Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen. Ich begrüße Sie herzlich.
Bevor wir in unsere umfangreiche Tagesordnung ein-
treten, habe ich einige Glückwünsche vorzutragen. Die
Kollegen Bernd Schmidbauer und Hans-Christian
Ströbele haben ihre 70. Geburtstage gefeiert.
(Beifall)
Man will es kaum für möglich halten. Aber da unsere
Datenhandbücher im Allgemeinen sehr zuverlässig sind,
muss ich von der Glaubwürdigkeit dieser Angaben aus-
gehen.
Ihre 60. Geburtstage haben der Kollege Christoph
Strässer und die Bundesministerin Ulla Schmidt gefei-
ert;
(Beifall)
ich höre, sie seien auch schön gefeiert worden, was wir
damit ausdrücklich im Protokoll vermerkt haben.
In die Glückwünsche einbeziehen möchte ich auch
den Kollegen Hans-Ulrich Klose, der die zuvor Ge-
Rede
nannten in den vergangenen Tagen altersmäßig überbo-
ten hat.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Die Lage im Iran nach den Präsidentschafts-
wahlen
(siehe 226. Sitzung)
ZP 2 Beratung des Antrags der Bundesreg
Beteiligung deutscher Streitkräfte
von NATO-AWACS im Rahmen d
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
tzung
den 18. Juni 2009
.00 Uhr
Afghanistan (International Security Assis-
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
– Drucksache 16/13377 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
(siehe 226. Sitzung)
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
(Ergänzung zu TOP 66)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fünf Jahre Karenzzeit für Mitglieder der
text
Bundesregierung
– Drucksache 16/13366 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Arbeitslosengeld I in der Krise befristet auf
24 Monate verlängern
ksache 16/13368 –
isungsvorschlag:
ss für Arbeit und Soziales (f)
ss für Wirtschaft und Technologie
ierung
am Einsatz
er Interna-
– Druc
Überwe
Ausschu
Ausschu
Haushaltsausschuss
25026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Gisela Piltz, Dr. Max Stadler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verbot des Vereins „Hilfsgemeinschaft für na-
tionale politische Gefangene und deren Ange-
hörige“ prüfen
– Drucksache 16/13369 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Unschuldsvermutung muss auch im Arbeits-
recht gelten – Verdachtskündigung gesetzlich
ausschließen
– Drucksache 16/13383 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Kai Gehring, Irmingard Schewe-
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für einen Nationalen Aktionsplan gegen Ho-
mophobie
– Drucksache 16/13394 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Renate Künast, Hans-Christian Ströbele,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Bahnanbindung für den Flughafen Berlin Bran-
denburg International optimieren und be-
schleunigen
– Drucksache 16/13397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Tourismus
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kein Genmais-Anbau gegen den Willen der
Bürger in der EU
– Drucksache 16/13398 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Birgitt Bender, Christine Scheel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches An-
legerschutzniveau überwinden
– Drucksache 16/13402 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE
Forderungen des bundesweiten Bildungsstreiks
ernst nehmen
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Zurückweisung des Einspruchs des Bundesra-
tes gegen das Gesetz zur Änderung der Förde-
rung von Biokraftstoffen
– Drucksachen 16/11131, 16/11641, 16/12465,
16/12466, 16/13080, 16/13362, 16/13389 –
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zurückweisung des Einspruchs des Bundesra-
tes gegen das Gesetz zur Modernisierung von
Verfahren im anwaltlichen und notariellen Be-
rufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungs-
stelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Ände-
rung sonstiger Vorschriften
– Drucksachen 16/11385, 16/12717, 16/13082,
16/13363, 16/13390 –
ZP 7 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Strafrechtsänderungsgesetzes – Beste-
chung und Bestechlichkeit von Abgeordneten –
(… StrÄndG)
– Drucksachen 16/6726, 16/13436 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)
ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Internetversteigerung in der Zwangs-
vollstreckung
– Drucksache 16/12811 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13444–
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dirk Manzewski
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25027
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Gesamt-
energieeffizienz von Gebäuden (Neufassung)
(inkl. 15929/08 ADD 1 bis 15929/08 ADD 7)
(ADD 1 und ADD 3 bis ADD 7 in Englisch)
KOM(2008) 780 endg.; Ratsdok. 15929/08
– Drucksachen 16/12188 Nr. A.26, 16/13412 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Uwe Vogel
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Bär, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Monika Griefahn,
Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Medien- und Onlinesucht als Suchtphänomen
erforschen, Prävention und Therapien fördern
– Drucksache 16/13382 –
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erwerbsminderungsrente gerechter gestal-
ten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Absicherung für das Erwerbsunfähigkeitsri-
siko verbessern
– Drucksachen 16/12865, 16/10872, 16/13355 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 23, 26, 37, 51, 56 und 59
werden abgesetzt. Das entlastet die Tagesordnung durch-
aus, führt aber – um zu einer realistischen Planung des
heutigen Tages und der anschließenden Nacht beizutra-
gen – immer noch zu einem voraussichtlichen Ende des
Plenums weit nach Mitternacht. Ich werde gleich auch
noch etwas zu den anstehenden namentlichen Abstim-
mungen sagen.
