky“, einer Adidas-Zulieferfabrik in El Sal-
vador. Selbst mit Prämien kommen die Arbeiterinnen
und Arbeiter nicht über 175 Euro im Monat. Und das bei
einem Unternehmen, das seinen Umsatz im ersten Quar-
tal 2011 um über 22 Prozent auf 3,27 Milliarden Euro
steigern konnte. Hier geht es nicht mehr um Betriebs-
wirtschaft! Das ist menschenunwürdig!
Aber das Problem geht weit darüber hinaus, dass ein
Unternehmen den eigenen Standards nicht gerecht wird.
Das Problem ist ein strukturelles. Seit 1976 gelten in
Deutschland und in allen anderen 30 OECD-Mitglied-
staaten die sogenannten Leitsätze für multinationale Un-
ternehmen. Allerdings zeigen diese bislang kaum Wir-
kung. Sie sind in keiner Form bindend, sondern basieren
auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der jeweiligen
Konzerne. Es gibt weder die Möglichkeit, die Einhaltung
der Regeln durchzusetzen, noch die, Fehlverhalten mit
Sanktionen zu bestrafen. Ganz offensichtlich reicht es
nicht, sich auf den guten Willen und das moralische Ver-
antwortungsbewusstsein der Unternehmer zu verlassen
oder lediglich mit der Veröffentlichung von Fehlverhal-
ten zu drohen.
Wir freuen uns, dass die OECD-Leitsätze seit der ge-
rade abgeschlossenen Überarbeitung ein eigenes Men-
schenrechtskapitel erhalten haben. Das ist aber kein
Grund zum Ausruhen. Jetzt beginnt die Arbeit erst!
In der Vergangenheit wurde deutlich, dass, selbst
wenn Menschenrechtsverstöße ans Licht kamen, keiner-
lei Maßnahmen ergriffen wurden. Eigentlich war die so-
genannte Nationale Kontaktstelle, NKS, eingerichtet
worden, bei der Missachtungen der Leitsätze gemeldet
werden können. Allerdings stellte sich die NKS als äu-
ßerst nachsichtiges, um nicht zu sagen, den Leitsätzen
gegenüber gleichgültiges Organ heraus, das über Jahre
hinweg einen Großteil der Beschwerden lapidar zurück-
wies. Das jüngste Beispiel stammt vom Ende des letzten
Jahres, als verschiedene NGOs Beschwerde gegen das
Unternehmen Otto Stadtlander GmbH einreichten, da
dieses Baumwolle aus Usbekistan bezog, die von Kin-
dern geerntet wurde. Die Reaktion der NKS war nichts-
sagend. Ich möchte an die Adresse die Bundesregierung
sagen: Wir beobachten diese Vorgänge, und Sie können
sicher sein, wir lassen hier nichts einfach unter den
Tisch fallen!
Die Kontaktstelle muss grundlegend reformiert wer-
den. Sie ist alles andere als unabhängig. Während an-
dere Länder, wie beispielsweise die Niederlande, ihre
Kontaktstelle mit Experten aus unterschiedlichen Fach-
bereichen besetzen, ist das deutsche Pendant im Wirt-
schaftsministerium angesiedelt, und dort zu allem Über-
fluss auch noch im selben Referat, das für die
Außenwirtschaftsförderung zuständig ist. Das ist eine
unsägliche Konstruktion und programmiert Interessen-
konflikte vor, die bisher zum Nachteil der Beschwerde-
führer gelöst wurden. Diese Konstruktion zeigt auch,
dass ein ernsthafter Wille, bei Beschwerden zu einer fai-
ren Lösung zu kommen, nicht vorhanden ist.
Eine weitere Schwachstelle der Leitlinien besteht da-
rin, dass sich Unternehmen regelmäßig hinter dem Ar-
gument verstecken, dass es unmöglich sei, die gesamte
Produktionskette zu überwachen. Gerade multinationale
Konzerne verweisen auf die schier endlosen Netzwerke
aus Tochter- und Zulieferfirmen, sodass die Leitlinien
sich bis dato nur auf einen recht eng gefassten Investi-
tionsbezug, Investment Nexus, anwenden lassen. Dies ist
praktisch ein Freifahrschein für all jene, die jenseits al-
ler ethischen Bedenken menschenunwürdige Beschäfti-
gungsverhältnisse in aller Welt schaffen.
Ein Aspekt ist mir zum Abschluss noch besonders
wichtig. Wir, die Politik und die öffentliche Verwaltung,
stehen auch ganz direkt in der Pflicht. Der Bund, die
Länder und Kommunen kaufen jedes Jahr Waren für
viele Milliarden Euro ein. Allein die deutschen Kommu-
nen kommen jedes Jahr auf Beträge zwischen 250 und
300 Milliarden Euro. Hier müssen wir sofort agieren.
Bei Unternehmen, die die OECD-Leitsätze nicht beach-
ten, darf die öffentliche Hand nicht einkaufen! Faire Be-
zahlung und menschenwürdige Arbeitsplätze sind Men-
schenrechte.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/5756. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion der Sozialdemo-
kraten auf Drucksache 17/4668 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialde-
mokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfrak-
tion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung
ist somit angenommen.1)
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4669. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck
(Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli-
che stärken
– Drucksachen 17/4546, 17/4954 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Christel Humme
Florian Bernschneider
Jörn Wunderlich
Kai Gehring
1) Anlage 2
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen mir vor.
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Es ist nun das zweite Mal, dass wir uns in diesem
Hause mit der Lebenssituation schwuler, lesbischer und
transsexueller Jugendlicher beschäftigen. Ich darf mich
zunächst einmal für die sachliche Atmosphäre bedan-
ken, in der wir in der zurückliegenden Ausschusssitzung
über das Thema diskutieren konnten. Ich denke, dieser
Stil ist dem Thema angemessen. Einig waren wir uns,
dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche
Klima homosexuellen und transsexuellen Menschen ge-
genüber positiv gewandelt hat. Viele Prominente aus
den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen be-
kennen sich heute offen zu ihrer Homosexualität. Die
Sorgen und Nöte von Schwulen und Lesben finden Be-
achtung und sind Gegenstand des öffentlichen Diskurses
und alltäglicher Betrachtungen. Mit großer Überein-
stimmung haben die Sprecherinnen und Sprecher aller
Fraktionen den Wandel nachgezeichnet, den die Bundes-
republik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, wo-
durch sie Diskriminierungen schrittweise abbauen
konnte.
Auch die christlich-liberale Regierung ist seit dem
Regierungsantritt diesen Weg konsequent weitergegan-
gen und hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um
die Gleichstellung von schwulen, lesbischen und trans-
sexuellen Menschen zu verbessern. Ich möchte dies im
Einzelnen nicht noch einmal wiederholen; die Bilanz un-
serer Regierung lässt sich dem Plenarprotokoll zur vo-
rausgegangenen Debatte entnehmen.
Es erscheint mir vielmehr geboten, zwei aus meiner
Sicht zentrale Aspekte an dieser Stelle noch einmal auf-
zugreifen. Wer trotz aller getroffenen Maßnahmen und
des beschriebenen Wandels Diskriminierung erfährt,
der wird durchaus zu Recht sagen, dass ihm die bisheri-
gen Schritte nicht reichen. Ob Sticheleien, böse Worte
und verächtliche Kommentare gegenüber homosexuel-
len Menschen je ganz aus unserer Gesellschaft ver-
schwinden werden, bleibt abzuwarten, ja ist vielleicht
sogar fraglich. Entscheidend ist etwas anderes: Ent-
scheidend ist, dass die Gesellschaft dies nicht mehr ak-
zeptiert. Was diese grundsätzliche Akzeptanz und Aner-
kennung betrifft, sind wir – so meine ich – einen großen
Schritt vorangekommen in den letzten Jahren. Ich per-
sönlich bin auch der Meinung, dass sich Toleranz und
Respekt nicht verordnen lassen. Sie muss bewusst gelebt
werden – von jedem Einzelnen. Dabei helfen selten Ge-
setze, sondern eher Vorbilder.
Nicht selten wird Politikern in der Jugendpolitik vor-
geworfen, sie machen es sich gerne allzu leicht, indem
sie die Verantwortung für die gesellschaftliche Imple-
mentierung von Verhaltensweisen auf die Schulen ab-
wälzen. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Richtig
ist aber auch: Ohne die tatkräftige Unterstützung, ohne
die Courage jedes einzelnen Lehrers und jeder einzelnen
Lehrerin sind alle Bemühungen der Politik wertlos. Viel-
mehr sollte man all jene, die sich allzu leicht der be-
Zu Protokoll
kannten homophoben Ausdrücke bedienen, einmal fra-
gen, ob sie sich denn bewusst sind, was sie eigentlich
von sich geben. Es ist nämlich mehr als zweifelhaft, dass
dies der Fall ist. Es bringt meiner Meinung nach mehr,
im täglichen Umgang – jeder an seiner Stelle – deutliche
Grenzen aufzuzeigen, wenn Homophobie zutage tritt,
anstatt auf abstrakter Ebene in Aktionismus zu verfallen.
Und vor allen Dingen muss in der Schule über die The-
men Homosexualität und Transsexualität gesprochen
werden. Auch würde es uns weiterbringen, wenn bei den
Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes Bewusst-
sein geweckt werden könnte, um noch immer bestehende
Argumentationsmuster, die darauf basieren, dass der ho-
mosexuelle Lebensstil ein Affront gegen die Gesellschaft
ist, zu erkennen und in der Diskussion offen zu entlar-
ven. Machen wir uns dabei nichts vor: Eine Gesell-
schaft, in der die Diskriminierung von Homosexuellen
und Transsexuellen vollständig der Vergangenheit ange-
hört, ist ein Generationenwerk. Dass es sich lohnt, wei-
terzumachen, zeigt die Entwicklung in den zurückliegen-
den Jahren.
Ich bin der Bundesregierung in diesem Zusammen-
hang sehr dankbar dafür, dass dieser Bereich nach wie
vor umfassend gefördert wird und trotz aller notwendi-
gen Sparbemühungen keine Kürzungen bei der Förde-
rung stattgefunden haben. Die Hoffnung auf eine weit-
gehend tolerante und von gegenseitigem Respekt
geprägte Gesellschaft werden wir nur dann umsetzen
können, wenn wir jungen Menschen schon frühzeitig da-
bei helfen, tradierte Argumentationsmuster zu entlarven
und ein Problembewusstsein für Diskriminierungen zu
schaffen.
Einer der größten Problemkreise ist aus meiner Sicht
nach wie vor der Bereich der muslimischen Jugend-
lichen. Homophobe Einstellung gehören hier vielfach
zur Normalität. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
deutet dies ja ganz vorsichtig an. Diese Vorsicht finde
ich nicht angebracht. Den Betroffenen hilft es eher, die
mitunter nach wie vor krassen Einstellungen auch deut-
lich zu benennen und anzuprangern. Gibt es bei vielen
Menschen mittlerweile wenigstens das Bewusstsein,
Vorurteile für sich zu behalten, weil die Gesellschaft sie
nicht mehr toleriert, ist es bei dieser Gruppe nicht selten
noch ein Zeichen von „Stärke“, „hart und brutal“ gegen
Homosexuelle aufzutreten und vorzugehen. Dies darf
unsere Gesellschaft auf keinen Fall hinnehmen; das sind
wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
Das, was in anderen Ländern der Welt nach wie vor
noch immer möglich ist, darf in Deutschland nicht pas-
sieren. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Poli-
tik.
Die christlich-liberale Regierung ist sich dieser Ver-
antwortung sehr bewusst. Daran gibt es keinen Zweifel.
Ich habe bereits im Rahmen der zurückliegenden De-
batte ausführlich Stellung dazu genommen, weshalb wir
dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
nicht zustimmen werden. Ich möchte mich bei der Be-
gründung nicht wiederholen, zumal sich an dem Antrags-
text seit der letzten Befassung nichts geändert hat. Auch
bleibt unsere grundsätzliche Kritik an der Aussage der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12783
gegebene Reden
Dr. Peter Tauber
(A) (C)
(D)(B)
Grünen in dem Antrag, dass die Bundesregierung mit
Ignoranz und Desinteresse homosexuellen Jugendlichen
gegenüberstehe. Den Nachweis für diese vermessene
Aussage sind Sie bislang schuldig geblieben. Es wird Ih-
nen auch nicht gelingen, denn sie hat mit der Realität
einfach nichts zu tun. Auch wäre es dringend nötig ge-
wesen, in Ihrem Antrag bei der Frage der Kulturhoheit
der Länder nachzubessern. Viele der in dem Antrag ge-
machten Forderungen fallen schlichtweg nicht in die Zu-
ständigkeit des Bundes. Hier wäre etwas mehr Sorgfalt
nötig gewesen.
Auch wenn wir uns auf dem Weg zu einer diskriminie-
rungsfreien Gesellschaft nicht in der Frage des „Wie“ in
allen Details einig sein mögen, denke ich jedoch, dass es
großer Konsens der demokratischen Fraktionen dieses
Hauses ist, so schnell wie möglich dahin zu kommen, im
zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang
unterschiedliche Lebensentwürfe anerkannter zu ma-
chen. Dies ist eine erfreuliche Übereinstimmung, zu der
es in einer freien und demokratischen Gesellschaft keine
Alternative gibt.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Es ist ein wichtiges Anliegen, gegen Benachteiligung
und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung
anzugehen. Hier sehe ich einen breiten Konsens im Hin-
blick auf den Grundtenor des Antrags, den wir heute de-
battieren. In der Unionsfraktion stehen wir darüber in
einem guten, konstruktiven Gedankenaustausch mit dem
Verband LSU, Lesben und Schwule in der Union.
Ich nutze gerne die Gelegenheit, LSU und vor allem
dem Bundesvorsitzenden Alexander Vogt dafür zu dan-
ken, dass sie als fester Bestandteil der schwul-lesbi-
schen Community dazu beitragen, dass in der Union die
Anliegen und die Sichtweise von homosexuellen oder
transsexuellen Menschen authentisch eingebracht und
geschildert werden können, und – genauso wichtig –
dass sie auch in der anderen Richtung dem einen oder
anderen Vorurteil gegenüber der Haltung der Union ent-
gegentreten.
Schwul bzw. lesbisch und konservativ? Das muss kein
Gegensatz sein. Ich weiß, dass das nicht immer ganz ein-
fach ist, wenn sich LSU-Mitlieder zum Beispiel auf dem
CSD mit eigenem Stand als CDU-Mitglied outen. Aber
das ist gut so!
Ich möchte an den Anfang stellen, dass wir eine Ge-
sellschaft wollen, in der jeder Mensch in seiner indivi-
duellen Einzigartigkeit mit gleicher und unbedingter
Wertschätzung angenommen wird – mit gerade den Fä-
higkeiten, den Defiziten, den Anlagen und eben auch mit
der sexuellen Orientierung, die ihm mitgegeben worden
ist. Wir wollen ein Klima, in dem Menschen unterschied-
licher sexueller Orientierung unbefangen miteinander
umgehen und dass dieses Thema dabei nicht alle ande-
ren Themen überlagert.
Ich weiß auch, dass das noch nicht erreicht ist. Es
gibt immer wieder gelegentlich ein unpassendes und är-
gerliches Schenkelklopfen, überflüssige Anspielungen,
blöde Witze. Das dürfen wir nicht durchgehen lassen.
Zu Protokoll
Wer das mitbekommt – im privaten Kreis, im Beruf, in
der Politik, wo auch immer – muss dem entgegentreten.
Das muss nicht immer mit Drama sein; aber einfach sa-
gen oder zeigen, dass man das nicht mag, dass das nicht
witzig, nicht cool ist, das muss schon sein. Wo es zu sol-
chen Äußerungen oder Kommentaren kommt, kann man
als Erwachsener damit zumeist umgehen. Aber für Ju-
gendliche, die mitten in der Phase der Selbstfindung ste-
cken und solche Äußerungen plötzlich auf sich beziehen,
die mit Beleidigungen und Mobbing konfrontiert wer-
den, stellt das eine extreme Belastung dar. Wir sehen mit
großer Sorge die hohen Selbstmordraten bei Jugend-
lichen, die eine homosexuelle Orientierung bei sich fest-
stellen. Es ist bedrückend, dass sie offenbar allein aus
diesem Grund eine solch extreme Belastung empfinden,
dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Freitod.
Es ist bedrückend, dass es die Gesellschaft dann nicht
geschafft hat, die unbedingte Wertschätzung jedes Men-
schen in seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck zu brin-
gen, auf die ein jeder einen Anspruch hat. Jeder junge
Mensch, der sich in dieser Phase der Selbstfindung be-
findet und Hilfe braucht, muss hier Unterstützung fin-
den. Das ist ein gemeinsames Anliegen, das ja auch dem
Antrag zugrunde liegt, den wir heute debattieren. In vie-
len Punkten beschreibt der Antrag zu Recht die schwie-
rige Lage von Jugendlichen in dieser Situation.
In einem hat der Antrag jedoch nicht recht, und schon
deshalb kann dem auch nicht zugestimmt werden: Die
Bundesregierung zeigt keineswegs Ignoranz und Des-
interesse, wie dort formuliert ist. Mit der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und
schwule Jugendliche“, Drucksache 17/2588, hat sie eine
ausführliche Bestandsaufnahme vorgelegt, die aufzeigt,
dass in diesem Bereich bereits umfangreich gefördert
und unterstützt wird. Die Bundesregierung unterstützt
über das Förderinstrument Kinder- und Jugendplan des
Bundes, aber auch über den gemeinsamen Haushalts-
titel der Abteilungen Familie, Chancengleichheit und
Ältere Menschen eine Vielzahl von Projekten und Initia-
tiven zugunsten schwuler, lesbischer und transsexueller
Jugendlicher, angefangen bei Konferenzen, Handrei-
chungen und Fortbildungen bis hin zur Verbandsförde-
rung des Jugendnetzwerk Lambda e. V., dem lesbisch-
schwulen Jugendverband in Deutschland.
Die Arbeit der Verbände trägt aus meiner Sicht be-
sonders dazu bei, die Benachteiligung von gleichge-
schlechtlichen Jugendlichen abzubauen und ein Klima
von gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu schaf-
fen. Lambda e. V. erhält bereits seit 1990 regelmäßig aus
Mitteln des Kinder- und Jugendplans Fördermittel, die
für das Jahr 2011 sogar aufgestockt wurden.
Auch im Bereich der sportlichen Bildung haben Akti-
vitäten zugunsten von lesbischen, schwulen und trans-
sexuellen Jugendlichen bereits heute einen hohen Stel-
lenwert. So sind Veranstaltungen gegen Homophobie im
Fußballsport regelmäßiger Bestandteil des Programms
der vom Bundesfamilienministerium und dem Deutschen
Fußballbund geförderten Koordinationsstelle „Fanpro-
jekte“. Auch in den anderen Jugendbildungssparten fin-
det sich vergleichbares Engagement.
12784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) (C)
(D)(B)
In den Medien der Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung zur Sexualaufklärung und Familien-
planung sind interessierende Themen wie sexuelle
Orientierung, Coming- out usw. bereits heute angemes-
sen berücksichtigt und finden selbstverständliche Be-
rücksichtigung sowohl bei den Jugendlichen als auch
bei den Eltern. In allen Aufklärungsangeboten, vor al-
lem in ihren Broschüren, verfolgt die BZgA einen den
Selbstwert stärkenden Ansatz und wendet sich ausdrück-
lich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Zur Prä-
vention von Suizidversuchen und Suiziden fördert das
Bundesgesundheitsministerium Initiativen des Nationa-
len Suizidpräventionsprogramms für Deutschland,
NASPRO, bei dem sich eine Arbeitsgruppe speziell mit
der Thematik Suizidprävention bei Kindern und Jugend-
lichen befasst.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das
Thema Homosexualität gerade in jüngster Zeit umfang-
reich sowohl aus zeitgeschichtlicher als auch aus sozial-
und politikwissenschaftlicher Perspektive gewürdigt.
Besonders schwierig ist sicher die Situation für He-
ranwachsende mit muslimischem Migrationshinter-
grund. Gerade hier sind homosexuellenfeindliche Ein-
stellungen wesentlich stärker verbreitet als in der
deutschen Vergleichsgruppe. Zu diesem Ergebnis kam
die vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie
„Lebenssituationen von Lesben und Schwulen mit Mi-
grationshintergrund in Deutschland“ im Auftrag des
Lesben- und Schwulenverbandes, LSVD. Die Studie
zeigt, dass sich viele Lesben und Schwule mit Migra-
tionshintergrund in Deutschland zwar gut integriert füh-
len und das gesellschaftliche Klima gegenüber Homo-
sexuellen hier als positiver als in ihren Herkunftsländern
erleben. Innerhalb ihrer Familien und Migrationscom-
munities allerdings erfahren sie mehr Diskriminierung
und verzichten deshalb oft auf ein offenes homosexuelles
Leben. Homosexuelle ohne Migrationshintergrund hat-
ten der Studie zufolge ein positiveres Selbstbild und eine
höhere Lebenszufriedenheit und mehr soziale Unterstüt-
zung. An dieser Stelle müssen auch Verbände wie zum
Beispiel der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit-
helfen, indem sie auch einen Beitrag zur Aufklärung ge-
gen Homosexuellenfeindlichkeit leisten.
Über die Anregung, interkulturelle Angebote für ho-
mosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund in
den Nationalen Aktionsplan aufzunehmen, werden wir
sicher diskutieren. Die verschiedenen Angebote und Bei-
träge haben bisher auf vielfältige Weise mitgeholfen,
dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positi-
ven gewendet hat, wie der Antrag ja auch feststellt. Auf
diesem Weg muss es weitergehen.
Christel Humme (SPD):
Im Januar haben wir bereits im Plenum über den vor-
liegenden Antrag der Grünen „Schwule, lesbische und
transsexuelle Jugendliche stärken“ debattiert.
Im zuständigen Familienausschuss wurde deutlich,
dass die Vertreter der christlich-liberalen Koalition
auch bei diesem Thema meinen, die Hände nun in den
Schoß legen zu können, und darauf verweisen, Schwulen
Zu Protokoll
und Lesben gehe es heute schließlich so gut wie nie.
Schauen wir uns die Situation einmal an:
Der unsägliche § 175, der so viel Leid und Ungerech-
tigkeit über homosexuelle Männer brachte, ist aus dem
Strafgesetzbuch getilgt. Die Weltgesundheitsorganisa-
tion WHO hat Homosexualität aus ihrem Katalog psy-
chischer Krankheiten entfernt. In Deutschland hat die
rot-grüne Bundesregierung mit der eingetragenen Le-
benspartnerschaft schwulen und lesbischen Paaren die
Möglichkeit geschaffen, ihrer Beziehung einen rechtli-
chen Rahmen zu geben.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, ver-
bietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung aufgrund
der sexuellen Identität. Daher stimme ich der Einschät-
zung der Regierungsfraktionen in diesem einen Punkt
durchaus zu: Die rechtliche Gleichstellung und der
Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und
Transsexuelle – gleich welchen Alters – war noch nie so
weit gediehen wie jetzt.
Obwohl noch einige wichtige Schritte zur völligen
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe
fehlen – ich nenne hier nur die Beispiele Adoption und
Steuerrecht –, können wir dank einer guten rot-grünen
Antidiskriminierungspolitik feststellen: Es hat sich sehr
viel zum Positiven gewandelt!
Aber dies reicht nicht. Denn die tatsächliche Lebens-
situation von gesellschaftlichen Minderheiten lässt sich
nicht nur mit Blick auf bestehende Gesetze oder Statisti-
ken alleine bestimmen. Was wir brauchen, ist eine breit
angelegte Studie, die uns ein realistisches Bild der Le-
benswirklichkeit von schwulen, lesbischen und transse-
xuellen Jugendliche vermittelt. Wie der Presse aktuell zu
entnehmen war, hat sich der Kollege Jens Spahn von der
CDU an seine Parteifreundin Kristina Schröder ge-
wandt und sie als zuständige Ministerin an das Thema
erinnert. Nun soll offenbar eine Machbarkeitsstudie klä-
ren, ob eine bundesweite Untersuchung durchgeführt
werden soll. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, und
ich denke, eine Bundesregierung, die sich im Koalitions-
vertrag auf die Fahnen geschrieben hat, für Chancen-
gerechtigkeit für alle – unabhängig von der individuel-
len sexuellen Orientierung – zu sorgen, sollte ebenfalls
ein besonderes Interesse daran haben!