Durch die Absetzung der gerade genannten Tagesord-
nungspunkte ergeben sich einige Änderungen in der
Reihenfolge: Der Tagesordnungspunkt 19 soll statt am
Donnerstag nun morgen, am Freitag, nach dem Tages-
ordnungspunkt 55 aufgerufen werden. Heute folgen der
Tagesordnungspunkt 21 auf den Tagesordnungspunkt 18,
25 auf 20, 27 auf 22, 29 auf 24, 31 auf 26, 33 auf 28 – es
schreibt offenkundig niemand mit –,
(Heiterkeit)
35 auf 30, 39 auf 32, 41 auf 34, 43 auf 36, 45 auf 38, 47
auf 40, 49 auf 42 sowie 52 auf 46. Morgen werden der
Tagesordnungspunkt 61 nach dem Tagesordnungspunkt 58
und die Tagesordnungspunkte 64 und 65 nach dem
Tagesordnungspunkt 60 aufgerufen.
Sie sehen, die Parlamentarischen Geschäftsführer ha-
ben sich richtig Mühe gegeben und zum Ende der Legis-
laturperiode alle Gestaltungsmöglichkeiten noch einmal
in vollem Umfang ausgeschöpft. Wer eine aktualisierte
Übersicht, vor allen Dingen für mögliche eigene Rede-
beiträge, braucht, kann diese sowohl hier wie bei den
Parlamentarischen Geschäftsführern einsehen.
Der bisherige Ohne-Debatte-Punkt 67 j soll zusam-
men mit dem Zusatzpunkt 10 aufgerufen werden und der
bislang zur sofortigen Beschlussfassung vorgesehene
Tagesordnungspunkt 67 y nunmehr ohne Debatte an den
Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir im Laufe
des heutigen Tages bis hin zum späteren Abend eine
Reihe von namentlichen Abstimmungen haben werden.
Die ersten im Zusammenhang mit den Gesetzentwürfen
zur Patientenverfügung werden voraussichtlich heute
Nachmittag gegen 16 Uhr stattfinden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
zum Europäischen Rat am 18. und 19. Juni
2009 in Brüssel
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter
Steinmeier.
(Beifall bei der SPD)
25028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Europa in der Krise“ – manchmal mit Frage-
zeichen, häufig genug mit Ausrufezeichen –, das sind,
wenn man die europäischen Tageszeitungen der letzten
Tage liest, die Überschriften, unter denen der Europäi-
sche Rat heute und morgen in Brüssel zusammenkommt.
Diese Krise ist, wohlgemerkt, keine hausgemachte euro-
päische Krise, sondern eine globale Krise – wir haben
aus anderem Anlass häufig genug in diesem Haus da-
rüber gesprochen –, die keinen Bogen um Europa macht.
Schlimmer noch: Die Krise hat Europa natürlich längst
mit voller Wucht erfasst. Gerade das wird für Europa in
diesen Zeiten zu einer Bewährungsprobe, weil wir eine
solche Krise globalen Ausmaßes noch nie gemeinsam zu
durchstehen hatten, weil nie gekannte Fliehkräfte an die-
sem europäischen Integrationsprojekt ziehen und zerren
und weil manche versucht sein könnten – Anzeichen da-
für gibt es –, in nationale Denkmuster zurückzufallen.