Denn eines ist klar: Rechtliche Gleichstellung und
wirksamer Antidiskriminierungsschutz ist das eine, ge-
lebte und erlebte Toleranz und Gleichberechtigung im
Alltag das andere! Und dennoch: Gesetzliche Regelun-
gen sind unverzichtbar und wichtig. Denn sie setzen den
Rahmen, damit eine Kultur der Akzeptanz und des Re-
spekts von Minderheiten weiter reift und gestärkt wird.
Daher bedaure ich es sehr, dass Union und FDP die
Chance ausgeschlagen haben, sich einem breiten Bünd-
nis zur Ergänzung des Art. 3 unseres Grundgesetzes an-
zuschließen, um über alle Parteigrenzen hinweg zu zei-
gen, dass Lesben und Schwule ausdrücklich in den
Diskriminierungsschutz unserer Verfassung aufgenom-
men werden sollten. Das wäre gerade im Hinblick auf
die Lebenssituation der jungen Menschen, über die wir
heute diskutieren, ein wichtiges Signal!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12785
gegebene Reden
Christel Humme
(A) (C)
(D)(B)
In der Frage, wie wir lesbische, schwule oder trans-
sexuelle Jugendliche stärken können, darf es kein
Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern ge-
ben. Gerade beim zentralen Bereich Schule und Bildung
können wir als Bundespolitiker vorrangig an die Länder
appellieren, sich des Themas der sexuellen Vielfalt
couragierter anzunehmen, als das heute teilweise noch
der Fall ist.
Denn noch allzu oft kommt es in der Schule zu Be-
schimpfungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen
und Jungen werden gemobbt, von der Klassengemein-
schaft ausgeschlossen oder sogar tätlich angegriffen.
Hier müssen wir ansetzen! Dazu brauchen wir Schulen,
die für Lehrende und Lernende einen diskriminierungs-
freien Raum garantieren. Mein Heimatland NRW zeigt
mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie – Schule der
Vielfalt“ ebenso wie Berlin mit der Initiative „Berlin
steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller
Vielfalt“, welche konkreten Verbesserungen im Bil-
dungsbereich möglich und nötig sind, um wirksamen
Antidiskriminierungsschutz an Schulen zu verankern.
Dazu brauchen wir zum einen engagierte Lehrerin-
nen und Lehrer, die das Thema (sexuelle) Vielfalt und
Diversity positiv und nicht etwa ausschließlich im Kon-
text Aufklärung oder HIV-Prävention behandeln. Dabei
dürfen wir auch nicht aus dem Blick verlieren, dass nicht
nur Jugendliche auf dem Weg zu ihrer selbstbewussten
sexuellen Identität Unterstützung und Beratung benöti-
gen. Genauso gibt es schwule Lehrer oder lesbische
Lehrerinnen, die vor der Frage stehen, ob sie sich vor
Schülern oder Kollegium „outen“ sollen, oder die nicht
wissen, wie sie mit mehr oder weniger offenen Anfein-
dungen umgehen sollen. Doch erst, wenn schwule Leh-
rer und lesbische Lehrerinnen selbstverständlich und of-
fen mit ihrer Homosexualität umgehen können, sehen
Schülerinnen und Schüler, dass dies ebenso normal ist
wie Heterosexualität.
Neben der Schule brauchen Jugendliche natürlich
auch noch andere Anlaufstellen. Neben dem Internet als
wichtiger Informationsquelle ist eine kompetente Ver-
trauensperson in der Nähe unerlässlich. Hier sind
sowohl die Länder in der Pflicht als auch der Bund.
Wir wollen, dass die Antidiskriminierungsstelle des
Bundes auch in Zukunft finanziell gut ausgestattet
bleibt, um neben ihrer Aufklärungs- und Beratungstätig-
keit vor allem auch die Vernetzung mit Beratungsstellen
vor Ort weiter voranbringen zu können. Außerdem steht
die Bundesregierung in der Pflicht, den Nationalen Ak-
tionsplan gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus um das Problemfeld Homophobie zu er-
weitern und das Thema Akzeptanz von Homo-, Bi- und
Transsexualität im Nationalen Integrationsplan zu ver-
ankern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Be-
reicherung und Normalität wahrgenommen wird.
Stefan Schwartze (SPD):
Heute entscheiden wir abschließend über den Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule,
lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das
Zu Protokoll
ist ein wichtiges Anliegen und verdient unsere volle Un-
terstützung.
Insbesondere fordert Bündnis 90/Die Grünen eine
umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugend-
arbeit. Hier sind die Gelder, die für schwule und lesbi-
sche Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgege-
ben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und
Jugendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro,
die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgege-
ben hat. Ganze 186 Millionen Euro gibt die Bundes-
regierung dagegen insgesamt für den Kinder- und Ju-
gendplan aus.
Der hier vorliegende Antrag wurde mit der Begrün-
dung abgelehnt, man habe bereits die Mittel für die
schwule und lesbische Jugendarbeit erhöht, indem die
Mittel für das Projekt Lambda um 7 Prozent im Jahr
2011 erhöht worden seien. Die SPD-Bundestagsfraktion
begrüßt außerordentlich, dass die Mittel für das Projekt
Lambda um 2 000 Euro erhöht worden sind. Aber damit
ist natürlich nicht der Forderung Genüge getan, eine
umfassende Förderung von schwuler und lesbischer Ju-
gendarbeit zu gewährleisten. Wer eine umfassende För-
derung will, der muss Geld in die Hand nehmen, und
zwar einen angemessenen und gerechten Betrag.
Was wäre nun angemessen und gerecht? Auch wenn
ich jeden Tag an dem Kunstwerk von Thomas Locher
vorbeigehe, das mich und alle anderen Politiker ironisch
mahnt „Gerecht ist nur die Gerechtigkeit“, so sind doch
2 000 Euro mehr keine gerechte Verteilung der Mittel.
Wenn man von einer niedrigen Rate von schwulen und
lesbischen Jugendlichen ausgeht – und die niedrigste
Schätzung bewegt sich hier bei 5 Prozent –, dann müss-
ten etwa 900 000 Euro für schwule und lesbische Ju-
gendarbeit ausgegeben werden. Das ist jedoch nicht der
Fall. Stattdessen fehlen in diesem Bereich diese Mittel,
und das, obwohl es schwule, lesbische und transsexuelle
Jugendliche in unserer Gesellschaft schwer haben. Oft
sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht si-
cher und werden gehänselt, gemobbt und drangsaliert,
oder sie werden sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugend-
lichen müssen vor Diskriminierung wirksamer geschützt
werden. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartner
und -partnerinnen, die beraten und helfen können. Ins-
besondere brauchen wir aber Programme, die die Ak-
zeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken.
Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können,
soll in einer breit angelegten bundesweiten wissen-
schaftlichen Studie zur Lebenssituation homosexueller
Jugendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein
Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bun-
destagsfraktion auch schon damals unterstützt haben.
Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit
Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Studie
ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssituation
von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus
Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung abzu-
leiten.
Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskri-
minierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen
Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den
12786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Stefan Schwartze
(A) (C)
(D)(B)
Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an ei-
nem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Bei-
trag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer
Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbü-
chern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbil-
dung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen
verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit
homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie Schulun-
gen zur Vorgehensweise bei und zum Umgang mit diskri-
mierenden Situationen und diskriminierendem Verhalten
von Schülern und Schülerinnen.
Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben,
Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und in-
tersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert wer-
den. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch
Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachtei-
ligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die recht-
liche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein
ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund
der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich
eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir
brauchen ein öffentliches und deutliches Bekenntnis,
dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine unglei-
che Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen
können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3
Abs. 3 Satz 1 GG. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bun-
destag eingebracht, die bereits in den Ausschüssen von
den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind. Die
abschließende Lesung steht hier noch aus. Aber schon
heute ist klar, dass wir in dieser Frage wieder einmal
nicht vorankommen. Es ist absolut unverständlich, wa-
rum die schwarz-gelbe Koalition in dieser Frage so
zögerlich ist, zumal wir seit 2009 in der EU-Grund-
rechtscharta den Diskriminierungsschutz für Lesben,
Schwule und Transgender verankert haben.
Florian Bernschneider (FDP):
Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
den wir heute abschließend beraten, richtet unser Au-
genmerk auf die Lebenssituation von schwulen, lesbi-
schen und transsexuellen Jugendlichen, und das zu
Recht.
Es ist nicht zu bestreiten, dass Homosexuelle und
Transsexuelle – unabhängig von ihrem Alter – noch im-
mer Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch wenn
gleichstellungs- und gesellschaftspolitisch schon viel er-
reicht wurde. Wir müssen nicht allzu weit zurückgehen,
um uns dies zu vergegenwärtigen. Ich möchte Sie nur an
den § 175 StGB erinnern, der sexuellen Kontakt zwi-
schen Männern unter Strafe stellte. Im Volksmund
sprach man statt von Homosexuellen gar von „175ern“.
Und auch heute treffen offen lebende Homosexuelle und
Transsexuelle noch auf Vorbehalte. Deshalb ist es nach
wie vor unsere Aufgabe, gegen die Diskriminierung von
gleichgeschlechtlich orientierten Mitgliedern unserer
Gesellschaft vorzugehen und anzuarbeiten.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP nimmt sich
dieser Aufgabe an. Die durch uns erreichte Gleichstel-
lung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der
Zu Protokoll
Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erb-
schaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht be-
legt dies eindrucksvoll. Zugleich senden wir mit diesen
Rechtsänderungen ein klares Signal für mehr gesell-
schaftliche Liberalität und Vielfalt in unsere Gesell-
schaft hinein.
Seit der ersten Beratung des vorliegenden Antrages
hat sich auch einiges getan. So hat unsere liberale Jus-
tizministern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, end-
lich erreicht, wozu weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot
in den letzten Jahren imstande waren: In diesem Jahr
werden 10 bis 15 Millionen Euro für die Gründung der
Magnus-Hirschfeld-Stiftung als Startkapital bereitge-
stellt. Das ist ein wichtiger, aber auch überfälliger
Schritt, für den sich meine Fraktion seit langem mit
Nachdruck eingesetzt hat. Die Stiftung wird sich unter
anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber
Lesben und Schwulen wenden und durch Bildung und
Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entge-
genwirken. Im Zuge dieser Aufgabe wird die Fortbil-
dung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren
in der Schul- und Jugendarbeit mit Sicherheit zu den
Aufgaben der Stiftung gehören.
Dies ist uns Liberalen besonders wichtig, weil wir
hier an einem Punkt ansetzen, der die Lebenswirklich-
keit der Jugendlichen tatsächlich erreicht. Wo findet
denn ein Großteil der Sozialisierung Jugendlicher statt?
Wo spielt sich ein Großteil ihres Lebens ab? Richtig, in
der Schule. Deshalb ist es der Bundesregierung und ins-
besondere meiner Fraktion ein Anliegen, gerade in die-
sem Umfeld dafür zu sorgen, dass diejenigen, die täglich
mit Jugendlichen zu tun haben – Lehrer, Pädagogen, Ju-
gendarbeiter – stärker sensibilisiert werden und das nö-
tige Handwerkszeug erhalten, um noch besser gegen die
Diskriminierung von homosexuellen und transsexuellen
Jugendlichen vorgehen zu können.
Aber wir müssen auch bei diesem Thema ehrlich mit-
einander umgehen. Aktuell wird ja über das Koopera-
tionsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen
diskutiert, auch in meiner Partei. Unabhängig davon,
wie diese Diskussionen ausgehen, steht trotzdem außer
Frage, dass der Bund nicht alles leisten kann. Für das
Schulwesen sind und bleiben in erster Linie die Länder
zuständig. Daher muss ich den Kolleginnen und Kolle-
gen von den Grünen auch sagen, dass Sie sicherlich in
ihrem Antrag viele gute Forderungen aufführen, aber
dass Sie sich hier in vielen Punkten leider den falschen
Adressaten ausgesucht haben.
Wenn Bildungspolitik einen höheren Stellenwert er-
halten und im Umfeld von Bildungseinrichtungen mehr
für die Gleichstellung von homosexuellen und trans-
sexuellen Jugendlichen erreicht werden soll, müssen wir
– und damit meine ich ausdrücklich die Mitglieder aller
Fraktionen – die Länder und unsere Kollegen in den
Landesparlamenten stärker in die Verantwortung neh-
men.
Nur um es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen
– ich hatte bereits in der ersten Lesung des Antrages da-
rauf hingewiesen –: Uns Liberalen ist es zwischen 2005
und 2010 in NRW trotz harter Sparpolitik gelungen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12787
gegebene Reden
Florian Bernschneider
(A) (C)
(D)(B)
Fördermittel für die schwul-lesbische Selbsthilfe zu er-
halten. Aus diesen Mitteln wurde unter anderem das
Schulaufklärungsprojekt SCHLAU NRW finanziert. Da-
mit haben wir bewiesen, dass es selbst in einer schwieri-
gen Finanzlage möglich ist, eigene Schwerpunkte zu set-
zen.
Darüber hinaus möchte ich betonen, dass der Bund
seine Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendpla-
nes hervorragend wahrnimmt. Die Förderung von Pro-
jekten, Programmen und Institutionen, die sich für die
Gleichstellung und Unterstützung von schwulen, lesbi-
schen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, sind
schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil
der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bun-
des, und sie werden es auch bleiben. Zum Jahr 2011
wurden beispielsweise die Mittel für den Jugendverband
Lambda um 7 Prozent erhöht, was dies nochmals unter-
streicht.
Im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
schwingt der Vorwurf mit, dass sich diese Regierung
nicht um homosexuelle und transsexuelle Jugendliche
bzw. Homosexuelle und Transsexuelle insgesamt küm-
mere. Ihr dem Thema völlig unangemessenes Auftreten
im Zuge der Ausschussberatung des Antrages hat dazu
beigetragen, dass sich dieser Eindruck bei mir, aber si-
cherlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen ver-
festigt hat. Daher möchte ich diese Möglichkeit nutzen
und nochmals öffentlich klarstellen, dass sich die FDP
unvermindert für gesellschaftliche Vielfalt und die
Gleichberechtigung von Homosexuellen und Trans-
sexuellen einsetzt. Auf Erfolge im Inland, wie die längst
überfällige und notwendige Unterstützung der Magnus-
Hirschfeld-Stiftung, die die Grünen in der Vergangen-
heit sträflich vernachlässigt haben, habe ich schon hin-
gewiesen.
Ich möchte Ihren Blick aber auch auf die Außenpoli-
tik lenken. So sind es Liberale wie Entwicklungsminister
Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle, die
international Flagge zeigen und klar gegen Homopho-
bie eintreten. Das Auswärtige Amt fördert in diesem
Jahr erstmals zwei Schwulen- und Lesbenprojekte im
Ausland. Im Fall Malawis wurde wegen Strafverschär-
fungen gegen Homosexuelle erstmals Entwicklungsgel-
der durch das zuständige Ministerium eingefroren – ein
Novum. In Uganda wurde die Entwicklungshilfe für die
kommenden Jahre an die Bedingung geknüpft, dass
Pläne im ugandischen Parlament zur Verschärfung der
Homosexuellengesetze nicht realisiert werden. Unter
Rot-Grün, mit dem ehemaligen Außenminister Josef
Fischer, über dessen Rückkehr auf die politische Bühne
als Kanzlerkandidat hinter vorgehaltener Hand disku-
tiert wird, hat es ein solch entschiedenes Eintreten für
die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich orientier-
ter Menschen im Ausland jedenfalls nicht gegeben.
All dies beweist: Die Gleichstellungspolitik ist in gu-
ten Händen.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Der vorliegende Antrag ist ein sehr gutes Beispiel da-
für, wie man diskriminierte Jugendliche konkret unter-
Zu Protokoll
stützen kann. Diskriminierungen jeglicher Art sind in ei-
nem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Hier sind
wir ein erhebliches Stück vorangekommen. In der ersten
Lesung teilten alle Parteien die Intention des Antrags
und bestätigten, dass Handlungsbedarf besteht.
Doch die Vertreter der Regierungskoalition verwie-
sen lapidar auf die Verantwortung der Länder und Kom-
munen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, und lassen
Sie lesbische, schwule, transsexuelle, transgender und
intersexuelle Jugendliche nicht im Regen stehen! Diskri-
minierte junge Menschen benötigen unsere Hilfe. Die
Diskriminierung junger Menschen schreibt in deren Bio-
grafie eine bleibende Lebenserfahrung ein. Statt des
Wegschiebens von Verantwortung benötigen sie konkrete
Unterstützung. In dem Antrag wurde auf die konkret
nutzbaren Handlungsspielräume auf Bundesebene hin-
gewiesen. Wir benötigen eine gesamtgesellschaftliche
Strategie. Diese Strategie müssen wir hier entwickeln
und koordinieren. Dies ist unsere Aufgabe. Es darf nicht
sein, dass nur einzelne Länder und Kommunen Notfall-
hilfe anbieten, positive Beispiele, die isoliert dastehen
wie ein Fels in der Brandung.
Ein Beispiel für das konkrete Handeln vor Ort ist das
letzten Monat in Berlin eröffnete Zentrum „Queer le-
ben“. Es ist Europas erstes Zentrum für queer lebende
und transidente Jugendliche. Bei der Eröffnung stellte
die Leiterin Mari Günther klar, dass die Notwendigkeit
zur Einrichtung dieses Zentrums vorhanden ist. Jugend-
liche Menschen aus ganz Deutschland wandten sich an
Beratungsstellen in Berlin. Sie flüchteten vor ihren El-
tern, sie wandten sich anonym an Sozialberater oder
waren obdachlos. Sie berichteten von schwerwiegenden
Ausgrenzungen in der Schule, durch Verwandte und El-
tern sowie Bekannte.
Die zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zen-
trums haben es rund um die Uhr mit schwerwiegenden
Problemen zu tun. Jugendliche werden gemobbt, drang-
saliert und auch geschlagen, nur weil sie scheinbar an-
ders sind. Das Land Berlin hat hier eine konkrete Hilfe
geleistet, und sie ist dringend notwendig.
Homophobie und Transphobie sind kein vorüberge-
hendes Phänomen. Es sind sehr reale Ängste einer
Mehrheitsbevölkerung, die gegenüber den Betroffenen
in Abwehr und Ausgrenzung münden. Es ist nicht hin-
nehmbar, dass bedrohte Jugendliche verängstigt der
Schule fernbleiben, dass sie an der Schule keine An-
sprechpartner für ihre Probleme finden, dass sie aus der
elterlichen Wohnung flüchten, da die Eltern sie nicht ak-
zeptieren, nur wegen ihrer Sexualität bzw. ihrer Ge-
schlechtlichkeit. Wir müssen die Betroffenen konkret un-
terstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, sodass
Eltern, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler
Ängste abbauen. Schwul, lesbisch, transsexuell, trans-
gender und intersexuell sollten weder hier noch in der
Gesellschaft Beschreibungen sein, vor denen man sich
fürchtet. Die sexuelle Vielfalt ist eine Realität, und sie ist
eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Hier
muss der Bundesgesetzgeber seine Verantwortung wahr-
nehmen. Wir werden diesem Antrag zustimmen, denn die
12788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12789
Dr. Barbara Höll
(A) (C)
(D)(B)
Betroffenen verdienen nicht warme Worte, sondern kon-
krete Unterstützung.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es freut mich, dass wir mit unserem Antrag eine bun-
desweite Debatte über die Lebenslage von schwulen,
lesbischen und transsexuellen Jugendlichen anstoßen
konnten. Ich bin stolz darauf, dass die rot-grüne Regie-
rung in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen die
Bekämpfung von Homophobie als Querschnittsaufgabe
aktiv angeht und im Landesjugendplan die Unterstüt-
zung schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendli-
che absichert. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jah-
ren auf den ersten Blick offener und toleranter geworden
– nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der
lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung und durch
rot-grüne Reformen wie die eingetragene Lebenspart-
nerschaft. Auf den zweiten Blick bleibt das Coming-out
für viele junge Schwule und Lesben auch im Jahr 2011
ein belastender und schwieriger Prozess, weil sie damit
Ablehnung oder Anfeindungen riskieren – in der Fami-
lie, in der Schulklasse oder im Ausbildungsbetrieb.
Schwule und lesbische Jugendliche leiden in beson-
derer Weise unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Mob-
bing und brauchen daher dringend Unterstützung und
Solidarität. Mir ist unverständlich, wie dies von Teilen
der Union weiterhin ignoriert werden kann. Wenn „du
schwule Sau“ zur meistgenutzten Beschimpfung auf un-
seren Schulhöfen zählt, dann sind wir meilenweit davon
entfernt, dass alle ohne Angst verschieden sein können
und Vielfalt wertgeschätzt wird. Alle Jugendlichen ver-
dienen Respekt und haben ein Recht auf beste Bedingun-
gen für ein selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies
Aufwachsen. Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportstät-
ten, Vereine und Verbände müssen daher endlich aller-
orts zu Orten ohne Homophobie werden. Geradezu alar-
mierend ist das vielfach höhere Suizidrisiko von
schwulen und lesbischen Jugendlichen im Vergleich zu
ihren heterosexuellen Altersgenossen. Die Bundesregie-
rung hat uns trotzdem mehrfach mitgeteilt, dass sie
hierzu „keinen Handlungsbedarf“ sieht. Wir halten das
für einen gesellschaftspolitischen Skandal.
Obwohl vom Bundestag schon 2005 beschlossen, gibt
es immer noch keine Studie, die ein umfassendes Ge-
samtbild über die Lebenslagen homosexueller Jugendli-
cher liefert. Die beiden zuständigen CDU-Jugendminis-
terinnen sind in dieser Hinsicht sechs Jahre lang untätig
geblieben.
Ich fordere Ministerin Schröder auf: Erleben Sie end-
lich Ihr jugendpolitisches Coming-out, und werden Sie
aktiv! Sie müssen Ministerin für alle Jugendlichen in
diesem Land sein, nicht nur für die heterosexuelle Mehr-
heit.
Es wäre schön, wenn infolge unserer Initiativen end-
lich ein Umdenken beginnen würde. Frau Schröder ant-
wortete mir dieser Tage, dass die Regierung eine Mach-
barkeitsstudie zur Studie prüfe. Wir hoffen, dass sie
dabei bald zu einem positiven Ergebnis kommt und den
Widerstand gegen eine fundierte Datenbasis aufgibt.
Eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Stu-
die zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher
muss neben einem aktuellen Gesamtbild auch Hand-
lungsempfehlungen zur Überwindung homosexuellen-
feindlicher Einstellungen beinhalten. Hierbei sollten un-
ter anderem Formen und Orte der Diskriminierung,
gesundheitliche Belastungen und die Verbreitung homo-
phober Einstellungen eine Rolle spielen.
Es darf nicht sein, dass schwule, lesbische und trans-
sexuelle Jugendliche ausgeblendet bleiben. Damit sie
als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft aner-
kannt und akzeptiert werden, bedarf es eines umfangrei-
chen Handlungs- und Aktionsplans von Bund und Län-
dern. Unser Antrag zeigt hierzu verschiedene wirksame
Maßnahmen auf: Es ist unerlässlich, eine umfassende
Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit zu ver-
ankern und die wenigen sowie mit mickrigen 200 000
Euro völlig unterfinanzierten Angebote im Kinder- und
Jugendplan des Bundes systematisch auszubauen. Ju-
gendliche benötigen bundesweit flächendeckend Bera-
tungsstellen, in denen sie konkrete Unterstützung, An-
sprechpartner und Vertrauenspersonen finden. Gegen
Herabwürdigungen und Mobbing braucht es nachhal-
tige Präventionsstrategien, die gemeinsam mit den Län-
dern ergriffen werden müssen. Wir brauchen in allen
Bundesländern verbindliche Rahmenrichtlinien, damit
in Bildungs- und Jugendeinrichtungen die Vielfalt der
sexuellen Identitäten vermittelt wird. Lehrer und Ju-
gendleiter müssen in ihrem Studium und in Weiterbil-
dungen für sexuelle Vielfalt und den Umgang mit Homo-
sexualität sensibilisiert werden. Auch die verschiedenen
Medien bis hin zu Schulbuchverlagen sind dazu aufge-
fordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht
zu werden und unter anderem über die Vielfalt der Fami-
lienformen, verschiedene sexuelle Identitäten sowie die
Geschichte der Homosexuellenverfolgung und -bewe-
gung in Deutschland zu informieren. Der nationale Inte-
grationsplan ist um interkulturelle Angebote zu den The-
men sexuelle Vielfalt sowie Homo- und Transphobie zu
erweitern. Dazu gehören auch Angebote für schwule
und lesbische Jugendliche mit Einwanderungsge-
schichte, deren Familien zum Beispiel aus Herkunftslän-
dern mit Homosexuellenverfolgung stammen. Sie sind
als Migranten und Homosexuelle von doppelter Diskri-
minierung bedroht – das muss sich endlich ändern. Not-
wendig sind zudem zusätzliche zielgruppengerechte In-
formationen und Angebote für alle Jugendlichen und
ihre Angehörigen. Dafür müssen in der Bundeszentrale
für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung, dem Bundesfamilienministerium
sowie den schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechts-
verbänden Ressourcen zur Verfügung gestellt und krea-
tive Strategien gegen Homophobie etabliert werden.
Es gibt also noch viel zu tun, damit sich Jugendliche
problemlos und sorgenfrei outen können. Die Bundes-
regierung muss sich den genannten Herausforderungen
endlich bewusst werden und dementsprechend handeln!
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4954, den
12790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/4546 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialdemokraten, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.
Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Die Regierungsbank weise ich darauf hin, dass wir
gerne die Abstimmungen konzentriert zu Ende führen
wollen. Ich wollte damit nur darauf aufmerksam ma-
chen, dass die Regierungsbank noch besetzt ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd
Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zeitnahe Information des Deutschen Bundes-
tages über die Ergebnisse des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsordnung
– Drucksache 17/5898 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco
Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wert-
stofferfassung im Rahmen des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung
– Drucksachen 17/5484, 17/5886 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre
Reden zu Protokoll gegeben haben, liegen bei uns vor. –
Sie sind damit einverstanden.
Michael Brand (CDU/CSU):
Zum Antrag der SPD „Zeitnahe Information des
Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Plan-
spiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverord-
nung“ kann kurz und knapp festgehalten werden: Nie-
mandem ist verboten, sich bei den Beteiligten über
ebendiese Ergebnisse des sogenannten Planspiels kun-
dig zu machen, und ganz sicher werden weder die Bun-
desregierung noch die Länder noch die Kommunen noch
die Verbraucher- und Umweltverbände noch die Entsor-
gungs- und Recyclingwirtschaft noch der Handel und
die Industrie die Auskunft darüber verwehren, wie sie
diesen Prozess und die Ergebnisse beurteilen. Zudem ist
das BMU für die SPD auch nach dem Abgang des Kolle-
gen Gabriel nach wie vor auskunftsbereit, gerade in der
Abteilung Abfallwirtschaft, wie wir alle annehmen dür-
fen.
Ist es nicht überhaupt vornehmste Aufgabe der Parla-
mentarier, sich nicht alles von der Regierung vorsetzen
zu lassen, sondern eigene Bewertungen vorzunehmen,
um diese der Regierung mitzuteilen als den Willen der
vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter? Und
ist dies nicht noch weit mehr die Aufgabe der Opposi-
tion, zumal aus den Reihen der beantragenden Fraktion
mit dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und dem Par-
teivorsitzenden Gabriel, gerade zwei ehemalige Kabi-
nettsmitglieder, einer zudem mit unmittelbarer Verant-
wortung als hier zuständiger Umweltminister?
Offen gesprochen verstehe ich die Befassung des Par-
laments in Form eines Antrages hier nicht. Es gibt wirk-
lich wichtigere und gehaltvollere Anträge als die Bitte
um bereits gegebene Information wie im zuständigen
Fachausschuss des Parlaments, die sicherlich unter dem
neuen Bundesumweltminister Röttgen weit offener ge-
handhabt wird als unter seinem Vorgänger Gabriel und
dessen Staatssekretären.
Zur Sache selbst darf ich anführen, dass ich über
erste Kenntnisse und Bewertungen des Planspiels beim
UBA in Dessau aus diesen Tagen schon verfüge – und
dass ich mir diese Informationen als Teil meiner parla-
mentarischen Arbeit geholt habe, so wie dies andere si-
cherlich auch tun können. Dass neben den politisch re-
alistischen und praktisch umsetzbaren beiden Modellen
beim Planspiel zur Wertstofftonne auch noch die „Wol-
kenschieber-Modelle“ einer Vollprivatisierung oder
Vollkommunalisierung geprüft werden sollen, reiht sich
in diese seltsame Antragstellung der SPD ein. Warum
sollen wertvolle Ressourcen und viel Zeit von Experten
und Betroffenen in die Evaluierung von Modellen ge-
steckt werden, die mutmaßlich nie zum Tragen kommen?
Als Abgeordneter mit einem vollen Kalender verstehe
ich sehr gut, dass von den Beteiligten aus den Modellen
diejenigen für ein Planspiel ausgewählt wurden, die eine
Basis für eine zukünftige Regelung zum Wohle aller bil-
den können.
Dass es dabei ein „Hauen und Stechen“ um Platzvor-
teile bei der Verteilung von Wertstoffen geben wird, ist
angesichts der veränderten Rohstoffbasis und der zu er-
wartenden Gewinne und zähen Verteidigung von Markt-
positionen keine Überraschung mehr; das haben wir
jedes Mal erleben müssen, wenn wir bei der Verpa-
ckungsverordnung im Dschungel der Interessen von
Handel, Kommunen und Entsorgern die Kämpfe um den
Müll und dessen möglichst preisgünstiger Entsorgung
gesehen haben. Während die einen die anderen bei den
Preisen drücken, um Margen zu optimieren, und die an-
deren um ihre angestammten oder angestammt geglaub-
ten Plätze in der Stoffstromwirtschaft kämpfen, muss
niemand befürchten, dass der Bundestag und diese Bun-
destagsmehrheit eine vollstaatliche oder marktradikale
Lösung tragen werden. Wir werden im Umweltaus-
schuss, mit den Ländern und Kommunen sowie mit den
Betroffenen und Beteiligten den bereits begonnen Dia-
log eng halten, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kom-
men.
Michael Brand
(A) (C)
(D)(B)
Allerdings rate ich zu Sachlichkeit statt zu Panik: Das
Planspiel ist ein Plan und ein gedankliches Spiel, keine
Ergebnisvorwegnahme. Entscheiden wird nicht eine Ab-
teilung im BMU, sondern der Bundestag gemeinsam mit
dem Bundesrat. Wie wir alle wissen, bilden das BMU in
seiner neuen Führung und zudem unser föderaler Me-
chanismus solide Grundlagen dafür, dass zur Panik über
angeblich nicht erfolgende Unterrichtung nun in der Tat
kein Grund besteht. Die Erörterungen lassen sich nach
meinen Informationen gut an, bei bekannt unterschiedli-
chen Positionen der Beteiligten. Nichts Neues unter der
Sonne in Dessau. Bis Jahresende wird jeder, der wissen
will, wie es wirklich war, dies auch wissen können – in-
klusive der Kolleginnen und Kollegen von der Partei,
die bis vor kurzem noch den Bundesumweltminister
stellte. Ich wünsche uns allen den Fleiß und die Gelas-
senheit, um dies ohne große Anträge auf Selbstverständ-
lichkeiten im Plenum zu erreichen. Ich helfe gerne dabei
mit, dass alle den notwendigen Informationsstand erhal-
ten.
Gerd Bollmann (SPD):
Die Umsetzung und Durchführung des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung verwun-
dert mich sehr. Im Rahmen der 5. Novelle der Verpa-
ckungsverordnung wurden die unterschiedlichsten Mög-
lichkeiten, insbesondere bezüglich Organisation und
Zuständigkeit, kontrovers diskutiert. Genau wie bei der
heutigen Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz
vertraten Kommunen und öffentlich-rechtliche Entsor-
ger einerseits und Teile der privaten Entsorgungswirt-
schaft andererseits unterschiedliche Positionen. In der
teilweise heftig geführten Diskussion gab es aber einen
Konsens: Sämtliche Modelle sollten in einem Planspiel
vorbehaltlos untersucht werden. Alle Beteiligten haben
sich in den damaligen Gesprächen dafür ausgespro-
chen, dass alle, auch unkonventionelle, neue Modelle
überprüft werden sollen. Dies hatte das Bundesumwelt-
ministerium damals zugesagt.
Das Gegenteil ist aber jetzt passiert. Das Bundesum-
weltministerium hatte Gutachten über vier mögliche
Modelle zur Zuständigkeit einer Wertstofftonne verge-
ben. Beim Planspiel werden aber nur zwei Modelle un-
tersucht. Die Gutachter stellten zum Modell 4, Wertstoff-
tonne in kommunaler Trägerschaft, fest, dass dieses
Modell eine Überlegung zu einer grundlegenden Neu-
orientierung der Abfallwirtschaft darstellt. Daher, so die
Gutachter, müsse es noch weiter konkretisiert und ge-
prüft werden. Und genau dies müsste in dem Planspiel
passieren. Neue Wege sollten überprüft werden und
nicht nur die Auswirkungen eines Weiter-so, verbunden
mit weiteren Privatisierungen.
In der jetzt durchgeführten Form ist das Planspiel
keine vorurteilsfreie Prüfung, sondern ein Placebo, mit
welchem Teile der Regierungsparteien ihre Privatisie-
rungspläne in der Entsorgungswirtschaft tarnen. Es ist
ähnlich wie bei der Novelle der Kreislaufwirtschaft und
des Abfallrechts. Öffentlich wird erklärt, die Daseins-
vorsorge der Kommunen soll gestärkt werden, in Wirk-
lichkeit findet genau das Gegenteil statt.
Zu Protokoll
Meine Damen und Herren von FDP und Union, es ist
Ihr gutes Recht, sich für eine weitere Privatisierung der
Hausmüllentsorgung einzusetzen. Aber dann sagen Sie
ehrlich, was Sie anstreben. Hören Sie auf, zu behaupten,
Ihre Pläne in der Abfallpolitik führen zu einer Stärkung
der kommunalen Zuständigkeit.
Noch ein kurzes Wort zu unserem zweiten Antrag zur
zeitnahen Information des zuständigen Ausschusses
über die Ergebnisse des Planspiels. Eigentlich sollte
dies selbstverständlich sein. Die bisherigen Äußerungen
aus dem Ministerium lassen mich aber das Gegenteil be-
fürchten. Ich hoffe jedoch, dass Sie alle einem Antrag,
welcher die Rechte des Parlaments einfordert, zustim-
men werden.
Horst Meierhofer (FDP):
Die SPD zeigt mit dem Antrag nur allzu deutlich ihre
Scheinheiligkeit: Der Titel ihres Antrags lautet: „Vorur-
teilsfreie Prüfung der Modelle zur Werstofferfassung im
Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpa-
ckungsverordnung“. Vorurteilsfrei sind sie nicht, das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor Wochen schon
ließ die SPD-Fraktion über eine Pressemitteilung ver-
lautbaren, die künftige Wertstofftonne gehöre in kommu-
nale Zuständigkeit. Sie erwarten mit Ihrer Forderung,
dass die Regierung ohne politische Vorgaben ein Plan-
spiel umsetzt und sich nach Beendigung des Planspiels
für den sinnvollsten Weg entscheidet. Hiergegen ist ja
erst einmal nichts einzuwenden. Nur: Lassen Sie sich an
Ihrem Maßstab messen. Sie haben für sich ja schon
längst entschieden, wo Sie hinwollen, und zwar ganz un-
abhängig vom Ausgang von Gutachten, ganz unabhän-
gig von Ressourcenschonung, von mehr Recycling, von
mehr Innovationen und ganz unabhängig von der Exis-
tenz unseres Mittelstandes. Sie sind dermaßen von Ihrer
fixen Idee einer Rekommunalisierung getrieben, dass
Sie maßlos über das Ziel hinausschießen.
Drei Gutachten hat das Bundesumweltministerium im
Vorfeld dieses Planspiels erstellen lassen: Das erste war
eine Evaluierung der Verpackungsverordnung, das
zweite handelt von der idealen Zusammensetzung einer
Wertstofftonne, und das dritte dreht sich um die Mög-
lichkeit der Finanzierung. Im ersten Gutachten wurden
zwei empfohlene Modelle für ein mögliches Planspiel
vorgeschlagen. Nach dem ersten Modell fällt die Wert-
stofftonne in die kommunale Hand, nach dem zweiten
wird über die Produktverantwortung die Wertstofftonne
dem Markt frei zugänglich gemacht. Nun gibt es jede
Menge Mischformen, je nachdem, ob öffentlich-rechtli-
che oder private Entsorger für Erfassung, Sortierung
und Finanzierung zuständig sein. Genau diese Misch-
formen waren nun Gegenstand des letzten Gutachtens,
weshalb es naturgemäß zu mehr untersuchten Modellen
kam.
Das Planspiel konzentriert sich nun auf die beiden
Varianten kommunale bzw. private Trägerschaft der
Wertstofftonne. Insofern ist selbst die von Ihnen präfe-
rierte Lösung Gegenstand des Planspiels. Wir machen
damit etwas, was Sie uns umgekehrt sicherlich niemals
zugestanden hätten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12791
gegebene Reden
Horst Meierhofer
(A) (C)
(D)(B)
Ich halte unabhängig davon Ihre Position und totale
Befürwortung einer Rekommunalisierung für den fal-
schen Weg in der Abfallpolitik. Erkennen Sie endlich an,
dass gerade auch die breit aufgestellte mittelständische
Entsorgungswirtschaft für den rasanten Schub im
Recycling verantwortlich ist. Hier sind viele kreative, in-
novative und neue Ideen angesiedelt. Fast alle Sortier-
anlagen sind in privater Hand. Schlagen Sie nicht den
Weg ein, all diese Erfolge kaputtzureden, indem Sie mei-
nen, mit den Kommunen durch Ihr Verhalten schlagkräf-
tige Verbündete und Stimmen zu gewinnen.
Es besteht jedenfalls eine Notwendigkeit, das System
zu reformieren. Eine Lösung kann nur darin bestehen,
einen vernünftigen Ausgleich zwischen kommunalen und
privaten Interessen, aber auch zwischen Ressourcen-
schonung und möglicherweise entgegenstehenden ord-
nungspolitischen Bedenken zu finden. Uns geht es
primär allerdings darum, das System zukunftsfest zu ma-
chen. Im Fokus muss dabei die maximal mögliche Wie-
derverwertung stehen: Weg vom Verbrauch, hin zum Ge-
brauch. Das Denken in Kreisläufen müssen wir stärken.
Der erste Schritt dabei kann nur sein, möglichst viele
Materialien aus der Verbrennung herauszubekommen
und dem Recycling zuzuführen. Wann ist dies der Fall?
Dies ist der Fall, wenn wir über eine einheitliche Wert-
stofftonne 600 000 Tonnen jährlich mehr in der Wieder-
verwertung haben. Dabei schaffen wir Einheitlichkeit
und Transparenz, indem wir die gelben Tonnen und Sä-
cke abschaffen und eine auf Ressourcenschutz ausge-
richtete Wertstofftonne aufstellen. Wie wir die Wertstoff-
tonne organisieren und finanzieren, ist dann natürlich
die entscheidende Frage, um die bloße Menge auch tat-
sächlich in eine hohe Recyclingqualität umzusetzen.
Und um das zu erreichen, brauchen wir Wettbewerb und
keine Monopole.
Wir wollen eine faire Gleichbehandlung. Eigens da-
für ist auf unser Drängen die neutrale Stelle in die Ge-
setzesbegründung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz ge-
kommen. Nur das schafft Wettbewerb. Wettbewerb
schafft Umwelt- und Ressourcenschutz. Daraus folgen
Marktführerschaft und Arbeitsplätze. Übrigens: Wenn
die Kommunalunternehmen das bessere Angebot ma-
chen, werden sie auch den Zuschlag erhalten. Von einer
„kommunalfeindlichen“ Haltung sind wir meilenweit
entfernt; das läge mir als Stadtrat ohnehin fern!
Mit Ihrem Denken, sehr geehrte Damen und Herren
von der Opposition, sind Sie alle nur davon beseelt, sich
gegenseitig in scheinbaren Wohltaten gegenüber den
Kommunen zu überbieten. Wir machen einen schwieri-
gen Gesetzgebungsprozess durch, in dem die Interessen
der Kommunen genau wie alle anderen Interessen Be-
rücksichtigung finden, und lassen uns vom gesellschaft-
lichen Interesse leiten. Einen derartigen Ansatz kann ich
bei Ihrem Antrag leider nicht erkennen.
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Die EU-Abfallrahmenrichtlinie legt den Schwerpunkt
auf die Abfallhierarchie. Dies bestimmt, dass man ers-
tens Abfall vermeidet. Geht dies nicht, folgt eine nächste
Stufe, die beinhaltet wiederverwenden, abgestuft folgen
Zu Protokoll
stofflich verwerten und thermisch verwerten und als
letze Möglichkeit entsorgen. Damit sollen zukünftig
Kunststoffe, Metalle, Elektronikschrott und andere Ab-
fälle einer besseren Verwertung zugeführt werden, Die
aktuellen Verwertungsquoten zeigen auch in Deutsch-
land: Hier besteht noch ein beträchtliches Potenzial.
Zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie setzt die
Regierung auf Wertstofftonnen. Es soll das beste System
gefunden werden.
Scheinbar objektiv wurden vier Modelle der Samm-
lung, der Verwertung und der Trägerschaft diskutiert.
Keines der Modelle betrachtete jedoch ein System, wel-
ches die Verantwortung in öffentlicher Hand sieht. Drei
rein privatwirtschaftliche Modelle wurden betrachtet
und ein Modell mit kommunaler Beteiligung.
Jetzt wurde die Betrachtung auf zwei Modelle redu-
ziert, FDP-mäßig blieben nur rein private Modelle üb-
rig. Gegen diese Reduzierung der Betrachtung steht der
Antrag der SPD.
Das duale System ist ein Erfolg, deshalb muss die
Wertstofferfassung privatisiert werden. So die Regie-
rung. Für wen ist das duale System ein Erfolg? Für den
Bürger – nein. Statt mit der Müllgebühr die Entsorgung
zu bezahlen, zahlt er diese jetzt bereits an der La-
dentheke. Zusätzlich zu den Gewinnen aus der Theken-
gebühr kassieren die privaten Entsorger gute Gewinne
aus der Verwertung der Verpackungen.
Jetzt sollen noch die Wertstoffe aus den Mülltonnen in
die Wertstofftonnen und damit zu den privaten Entsor-
gern. Die Einnahmen für diese zusätzlichen Wertstoffe
kassiert wer? Klar, die privaten Entsorger.
Die Müllabfuhr bleibt jedoch bei den Kommunen.
Bisher flossen die Erlöse aus verwertetem Müll an die
Kommunen und senkten die Müllgebühren. In meinem
Thüringer Wahlkreis beträgt die Entlastung zum Bei-
spiel durch Altpapier und Metallschrottverkauf etwa
10 Prozent. Fehlen den Kommunen die Wertstoffe im
Abfall, so werden die Müllgebühren trotz geringerer
Müllmenge steigen. Das alte Spiel läuft – Gewinne wer-
den privatisiert, Verluste zahlen die Bürger.
Das lehnt die Linke ab. Wir befürworten dagegen die
Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie mit kommunaler
Verantwortung. Die Erfassung aller Abfälle und Wert-
stoffe liegt dann in der Hand der Kommunen. Dies ge-
schieht über die bereits eingeführten Systeme für den
gelben Punkt für Papier, Glas und Restmüll. Zusammen
mit dem gelben Punkt werden zukünftig auch alle ande-
ren Kunststoffabfälle von Kommunen erfasst. Metalle
werden bereits heute sicher aus dem Restmüll aussor-
tiert. Da muss man nichts Neues, Teures erfinden.
Für Elektronik ist ein Pfandsystem einzurichten.
Kaufe ich ein Mobiletelefon, dann bezahle ich zum Bei-
spiel 5 Euro Pfand. Dieses Pfand erhalte ich bei der Ab-
gabe des Gerätes in kommunalen Wertstoffhöfen zurück.
Diese entscheiden dann, ob sie selbst oder Dienstleister
die Entsorgung entsprechend der Abfallhierarchie über-
nehmen. Mit unserem System verbleiben die Gewinne
12792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12793
Ralph Lenkert
(A) (C)
(D)(B)
aus den Wertstoffen bei den Kommunen und damit bei
den Bürgern.
Für die Linke gehört die Abfallwirtschaft als Teil der
Daseinsfürsorge zur öffentlichen Hand. Es wurden den
Konzernen schon viel zu viele öffentliche Aufgaben
überlassen, die dann ihre Profite auf Kosten der Bürger
maximierten.
Weil der Antrag der SPD zum Planspiel aber immer-
hin ein Modell unter Beteiligung der Kommunen einbe-
zieht, stimmen wir mit Enthaltung. Den Antrag der SPD
nach einer möglichst zeitnahen Veröffentlichung der ge-
wonnen Informationen unterstützen wir. Wir meinen:
Transparenz ist eine der Grundvoraussetzungen für eine
Demokratie überhaupt. Um es nicht zu Missverständnis-
sen kommen zu lassen: Wir unterstützen damit nicht das
Planspiel, sondern ausschließlich die Forderung nach
Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten.
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eine moderne Abfallpolitik muss an Ressourceneffi-
zienz und hohen ökologischen Anforderungen ausge-
richtet sein. Nur so kann die deutsche Vorreiterrolle in
Abfallwirtschaft und -technologien in Europa und der
Welt langfristig erhalten und ein Innovationsschub für
die deutsche Wirtschaft hin zu einer stärkeren Ressour-
cenorientierung erreicht werden. Wir müssen weg von
einer Einwegwirtschaft, die der Erde in großen Mengen
Rohstoffe entnimmt und diese nicht wieder in den Wirt-
schaftskreislauf zurückführt. Die Auswirkung dieser
Wirtschaftsweise ist vor allem aus Sicht des Umwelt-
und Klimaschutzes fatal. Es braucht Regelungen, die so-
wohl bei den Verpackungen als auch bei den Produkten
selbst ansetzt.
Die Verpackungsverordnung kämpft jedoch seit Jah-
ren mit gravierenden Problemen. Ziel der Produktver-
antwortung ist es eigentlich, hohe Recyclingstandards in
Verantwortung der Hersteller zu erreichen. Die jetzige
Praxis ist nicht nur sehr teuer, sie erreicht zudem weder
hohe ökologische Standards bei der Wiederverwertung
der Verpackungen noch ist wirklich nachvollziehbar,
was letztlich mit den Verpackungen geschieht. Immer
weniger Verpackungen werden lizenziert – was mit dem
Rest passiert, ist völlig unklar. Auch die diversen Müll-
skandale der letzen Jahre und unzählige Gerichtsverfah-
ren zeigen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf
durch bessere gesetzliche Regelungen.
Dass die Verpackungsverordnung dringend und um-
gehend novelliert werden muss, steht für mich außer
Frage. Dabei soll nach Vorstellungen der Bundesregie-
rung auch die Einführung der Wertstofftonne festge-
schrieben werden. Wir fordern seit langem die zeitnahe
flächendeckende Entwicklung einer leicht verständ-
lichen und somit verbraucherfreundlichen Wertstoff-
sammlung in Deutschland.
In diesem Zusammenhang ist es für mich völlig un-
verständlich, warum die Überlegungen der Bundesre-
gierung zur Wertstofftonne nicht bereits viel weiter fort-
geschritten sind. Schon im Koalitionsvertrag wurde die
Prüfung der Einführung der Wertstofftonne verspro-
chen. Es gibt wertvolle Erfahrungen aus Pilotprojekten
in zahlreichen Städten und Kommunen. Diese wurden je-
doch nie systematisch ausgewertet, um zu sehen, wel-
ches Modell sich am besten bewährt. Die Einführung
der Wertstofftonne könnte und müsste meiner Ansicht
nach bereits im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz gere-
gelt werden, das sich derzeit im Bundesrat befindet. Im
Gesetzentwurf steht bisher nur eine Ermächtigungs-
grundlage.
Der Vorschlag zur zukünftigen Ausgestaltung der
Verpackungsverordnung soll nach Vorstellung der Bun-
desregierung auf Grundlage des Planspiels des Umwelt-
bundesamtes erarbeitet werden. Es steht für mich völlig
außer Frage, dass die Ergebnisse des Planspiels umge-
hend an den Bundestag weitergeleitet werden müssen,
wie von der SPD in ihrem Antrag gefordert. Denn über
die neue Verpackungsverordnung wird nicht alleine die
Bundesregierung entscheiden, sondern auch der Bun-
destag. Frühzeitige Information ist für mich daher eine
Selbstverständlichkeit.