Deshalb sage ich: An der Reaktion auf diese Krise
wird sich Europas Zukunftsfähigkeit erweisen. Ich
füge hinzu: Wir als großes Land, wir als Teil der Grün-
dergeneration dürfen nicht nur dabeistehen und zu-
schauen, sondern wir haben eine ganz besondere Verant-
wortung für Europa, für die Europäische Union.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich sage auch: Europa darf europäische Gemeinsam-
keit nicht durch Kleinmut aufs Spiel setzen. Gerade jetzt
dürfen wir das große gemeinsame Ganze in Europa nicht
aufs Spiel setzen, sondern wir müssen gerade in dieser
Situation der Krise, gerade jetzt gemeinsam dafür arbei-
ten, dass die Europäische Union überzeugendere Ant-
worten auf die globale Krise findet, als wir sie im natio-
nalstaatlichen Rahmen jemals finden würden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das ist die Ausgangslage für den Europäischen Rat
heute und morgen. Ich könnte sogar sagen: Das ist die
Ausgangslage für die europäische Politik der nächsten
Monate und Jahre. Aber dieser Europäische Rat – Sie wis-
sen es – steht natürlich jetzt, wenige Tage nach den Wah-
len zum Europäischen Parlament, unter ganz besonde-
ren Vorzeichen. Nicht alle, aber manche der europaweiten
Trends, die wir bei den Wahlresultaten gesehen haben,
müssen in der Tat zumindest jenem zu denken geben, dem
ein demokratisches Europa wirklich am Herzen liegt.
Zwei gesamteuropäische Aspekte sind es wohl, die uns
aufrütteln müssen: Eine Wahlbeteiligung von 43 Prozent
ist das eine. Dies ist die niedrigste Wahlbeteiligung seit
Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parla-
ment. Es gab zum anderen besorgniserregende Stimmen-
gewinne der populistischen und europafeindlichen Par-
teien. Das mag paradox sein; aber gerade hier hat ein
Zuwachs im Europäischen Parlament stattgefunden.
Das ist eine Herausforderung für alle diejenigen, de-
nen an einem starken und geeinten Europa gelegen ist.
Wir alle müssen uns dem stellen, dass ganz offensicht-
lich viele Bürger an dem Mehrwert der Europäischen
Union entweder für ihr Land oder für sich selbst zwei-
feln. Auch Sie haben es in den Veranstaltungen gespürt:
Die Idee der europäischen Integration, der Verweis auf
die historischen Verdienste der Europäischen Union,
wenn wir über Frieden und Stabilität in Europa reden,
tragen allein noch nicht. Dieser Verweis reicht vor allen
Dingen nicht, wenn es darum geht, das Vertrauen der
Menschen in das Zukunftspotenzial dieser Europäischen
Union wiederzugewinnen. Worum es geht – das ist an-
spruchsvoller und tagesbezogener –, ist Folgendes: Wir
müssen in der europäischen Politik jeden Tag und bei je-
der Materie nachweisen, dass Europa bessere Antworten
auf die Globalisierung bereithält als die, die wir natio-
nalstaatlich geben können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deshalb stehen beim Europäischen Rat heute und
morgen ganz zentrale Zukunftsfragen auf der Tages-
ordnung, nämlich die Fragen, wie wir gemeinsam aus
der Wirtschafts- und Finanzkrise herausfinden können,
wie Europa seine Führungsrolle beim weltweiten Klima-
schutz behalten kann und wie Europa zukünftig hand-
lungsfähiger und demokratischer wird, aber vor allen
Dingen die Erkenntnis, dass kein Mitgliedstaat für sich
allein Wege aus dieser Wirtschafts- und Finanzkrise fin-
den kann.