Auch ist völlig klar: Das Planspiel muss alle Optio-
nen der Wertstoffsammlung prüfen – nicht nur die der
Bundesregierung genehmen –, also auch: Erfassung al-
ler Wertstoffe – auch Verpackungen – unter kommunaler
Kontrolle. Ergebnisoffenes Planspiel muss heißen: Alle
Möglichkeiten werden geprüft. Sonst ist das Ergebnis
wenig aussagekräftig.
Ich würde aber noch weiter gehen als die SPD in ih-
ren Anträgen und fragen: Warum sollen so viele wich-
tige Entscheidungen zur Zukunft der Abfallpolitik per
Regierungsverordnung festgelegt werden und nicht im
Abfallgesetz, wo sie einem demokratischen Prozess mit
Beteiligung unterliegen würden? Diese Frage wird uns
sicherlich auch bei unseren Diskussionen zum neuen
Kreislaufwirtschaftsgesetz beschäftigen.
Der Bundesumweltminister verspricht immer gerne
einen Aufbruch hin zu mehr Ressourceneffizienz. Die
Einführung der Wertstofftonne ist nur ein Beispiel, wo es
die Bundesregierung aber völlig verschlafen hat, recht-
zeitig praktikable und ambitionierte Konzepte zu erar-
beiten, die mehr wertvolle Rohstoffe in die Wirtschaft zu-
rückführen. So werden Chancen für mehr Umwelt- und
Klimaschutz leichtfertig vertan. Wir können gespannt
sein auf die kommenden Monate, in denen das neue Ab-
fallrecht in Bundestag und Bundesrat debattiert wird.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5898 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit
einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht.
Tagesordnungspunkt 22 b. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5886,
den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5484
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Sozial-
demokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen?
12794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) (C)
(D)(B)
– Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syri-
schen Rückübernahmeabkommens
– Drucksache 17/5775 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden werden zu Protokoll genommen; so war
es auch in der Tagesordnung ausgewiesen. Die Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor.
Michael Frieser (CDU/CSU):
Die Syrer haben keine Angst mehr. In den Städten
Hama, Banias, Homs und Latakia gehen sie auf die
Straße, um gegen das sozialistische Baath-Regime unter
Baschar al-Assad zu demonstrieren. Sie tun dies in aller
Öffentlichkeit – sie demonstrieren für ihre Freiheit vor
der Weltöffentlichkeit. In der zentralsyrischen Stadt
Hama fanden in den ersten drei Februarwochen im Jahr
1982 schwere Häuserkämpfe zwischen der syrischen Ar-
mee und der rebellierenden Bevölkerung statt. Das
Baath-Regime unter Präsident Hafis al-Assad rächte
sich an den Aufständischen, indem die Stadt erst mit
Granaten beschossen und dann die Stadtteile von Bull-
dozern eingeebnet wurden. Obwohl das Hama-Massa-
ker weltweite Aufmerksamkeit fand, gelang es dem syri-
schen Regime, die Zahlen der Opfer und den genauen
Hergang zu verschleiern.
Auch Hafis al-Assads Sohn Baschar al-Assad will
heute seine Macht sichern, indem er wie sein Vater
Sicherheitskräfte in die aufständischen Städte schickt.
Sie sollen die friedlichen Demonstrationen auflösen.
Doch ihm gelingt es nicht, den Einsatz der Sicherheits-
kräfte zu verschleiern. Das Verhalten der Soldaten, Poli-
zisten und Geheimdienstler gegen die Bevölkerung wird
heute dokumentiert durch Tausende Tweets, durch Fotos
und Filme, die mit Mobiltelefonen aufgenommen wer-
den. Sie sind ein Zeugnis für die Angst des Regimes vor
der eigenen Bevölkerung, vor den Forderungen nach
Demokratie und Menschenrechten. Die Bilder und
Filme zeigen gleichzeitig, dass die Syrer keine Angst
mehr haben. Wir sehen, dass der Aufbruch in der arabi-
schen Welt auch vor dem Polizeistaat Syrien nicht halt-
macht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion verfolgen das Vorgehen des sozialistischen
Baath-Regimes in Syrien mit großer Sorge. Wir verurtei-
len das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demon-
stranten, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung die
Wahrung der Menschenrechte auf das Schärfste einfor-
dern. Das syrische Regime muss sofort die Übergriffe
gegen Demonstranten einstellen. Diejenigen, die für die
Toten und Verletzten verantwortlich sind, müssen sich
vor Gericht verantworten. Doch die Demonstrationen
und die Reaktion des Baath-Regimes können nicht dazu
führen, den deutsch-syrischen Vertrag über die Rück-
kehr von syrischen Staatsbürgern aufzukündigen oder
auszusetzen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffas-
sung der Bundesregierung, dass gegenwärtig aus asyl-
politischer Sicht die allgemeine Lage in Syrien nicht neu
beurteilt werden muss. Es gibt gegenwärtig keine An-
haltspunkte, dass Rückkehrer von den syrischen Behör-
den als oppositionelle Regimegegner betrachtet werden.
Die Sicherheitsapparate des Regimes richten sich gegen
die aufständische, innerstaatliche Opposition. Wir wis-
sen, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Syrien von
staatlichen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und
den Grund der Abschiebung befragt werden. Danach
wird ihnen die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten
gestattet. Es gibt lediglich Berichte, dass in vereinzelten
Fällen Rückkehrer für die Dauer einer Identitätsüber-
prüfung durch die Einreisebehörden festgehalten wer-
den.
Die Pflichten zur Ausreise durchzusetzen, gehört zu
den zentralen Aufgaben der Ausländerbehörden in den
Bundesländern und Kommunen. Es ist notwendig, dass
die Bundesrepublik die Zuwanderung nach Deutschland
steuert und Ausländer zu einer Rückkehr bewegt, die
sich entweder illegal in unserem Land aufhalten oder
bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf
Dauer in Deutschland zu leben. Dies dient in allererster
Linie der Integration der rechtmäßig in Deutschland le-
benden Ausländer. Aus diesem Grunde hat die Bundes-
republik Deutschland ein großes Interesse daran, dass
Ausländer in ihre Heimatstaaten zurückkehren, die nicht
nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben
gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko
darstellen. Wir haben ein nicht geringes Interesse da-
ran, dass diese Menschen – unter Beachtung der huma-
nitären und Menschenrechtsstandards – wieder in ihre
ursprüngliche Heimat zurückkehren.
Um es deutlich zu sagen: Oppositionelle oder poli-
tisch Verfolgte, die in Deutschland politisches Asyl be-
antragt haben, müssen nicht nach Syrien zurückkehren.
Grundsätzlich gilt, dass Ausländer Asyl in der Bundes-
republik erhalten, wenn ihnen in ihrer Heimat die politi-
sche Verfolgung, konkrete Gefahren für Leib und Leben
oder die Folter drohten. In der Überprüfung eines Asyl-
antrages berücksichtigt das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge in Nürnberg immer auch die allgemeine
Menschenrechtslage im dem jeweiligen Herkunftsland.
Auch ausreisepflichtige syrische Staatsbürger – also
Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde – sind in
Deutschland ohne eine Aussetzung oder gar eine Auf-
kündigung des Abkommens ausreichend geschützt. Denn
die zuständigen Behörden in den Bundesländern und in
den Kommunen vergewissern sich in jedem einzelnen
Fall, ob aufgrund der aktuellen Lage in Syrien eine Ab-
schiebung nach dem Aufenthaltsgesetz ausgesetzt wer-
den muss. Die Zustimmung des Bundesinnenministe-
riums ist erst dann einzuholen, wenn ein Bundesland
einen Abschiebungsstopp von mehr als sechs Monaten
Michael Frieser
(A) (C)
(D)(B)
anordnen will. Doch hat das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge bei einer Eskalation der humanitären
oder politischen Situation in Syrien die Kompetenzen,
auch kurzfristig Entscheidungen über die Rückkehr-
pflicht nach Syrien auszusetzen.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen ab.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Es ist schlicht erschreckend, wenn man die Auslands-
seiten der Tageszeitungen aufschlägt oder die Nachrich-
ten einschaltet und sieht, wie die Menschen bei friedli-
chen Demonstrationen für mehr Demokratie in Syrien
angegriffen, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet wer-
den. Menschenrechtsorganisationen gehen heute davon
aus, dass in Syrien seit Anfang März, also dem Beginn
der Demonstrationen, über 1 000 Menschen getötet
wurden. Die meisten Demonstranten waren dabei unbe-
waffnet. Zudem werden circa 8 000 Menschen nach Aus-
sagen der syrischen Opposition vermisst.
Das nenne ich mehr als nur eine Zuspitzung der Si-
tuation in Syrien. Von daher begrüßen wir als SPD-
Fraktion ausdrücklich den vorliegenden Antrag der
Grünen, das seit Januar 2009 bestehende Rückübernah-
meabkommen zwischen Deutschland und Syrien unver-
züglich auszusetzen und Abschiebungen nach Syrien so-
fort zu stoppen.
Angesichts der Bilder, die uns aus Syrien täglich er-
reichen, ist das in meinen Augen mit sofortiger Wirkung
umzusetzen. Wir brauchen jetzt eine eindeutige Bot-
schaft an die Regierung in Damaskus. Systematische
Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Syrien gesche-
hen, dürfen wir nicht hinnehmen. Daher begrüße ich das
Engagement deutscher Diplomaten, gemeinsam mit
Großbritannien, Frankreich und Portugal eine Resolu-
tion in den UN-Sicherheitsrat einzubringen, die das Ver-
halten des syrischen Regimes scharf verurteilt. Gleich-
zeitig muss aber auch das Rückübernahmeabkommen
ausgesetzt werden; sonst macht sich Deutschland ange-
sichts der jetzigen diplomatischen Bemühungen auf in-
ternationaler Ebene wieder einmal unglaubwürdig.
Einerseits setzen wir uns für eine Resolution ein, ande-
rerseits schieben wir aber nach Syrien ab – wohl wis-
send, was an Qual und möglicher Folter dort bevorsteht.
Deutschland benötigt hier eine eindeutige Linie. Da-
rum unterstützen wir den vorliegenden Antrag und kön-
nen Sie von den Koalitionsfraktionen nur auffordern,
nachzuziehen. Denn auch die EU hat bereits Konse-
quenzen gezogen und für Präsident Baschar al-Assad
ein Einreiseverbot in die EU und obendrein die Sper-
rung seiner Konten veranlasst – höchste Zeit auch für
Deutschland, zu handeln. Angesichts von Massakern an
Demonstranten oder der Inhaftierung von Menschen-
rechtsaktivisten dürfen in unseren Augen Abschiebungen
aktuell nicht durchgeführt werden. Wenn ich allein an ei-
nen Artikel von heute aus dem „Tagesspiegel“ denke, in
dem beschrieben wurde, wie syrische Sicherheitskräfte
von Augenzeugen dabei beobachtet wurden, mit Leichen
gefüllte Container im Meer versenkt zu haben, oder dass
bereits erste Massengräber in der Unruheprovinz Daraa
Zu Protokoll
entdeckt wurden, wird mir schlecht. Wir können nicht se-
henden Auges syrische Staatsbürger zurückschicken und
sie diesen Gewalttätigkeiten, Verhaftungen und Tötun-
gen aussetzen. Angesichts der aktuellen Menschen-
rechtslage und der ungeklärten weiteren Entwicklung
sind Abschiebungen derzeit nicht zu verantworten.
Gleichzeitig stellt sich für mich aber auch die Frage,
ob und inwiefern die Innenministerien der Länder von
der Möglichkeit Gebrauch machen, Abschiebungen vo-
rübergehend auszusetzen, bis sich die Lage vor Ort ge-
klärt hat. Da würde mich einmal interessieren, wie hier
die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Län-
dern im Konkreten aussieht.
Die Entwicklung in Syrien wie in den anderen von
Unruhen erschütterten nordafrikanischen Staaten macht
uns aber auch noch etwas anderes sehr deutlich, näm-
lich: Deutschland darf nicht wegschauen, wenn Hun-
derttausende auf der Flucht sind. Derzeit sind insbeson-
dere Tunesien und Ägypten vom Flüchtlingsstrom
betroffene Staaten, die dringend unsere Unterstützung
beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau benö-
tigen. Deutschland steht in der Verantwortung. Ein
starkes Signal wäre jetzt, ein Resettlement-Programm
aufzulegen. Das wäre ein gutes Signal, auch an die De-
mokratiebewegungen in Nordafrika, dass Deutschland
sie nicht im Stich lässt.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle festgestellt:
Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig. Mei-
nungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben;
die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausge-
setzt. Dies hat die Bundesregierung ebenso wie ihre Vor-
gängerin deutlich benannt.
Inzwischen hat sich die Lage dramatisch verschärft.
Die syrische Regierung bekämpft ihr eigenes Volk. Des-
halb hat der Bundesinnenminister den zuständigen Län-
dern empfohlen, derzeit nicht nach Syrien abzuschieben.
Mehr kann auch eine „Aussetzung des Abkommens“
nicht bewirken.
Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des
Bundesinnenministers. Das Abkommen war bereits in
Zeiten der Verhandlung heftiger Kritik ausgesetzt.
Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen
nach Syrien schon früher generell abgelehnt. Die Vor-
gängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich
dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden.
Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instru-
ment des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der
Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu ef-
fektivieren.
Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blanko-
schecks für die Ausländerbehörden; vielmehr ist weiter-
hin – wie immer – genau zu prüfen, ob im Einzelfall die
Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Ge-
währung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen
setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur
Ausreise verpflichtet ist. Für einen Abschiebestopp sind
in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12795
gegebene Reden
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) (C)
(D)(B)
Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes
Mittel für eine besonders eskalierte Situation sein.
Der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise
aufgrund der in Syrien tatsächlich zugespitzten Situa-
tion die Länder gebeten, von Abschiebungen nach Sy-
rien derzeit abzusehen. Wir werden selbstverständlich
die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin kritisch und
regelmäßig beobachten und, wenn nötig, entsprechend
reagieren.
Die Grünen fordern wie schon in ihrem letzten dies-
bezüglichen Antrag, dass das Schicksal der bisher nach
Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung auf-
geklärt wird und der Bundestag darüber unterrichtet
wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang
möglich, auch schon geschehen, und es gibt keinen
Grund, dies nicht auch fürderhin zu tun.
Auch wünschen die Grünen zum wiederholten Male,
die Bundesregierung möge die Erkenntnisse über den
Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Aner-
kennungspraxis des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist erneut zu sa-
gen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die
Bewertung mit einbezogen. Ob das permanente Wieder-
holen von sachlich unstrittigen und gegenstandslosen
Anträgen sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Inhalt-
lich sind das Schaufensterforderungen, die durch den
Bundesinnenminister im Ergebnis längst berücksichtigt
werden und keiner weiteren Erörterung bedürfen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Jeden Tag erreichen uns derzeit neue Schreckensmel-
dungen aus Syrien. Nach Angaben von Menschenrechts-
organisationen sind dort seit Anfang März 900 Men-
schen von Sicherheitskräften des Regimes ermordet
worden. 9 000 sitzen in Gefängnissen, wo ihnen Folter
und Misshandlung drohen. Derzeit ist nicht absehbar,
wie die Eskalation zwischen dem Regime in Damaskus
und der Opposition ausgehen wird.
Leider ist diese Entwicklung alles andere als überra-
schend. Folter, Misshandlungen und das Verschwinden-
lassen von missliebigen Personen sind in Syrien schon
seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Unter dem Siegel
der nationalen Einheit werden insbesondere die Kurdin-
nen und Kurden im Nordosten des Landes entrechtet.
Hunderttausende haben keine Staatsangehörigkeit; sie
werden enteignet und vertrieben. Opposition dagegen
wurde schon immer mit den Mitteln eines Geheimdienst-
und Folterstaates unterdrückt. Das alles hat aber die
Bundesregierung nicht davon abgehalten, mit diesem
Staat ein Abkommen über die sogenannte Rücknahme
von Menschen aus Syrien – ob mit oder ohne Staatsan-
gehörigkeit –, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in
Deutschland aufhalten, abzuschließen. Die Logik dahin-
ter: Wer in Deutschland nicht als Flüchtling anerkannt
wurde, der braucht auch keine Befürchtungen zu haben,
nach seiner Rückkehr verfolgt zu werden. Dass das Ge-
genteil der Fall ist, zeigen die zahlreichen Beispiele von
abgeschobenen Syrerinnen und Syrern und staatenlosen
Kurdinnen und Kurden aus Syrien, die nach ihrer Ab-
Zu Protokoll
schiebung vom Sicherheitsdienst inhaftiert, zum Teil
auch gefoltert wurden.
Abschiebungen nach Syrien sind also schon immer
ein Malus in der Menschenrechtsbilanz der Bundes-
regierung. Zu dieser Feststellung kommt auch ein
aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Das
Gericht hat mit Urteil vom 6. Mai dieses Jahres die Ab-
schiebung eines Kurden wegen der Gefahr unmenschli-
cher oder erniedrigender Behandlung verboten. Das
Gericht stützt sich auf mehrere Argumente: Schon vor
Beginn der aktuellen Auseinandersetzungen sei es in Sy-
rien zu willkürlichen Verhaftungen gekommen, wobei
sich kein Verfolgungsmodus erkennen lasse. Mit anderen
Worten: Bei keinem der ausreisepflichtigen Menschen
aus Syrien in Deutschland lässt sich mit Sicherheit sa-
gen, dass sie im Einzelfall vor Verfolgung sicher sind.
Das Gericht führt weiter aus, dass sich die Lage nach
Ausbruch der Unruhen noch weiter verschärft hätte, der
Kläger in diesem Fall also noch mehr als zuvor auf-
grund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seines
in Deutschland betriebenen Asylverfahrens gefährdet
sei, Opfer willkürlicher Verhaftung und menschenrechts-
widriger Behandlung in der Haft zu werden.
Vor diesem Hintergrund will ich für die Fraktion Die
Linke ganz klar sagen: Die einfache Aussetzung des
Rückübernahmeabkommens reicht nicht aus; es muss
umgehend gekündigt werden. Und selbst das reicht nicht
aus. Wie aus den Zahlen hervorgeht, die meine Fraktion
bei der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage er-
fragt hat, finden nur die Hälfte aller Abschiebungen
nach Syrien auch tatsächlich unter Rückgriff auf das Ab-
schiebeabkommen statt. Demnach scheint es so zu sein,
dass gerade die Staatenlosen auf dem üblichen Wege ins
Flugzeug gesetzt und nach Damaskus verfrachtet wer-
den. Einen ausreichenden Schutz gibt es nur, wenn die
Betroffenen ein Bleiberecht erhalten. Denn allen, die ja
als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind,
droht bei einer Rückkehr das gleiche Schicksal, wie es
das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil be-
schrieben hat. Der Antrag der Grünen geht an dieser
Stelle aus unserer Sicht nicht weit genug. Auch die ande-
ren Forderungen des Antrags beschreiben nur, was
bereits getan wird oder wozu die Behörden ohnehin
verpflichtet sind. So soll das Bundesamt in seiner Ent-
scheidungspraxis berücksichtigen, wie der Umgang mit
Abgeschobenen in Syrien ist. Das reicht nicht aus. Das
Bundesamt braucht die klare politische Ansage, dass
Menschen aus Syrien einen Schutzbedarf haben. Sie ha-
ben ein Recht auf eine sichere Bleibeperspektive in
Deutschland, wo mehr als zwei Drittel von ihnen seit
über sechs Jahre leben. Dafür wird sich die Linke wei-
terhin einsetzen.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Die Menschenrechtssituation in Syrien spitzt sich
dramatisch zu. In den letzten Wochen demonstrierten in
zahlreichen Städten in Syrien Zehntausende gegen Prä-
sident al-Assad. Dabei kam es auch zu Massakern mit
vielen Toten und Verletzen, weil syrische Sicherheits-
kräfte friedliche Demonstranten angegriffen haben.
12796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12797
Josef Philip Winkler
(A) (C)
(D)(B)
Viele Oppositionelle wurden inhaftiert. Ihnen drohen
Verhöre, Folter und langjährige Haftstrafen. Menschen-
rechtsorganisationen berichten von mehr als 1 000 To-
ten, die die Brutalität des syrischen Regimes gegen
Oppositionelle bisher gefordert hat. Vor diesem Hinter-
grund ist es ein menschenrechtlicher Skandal, dass das
Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der Arabischen Re-
publik Syrien über die Rückführung von illegal aufhälti-
gen Personen weiterhin in Kraft ist.
Der vorliegende Antrag fordert daher die sofortige
Aussetzung des Abkommens, den Erlass eines förmli-
chen Abschiebungsstopps für syrische Staatsangehörige
und unterstreicht die Notwendigkeit, Erkenntnisse über
soll denn bitte schön noch passieren, damit auch bei der
Bundesregierung ankommt, dass das syrische Regime
die Menschenrechte mit Füßen tritt?
Denn das brutale Vorgehen der syrischen Regierung
gegen jedwede Opposition ist doch die Fortsetzung ei-
ner langjährigen Politik, die schon immer geprägt war
von intensiven Geheimdienstaktivitäten, willkürlichen
Inhaftierungen und Folter. Ein bloßer Entscheidungs-
stopp über Asylanträge ist deshalb nicht akzeptabel. Sy-
rische Asylbewerberinnen und Asylbewerber brauchen
jetzt Schutz und eine Perspektive. Bündnis 90/Die Grü-
nen haben schon früh vor den Gefahren für Abgescho-
bene gewarnt und darauf hingewiesen, dass abgescho-
bene Personen nach ihrer Ankunft in Syrien Gefahr
das Schicksal Abgeschobener bei Asylentscheidungen
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge endlich
zu berücksichtigen.
Die bisher vom BMI ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen
sind der Situation nicht angemessen: Das Bundesminis-
terium des Innern hatte in einem Rundschreiben an die
Bundesländer am 28. April 2011 einen Entscheidungs-
stopp für Asylverfahren beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge verkündet und weiter erklärt, Abschie-
bungen nach Syrien seien derzeit nicht „ratsam“. Dies
ist kein formaler Abschiebungsstopp, sondern nur eine
windelweiche Empfehlung, die überdies nicht gewähr-
leistet, dass die entstehenden Zeiten des Aufenthaltes für
die Betroffenen zum Beispiel im Fall künftiger Bleibe-
rechtsregelungen berücksichtigt werden.
Schon in der Vergangenheit wurden abgeschobene sy-
rische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr routinemä-
ßig festgenommen und vom syrischen Geheimdienst ver-
hört. Dies musste auch die Bundesregierung in
Antworten auf parlamentarische Anfragen zugeben.
Umso größer ist die Gefahr für Abgeschobene in der
derzeitigen Situation. Angesichts der verstärkten Re-
pression in Syrien können Abschiebungen dorthin längst
nicht mehr verantwortet werden. Statt halbherziger Re-
gelungen in einzelnen Bundesländern bedarf es eines
klaren Signals vonseiten des Bundes: Das deutsch-syri-
sche Rückübernahmeabkommen ist unverzüglich auszu-
setzen, und Abschiebungen nach Syrien sind bundesweit
sofort zu stoppen. Besonders zu kritisieren ist der von
der Bundesregierung verhängte Entscheidungsstopp für
Entscheidungen bei syrischen Asylantragstellern. Was
laufen, inhaftiert und misshandelt zu werden (Drucksa-
che 17/68). Zwischenzeitlich ist die Liste der betroffenen
Personen länger geworden.
Die Beratungen über unseren erneuten Antrag kön-
nen ein Anstoß für die Regierungskoalitionen sein, ihre
Haltung zur Menschenrechtssituation in Syrien endlich
zu ändern. Ich hoffe sehr, dass es im weiteren parlamen-
tarischen Verfahren gelingt, dass die Bundesregierung
adäquate Regelungen trifft, darunter den notwendigen
förmlichen Abschiebungsstopp und die Aufhebung des
Entscheidungsstopps für Asylanträge aus Syrien.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5775 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Man wird es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind da-
mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung ange-
kommen.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Gut gemacht, Herr Präsident!)