Wir haben im vergangenen Dezember – darüber ist hier
im Hause diskutiert worden – in Ergänzung der nationalen
Anstrengungen auf europäischer Ebene ein Konjunk-
turprogramm beschlossen. Das muss jetzt wirken, und
es wirkt. Diese Anstrengungen auf nationaler und europäi-
scher Ebene haben natürlich Konsequenzen gehabt. Sie
haben Löcher in den Haushalten der EU-Mitgliedstaaten
hinterlassen. Europaweit ist die Neuverschuldung – Sie
wissen das – riesig. Wir dürfen nicht ignorieren, dass wir
auch für die zukünftigen Generationen Verantwortung
tragen, und wir dürfen nicht ignorieren, dass die Men-
schen angesichts dieser riesigen Neuverschuldung Angst
vor Inflation, vor den Gefahren für die Geldwertstabilität
haben. Deshalb ist es gut, richtig und aus meiner Sicht
auch notwendig, dass sich der Europäische Rat noch ein-
mal mit der Rolle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
befasst.
Vor allem dürfen wir aber nicht vergessen, wo diese
Krise ihren Ausgang genommen hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deshalb nehmen wir uns auf diesem Europäischen Rat
ganz gezielt die Finanzmarktaufsicht vor. Wenn diese
Finanzkrise eines gezeigt hat, dann, dass wirtschaftliche
Freiheit ohne Grenzen und ohne Vernunft das Funda-
ment unserer Gesellschaftsordnung gefährdet. Wir haben
gesehen und gelernt: Der Markt braucht Regeln, und wir
brauchen vor allen Dingen – der Finanzminister dieses
Landes hat in den letzten Wochen häufig darauf hinge-
wiesen – eine internationale Finanzordnung ohne Grau-
zonen und schwarze Löcher.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25029
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Rainder
Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich glaube, wir sind gemeinsam mit anderen europäi-
schen Partnern ganz erfolgreich gewesen. Wir haben es
mit Frankreich auf dem G-20-Gipfel in London nicht nur
geschafft, über die Frage einer Neuregulierung, einer
neuen Überwachung der Finanzmärkte zu diskutieren,
sondern auch, sie an ganz prominenter Stelle auf die in-
ternationale Tagesordnung zu setzen. Wir wollen natür-
lich nicht nur, dass dieses Thema auf der Tagesordnung
bleibt, sondern auch, dass es von der Europäischen
Union in Gänze vorangetrieben wird, dass die Europäi-
sche Union an den vor uns liegenden Weichenstellungen
tatsächlich mitwirkt.
Jacques de Larosière, der frühere französische Zen-
tralbankchef, hat, wie wir finden, sehr gute Vorschläge
zur Verbesserung der Finanzmarktaufsicht gemacht. Jetzt
geht es darum – darum wird es auch auf diesem Gipfel
gehen –, diese umzusetzen. Ich will nicht im Detail da-
rauf eingehen. Ein wichtiges Element ist die Schaffung
eines sogenannten Systemrisikorates, eines Rates, eines
Gremiums, das sich ganz speziell mit der Entstehung sys-
temischer Risiken auf dem Finanzmarkt beschäftigen
soll. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Europäi-
sche Zentralbank einem solchen Gremium, einem sol-
chen Rat tatsächlich vorsitzen kann. Wir werden uns um
die Harmonisierung EU-weiter Aufsichtsmöglichkeiten
bemühen, die wir in Ergänzung der nationalen Aufsichts-
möglichkeiten, die weiterhin notwendig sind, brauchen,
um noch größere Effizienz zu erzielen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben es nicht nur mit einer Krise auf den Wirt-
schafts- und Finanzmärkten zu tun, sondern auch – ich
habe es vorhin gesagt – mit einer Gefahr für das gesamte
europäische Gesellschaftsmodell. Die Antworten, die
wir nach der Krise formulieren, müssen europäische
Antworten sein, die auf der einen Seite natürlich in wirt-
schaftlicher und finanzpolitischer Hinsicht, auf der ande-
ren Seite aber auch in sozialer Hinsicht überzeugen. Das
heißt, dass wir auch die Rahmenbedingungen für mehr
Beschäftigung in Europa verbessern müssen. Das ist vor
allem Aufgabe der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Aber auch der Europäische Rat wird sich heute
und morgen damit befassen. Das ist auch gut so; denn
das ist notwendig.