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 27. Mai 2011, 9 Uhr,
ein und würde mich freuen, Sie alle hier wieder begrü-
ßen zu dürfen.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 22:41 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12799
(A) (C)
(D)(B)
sengeld II
Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 26.05.2011
(Tagesordnungspunkt 14 a bis d)Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 26.05.2011
– Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der
Benachteiligung von privat versicherten Be-
hieherinnen und Beziehern von Arbeitslo-
Reichenbach, Gerold SPD 26.05.2011
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.05.2011
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Ahrendt, Christian FDP 26.05.2011
Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 26.05.2011
Dr. Danckert, Peter SPD 26.05.2011
Ebner, Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.05.2011
Ehrmann, Siegmund SPD 26.05.2011
Ernst, Klaus DIE LINKE 26.05.2011
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 26.05.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 26.05.2011
Granold, Ute CDU/CSU 26.05.2011
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.05.2011
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 26.05.2011
Koch, Harald DIE LINKE 26.05.2011
Kopp, Gudrun FDP 26.05.2011
Liebich, Stefan DIE LINKE 26.05.2011
von der Marwitz, Hans-
Georg
CDU/CSU 26.05.2011
Meßmer, Ullrich SPD 26.05.2011
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.05.2011
Nietan, Dietmar SPD 26.05.2011
Nink, Manfred SPD 26.05.2011
Pau, Petra DIE LINKE 26.05.2011
Pieper, Cornelia FDP 26.05.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Erklärung
der Abgeordneten Karin Binder (DIE LINKE)
zur Beratung des Antrags: Die Revision der
OECD-Leitsätze für multinationale Unterneh-
men als Chance für einen stärkeren Menschen-
rechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 20)
Hiermit erkläre ich im Namen der Fraktion Die Linke,
dass unser Votum „Enthaltung“ lautet.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Versorgung der privat Versicherten
im Basistarif sicherstellen
– Beschlussempfehlung und Bericht: Gesetzli-
che Krankenversicherung für Solo-Selbst-
ständige bezahlbar gestalten
– Beschlussempfehlung und Bericht: Private
Krankenversicherung und Pflegeversiche-
rung – Existenzminimum zukünftig auch für
Hilfebedürftige
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 26.05.2011*
Dr. Schröder
(Wiesbaden), Kristina
CSU/CSU 26.05.2011
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 26.05.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.05.2011
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 26.05.2011
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.05.2011
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
12800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Karin Maag (CDU/CSU): Wir reden heute über ei-
nen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, mit
dem sie erreichen wollen, dass eine Beitragslücke von
privat versicherten Hilfsbedürftigen durch eine Ände-
rung im Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, zulasten
der PKV geschlossen wird. Bündnis 90/Die Grünen be-
gründen dies damit, dass eine angebliche Subventionie-
rung der PKV aus Steuermitteln abzulehnen sei. Gesetz-
lich und privat versicherte Hilfebedürftige müssten
gleich behandelt werden, und dies sei nur über eine Ab-
senkung des Basistarifes auf die Höhe des Beitrages zur
GKV möglich.
Des Weiteren reden wir über drei Anträge der Frak-
tion Die Linke: „Private Kranken- und Pflegeversiche-
rung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
dürftige“; „Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-
Selbstständige bezahlbar gestalten“ und „Versorgung der
privat Versicherten im Basistarif sicherstellen“.
Vorab ist mir eines wichtig: Mit dem damals von der
große Koalition beschlossenen GKV WSG ist es seit
dem 1. Januar 2009 überhaupt erst möglich, allen Men-
schen in Deutschland Versicherungsschutz zu bezahlba-
ren Konditionen zu bieten, ohne jemanden unverhältnis-
mäßig zu belasten. Seither müssen alle Unternehmen der
privaten Krankenversicherungen einen sogenannten Ba-
sistarif anbieten. Im Basistarif ist die Höhe des Beitrages
begrenzt. Er darf den Höchstbeitrag der GKVen nicht
überschreiten. Allerdings übernahmen die Grundsiche-
rungsträger die Aufwendungen bei hilfebedürftigen pri-
vat Versicherten, unter Berufung auf eine Regelung im
VAG, nur in der Höhe des Betrages, der auch für gesetz-
lich Versicherte bezahlt wurde – 131,34 Euro zuzüglich
18,04 Euro. Der von den Versicherten zu zahlende Bei-
trag im Basistarif war jedoch höher. Im Basistarif ist er
auf den hälftigen Höchstbetrag der GKV-Versicherten
begrenzt – 287,72 Euro zuzüglich Pflegeversicherung
36,20 Euro. Für die Betroffenen liefen so Beitragsrück-
stände auf. Nochmals: Eine Versorgungslücke entstand,
weil ein im Basistarif Versicherter im Falle der Hilfsbe-
dürftigkeit nur einen Anspruch auf Übernahme der Bei-
träge seiner PKV in der Höhe hatte, welche für einen in
der GKV versicherten ALG-II-Bezieher bezahlt wurden,
ohne dass er sich gegenüber seiner privaten Versiche-
rung auf diese Begrenzung beruhen konnte. Klarstellen
will ich aber auch, dass der Krankenversicherungsschutz
trotz ausstehender Beiträge stets sichergestellt war. Die
privaten Versicherer blieben zur Leistung verpflichtet.
Konkret rede ich heute von 22 501 Versicherten im
Basistarif – Stand 18. Mai 2011 –, das sind 0,2 Prozent
aller privat Versicherten. Davon sind 7 902 hilfebedürf-
tig, und rund 2 200 Menschen haben im Basistarif Bei-
tragsrückstände von drei oder mehr als drei Monaten.
Wir reden von circa 5 Millionen Euro pro Jahr, die die
Träger der Grundsicherung bislang nicht bezahlt haben.
Dass es für eine ordnungspolitisch saubere Lösung kei-
ner Absenkung des Basistarifes bedarf, sondern die Trä-
ger der Grundsicherung für den Basistarif insgesamt auf-
zukommen haben, hat am 18. Januar 2011 das BSG
entschieden. Es stellte schlicht fest, dass der Zuschuss
für privat krankenversicherte ALG-II-Bezieher vom Trä-
ger der Grundsicherung kostendeckend sein muss. Das
BSG löst den Konflikt dahin gehend, dass für die Bezie-
her von ALG II für die Dauer des Leistungsbezuges der
Beitrag über eine analoge Anwendung des § 26 Abs. 2
SGB II ohne höhenmäßige Begrenzung übernommen
werden muss. Die Verfassungswidrigkeit der vorhandenen
Regelung wurde damit entgegen dem Vorwurf von Bünd-
nis 90/Die Grünen gerade nicht festgestellt. Das heißt,
der Zuschuss ist von den Grundsicherungsträgern zu
übernehmen. Damit ist das Problem der Beitragslücke
für die Zukunft gelöst. Ich begrüße es, dass das Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales unmittelbar im Ja-
nuar aus dem Urteil die Konsequenzen gezogen und die
Bundesagentur für Arbeit angewiesen hat, privat versi-
cherten ALG-II-Beziehern einen Zuschuss bis zum hal-
bierten Beitrag im Basistarif zu gewähren.
Der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, aus
Gründen angeblicher Gleichbehandlung den Basistarif
der PKV einfach zu senken, würde im Übrigen nicht
etwa, wie sie formulieren, einen verfassungswidrigen
Zustand beenden, sondern erst einen solchen schaffen.
Das BVerfG hat bereits in seinem Urteil zur Zulässigkeit
des Basistarifs festgestellt, dass der Tarif wenigstens ein
Mindestmaß einer Kalkulation aufweisen muss. Dem
würde eine absolute Festlegung in der Höhe sicher nicht
genügen. Hinsichtlich der Schulden aus abgeschlossenen
Zeiträumen, für die keine Rechtsmittel eingelegt wur-
den, werden sich das BMG, die Träger der Grundsiche-
rung und der Verband der PKVen im Sinne der Aussage,
dass niemand durch seine Krankenversicherten unver-
hältnismäßig belastet werden darf, noch einigen.
Übrigens würde auch die Einführung einer Bürgerver-
sicherung nach Lesart von Bündnis 90/Die Grünen, auf
die sie auch hier wieder gebetsmühlenhaft verweisen,
nichts ändern. Sie weisen in ihrem Parteitagsbeschluss
vom Herbst 2010 zu Recht darauf hin, dass bei der
Einbeziehung der privat Krankenversicherten in die Bür-
gerversicherung deren verfassungsrechtlich geschützte
Ansprüche zu beachten wären. Es bräuchte also Über-
gangsmodelle für die nächsten circa 50 Jahre! Darauf
möchte ich die 2 200 Betroffenen nicht vertrösten!
Zu den weiteren Nachteilen, wie dem gigantischen
Verwaltungsaufwand bei der Einbeziehung von Einkom-
men aus Zins und Kapitaleinkünften – der SPD-Entwurf
sieht dies nicht umsonst nicht vor –, der Kapitalflucht ins
Ausland oder der weiteren Belastung der mittleren Ein-
kommen, brauche ich mich da gar nicht zu äußern. Fest-
zuhalten bleibt, dass eine gesetzliche Lösung sicher
nicht notwendig ist. Es herrscht durch die höchstrichter-
liche Rechtsprechung Rechtssicherheit und Klarheit.
Zu den Anträgen der Linken gilt kurz: Existenzmini-
mum: Hier verweise ich auf das zum Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen Gesagte.
Solo-Selbstständige: Hier gilt, dass besondere Min-
destbeiträge für Selbstständige sinnvoll sind, weil das
Steuerrecht den Selbstständigen, anders als Arbeitneh-
mern, eine gewisse Gestaltbarkeit des eigenen Einkom-
mens erlaubt. Der Begriff „hauptberuflich selbstständige
Tätigkeit“ ist überdies von der Rechtsprechung eindeutig
definiert. Es ist Aufgabe der gesetzlichen Kassen, zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12801
(A) (C)
(D)(B)
prüfen, ob eine selbstständige Tätigkeit im Einzelfall
hauptberuflich ausgeübt wird.
Versorgung der Versicherten im Basistarif sicherstel-
len: Richtig ist, dass die KVen und KZVen verpflichtet
sind, die Versorgung der Versicherten im Basistarif si-
cherzustellen, § 75 Abs. 3 a SGB V. Eine Behandlungs-
pflicht für den einzelnen Vertragsarzt wird damit, sofern
es sich nicht um einen Notfall handelt, nicht begründet.
Die Versorgung ist meines Wissens aber gewährleistet.
So haben zum Beispiel KVen und KZVen abgefragt,
welche Ärzte oder Zahnärzte eines Bezirkes freiwillig
bereit sind, zum Basistarif zu behandeln. Einige Hundert
Zahnärzte zum Beispiel in Baden-Württemberg haben
sich gemeldet. Bei der KZVBW findet sich die entspre-
chende Hotline für die Versicherten, um einen Zahnarzt
zu erfragen.
Nochmals: Mit dem Urteil des BSG sind die von
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linken problematisier-
ten Fälle gelöst. Anlass für gesetzgeberisches Handeln
besteht nicht.
Stephan Stracke (CDU/CSU): Die Anträge der Op-
position befassen sich im Wesentlichen mit Themen, die
überholt und damit als erledigt anzusehen sind. Bekannt-
lich hat das Bundesozialgericht in einem viel beachteten
Urteil entschieden, dass bei Beziehern von Arbeitslosen-
geld II in der privaten Krankenversicherung die bisher
entstandene Beitragslücke nicht vom Versicherten zu tra-
gen ist, sondern im notwendigen Umfang von dem Trä-
ger für Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese rich-
terliche Klarstellung ist zu begrüßen; denn sie zieht
einen Schlussstrich unter eine im Einzelfall mögliche
unzumutbare wirtschaftliche Belastung privat versicher-
ter SGB-II-Leistungsempfänger.
Freilich hat das Bundessozialgericht auch Fragestel-
lungen offengelassen, die es zu beantworten gilt. Dazu
gehört das Problem, wie mit den aufgelaufenen Alt-
schulden der Versicherten bei ihren Krankenkassen zu
verfahren ist. Dazu gehört auch, wie hoch der maximal
für die Beiträge in der privaten Krankenversicherung zu
zahlende Zuschuss ist.
All diese Punkte sind von Bedeutung, vor allem für
die Betroffenen selbst. Und natürlich würde es sich loh-
nen, hierüber auch in dieser öffentlichen Debatte zu rin-
gen.
Aber das ist nicht die Intention der Anträge der Oppo-
sition. Die Opposition will keine Lösung für diese drän-
genden Probleme, sondern sie will vor allem eines: Die
Belastungen von ALG-II-Beziehern in der privaten
Krankenversicherung werden wieder einmal als Vehikel
genutzt, um die Lieblingsdebatte der Opposition anzu-
heizen. Es geht um die Bürgerversicherung. Die Bürger-
versicherung ist nichts anderes als ein Kampfinstrument,
ein Kampfinstrument, das befeuert wird von Neid und
Missgunst, das Solidarität predigt und verschleiert, dass
unser hervorragendes Gesundheitswesen in das trübe
Gewässer von Staatsdirigismus und Einheitsmedizin
driften soll. Das ist der Kern der Bürgerversicherung,
nichts anderes!
Wir erleben hier ja ein seltenes Schauspiel: Da kün-
den die Knappen der SPD seit Jahr und Tag an, dass die
SPD die Öffentlichkeit mit einem blitzsauber durchge-
rechneten Gesundheitskonzept überzeugen werde. Auch
von der SPD-Parteizentrale wurden in den letzten Mona-
ten entsprechende Trommelwirbel intoniert. Und da seht
ihn euch an: Ritter Lauterbach betritt den parlamentari-
schen Kampfplatz, kraftstrotzend, auf hohem Rosse sit-
zend mit seinem durchgerechneten Gesundheitskonzept
als Schild und Schwert in der Hand – eine wahrlich be-
eindruckende Vorstellung! So schön hat sich die SPD
das ausgemalt und vorgestellt. Aber in Wahrheit er-
scheint Lauterbach nicht als strahlender Held, sondern
– wie könnte es anders sein? – als Ritter der traurigen
Gestalt. Denn nichts passt an diesem Konzeption. Von
wegen durchgerechnet! Von wegen solide! Ihr Konzept,
Herr Lauterbach, ist unsolide und falsch gerechnet. Es
fehlen rund zwei 2 Milliarden Euro!
Ich frage Sie: Durch welche Maßnahme wollen Sie
das ausgleichen? Wollen Sie Beiträge erhöhen? Oder
wollen Sie Leistungskürzungen, Rationierungen und
Priorisierungen? Was wollen Sie? Ich sage Ihnen: Ihr ge-
samtes Konzept passt nicht, weil ihre Grundhaltung
falsch ist. Diese Grundhaltung beginnt mit einem fal-
schen Verständnis von Freiheit, Eigentum und Solidari-
tät. Ist es wirklich unsolidarisch, wenn Einzelne ab einer
gewissen Einkommenshöhe für ihre Gesundheit selbst
aufkommen müssen? Ist das unsolidarisch oder nicht
vielmehr Ausdruck richtig verstandener, verantworteter
Freiheit? Es ist diese verantwortete Freiheit, die jetzt die
Opposition umzudeuten versucht, eine Umdeutung, die
ich nicht durchgehen lasse.
Bei der Opposition geht es aber nicht nur um falsch
verstandene Freiheit, sondern auch um ein gestörtes Ver-
hältnis zum Eigentum. Das Konzept der Bürgerversiche-
rung aller Oppositionsparteien hat vor allem einen Ge-
danken zum Inhalt: Ran an die Töpfe, ran an die
Altersrückstellungen der PKV, ran an rund 145 Milliar-
den Euro! Das ist die eigentliche Motivation. Und damit
wird auch klar, dass die Bürgerversicherung insbeson-
dere eines ist: ein Enteignungsinstrument!
Das kann man nicht dadurch kaschieren, dass man
privat Versicherten innerhalb eines bestimmten Zeit-
raums die Wahl lässt, unter Mitnahme der Altersrück-
stellungen in die gesetzliche Krankenversicherung zu
wechseln. Denn diese scheinbare Großzügigkeit hat die
Wirkung von Zwang. Denn für die, die sich entscheiden,
in der PKV zu bleiben, werden ihre Tarife immer teurer,
da ihre Altersgruppen vergreisen. Dieser Effekt ist kein
zufälliger, sondern ein gewollter. Ziel ist es ja, der PKV
den Boden zu entziehen. Aber was passiert mit den Al-
tersrückstellungen? Sollen diese in den Gesundheits-
fonds einfließen und dann auf alle Krankenkassen ver-
teilt werden? Das hat nichts mehr mit Eigentumsrechten
zu tun! Ich kann hier nur einen enteignungsgleichen Ein-
griff erkennen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen
lassen! Nicht Neid, Missgunst und Eingriff in Eigentum
sollte die Triebfeder unseres Gesundheitswesens sein.
Triebfeder ist für uns, die im weltweiten Vergleich beste
Gesundheitsversorgung zu erhalten und noch besser zu
machen. Daher stellen wir den Patienten in den Mittel-
12802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
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punkt, in den Mittelpunkt, wenn es um Patientenrechte
geht, in den Mittelpunkt, wenn es um den wirksamen
Schutz vor gefährlichen Keimen im Krankenhaus geht,
und in den Mittelpunkt, wenn es um die Sicherstellung
der flächendeckenden, wohnortnahen Patientenversor-
gung geht. Deshalb bringen wir ein Versorgungsgesetz
auf den Weg, das auch in Zukunft die ärztliche Versor-
gung gerade im ländlichen Raum gewährleistet und die
Bedürfnisse und Interessen vom Patienten her definiert.
Deshalb kämpfe ich auch für eine Reform der Pflegever-
sicherung, die die Geißel des Alters, nämlich die De-
menz, stärker berücksichtigt und pflegende Angehörige
mit ihren Belastungen noch ernster nimmt.
Das ist der richtige Weg, der Weg der christlich-libe-
ralen Koalition, ein Weg, der sich an den konkreten
Bedürfnissen der Patienten ausrichtet und nicht an ideo-
logischen Debatten. Wir stellen den Menschen in das
Zentrum. Das unterscheidet uns von der Opposition.
Und das ist auch gut so!
Bärbel Bas (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion ist
fest überzeugt: Gesundheit braucht Solidarität. Seit über
100 Jahren ist sie die tragende Säule der gesetzlichen
Krankenversicherung: die Solidarität der Gesunden mit
den Kranken und der Starken mit den Schwachen. Nie-
mand kann von sich sagen, ob er morgen noch auf der
Seite der Gesunden oder Starken ist. Deshalb ist es gut,
dass sich die Menschen bis heute auf die Solidarität in
der Krankenversicherung verlassen können.
Nicht nur uns beschleicht aber der Eindruck, dass
diese Solidarität bedroht ist. Sie wird politisch von au-
ßen angezählt und auch von innen unter Druck gesetzt.
Eigenverantwortung stärken, so die gesundheitspoliti-
sche Maxime der amtierenden Bundesregierung, bedeu-
tet im Umkehrschluss: Solidarität schwächen. Da passt
es natürlich ins Kalkül, dass die Solidarität in der gesetz-
lichen Krankenversicherung auch durch die Schließung
der City BKK infrage gestellt wird. Dabei braucht es
nicht weniger, sondern mehr Solidarität.
Ein Beispiel sind die heute zu beratenden Vorlagen.
Sie betreffen die Probleme von Menschen, die in Not-
lagen geraten, weil sie ihre Krankenversicherungsbei-
träge und -prämien nicht bezahlen können. Wir sind
heute glücklicherweise so weit, dass diese Menschen im
Krankheitsfall behandelt werden und die Behandlung
nicht auch noch aus eigener Tasche zahlen müssen. Aber
ihre Schulden wachsen trotzdem weiter, so lange wie sie
die Prämien nicht bezahlen können. Bei diesen und einer
ganzen Reihe weiterer Probleme handelt es sich aber nur
um die Symptome des grundsätzlichen Problems der
Krankenversicherung in Deutschland: ihre Spaltung in
einen solidarisch finanzierten und gesetzlich organisier-
ten Teil auf der einen Seite und einen individuell finan-
zierten und privat organisierten Teil auf der anderen
Seite. Zwischen diesen beiden Teilen soll nach dem Wil-
len der Bundesregierung ein Wettbewerb stattfinden, der
in Wirklichkeit niemals funktionieren kann. Zudem lei-
det die GKV darunter, dass sich insbesondere die Gesun-
den und Leistungsstarken der Solidarität durch Wechsel
in die PKV entziehen können. Die PKV hingegen wäre
ohne die Leistungserbringerstruktur, welche die 90 Pro-
zent der GKV-Versicherten finanzieren, nutzlos.
Die amtierende Bundesregierung verschärft die Pro-
bleme: Sie machen die GKV durch Beitragserhöhungen,
Kopfpauschale und Vorkasse unattraktiv. Sie gehen nicht
gegen die Diskriminierung im Wartezimmer vor. Und
gleichzeitig verkürzen Sie die Wartezeit für den Wechsel
in die PKV. Wenn sich die Bundesregierung anlässlich
der City-BKK-Schließung Sorgen um den Zustand der
GKV macht, kann ich nur sagen: Sparen Sie sich die
Krokodilstränen! Anstatt uns weiter mit der Beseitigung
der Folgen dieser Spaltung in der Krankenversicherung
zu beschäftigen, sollten wir unsere kostbare Zeit endlich
der Ursache der Probleme widmen. Etwas, was sich auch
die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger wünscht:
eine solidarische und leistungsfähige Bürgerversiche-
rung für alle Menschen. Die Vorschläge dazu liegen auf
dem Tisch, die Vorteile sind nicht von der Hand zu wei-
sen. Und ganz nebenbei würden die Probleme, die Ge-
genstand der heutigen Beratungen sind, gelöst.
Lassen Sie mich anschließend etwas zu den Vorlagen
sagen:
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem ersten An-
trag, dass im Basistarif Versicherte von den Leistungs-
erbringern nicht schlechter behandelt werden. Außerdem
sollen diese Leistungen genauso bezahlt werden wie
Leistungen an PKV-Vollversicherten. Zudem soll die
PKV abgeschafft werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält es für eine Selbst-
verständlichkeit, dass alle Patientinnen und Patienten
unabhängig von ihrem derzeitigen Versichertenstatus
gleich schnell und gleich gut versorgt werden. Allein die
Schwere der Erkrankung und die medizinische Dring-
lichkeit darf entscheidend sein, wer zuerst behandelt
wird. Alles andere ist ein Verstoß gegen das Berufsethos
und die Berufsordnung der Heilberufe. Dass eine Un-
gleichbehandlung dennoch Realität ist, ist schlimm ge-
nug. Entsprechende Verstöße sind daher zuallererst von
der Selbstverwaltung und den Kammern zu ahnden. Ge-
sundheitspolitisch sollten auch hier nicht die Symptome
behandelt werden, also die Zwei-Klassen-Medizin, son-
dern die Ursache: Es darf keinen Anreiz für Ärzte geben,
Patienten wegen eines besseren Honorars bevorzugt zu
behandeln. Eine Angleichung der Vergütungen zwischen
GKV und PKV ist dringend geboten. Dies ist Bestandteil
unseres Konzepts einer solidarischen Bürgerversiche-
rung.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke zu den Solo-
Selbständigen kommt der Verdienst zu, dass er ein häu-
fig unterschätztes Problem aufgreift. Die Linke schlägt
vor, die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage für Selbst-
ständige auf die allgemeine Mindestbeitragsbemes-
sungsgrundlage für freiwillig Versicherte von 300 Euro
abzusenken. Auch hier bietet das Konzept der Bürger-
versicherung aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion eine
Lösung an: In ihrem Zuge soll die Mindestverbeitragung
für Selbstständige auf 400,01 Euro festgelegt werden.
Damit werden angestellte und selbstständige Geringver-
diener in der Krankenversicherung gleich behandelt. Für
die Versicherten hieße das, dass ihre Beitragsbelastun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12803
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gen besser kalkulierbar sind. Sie geraten nicht mehr in
die Gefahr, durch ausstehende Beiträge in die Verschul-
dung zu rutschen.
Die Fraktion Die Linke hat weiterhin einen Vorschlag
zur Schließung der Finanzierungslücke von im PKV-Ba-
sistarif versicherten Hilfsbedürftigen vorgelegt. Sie for-
dert im Prinzip nichts anderes, als dass die ALG-II- und
Sozialgeldleistungsträger den Zuschuss für Krankenver-
sicherung auf die Höhe der Prämien für den PKV-Basis-
tarif erhöhen sollen. Letztendlich müssen diese Mehr-
kosten aus Steuermitteln beglichen werden.
Meine Fraktion geht davon aus, dass dies die falsche
Schlussfolgerung aus dem Urteil des Bundessozialge-
richts ist. Es ist falsch, wenn mit den knappen finanziel-
len Ressourcen die relativ hohen Beiträge im Basistarif
der PKV finanziert würden. Aus diesem Grund lehnen
wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Auch in diesem Fall wäre eine solidarische Bürger-
versicherung für meine Fraktion die einzig sinnvolle
Lösung. Da wir die Solidarität der Versicherten unter-
einander für das wichtigste Element in der Krankenver-
sicherung ansehen, plädiert die SPD-Bundestagsfrak-
tion für eine Lösung, wie sie auch der Gesetzentwurf der
Grünen vorsieht. Wir teilen die Auffassung, dass gesetz-
lich und privat versicherte Hilfebedürftige gleichberech-
tigt zu behandeln sind. Es ist daher richtig, die Prämien
der PKV für diese Personengruppe zu senken. Würden
die Zuschüsse für Hilfsbedürftige auf die Höhe der Ba-
sistarifprämien angehoben, bedeutete dies eine Subven-
tion der PKV einschließlich ihrer ruinösen Provisions-
und undurchsichtigen Vertriebsmethoden aus Steuermit-
teln. Es darf keine Steigerung der Gewinne privater Ver-
sicherungsunternehmen auf Kosten der Allgemeinheit
geben. Das Urteil des Bundessozialgerichts in dieser
Frage ist allein aus Sicht des betroffenen Personenkrei-
ses zu begrüßen. Ich freue mich für jeden Einzelnen, der
aus der Schuldenfalle herauskommt. Dennoch muss die
Politik weiter an einer grundsätzlichen Lösung des Pro-
blems arbeiten. Der Streit zwischen der Bundesarbeits-
ministerin von der Leyen und dem damaligen Bundesge-
sundheitsminister (wider Willen) Rösler um die Frage,
wessen Haushalt die Kosten dafür trägt, hat nicht dazu
beigetragen, das Vertrauen in die Politik zu stärken.
Zudem bin ich der Auffassung, dass die Erhöhung des
Beitrags für ALG-II-Empfänger geprüft werden sollte,
da der bisher von den Leistungsträgern an die GKV
überwiesene Beitrag zu niedrig ist. Allerdings muss da-
rauf geachtet werden, dass das Solidarprinzip der GKV
nicht ausgehebelt wird. Der Beitrag muss sich an der
finanziellen Leistungskraft und nicht an den durch
Krankheit verursachten Kosten orientieren.
Zum Abschluss noch einmal der Appell an die Mit-
glieder der Regierungsfraktionen: Gebieten Sie dem
Treiben des Gesundheitsministers Einhalt! Diese Bun-
desregierung betreibt aus ideologischen Gründen eine
systematische Schwächung der solidarischen Kranken-
versicherung. Sie macht den Versicherten die GKV ma-
dig, sei es durch Kopfpauschalen, Vorkasse oder Chaos
in der Apotheke. Sie lässt Kassen in Notlage sehenden
Auges gegen die Wand fahren und insolvent gehen. Und
sie zieht politischen Profit aus der Verunsicherung der
Versicherten nach der City-BKK-Pleite. Der Gesund-
heitsminister sollte Anwalt der gesetzlich Versicherten
sein. Er sollte ihnen Vertrauen in die GKV geben und al-
les dafür tun, dass die Leistungen der GKV bezahlbar
und erreichbar bleiben.
Jens Ackermann (FDP): Gesundheit ist ein hohes
Gut, ja, wenn nicht sogar das wichtigste im Leben. Wir
alle wollen möglichst lange gesund und mobil sein,
möchten das Leben und seine Chancen aktiv genießen
und gestalten können. Leider ist dieser hehre Wunsch,
das Ziel eines selbstbestimmten Lebens bei bester Ge-
sundheit, nicht immer planbar. Wir alle können unerwar-
tet krank werden, und jeder kann plötzlich auf fremde
Hilfe angewiesen sein. Dann ist es gut, einen Arzt aufsu-
chen zu können, um sich professionell und bestmöglich
behandeln zu lassen, damit Leid gelindert und Krankhei-
ten behandelt werden können. Wir wissen, dass wir in
Deutschland ein Gesundheitssystem haben, um das uns
andere Länder beneiden: Die Patienten genießen eine
sehr gute medizinische Versorgung bei im internationa-
len Vergleich moderaten Ausgaben. Vieles ist heute me-
dizinisch machbar, und die Menschen im Land haben
Zugang zu bester Versorgung. Dass den Bürgerinnen und
Bürgern dies ermöglicht wird, liegt neben dem immer
weiter entwickelten medizinischen Wissen und zahlrei-
chen Innovationen vor allem auch und gerade an der Ab-
sicherung der Menschen durch eine Krankenversiche-
rung. Da wir im Land eine Pflichtversicherung haben,
können folglich auch alle Kranken behandelt werden.
In Deutschland können die Menschen prinzipiell zwi-
schen zwei verschiedenen Versicherungsarten wählen:
zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenver-
sicherung. Mit Blick auf die heute zu behandelnden An-
träge zum Existenzminimum für Hilfebedürftige – und
hier dem Wunsch der Linken nach einer Gleichbehand-
lung von GKV und PKV – sei an dieser Stelle vielleicht
nochmals der Hinweis erlaubt, dass es sich hierbei um
zwei unterschiedliche Systeme handelt. Ich glaube, dass
diese kurze Vorwegnahme mit Blick auf die heute zu dis-
kutierenden Anträge wichtig ist. Denn: Die Forderung
nach einer Gleichbehandlung von GKV und PKV mag
aus der Sicht der Linken zwar zunächst einsichtig sein,
da aus ihrer Sicht ja gerne alles gleichgemacht wird.
Aber dieser Versuch kann nicht gelingen, die Kollegin-
nen und Kollegen der Linken vergleichen – mal wieder –
Äpfel mit Birnen.
Diese Forderung berücksichtigt eben nicht die system-
immanenten Unterschiede beider Krankenversiche-
rungssysteme. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nut-
zen und Ihnen die Differenzen noch einmal nahebringen:
Das System der GKV ist beispielsweise eines, welches
über ein Umlageverfahren und überwiegend durch ein-
kommensorientierte Beiträge finanziert wird. In der PKV
hingegen werden die Beiträge der Versicherten auf der
Grundlage privatrechtlicher Verträge nach einem abge-
stuften versicherungsmathematisch-kalkulatorischen Prä-
miensystem erhoben. Dies orientiert sich am individuel-
12804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
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len Risiko des Versicherten beim Eintritt in die PKV und
berücksichtigt Altersrückstellungen.
In Deutschland sind die Menschen also für den
Krankheitsfall abgesichert. Das ist gut und wichtig und
kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Schließlich
haben wir nur dieses eine Leben, es sollte also im Inte-
resse von uns allen liegen, dass wir gesund bleiben. Es
sollte uns aber auch einiges wert sein, ein gesundes Le-
ben zu führen und im Notfall die notwendige Behand-
lung erhalten zu können. Gesundheit ist deshalb der
geldwerteste Vorteil überhaupt!
Wir müssen den Menschen deshalb ehrlich sagen,
dass ihre Ausgaben für den Gesundheitsschutz hoch
sind, dass Gesundheit mit Sicherheit nicht billiger, son-
dern eher noch teurer wird. Jedem muss klar sein, dass
die Kosten eher steigen als sinken werden. Aber wir
müssen ihnen im gleichen Atemzug auch sagen: Es lohnt
sich! Denn: Ein gesundes Leben ist ein gutes Leben. Ein
Leben mit Gesundheitsschutz, mit einer Absicherung für
den Notfall, ist ein entspanntes Leben. Macht euch keine
Sorgen, ihr seid abgesichert! Bei aller Bedeutung für die
Gesundheit müssen wir trotzdem im Auge behalten, dass
die Ausgaben bezahlbar bleiben. Dies ist die entschei-
dende und zentrale Herausforderung der kommenden
Jahre und Jahrzehnte. Mit dem demografischen Wandel
und dem medizinisch-technischen Fortschritt steht die-
ses Gesundheitswesen vor großen Veränderungen und
einem enormen Anpassungsdruck.
Für Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr und für
die Bundesregierung im Ganzen ist dabei eines unbe-
streitbar: Das Gesundheitswesen braucht eine solide Ba-
sis, um für diese Herausforderungen gewappnet zu sein.
Wir wollen nicht irgendwann zu Abstrichen bei Leistun-
gen und Qualität gezwungen sein, sondern den Men-
schen konkrete Perspektiven geben. Hierzu hat die Ko-
alition mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial
ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung die richtigen Weichen gestellt. Das Gesetz
ist ein guter Kompromiss für ein zukunftsfestes und leis-
tungsstarkes Gesundheitssystem. Wir verbinden damit
eine strukturelle Neuordnung des Gesundheitswesens
mit fairen und gleichmäßig verteilten Ausgabenbegren-
zungen. Dabei wird die Qualität der Versorgung nicht
gefährdet und Leistungen werden nicht beschränkt.
Zugleich führen wir den einkommensabhängigen Kas-
senbeitrag auf das Niveau vor der Wirtschafts- und
Finanzkrise zurück. Die Absenkung des einkommensab-
hängigen Beitrages auf Pump ist nun nicht mehr erfor-
derlich. Es ist uns gelungen, die Finanzierung der Ge-
sundheitskosten von den Arbeitskosten abzukoppeln und
damit auf eine stabile und verlässliche Grundlage zu
stellen. Gerade vor dem Hintergrund der hier zur Dis-
kussion stehenden Anträge erscheint es mir wichtig, den
Rahmen auch nochmals einzubeziehen und zu sagen:
Wir sind hier auf einem guten Weg.
Natürlich gibt es auch Menschen, die auf finanzielle
Hilfe angewiesen sind: jene, die beispielsweise unver-
schuldet ihren Arbeitsplatz verloren haben und nun der
Unterstützung bedürfen. Deshalb wird ja auch ALG-II-
Empfängern konkret geholfen, wenn es um die Finanzie-
rung ihrer Gesundheitsrisiken geht. Die Menschen ste-
hen füreinander ein, und so haben auch Bezieher von Ar-
beitslosengeld II Anspruch auf Übernahme ihrer vollen
Krankenversicherungsbeiträge durch die Träger der
Grundsicherung. Das ist richtig. Es ist eine besondere
Leistung, dass wir es als selbstverständlich ansehen, den
Menschen in Not zu helfen – ganz gleich, ob sie gesetz-
lich oder privat versichert sind. Das Signal ist klar: Der
Staat lässt euch in der Not nicht allein! Die Botschaft,
dass Menschen in Not nicht alleine gelassen werden, ist
ein guter Aufhänger, um zu verdeutlichen, dass die An-
träge vor allem eines sind: veraltet. Sie entsprechen
schlicht nicht mehr dem Ist-Stand. Es ist doch völlig of-
fensichtlich, dass hier mit den Anträgen versucht wird,
vermeintliche Probleme zu skizzieren, die so nicht exis-
tieren. Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken bauen hier ein Problemszenario auf, das so nicht
mehr erkennbar ist. Denn die Anträge beziehen sich auf
die sogenannte Beitragslücke von privat versicherten
Hilfebedürftigen, ohne die Entscheidung des Bundesso-
zialgerichts zu berücksichtigen – im Übrigen eine Ent-
scheidung vom 18. Januar dieses Jahres, also über fünf
Monate alt.
Da einige die Entscheidung offenbar noch nicht ken-
nen, will ich sie nochmals wiederholen: Das Bundesso-
zialgericht hat entschieden, dass privat krankenversi-
cherte Bezieher von Arbeitslosengeld II Anspruch auf
Übernahme ihrer vollen Krankenversicherungsbeiträge
durch die Träger der Grundsicherung haben. Das sind in
2011 monatlich maximal 287,72 Euro. Dies ist im Übri-
gen der halbe Höchstbeitrag der GKV. Natürlich wurde
sofort auf dieses Urteil reagiert. So hat die Bundesagen-
tur für Arbeit bereits am 27. Januar 2011 eine Verfahrens-
information erlassen. Darin werden die gemeinsamen
Einrichtungen angewiesen, ab dem 18. Januar 2011, also
rückwirkend, die Beiträge für eine private Krankenversi-
cherung bis zur Höhe des halben Basistarifs zu überneh-
men. Die laufenden Fälle werden von der Bundesagentur
von Amts wegen umgestellt. Die Betroffenen, die ohne-
hin genügend Sorgen haben, müssen dabei nicht tätig
werden; sie werden also doppelt entlastet.
Für privat versicherte Bezieher von Leistungen nach
dem Zwölften Sozialgesetzbuch gilt, dass die Träger der
Sozialhilfe angemessene Beiträge für eine private Kran-
kenversicherung im Falle von Hilfebedürftigkeit zu
übernehmen haben.
Das Gericht hat also für die nötige Klarheit gesorgt.
Das Urteil und die Folgen sind unbestreitbar wichtig für
die Betroffenen im Land. Aber gerade deshalb gilt eben
auch: Die Problematik der Beitragslücke in der PKV ist
seit Januar 2011 faktisch gelöst und die – in unterschiedli-
cher Ausprägung aufgegriffenen – inhaltlichen Schwer-
punkte der hier zu behandelnden Anträge sind somit
weitgehend weggefallen. Dabei möchte ich betonen,
dass der auf den Höchstbeitrag zur gesetzlichen Kran-
kenversicherung begrenzte Beitrag im Basistarif, der im
Übrigen bei Hilfebedürftigkeit auf den halben zu ver-
mindern ist, von der Bundesregierung als angemessen
angesehen wird. Natürlich möchte ich auch eingestehen,
dass das Bundessozialgericht mit Blick auf den Umgang
mit den durch die Beitragslücke aufgelaufenen Altschul-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12805
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den keine Antworten gegeben hat. Diese wird es jedoch
auch in Kürze geben; hier prüft beispielsweise das Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales, wie mit diesen
verfahren werden soll.
Gestatten Sie mir aber, nochmals auf eine Forderung
der Linken im Antrag „Private Kranken- und Pflegever-
sicherung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfe-
bedürftige“ einzugehen, die nach kostendeckenden
Beiträgen für ALG-II-Bezieher in der GKV. Hier ist fest-
zustellen, dass entsprechend höhere Beiträge mit erheb-
lichen Belastungen für den Bundeshaushalt verbunden
würden. Dieses Ansinnen in dem Antrag würde also die
Bemühungen um Haushaltskonsolidierung konterkarie-
ren.
Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag
der Linken zu einer geforderten gesetzlichen und bezahl-
baren Krankenversicherung für Solo-Selbstständige ein-
gehen. Die besonderen Mindestbeiträge für Selbststän-
dige sind im gegenwärtigen System der gesetzlichen
Krankenversicherung sinnvoll, weil das Steuerrecht nun
mal den Selbstständigen – anders als Arbeitnehmern –
eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt.
Diese steuerrechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber
nicht in Form ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf
die gesetzliche Krankenversicherung auswirken.
Zudem müssen wir doch eines bedenken: Versicherte,
die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, belasten die
übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei-
tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri-
gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Dies
ist aus unserer Sicht nicht tragbar. Deswegen können wir
dem Antrag auch nicht zustimmen. Das ist schlicht unso-
zial. Auch ist es doch so, dass die gesetzlichen Regelun-
gen derzeit schon vorsehen, dass Selbstständige, die nur
ein geringes Einkommen haben, 30 Prozent weniger Bei-
träge als im Normalfall zahlen. Eine weitere Beitrags-
ermäßigung lehnen wir daher ab.
Sie sehen also, dass die Sorgen einzelner Kolleginnen
und Kollegen mit Blick auf eine vermeintliche Benach-
teiligung von privat versicherten ALG-II-Beziehern
durch die Realität in Gestalt eines Gerichtsurteils ent-
kräftet werden können. Diese Probleme bestehen so seit
mehreren Monaten nicht mehr. Gleichwohl möchte ich
Sie darin unterstützen, auch weiterhin für die beiden
Versicherungssysteme zu kämpfen, wie Sie dies ja in Ih-
rem Ansinnen durch die Anträge bereits getan haben.
Harald Weinberg (DIE LINKE): Drei unterschiedli-
che Themen stehen hier zur Debatte, vier Minuten habe
ich dafür. Kein leichtes Unterfangen.
Erstens geht es um privat krankenversicherte Selbst-
ständige oder ehemalige Selbstständige, deren Einkom-
men nicht zum Leben reicht und die deshalb Hartz IV be-
ziehen müssen. Diese Menschen dürfen seit 2009 nicht
mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurück. Ge-
setzlich wurde damals geregelt, dass die privaten Versi-
cherungskonzerne zwar rund 290 Euro von den Betroffe-
nen verlangen dürfen. Davon werden aber nur rund
130 Euro von den Ämtern erstattet. Diesen gesetzgeberi-
schen Unsinn prangert die Linke schon seit zweieinhalb
Jahren an. Die Bundesregierungen seitdem sind zerstrit-
ten zwischen den Koalitionsparteien und zwischen den
Ministerien, und es passiert nichts. Außerdem – so wurde
argumentiert – sei es auch verfassungsgemäß, wenn die
Betroffenen von ihrem Regelsatz mehr als die Hälfte
selbst an ihre Krankenversicherung zahlen müssen. Mitt-
lerweile hat das Bundessozialgericht geurteilt – und der
Bundesregierung für die bestehende Regelung eine Ohr-
feige erteilt. Die Linke fordert die Bundesregierung noch-
mals auf, hier zu handeln – auch rückwirkend – und den
betroffenen Menschen einen Funken Perspektive zurück-
zugeben.
Dass auch die Grünen hier nun eingesehen haben,
dass es eine Lösung geben muss, begrüße ich natürlich,
wenngleich es eine andere Lösung ist als unsere. Weil es
aber eine Lösung ist, die den Betroffenen nutzen würde,
werden wir diesen Vorschlag auch nicht ablehnen.
Ein wenig verwundert kann ich nur über die Position
der SPD sein, die nun zwar mit ihrer Zustimmung zu
dem Grünen-Gesetzentwurf etwas anderes fordert, als
sie mit Ulla Schmidt in der Regierung 2007 durchgesetzt
hat. Dennoch lehnt die SPD mit an den Haaren herbeige-
zogenen Argumenten unseren Antrag ab, ohne zu würdi-
gen, dass damit ein nicht zuletzt von der SPD hergestell-
ter verfassungswidriger Zustand beseitigt würde.
Dass die schwarz-gelbe Koalition ablehnt, war vo-
rauszusehen. Ich hoffe, dass sich unsere Gedanken in ei-
nigen Monaten in einem Regierungsvorschlag wieder-
finden werden und dass den Betroffenen dann endlich
geholfen wird. Was mich an der ganzen Angelegenheit
am meisten ärgert: Wenn mir ein Betroffener sagt, dass
die Politik in diesem Punkt seit Jahren unfähig ist, eine
Lösung auf den Weg zu bringen, dann muss ich ihm
Recht geben. Der Umgang der Bundesregierung mit die-
sem Problem ist ein Förderprogramm für Politikverdros-
senheit. Das will die Linke ändern.
Zweites Problem: Basistarif in der PKV. Es geht bei
diesen Privatversicherungen nicht um Luxusversicherun-
gen, sondern in der Regel erhalten Privatversicherte im
Basistarif weniger Leistungen als gesetzlich Krankenver-
sicherte. Sie hören richtig: Die private Krankenversiche-
rung ist nicht in der Lage, für überdurchschnittliche
Beiträge – mindestens etwas mehr als der Durchschnitts-
beitrag, oft der Maximalbeitrag der GKV – wenigstens
die gleiche Leistung zu bieten wie die gesetzliche Kran-
kenversicherung. Weil die privaten Versicherungen den
Ärzten oft weniger zahlen als die gesetzlichen, sind oft
nur wenige Ärzte überhaupt bereit, die privaten Basista-
rifversicherten zu behandeln. Das ist ein Skandal! Kranke
erhalten in Deutschland nicht die notwendige Versor-
gung!
Die Linke teilt die Menschen nicht in privat und ge-
setzlich ein. Die Linke will, dass alle Menschen die not-
wendige Behandlung erhalten. Deshalb bringen wir
heute einen Antrag ein, mit dem die Versicherten im Ba-
sistarif mit den gesetzlich Versicherten gleichgestellt
werden sollen.
12806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Drittes Thema: Solo-Selbstständige in der gesetzli-
chen Krankenversicherung. Auch dies ist ein Problem,
das dadurch entsteht, dass es sowohl das System der ge-
setzlichen als auch das der privaten Krankenversiche-
rung gibt. Selbstständige haben per Gesetz die Möglich-
keit, sich für eines der Systeme zu entscheiden. Im Falle
von Vorerkrankungen und von geringem Einkommen
fällt die Wahl auf die gesetzliche Krankenversicherung.
Die wäre aber mit den relativ kranken und relativ gering-
verdienenden Selbstständigen überfordert. Um diese
Überforderung zu vermeiden, gibt es ein angenommenes
Mindesteinkommen, das allerdings häufig deutlich hö-
her ist als das tatsächliche Einkommen. Das führt zu teils
absurd hohen Beitragssätzen von über 30 Prozent. Das
ist kein theoretischer Wert: Gerade letzte Woche habe
ich mich mit Lehrkräften der Integrationskurse getrof-
fen, die überwiegend ihre wichtige Arbeit als selbststän-
dige Honorarkräfte leisten, und zwar für Stundensätze,
die selten über 15 Euro, aber häufig unter 10 Euro lie-
gen. Bei denen kommen diese 30 und mehr Prozent
schnell zustande.
Die Linke will keinen Unterschied machen, ob je-
mand selbstständig oder aus einem sonstigen Grund frei-
willig versichert in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung ist. Daher fordern wir die Herabsetzung auf den
allgemeinen Mindestbeitrag in Höhe von gut 130 Euro
als Untergrenze. Besser wäre natürlich eine Abschaffung
der privaten Krankenversicherung als Vollversicherung
und die Einbeziehung aller in eine echte Bürgerversiche-
rung. Da wäre die Linke die erste Fraktion die laut „Ja!“
ruft. Aber dazu ist derzeit leider keine andere Fraktion
bereit.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ei-
nes steht fest: Mit der Bürgerversicherung wäre das nicht
passiert! Keines der Probleme, die wir heute diskutieren,
bestünde, wenn in Deutschland ein einheitlicher Kran-
kenversicherungsmarkt existieren würde. Aber Deutsch-
land spielt mal wieder – gemeinsam mit Belgien – eine
europäische Sondernummer und leistet sich zwei nach
unterschiedlichen Prinzipien funktionierende Systeme.
Die grüne Bürgerversicherung – konkret, schlüssig und
durchgerechnet – würde alle Probleme lösen.
Die SPD diskutierte monatelang und legte Eckpunkte
vor, die keinen Beitrag zur nachhaltigeren Finanzierung
des Solidarsystems leisten. Sie hält an der Bezugsgröße
Arbeitseinkommen fest.
Die Linke verzichtet in ihrem neuen Antrag sogar
gleich ganz darauf, das Wort Bürgerversicherung zu er-
wähnen. Sie spricht nur noch davon, dass alle gesetzlich
versichert werden sollen.
Zwei Jahre – erst durch das Bundessozialgericht im
Januar 2011 beendet – bestand der skandalöse Zustand,
dass privat krankenversicherte Arbeitslosengeld-II-Be-
zieher und -Bezieherinnen für den Basistarif rund
290 Euro zahlen mussten, vom Jobcenter jedoch nur
etwa 125 Euro erhielten: inklusive Pflegeversicherung
eine monatliche „Finanzierungslücke“ von rund
180 Euro. Den Betroffenen blieb die Wahl zwischen Pest
und Cholera: Entweder zahlten sie die Prämie und hatten
monatlich nur noch 180 Euro zum Leben, oder sie ver-
schuldeten sich bei ihrer Krankenversicherung, was ei-
nen beruflichen Neustart massiv behinderte.
Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb haben den Streit zwi-
schen Arbeits- und Gesundheitsministerium jahrelang
auf Kosten der Betroffenen geführt. Dabei betrieben die
Gesundheitspolitiker der jetzigen Koalition unerschüt-
terlich Politik zugunsten der PKV. Sie stellten sich damit
nicht nur gegen unseren seit etwa eineinhalb Jahren vor-
liegenden grünen Gesetzentwurf – diesen Reflex kennen
wir ja –, sondern auch gegen die Vorschläge der Arbeits-
ministerin. Es besteht keine Bereitschaft, für hilfebedürf-
tige Privatversicherte die Beiträge im PKV-Basistarif auf
das entsprechende Niveau der GKV abzusenken.
Bis 2009 war diese Gleichbehandlung auch die Posi-
tion der Linken. Nun fordern sie für beide Versiche-
rungssysteme deutlich mehr – aber, wie üblich, verlieren
sie kein einziges Wort darüber, wo die dafür notwendi-
gen jährlich 6 Milliarden Euro Steuermittel herkommen
sollen. Daher enthalten wir Grünen uns beim Antrag der
Linken.
Das BSG hat entschieden, dass privat versicherte
Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen nun vom
Jobcenter den vollen Betrag für den abgesenkten Basis-
tarif erhalten. Politisch betrachtet bedeutet dies eine
massive Ungleichbehandlung: Die PKV erhält für die
gleichen Leistungsansprüche wie in der GKV mehr als
doppelt so viel Geld vom Jobcenter. Der Spruch des
BSG war jedoch notwendig für die Betroffenen. Aber
nicht alle profitieren rückwirkend. Nur die, die geklagt
haben, erhalten den Differenzbetrag und können ihre
Schulden begleichen. Für die anderen wurde der rechts-
widrige Verwaltungsakt nur für die Zukunft aufgehoben.
Die Koalition darf das BSG-Urteil nicht nutzen, um
weiter untätig zu bleiben. Es braucht eine gesetzliche
Regelung, bei der GKV und PKV identische Beiträge für
identische Leistungen erhalten. Für die Betroffenen
muss gelten: Egal ob einer den Mut hatte, zu klagen,
oder still gelitten hat: Für alle Betroffenen müssen rück-
wirkend die vollen Prämien übernommen werden.
Beim Antrag der Linken zur Senkung der Beiträge für
Solo-Selbstständige enthalten wir uns. Die Intention des
Antrags, Selbstständige mit geringen Einkommen zu
entlasten, unterstützen wir. Daher sieht die grüne Bür-
gerversicherung vor, Beiträge strikt einkommensbezo-
gen zu erheben. Mindestbeiträge würden überflüssig.
Zugangsbeschränkungen und Mindestbeiträge in der
GKV für Selbstständige sind der Preis für die Zweitei-
lung unseres Krankenversicherungssystems. Anderen-
falls würden Selbstständige mit geringen Einkommen
und hohen Krankheitsrisiken sich für die GKV entschei-
den, alle anderen weiterhin für die PKV. Dies würde zu
enormen Belastungen des Solidarsystems führen, die die
jetzigen Versicherten über Zusatzbeiträge zu finanzieren
hätten. Das würde abhängig Beschäftigte mit kleinen
Einkommen überproportional belasten.
Der Vorschlag der Linken ließe sich nicht umsetzen,
da eine adäquate Abgrenzung von Solo-Selbstständigen
nicht möglich ist. Er würde Solo-Selbstständige und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12807
(A) (C)
(D)(B)
Selbstständige mit einem oder mehreren Beschäftigten
und identischem Einkommen unterschiedlich behandeln.
Die Bürgerversicherung ist die Lösung. Auf dem Weg
dahin – oder gerade dann, wenn man, wie die Regierung,
das Nebeneinander von GKV und PKV gutfindet – muss
man solche Probleme lösen. Wegducken zulasten der so-
zial Schwachen gilt nicht!
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset-
zes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Geset-
zes (Tagesordnungspunkt 18)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die Gründung
der Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, BStU,
vor mehr als 20 Jahren diente vor allem einem Ziel: der
Öffentlichkeit, insbesondere den Stasiopfern die schrift-
liche Hinterlassenschaft des SED-Regimes zugänglich
zu machen. Die Existenz dieser Behörde stellt einen we-
sentlichen Erfolg der friedlichen Revolution von 1989/
1990 dar. Mit viel Leidenschaft wurde sie erkämpft. Die
erste frei gewählte Volkskammer hat es gewollt, und der
Deutsche Bundestag hat dann ein Gesetz beschlossen,
auf dessen Grundlage die BStU entstanden ist. Seit 1991
wurde es mehrfach novelliert. In der gültigen Fassung ist
die Regelüberprüfung bis 2011 befristet und läuft nun
aus.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf zur
Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgelegt.
Grundsätzlich ist dies zu begrüßen. Denn damit zeigt
sich, dass sich auch bei CDU/CSU und FDP die Einsicht
durchgesetzt hat, dass die BStU weiterhin gebraucht
wird. Es gab ja gelegentlich andere Stimmen aus Ihren
Reihen!
Der Andrang zu den Akten und die Anzahl der An-
träge auf Einsichtnahme sind ungebrochen hoch. In
Deutschland und international erfährt die Behörde große
Anerkennung. Weltweit gilt sie als Vorbild für einen an-
gemessenen Umgang mit der eigenen Diktaturge-
schichte.
Die Erforschung der SED-Geschichte macht Fort-
schritte, doch sie ist noch lange nicht am Ende. Die his-
torisch-politische Bildung wird mit zunehmendem zeitli-
chem Abstand von den Ereignissen um 1989/90 immer
wichtiger. Mit ihren drei Schwerpunkten in der Aufklä-
rung, der Forschung und der Bildung über Funktions-
weise und Struktur der SED-Herrschaft erfüllt die BStU
nach wie vor gesellschaftlich wichtige Aufgaben, sodass
der Fortbestand der Behörde bis 2019 ausdrücklich zu
unterstützen ist.
Viele Änderungen des Koalitionsentwurfes sind rich-
tig und vernünftig und zwischen uns einvernehmlich be-
sprochen. So kann es für das unbedingt notwendige Ver-
trauen in die politisch Handelnden nur von Vorteil sein,
wenn auch ehrenamtliche Bürgermeister, Kommunalver-
treter und Bewerber für ein Wahlamt auf eine hauptamt-
liche oder informelle Stasimitarbeit überprüft werden
können.
Ebenfalls richtig ist die Vereinfachung des Zugangs
zu den Unterlagen für Wissenschaftler und Journalisten.
Immer unter dem Vorbehalt der Wahrung schutzwürdi-
ger persönlicher Belange – keinesfalls dürfen Opfer von
Stasibespitzelungen erneut Eingriffen in ihre Persönlich-
keitsrechte ausgesetzt sein – ist eine größtmögliche
Offenheit der Akteneinsicht anzustreben. Dazu trägt die
geplante Erleichterung der Einsichtnahme in Akten bei,
die sich nicht auf natürliche Personen beziehen. Auch
die Möglichkeit der Verkürzung von Schutzfristen in ge-
prüften Einzelfällen ist in diesem Sinne zu begrüßen.
Gegen die geplante Neuregelung bei der Kostenver-
ordnung ist ebenfalls nichts einzuwenden, allerdings nur,
solange sichergestellt bleibt, dass damit keine Gebühren-
erhöhung verbunden wird. Die Einsicht in und die Arbeit
mit den Akten muss für alle Interessierten erschwinglich
bleiben!
In einem Punkt allerdings kann ich dem Gesetzent-
wurf der Koalition nicht zustimmen: bei der geplanten
Ausweitung der anlasslosen Überprüfung. Behördenlei-
ter und Angestellte mit vergleichbar verantwortungsvol-
len Aufgaben können bereits heute überprüft werden.
Ich frage Sie: Weshalb sollten Beamte und Mitarbeiter
des öffentlichen Dienstes in „leitender Funktion“ ab
2012 bis hinab zu Angestellten der Besoldungsgruppen
E 13 bzw. A 13 überprüfbar sein? Und mehr noch: sogar
Angestellte und Beamte „in Einrichtungen, die sich
mehrheitlich in öffentlicher Hand befinden“?
Niemand, auch Sie selbst nicht, wissen zu sagen, wen
und wie viele Personen Ihr Vorschlag eigentlich treffen
würde. Ist für Sie also ein einfaches Mehr an Überprü-
fung schon genug? Geht es nicht um die Qualität der Tä-
tigkeit, die eine anlasslose Überprüfung rechtfertigt?
Was genau ist mit „leitender Funktion“ gemeint? Und
sollen nun auch Mitarbeiter der Deutschen Bahn über-
prüft werden?
Hier sollten Sie noch einmal nachdenken. Auch wenn
Sie bereits abgelehnt haben, auf einen vermittelnden
Vorschlag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu die-
sem Punkt einzugehen, möchte ich Ihnen doch zu Be-
sonnenheit raten. Grenzen Sie zumindest den Begriff der
„leitenden Funktion“ ein, und beschränken Sie die Aus-
weitung der Überprüfung auf Fälle, in denen tatsächliche
Anhaltspunkte, also echte Verdachtsmomente, für eine
hauptamtliche oder inoffizielle Stasimitarbeit vorliegen.
Denn so vage und ausufernd Ihr Vorschlag in diesem
Punkt ist, so wenig steht er im Einklang mit den Überle-
gungen und Zielen, aus denen heraus die BStU einst ge-
gründet worden ist. Ein zentrales Anliegen war und
muss auch heute die Befriedung unserer Gesellschaft
sein. Hierzu gehört die Aufklärung – und die BStU stellt
dazu ihr Instrumentarium bereit. Aber sie ist kein Selbst-
zweck.
Denn auch das rechtsstaatliche Prinzip der Verjährung
dient der Befriedung und ist zu wahren. Wer sich über
20 Jahre lang persönlich nichts hat zuschulden kommen
12808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
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(D)(B)
lassen, für den ist eine erfolgreiche Bewährung in unse-
rer Gesellschaft anzuerkennen.
Auch in Zukunft werden Wissenschaftler oder Jour-
nalisten mit ihren Recherchen Personen als Stasimitar-
beiter enttarnen. Das ist auch richtig so, und das StUG
bietet das Instrumentarium, um darauf angemessen zu
reagieren und Konsequenzen zu ermöglichen. Solche
Fälle wird es geben, solange ehemalige Stasimitarbeiter
in unserer Gesellschaft leben. Wir müssen lernen, damit
umzugehen, und dürfen uns gerade angesichts des SED-
Unrechts nicht hinreißen lassen, unsere eigenen Prinzi-
pien zu verraten. Deshalb appelliere ich an die Kollegen
der Koalitionsfraktionen: Halten Sie Maß!
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Jahr
2011, bei der inzwischen achten Novelle des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes, ist es an der Zeit, grundsätzlich zu
werden, was die Position der Linken zu diesem Gesetz
betrifft. Am 24. August 1990 gab es einen nahezu ein-
stimmigen Beschluss der Volkskammer der DDR, die
Stasiunterlagen zu archivieren und für die Aufarbeitung
zugänglich zu machen. Die PDS hat diesem Gesetz, der
Einrichtung einer Stasiunterlagenbehörde und der Wahl
von Joachim Gauck als erstem Leiter der Behörde zuge-
stimmt. Wir vertraten die Auffassung, dass die Stasi-
opfer ein Recht auf Akteneinsicht und Wahrheit haben.
Unsere Zweifel richteten sich immer gegen die Metho-
den der Regelüberprüfung und die Fristen.
Nur ein Jahr später, 1991, hat im Bundestag eine
große Debatte über das Stasi-Unterlagen-Gesetz stattge-
funden. Ein prominentes Mitglied dieses Hauses, das
nicht zur PDS gehörte, hat dabei folgendes gesagt:
Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer
Rechtstradition widerspricht, einem Täter über ei-
nen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzu-
halten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe,
dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbar-
mungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sa-
gen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in
diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuch-
tung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein indi-
viduelles Opfer Klage oder Anklage erhebt.
Das war Burkhard Hirsch von der FDP.
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat den Gesetzentwurf
abgelehnt. Sie kritisierte, dass bei der Feststellung einer
Stasimitarbeit der Täter- bzw. Mitarbeiterbegriff zu un-
differenziert bleibe und der Kreis der zu überprüfenden
Personen dadurch nahezu uferlos ausgeweitet werde.
Der politischen Willkür bei der Beurteilung werde da-
durch Tür und Tor geöffnet.
Als diese 15 Jahre vorüber waren, wurden im Jahr
2006 die Fristen der Überprüfungen bis 2011 weiter ver-
längert. Die Linke hat diese Neuregelung abgelehnt.
Zitat aus meiner Rede vom 30. November 2006: Es ist
unser Credo als Linke: Ja, wir sind für die Aufarbeitung
der DDR-Vergangenheit, und zwar je vertiefter und dif-
ferenzierter, desto besser; aber wir sagen Nein zu weite-
ren Überprüfungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir
haben schon die Überprüfungsfristen über 2006 hinaus
abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der Verhältnis-
mäßigkeit verletzt sehen.
In der Präambel des Programms der Linken von 2003
wird eine „rückhaltlose Auseinandersetzung mit den
Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kom-
munismus begangen wurden“ gefordert und „der unum-
kehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie
und politischen Freiheitsrechten“ als das die Linke eini-
gende Fundament beschrieben.
Und wo sind wir heute? Nun soll die Frist zur Über-
prüfung bis 2019 verlängert werden. Und nicht nur das,
völlig unbegreiflicherweise wird nun auch der Personen-
kreis, der 2006 mit gutem Grund eingeschränkt worden
war, wieder ausgeweitet.
Die Linke spricht sich – auch mit der Erfahrung der
letzten 20 Jahre – gegen eine Verlängerung der zum
31. Dezember 2011 auslaufenden Überprüfungsmöglich-
keiten bis zum Ende des Jahres 2019, also eine Verlänge-
rung um weitere acht Jahre, aus, genau wie auch gegen
eine Erweiterung des zu überprüfenden Personenkreises
um Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die eine lei-
tende Funktion ausüben, Beamte und Tarifbeschäftigte,
die eine weniger hochrangige, aber leitende Funktion
wahrnehmen, wie zum Beispiel Referatsleiter in der
Bundes- und Landesverwaltung oder Leiter von Grund-
und Hauptschulen, und, wie es in der Begründung heißt,
auch um Bewerber um Wahlämter – Abgeordnete, Mit-
glieder kommunaler Vertretungen, kommunale Wahlbe-
amte sowie ehrenamtliche Bürgermeister usw., usw.
In unserem Rechtssystem spielt bei Fragen der Schuld
die Zeit eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände
der gefährlichen Köperverletzung, der schweren Verge-
waltigung oder der schweren Freiheitsberaubung verjäh-
ren nach zehn Jahren. Es kann nicht sein, dass die Ver-
jährungsfrist, die bei allen anderen Tatbeständen gilt,
hier keine Geltung haben soll.
In der BRD gab es 1973 ein aufsehenerregendes Ur-
teil, das Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
In ihm wurden Persönlichkeitsrechte, auch von Tätern,
eindeutig höher bewertet als das Recht der Medien, zeit-
lich uneingeschränkt über die Person eines Straftäters
und seine Privatsphäre zu berichten. Es ging um Männer,
die 1969 bei einem Überfall auf eine Kaserne vier Solda-
ten im Schlaf getötet hatten. Das Bundesverfassungsge-
richt urteilte: 14 Jahre nach der Tat kann dem Täter der
Totschlag nicht mehr vorgehalten werden.
Die Opfer der Ausspähungen durch die Stasi müssen
auch in Zukunft ein Recht auf Akteneinsicht haben.
Auch muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garan-
tiert sein, ja sogar erweitert und vertieft werden. Wieder-
holt haben wir den Vorschlag gemacht, die Unterlagen
des Ministeriums für Staatssicherheit ins Bundesarchiv
zu überführen, um eine schnellere, eine bessere, vor al-
lem aber eine weniger zufällige, also wissenschaftliche
Aufklärung zu garantieren. Eine Zusammenführung dort
hätte größere Effekte für Forschung und Bildung als in
der jetzigen Behörde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12809
(A) (C)
(D)(B)
Wir sagen: Es gibt ein Recht auf Wahrheit. Aber
20 Jahre nach der Wiedervereinigung die fortgesetzte
Überprüfung eines Teils der Gesellschaft auf fast
30 Jahre auszudehnen, dient dem Rechtsfrieden nicht
und auch nicht dem inneren Frieden!
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Grundsätzlich sind sich alle Parteien mit Ausnahme der
Linken darüber einig, dass Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter im öffentlichen Dienst länger als bisher vorgese-
hen auf eine inoffizielle Mitarbeit für das Ministerium
für Staatssicherheit überprüft werden können. Die Mög-
lichkeit dazu soll bis 2019 verlängert werden.
Die schwarz-gelben Koalitionsfraktionen wollen, dass
jede und jeder ab der Besoldungsgruppe A 13 und der
Entgeltgruppe E 13 auf eine frühere Stasitätigkeit über-
prüft werden kann. Einen Anlass oder Verdacht auf eine
Stasitätigkeit brauchen sie dafür nicht. Vielmehr soll es
schon genügen, dass eine Person eine „leitende Funk-
tion“ im öffentlichen Dienst wahrnimmt. Wann eine „lei-
tende Funktion“ vorliegt, wollen CDU/CSU und FDP
aber nicht bestimmen. Ausdrücklich greifen sie nicht auf
die bereits existierende Definition im Beamtenrecht zu-
rück. Damit ist unklar, wer künftig überprüft werden
kann: nur der Schulleiter oder auch die Fachbereichslei-
ter? Nur der Dienststellenleiter einer Polizeiinspektion
oder auch der Wachleiter? Eine solche Unbestimmtheit
öffnet Willkür und Ungleichbehandlung Tür und Tor.
Trotz monatelanger Verhandlungen und einem Kom-
promissvorschlag von Wolfgang Thierse und mir haben
CDU/CSU und FDP sich in der Frage der Ausweitung
des zu überprüfenden Personenkreises nicht bewegt. Sie
haben eine fraktionsübergreifende gemeinsame Einbrin-
gung der Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes so un-
möglich gemacht. Wir haben einen Kompromiss ange-
boten, weil uns ein gemeinsames parlamentarisches
Vorgehen wichtig ist. Wolfgang Thierse und ich schla-
gen vor, dass Personen mit der Besoldungsgruppe A 13
und der Entgeltgruppe E 13 dann überprüft werden dür-
fen, wenn sie eine leitende Funktion im Sinne des Beam-
tengesetzes wahrnehmen. Außerdem müssen tatsächli-
che Anhaltspunkte für eine Stasitätigkeit vorliegen. Das
bedeutet nicht, dass alle anderen Personen gar nicht
mehr überprüft werden können. Im Verdachtsfall können
Journalisten und Historiker immer noch Einsicht in Ak-
ten nehmen. Damit wird dem öffentlichen Interesse an
Aufklärung Genüge getan.
Ich meine, dass eine darüber hinausgehende Überprü-
fung nicht geboten ist. Nach mehr als 20 Jahren ohne
Beanstandung der Tätigkeit im öffentlichen Dienst kann
regelmäßig auf eine Bewährung in der demokratischen
Grundordnung geschlossen werden. Selbst wenn eine
Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit vorge-
legen haben sollte, so muss doch in die gesellschaftliche
Bewertung einbezogen werden, dass dieses Fehlverhal-
ten mittlerweile lange zurückliegt. Das ist im Übrigen in
unserer Gesellschaft auch nicht unüblich. Wir schätzen
den Frieden in der Gesellschaft hoch genug, um den
Rechtsfrieden durch das Instrument der Verjährung zu
gewährleisten. Wir nehmen dafür in Kauf, dass Strafta-
ten nicht mehr verfolgt werden. Einzig Mord und Völ-
kermord verjähren nicht. Unsere Rechtsordnung ist da-
mit klar vom Prinzip der zweiten Chance geprägt. Das
verlangt die Achtung der Menschenwürde. So hat es das
Bundesverfassungsgericht selbst für Mörder entschie-
den, die die Chance haben müssen, einmal wieder in
Freiheit zu gelangen. Wir sehen also viel Erörterungsbe-
darf, auch mit den Opferorganisationen und den Aufar-
beitungsinitiativen. Einer Expertenanhörung sehen wir
mit Spannung entgegen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Erweiterung der An-
zahl der Sachverständigen in der Enquete-
Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften
und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozia-
len Marktwirtschaft“ (Tagesordnungspunkt 19)
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): In dem von weib-
lichen Abgeordneten aus mehreren Fraktionen gestellten
Antrag geht es darum, entgegen dem Einsetzungsantrag
für diese Kommission, weitere Sachverständige in die
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
qualität“ zu entsenden. Vorrangiges Kriterium für diese
zusätzlichen Sachverständigen soll sein, dass es sich da-
bei um Frauen handelt.
Die Enquete-Kommission lautet mit vollem Namen
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach-
haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt
in der Sozialen Marktwirtschaft“. Greifen wir uns den
Begriff des Fortschritts aus dem Titel unserer Kommis-
sion heraus und beleuchten ihn ein wenig. Was wird seit
dem 18. Jahrhundert als Fortschritt bezeichnet? Die fort-
schreitenden wissenschaftlichen, technischen, kulturellen,
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Errungenschaf-
ten, der zivilisatorische Wandel einzelner Gesellschaften,
Handlungs- und gesellschaftlicher Teilbereiche, aber
auch der Menschheit als Ganzes.
Als theoretisches Konzept hat der Begriff des Fort-
schritts mit dem neuzeitlichen Geschichtsoptimismus die
Bedeutung eines „geschichtsphilosophischen Universal-
begriffs“, wie der bekannte deutsche Historiker Reinhart
Koselleck ihn beschreibt, erlangt. Fortschritt bedeutet
hier eine durch menschliches Handeln bewirkte Zu-
standsveränderung zum Besseren im Sinne einer Höher-
oder Weiterentwicklung.
Diese Höherentwicklung kann dabei auf einen end-
lich gedachten Vollkommenheitszustand zielen oder als
fortlaufende Annäherung an einen letztlich unerreichba-
ren Zustand imaginiert werden, da durch den Fortschritt
selbst Ziele und Zwecke immer neu und weitergehend
entworfen werden können.
Hier müssen der Deutsche Bundestag und seine Mit-
glieder einsehen, dass auch wir einen Vollkommenheits-
zustand nie erreichen werden und auch unser „Fort-
schritt“ nur eine Annäherung an einen unerreichbaren
12810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Zustand beschreiben kann. Denn dieser heutige Antrag
wird nur deshalb behandelt, weil wir allesamt es zu-
nächst versäumt haben, darauf zu achten, dass unter den
17 Sachverständigen auch Frauen berücksichtigt wer-
den.
Ich denke, als sich die einzelnen Fraktionen Gedan-
ken darüber gemacht haben, welche Sachverständigen
sie für diese Kommission benennen, haben sie sich ein-
zig von der Sache her leiten lassen. Diese Enquete-Kom-
mission hat den Auftrag erhalten, über das tagespoliti-
sche Klein-Klein hinauszublicken. Die Lebensqualität
der Menschen ist über Jahrzehnte hinweg mit dem
ökonomischen Produktionsniveau von Gesellschaften
gleichgesetzt worden.
Lange Zeit galt das BIP, also der Gesamtwert aller
Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft, als
Gradmesser nicht nur für Wachstum, sondern auch für
das Wohlergehen und damit die Lebenszufriedenheit der
Menschen. Dieses Verständnis wandelt sich.
Die Enquete-Kommission soll Vorschläge erarbeiten,
wie wir Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in un-
serem Land verbessern, vereinbaren und sogar ablesbar
machen können. Für diese wichtige Aufgabe wollten die
Fraktionen auch wichtige Köpfe aus ihren Reihen und
aus den Reihen der Wissenschaft in diese Kommission
entsenden.
Dass unter den Sachverständigen bislang kein einzi-
ges weibliches Mitglied zu finden war, liegt nicht an
mangelnder Kompetenz, sondern auch an dem exponier-
ten Fachwissen der vielen anderen Sachverständigen, die
unsere Kommission so wunderbar bereichern. Aber es
liegt auch daran, dass man entweder nicht an Männer
und Frauen gedacht hat oder sich auf die anderen verlas-
sen hat.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat für den ausge-
schiedenen Sachverständigen Professor Dr. Herbert
Buchner eine weibliche Sachverständige benannt: näm-
lich Frau Professor Dr. Beate Jochimsen. Die Professorin
für Volkswirtschaftslehre an der Berliner Hochschule für
Wirtschaft und Recht ist eine ausgewiesene Expertin im
Finanzwesen. Ich bin sehr froh, dass wir eine solche
Fachfrau für die Arbeit in der Kommission gewinnen
konnten.
Ich möchte an dieser Stelle, weil ich genau weiß, dass
dies auch im Sinne von Frau Professor Dr. Jochimsen ist,
eindeutig klarstellen, dass wir sie – noch vor dem heuti-
gen Antrag – als Sachverständige benannt haben, nicht
weil sie eine Frau ist, sondern weil sie eine anerkannte
Autorität in ihrem Fachgebiet ist.
Besonders froh bin ich, dass Frau Jochimsen Angehö-
rige der Projektgruppe 2 ist, der ich vorsitze. In dieser
Projektgruppe beschäftigen wir uns mit der Messbarkeit
und Vergleichbarkeit von vielen Faktoren neben dem
Bruttoinlandsprodukt, die wichtig und aussagekräftig für
ein Land sind.
So werden gerade ehrenamtliche Arbeit, Pflegeleis-
tungen und Kindererziehung, die daheim stattfinden und
überwiegend von Frauen ausgeübt werden, im BIP gar
nicht berücksichtigt. Dass diese Tätigkeit unsere Gesell-
schaft und unsere Familien in einem enormen Maß be-
reichern, ist uns allen bewusst. Diesen Aspekt haben wir
in der Projektgruppe auch ohne einen weiblichen Sach-
verständigen im Auge gehabt. Aber ich bin sicher, dass
wir mit unserer neuen Fachfrau ihre Expertise mit ein-
fließen lassen können.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass diese
Enquete-Kommission alles andere als eine frauenfeind-
liche Veranstaltung ist. Unter den 17 Mitgliedern aus den
Reihen des Bundestages finden sich acht Frauen, also
fast die Hälfte. Damit sind die Frauen sogar überreprä-
sentiert, denn die „Frauenquote“ innerhalb aller Parla-
mentarier liegt wiederum nur bei einem Drittel. Ebenso
gehören dieser Kommission gleich drei Obfrauen unter
dem Vorsitz einer Frau, der Kollegin Daniela Kolbe, an.
Zwei der bisher drei Arbeitsgruppen der Kommission
werden von Frauen geleitet.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion halten am
überparteilichen Einsetzungsbeschluss für diese En-
quete-Kommission vom November 2010 fest. Dort ist
die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages
sowie die Anzahl der Sachverständigen geregelt, die die-
ser Kommission angehören sollen. In keinem der beiden
Einsetzungsanträge – nicht in dem von CDU/CSU, SPD,
Grünen, FPD und auch nicht in dem von der Linken – ist
die Rede davon, dass die Sachverständigen nach ihrem
Geschlecht auszuwählen seien. Ich hielte das auch für
ein falsches Kriterium. Die Fraktionen sollten frei aus-
wählen, wen sie als Sachverständige benennen möchten.
Das haben alle Fraktionen getan. Bis auf die CDU/CSU-
Fraktion hat niemand eine Frau benannt. Die einzelnen
Fraktionen werden dafür auch ihre Gründe haben. Aber
vielleicht folgt ja die eine oder andere dem guten Bei-
spiel der CDU/CSU.
Elke Ferner (SPD): Im Januar dieses Jahres hat die
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und
gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirt-
schaft“ ihre Arbeit aufgenommen. Jeweils 17 Abgeord-
nete und 17 Sachverständige diskutieren diese Fragen
um die Zukunft unserer Wirtschaft und unserer Gesell-
schaft in der Enquete-Kommission. Während die Frak-
tionen mit ihren Benennungen dafür gesorgt haben, dass
die Seite der Bundestagsabgeordneten mit 52,94 Prozent
Frauen vorbildlich besetzt ist, wurden Frauen auf der
Sachverständigenbank völlig ausgeblendet. Aus dem
Blick politischer Fairness ist das ein Skandal! Der
Frauenanteil bei der Einsetzung der Kommission betrug
insgesamt 24 Prozent.
Nachdem ich in der Debatte zum 100. Internationalen
Frauentag das Versagen aller Fraktionen bei der Beset-
zung der Sachverständigenbank angeprangert habe, hatte
ich den Eindruck, dass auch die Kolleginnen in Unions-
und FDP-Fraktion meine Auffassung teilen. Deshalb
wollte ich mit diesem fraktionsübergreifenden Gruppen-
antrag zusammen mit möglichst vielen Kolleginnen im
Bundestag dafür sorgen, dass die Sachverständigenbank
um weitere acht weibliche Mitglieder erweitert werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12811
(A) (C)
(D)(B)
soll. Anfangs schien auch bei der Union Interesse zu be-
stehen, ein frauenpolitisches Zeichen zu setzen.
Allerdings scheinen sich die gleichstellungspoliti-
schen Ambitionen der Unionsfrauen darin zu erschöp-
fen, dass sie sich mit dem Einwechseln einer einzigen
Frau bei den von der Union zu benennenden Sachver-
ständigen zufriedengeben. Das ist kein Erfolg, sondern
ein Armutszeugnis. Die Unionsfraktion hat eine einzige
Frau von immerhin sechs MdBs und jetzt neuerdings
auch noch eine Frau bei sechs Sachverständigen – also
zwei von zwölf: Das entspricht einem Anteil von sagen-
haften 16,7 Prozent. Damit hat die Union auch weiterhin
die rote Laterne. Die SPD hat derzeit drei Frauen von
acht Enquete-Mitgliedern, also 37,5 Prozent. Die FDP
hat derzeit zwei Frauen von sechs, also 33,3 Prozent. Die
Grünen haben derzeit eine Frau von vier, also 25 Pro-
zent, und die Linke hat derzeit zwei Frauen von vier Mit-
gliedern, also 50 Prozent.
Auch der Hinweis, die anderen Fraktionen könnten ja
auch jeweils eine Frau auf der Sachverständigenbank
einwechseln, hilft nicht weiter. Zwar würde sich der
Frauenanteil auf der Sachverständigenbank auf 29 Pro-
zent erhöhen – wäre damit aber immer noch niedriger als
mit unserem Vorschlag.
Bleibt das Argument: Unser Vorschlag verschiebt die
Parität zugunsten der Sachverständigenseite. Das stimmt,
allerdings ist nicht zu befürchten, dass sich die Sachver-
ständigenseite gegen die Abgeordnetenseite verbünden
und diese überstimmen würde. Es ist schade, dass Sie,
liebe Kolleginnen von der Union, sich lieber mit einem
Spatz in der Hand abspeisen lassen, als um die Taube auf
dem Dach zu kämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam ein
gleichstellungspolitisches Zeichen setzen, damit in Zu-
kunft auch die Gremien des Bundestages paritätisch be-
setzt werden. In einer Zeit, in der wir öffentlich über
Frauenquoten für Führungspositionen diskutieren, in der
wir eine Kanzlerin und mehrere Ministerinnen als selbst-
verständlich ansehen, in einer Zeit, in der sowohl das
Gleichstellungsgebot als auch das Bundesgremienbeset-
zungsgesetz die politischen Akteure verpflichten, die
Gleichstellung von Frauen und Männern und die Strategie
des Gender-Mainstreaming zu fördern bzw. die gleichbe-
rechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien
zu schaffen – in so einer Zeit kann doch ein 17-köpfiges
Sachverständigengremium nicht ohne Frauen eingesetzt
werden! Mit einem derart eingeschränkten männlichen
Blick werden fundamental wichtige Perspektiven ausge-
klammert und Wirtschaft leider wieder zur alleinigen
Männerdomäne erklärt.
Dabei ist es seit jeher Anliegen der Frauenbewegung,
der Frauenverbände und der feministischen Ökonomie-
kritik, Antworten auf die Frage nach Indikatoren wirt-
schaftlichen Wachstums zu finden. Ihre Kritik liegt vor
allem darin, dass nur das Bruttoinlandsprodukt als Indi-
kator für wirtschaftliches Wachstum gilt. Gesellschaftli-
che Arbeit wird demnach mit bezahlter Arbeit gleichge-
setzt. Dass so aber die unbezahlte soziale Arbeit – die
einen Großteil gesellschaftlicher Arbeit ausmacht – nicht
wertgeschätzt wird, wird in der Debatte ebenso verges-
sen wie Bildung, Verteilungsgerechtigkeit oder politi-
sche Teilhabe.
Unbezahlte Tätigkeiten wie zum Beispiel die Pflege
von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern wer-
den seit jeher von Frauen erbracht und ebenso seit jeher
nicht als „Arbeit“ geschätzt. Das Volumen der unbezahl-
ten Arbeit in Deutschland ist mit 96 Milliarden Stunden
signifikant höher als die 56 Milliarden Stunden bezahlter
Arbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Arbeit be-
trägt 684 Milliarden Euro.
Allein anhand dieser wenigen Zahlen erkennt man
schnell, wie wichtig die Einbindung der weiblichen Per-
spektive ist: Seit Jahren forschen Ökonominnen und
Soziologinnen auf den Gebieten von Wachstum und
Wohlstand in Verbindung mit dem Wandel der Ge-
schlechterverhältnisse. Es gibt sie, die weiblichen Exper-
tinnen!
Wir können es uns nicht leisten, ohne den Sachver-
stand der Frauen über die Zukunft unseres Landes zu
diskutieren und zu entscheiden. Daher appelliere ich an
alle – vor allem aber an alle weiblichen Abgeordneten –,
die Effizienz des Gremiums zu erhöhen und größere
Chancengleichheit herzustellen, indem wir unser Ver-
säumnis zu schmälern versuchen und acht weitere – aus-
schließlich weibliche – Sachverständige in die Enquete-
Kommission berufen.
Claudia Bögel (FDP): Am 17. Januar dieses Jahres
hat sich auf Antrag der Regierungsparteien sowie der
SPD und der Grünen die Enquete-Kommission konstitu-
iert mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensquali-
tät – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesell-
schaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft!
Auf Wunsch der Opposition ist diese Enquete-Kom-
mission personell sehr umfangreich ausgefallen. Die
Koalition hat letztlich zugestimmt, dass 17 Politiker und
17 Sachverständige den Stellenwert von Wachstum in
Wirtschaft und Gesellschaft untersuchen. Als Obfrau der
FDP für die Enquete-Kommission gehöre ich diesem
Kreise an. Wir entwickeln Vorschläge, wie in Zukunft
Lebensqualität und soziale Sicherheit in Verbindung mit
ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsgrundsätzen
in Deutschland optimiert werden können. Seit über vier
Monaten arbeiten wir nun schon in dieser Kommission
zusammen. Daher wundert es mich umso mehr, dass die
SPD jetzt in ihrem Antrag gemeinsam mit den Grünen
und der Linken fordert, erstens die Zahl der Sachverstän-
digen um acht Sachverständige zu erhöhen und zwei-
tens, dass die zusätzlich zu benennenden Sachverständi-
gen ausschließlich Frauen sein sollen.
Sowohl die SPD als auch die Grünen und die Links-
partei hätten bereits im Vorfeld die Möglichkeit gehabt,
weibliche Sachverständige zu benennen. Dies haben sie
nicht getan. Aus ihrer Antragsbegründung geht hervor,
dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktio-
nen bei der Benennung der Sachverständigen für die En-
quete-Kommission ausschließlich männliche Sachver-
ständige benannt haben. Jetzt ist ein denkbar ungünstiger
Zeitpunkt, um dies auf einmal korrigieren zu wollen. Als
12812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
(A) (C)
(D)(B)
Obfrau der FDP in der Enquete-Kommission und Vorsit-
zende der Projektgruppe 1, die sich mit dem „Stellen-
wert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ be-
fasst, sehe ich keinen Grund für eine Aufstockung der
Zahl der Sachverständigen. Die Kommission tagt bereits
seit einigen Monaten. Es haben schon fünf Sitzungen
stattgefunden. Die Mitglieder haben sich auf Konventio-
nen, Definitionen und Schwerpunkte geeinigt. Eine
nachträgliche Erweiterung des Kreises der Sachverstän-
digen würde die bereits fortgeschrittene Diskussion in
den Projektgruppen zurückwerfen. Das ist kontrapro-
duktiv. Hinzu kommt, dass eine einseitige Aufstockung
der Sachverständigen um acht Personen die paritätische
Besetzung, also die gleiche Anzahl von Sachverständi-
gen und Abgeordneten, aus dem Gleichgewicht bringen
würde. Diese Besetzung hat sich aber bei vergangenen
Enquete-Kommissionen des Bundestages bewährt.
Daran sollte auch in Zukunft festgehalten werden.
Denn sie hat einen wichtigen Grund: Eine einseitige Er-
höhung würde die Sachverständigen theoretisch in die
Lage versetzen, die Abgeordneten überstimmen zu kön-
nen. Das kann nicht im Sinne des Parlaments sein.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich be-
grüße ich es, wenn im Kreise der Sachverständigen auch
weibliches Know-how vertreten ist. Mir ist es wichtig,
dass auch die Erfahrungen und Sichtweisen der Frauen
in die politische Arbeit einbezogen werden. Deshalb
finde ich es sehr erfreulich, dass in der Enquete-Kom-
mission zahlreiche Frauen vertreten sind.
Seitens der Abgeordneten besteht die Enquete zu gut
der Hälfte aus Frauen. Insgesamt sind zehn der 34 Mit-
glieder weiblich. Erst kürzlich haben wir beschlossen,
den ausscheidenden Sachverständigen Dr. Buchner durch
eine Frau – nämlich Professorin Beate Jochimsen – zu er-
setzen.
Hinzu kommt, dass innerhalb der Enquete-Kommis-
sion wichtige Positionen mit Frauen besetzt sind: Den
Vorsitz der Kommission hat die Abgeordnete Frau Kolbe
inne, die Projektgruppen 1 und 2 werden ebenfalls von
Frauen geleitet, nämlich von Frau Vogelsang und von
mir.
Die Tatsache, dass der Frauenanteil bei den Sachver-
ständigen so gering ist, spiegelt lediglich die Realität wi-
der: Die allermeisten der hochqualifizierten Experten
aus Wissenschaft und Praxis, die für die Enquete-Kom-
mission infrage kommen, sind nun einmal männlich. Und
hier appelliere ich an Ihre Vernunft. Es sollte im Interesse
des Parlaments liegen, dass die Enquete-Kommission in
allererster Linie qualitativ hochwertige Ergebnisse lie-
fert. Wir brauchen also gute Sachverständige, die ihre
Ideen in die Enquete-Kommission einfließen lassen. Das
Geschlecht sollte dabei nicht der ausschlaggebende Fak-
tor sein. Und denken Sie nicht, dass Sie von eigenen
Versäumnissen ablenken könnten, indem Sie versuchen,
den Regierungsparteien den Schwarzen Peter zuzuschie-
ben! Auch Sie, liebe Kolleginnen von der Opposition,
haben nur Sachverständige männlichen Geschlechts be-
nannt.
Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab.
Cornelia Möhring (DIE LINKE): Der vorliegende
fraktionsübergreifende Antrag hat das Ziel, einen
schwerwiegenden Fehler wiedergutzumachen. Einen
Fehler, den wir alle gemeinsam gemacht haben: In einer
Kommission, die das Parlament zu den wichtigsten Zu-
kunftsfragen – Wachstum, Wohlstand und Lebensquali-
tät – beraten soll, sitzen ausschließlich männliche Exper-
ten, von denen keiner migrantische Erfahrungen oder
Wurzeln hat. Sie spiegelt damit in keiner Weise unsere
gesellschaftliche Realität wider, über deren Weiterent-
wicklung sie beraten soll.
Das war so nicht geplant und beabsichtigt, jedenfalls
nicht durch die Linke. Für meine Fraktion war bei der
Auswahl der Sachverständigen die geschlechterpoliti-
sche Kompetenz natürlich ein Kriterium. Und insgesamt
sind wir als Linke in der Kommission trotz männlicher
Sachverständiger zu 50 Prozent quotiert. Aber da alle an-
deren Fraktionen – aus welchen Gründen auch immer –
ebenfalls nur männliche Sachverständige benannt haben,
stehen wir jetzt vor einer 100 Prozent männerquotierten
Expertengruppe. Das ist falsch und muss umgehend kor-
rigiert werden. Und weil man aus Fehlern lernen soll,
sollten wir bei zukünftigen Beschlüssen über derartige
Gremien in den Einsetzungsbeschluss schon die paritäti-
sche Besetzung durch Frauen und Männer hineinformu-
lieren. Denn man sieht – eine freiwillige Selbstverpflich-
tung funktioniert nicht einmal im Deutschen Bundestag.
Wir brauchen klare Quoten. Die Notwendigkeit einer pa-
ritätischen Besetzung der Kommission mit Frauen und
Männern ergibt sich inhaltlich bereits aus der besonderen
Verantwortung des Parlaments für den im Grundgesetz
verankerten Grundsatz der Gleichstellung von Frauen
und Männern und die Beteiligung beider Geschlechter an
politischen Entscheidungsprozessen.
Ein Parlament kann nicht von anderen gesellschaftli-
chen Gruppen, zum Beispiel von den Unternehmen, die
stärkere Beteiligung von Frauen an Entscheidungspro-
zessen fordern, wenn es selbst seine Gremien einseitig
männlich besetzt. Wir haben eine Vorbildfunktion in der
Gesellschaft zu erfüllen. Wenn wir an unsere Entschei-
dungen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an die
anderer, sind wir unglaubwürdig und die Verdrossenheit
der Bevölkerung gegenüber den Politikerinnen und Poli-
tikern nimmt zu Recht weiter zu.
Aber nicht das Glaubwürdigkeitsproblem des Parla-
ments ist das entscheidende Argument für eine Änderung
der Zusammensetzung der Kommission, sondern deren
Ziele, die im Einsetzungsbeschluss formuliert sind. Ich
will aus Zeitgründen hier nur zwei herausgreifen: Im Juli
soll die Frage des Wachstums und der Geschlechterge-
rechtigkeit in der Kommission diskutiert werden. Prak-
tisch heißt das, dass männliche Sachverständige aller
Fraktionen die Perspektive und die Probleme von Frauen
in der Wachstumsfrage bewerten und daraus Handlungs-
vorschläge für politische Veränderungen erarbeiten sol-
len, während die eigentlichen Expertinnen für diese Frage
– die Frauen selber – außen vor sein werden. Die Exper-
tengruppe soll außerdem Vorschläge und konkrete politi-
sche Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der
Lebensqualität durch Arbeitsumfelder und Arbeitsorga-
nisation machen und untersuchen, wie die vielfältiger ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12813
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wordenen Erwerbsbiografien besser berücksichtigt wer-
den können.
teiinternen Gleichstellungspolitik haben wir einen Frau-
enanteil von über 50 Prozent in unserer Bundestagsfrak-
Und da macht es schon einen gewaltigen Unterschied,
ob bei dieser Frage nur das sogenannte männliche Nor-
malarbeitsverhältnis im Blick ist, also 40 Stunden Er-
werbsarbeit und eine geringe Beteiligung an Familien-
und Hausarbeit, oder die Lebenswirklichkeit der Frauen
mit einbezogen wird und ob nur die Organisation der Ar-
beit im Betrieb oder auch die in Haushalt und Familie
berücksichtigt wird und entsprechende Umverteilungs-
vorschläge unterbreitet werden.
In ihrem offenen Brief gegen die Kommissionsbeset-
zung haben das mehr als 170 Wissenschaftler und Wis-
senschaftlerinnen so ausgedrückt:
Darüber hinaus ist es unseres Erachtens jedoch un-
erlässlich, Genderkompetenz in den Sachverstand
der Kommission zu integrieren, weil die Frage nach
zukunftsfähigen Konzepten von Wachstum, Wohl-
stand und Lebensqualität eng mit dem Wandel der
Geschlechterverhältnisse und damit verbundenen
Themen, wie etwa dem Arbeitsbegriff oder auch
dem Verhältnis zwischen „Arbeit“ und „Leben“,
verknüpft ist.
Wir haben in der Enquete-Kommission vorgeschla-
gen, dass sich frühzeitig eine Enquete-Sitzung der The-
matik aus einer Frauenperspektive widmen wird.
Außerdem ist verabredet, dass die Linke der Projekt-
gruppe „Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile“
vorsitzen wird. Genau in dieser Arbeitsgruppe werden
wichtige Fragen zum Arbeitsbegriff und zur Schnittstelle
zwischen Arbeit und Leben diskutiert. Und wir werden
parlamentarisch und außerparlamentarisch dafür sorgen,
dass feministische, internationalistische und migranti-
sche Perspektiven beim Thema „Wachstum, Wohlstand
und Lebensqualität“ berücksichtigt werden.
Für die zukunftsfähige Gestaltung der Gesellschaft
brauchen wir die Erfahrung und das Wissen von Frauen
und von Männern. Deshalb fordere ich Sie auf, für den
vorliegenden fraktionsübergreifenden Frauenantrag zu
stimmen.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
der Benennung von ausschließlich männlichen Sachver-
ständigen für die Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem
Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der
Sozialen Marktwirtschaft“ hat sich keine der Fraktionen
im Deutschen Bundestag mit Ruhm bekleckert. Auch
Bündnis 90/Die Grünen sind ihrem eigenen Anspruch,
sich konsequent für die Gleichstellung von Frauen ein-
zusetzen, an dieser Stelle nicht gerecht geworden. Das
war ein Fehler, und für uns wirkt dieser Fehler schwer,
weil es zu unserem Selbstverständnis gehört, bei der
Gleichstellung Vorbild und Vorreiter zu sein. Unser grü-
nes Frauenstatut sichert seit 1986 den Frauen mindestens
die Hälfte aller Mandate. Dank dieser konsequenten par-
tion. Daher können und wollen wir uns vor Selbstkritik
bei der Auswahl der Sachverständigen für die Wachs-
tums-Enquete nicht drücken.
Auch inhaltlich spielt bei der Enquete die Genderper-
spektive eine gewichtige Rolle: So gehen beispielsweise
die in der sogenannten Care-Ökonomie hauptsächlich
von Frauen erbrachten Leistungen bisher nicht in die Be-
rechnung der Wirtschaftskraft eines Landes ein, was bei
der Entwicklung einer neuen Messgröße für Wirtschafts-
wachstum berücksichtigt werden muss.
Meine Fraktion hat den Missstand frühzeitig erkannt
und sich für eine Erweiterung des Gremiums eingesetzt.
Ein entsprechender Antrag im Ältestenrat zur Änderung
des Einsetzungsbeschlusses scheiterte aber leider an den
Koalitionsfraktionen.
Daher freue ich mich, dass nun die drei Fraktionen
von SPD, Grünen und Linken mit diesem Gruppenantrag
eine gemeinsame Initiative zur Erweiterung der Enquete
gestartet haben. Wir hatten gehofft, mit einem reinen
Frauenantrag wenigstens die weiblichen Mitglieder der
Koalitionsfraktionen – trotz Ablehnung ihrer Fraktions-
führungen – mit ins Boot zu holen. Es wäre ein wichti-
ges Signal an alle frauenpolitisch Engagierten gewesen,
dass die weiblichen Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages in der Lage sind, für ein wichtiges Anliegen der
Geschlechtergerechtigkeit über Parteigrenzen hinweg an
einem Strang zu ziehen. Dass eine parteiübergreifende
Initiative selbst bei diesem Thema nicht möglich ist,
finde ich sehr schade. Es zeigt wieder einmal deutlich
die Zerrissenheit insbesondere der Union in frauenpoliti-
schen Fragen. Das kennen wir von der Diskussion um
die Frauenquote für die Wirtschaft. Während Frau von
der Leyen einen Modernisierungskurs anmahnt, zeigt
sich Frauenministerin Schröder offen uninteressiert an
der Gleichstellung von Frauen und dem Dialog mit den
frauenpolitischen Akteurinnen.
Liebe Kolleginnen von der Union, vor diesem Hinter-
grund bin ich enttäuscht, dass Sie jene 18 Unterschriften
zur Unterstützung des Gruppenantrags, die aus Ihrer
Fraktion bereits vorlagen, zurückgezogen und sich dafür
entschieden haben, einen Ihrer Sachverständigen auszu-
wechseln. Es scheint eine willkommene Gelegenheit ge-
wesen zu sein, eine Fehlbesetzung zu korrigieren und
gleichzeitig das „linke Lager“ im Deutschen Bundestag
unter Zugzwang zu setzen, wobei Sie nichtvorhandene
Geschlossenheit demonstrieren wollen. Kollegin Laurischk
teilte mit, dass die FDP-Fraktion unser Anliegen grund-
sätzlich unterstützt. Daher finde ich es umso bedauerli-
cher, dass die Initiative in Ihren Reihen schlicht versandet
zu sein scheint. Ich möchte an Sie alle appellieren, die
parteipolitische Taktiererei sein zu lassen und dem Grup-
penantrag zuzustimmen. Nachträglichen Ruhm für den
von uns allen begangenen Fehler können wir damit zwar
nicht erwarten. Aber wir haben die Möglichkeit, für die
erfolgreiche Arbeit der Enquete-Kommission gemeinsam
eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.
111. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5