(Beifall bei der SPD)
Wenn es ein Thema gibt, an dem sich unsere Zukunft
mehr als an irgendeinem Thema entscheiden wird, dann
ist das die Klimapolitik. Deshalb steht die Klimapolitik
auch auf diesem Europäischen Rat ganz oben auf der Ta-
gesordnung. Ich versichere Ihnen: Die Bundesregierung
kämpft dafür, dass es im Dezember dieses Jahres in Ko-
penhagen gelingt, eine Einigung über ein internationales
Klimaschutzabkommen zu erzielen. Wie Sie wissen, ist
die EU in Vorleistung getreten. Wir haben uns verpflich-
tet, den Umfang unserer CO2-Emissionen bis zum
Jahre 2020 um 20 Prozent zu reduzieren. Damals haben
wir auch gesagt: Wir sind sogar bereit, den Umfang der
Reduzierung zu erhöhen, wenn andere Industrieländer
und die Schwellenländer ebenfalls ihren Beitrag leisten.
Internationale Lastenteilung auf der Grundlage von
individueller Leistungsfähigkeit und Verursacherprinzip,
das ist das Dreieck, in dem bis zum Dezember dieses
Jahres in Kopenhagen ein Kompromiss, eine Lösung ge-
funden werden muss. Das ist anspruchsvoll und schwie-
rig genug; das gebe ich zu. Aber bis zum Europäischen
Rat in Kopenhagen muss eine Lösung gefunden werden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Andreas
Schockenhoff [CDU/CSU])
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die großen
außenpolitischen Fragen, die anstehen, können wir na-
türlich nur gemeinsam in der Europäischen Union ange-
hen: Welche strategische Antwort brauchen wir, um ins-
besondere auf die Lage in Afghanistan und Pakistan zu
reagieren? Welchen Beitrag kann die Europäische Union
nicht nur zur Stabilisierung der Situation im Nahen Os-
ten leisten, sondern vielleicht auch bezüglich einer
neuen Anstrengung im Hinblick auf den dortigen Frie-
densprozess? Wie kann eine effektive Zusammenarbeit
mit der neuen Regierung in den Vereinigten Staaten aus-
sehen, die nicht nur von den einzelnen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union bzw. nicht nur von deutscher
Seite ausgeht, sondern vor allen Dingen von der Euro-
päischen Union? Wie kann man diese Zusammenarbeit
effizienter als in der Vergangenheit gestalten?
Wir leisten unseren Beitrag. Es kommt aber darauf an
– das möchte ich betonen –, dass die EU, die Europäi-
sche Union als Ganzes, an Handlungsfähigkeit und Be-
deutung gewinnt. Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat
der Europäischen Union ist in der Lage, Fragen von glo-
balem Ausmaß, wie ich sie gerade genannt habe, allein
zu beantworten. Nur zur Erinnerung, meine Damen und
Herren: Das war der Grund für den Lissabon-Vertrag.
Dahinter stand die Grunderkenntnis, dass die National-
staaten allein nicht genug sind, sondern dass wir eine
Europäische Union brauchen, die auf vielen Feldern und
insbesondere in der Außenpolitik effizienter und hand-
lungsfähiger ist.
Was den Lissabon-Vertrag betrifft, so hoffe ich, ohne
zu weit vorgreifen zu wollen, dass wir uns auf der Ziel-
geraden befinden. Wir wollen, dass der Europäische Rat
heute und morgen geeignete Weichenstellungen vor-
nimmt, damit dieser Vertrag noch im Laufe dieses Jahres
in Kraft treten kann. Ich bin zuversichtlich, dass dies ge-
lingt. 26 der 27 zuständigen nationalen Parlamente ha-
ben ihm inzwischen zugestimmt. Ich hoffe, dass wir den
Ratifizierungsprozess in Deutschland erfolgreich ab-
schließen können. Das Bundesverfassungsgericht wird
am 30. Juni 2009, also in wenigen Tagen, entscheiden.
Das größte Hindernis bleibt natürlich – ich sehe es an
Ihren Gesichtern und entnehme es einzelnen Zurufen –
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Zurufe gibt es nicht mehr! Das ist
Schnarchen, Herr Minister!)
25030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
die ungelöste Situation in Irland. Sie wissen, dass sich
der Europäische Rat bereits im Dezember mit der Situa-
tion in Irland befasst hat. Er hat eine Reihe von Verein-
barungen getroffen, die Irland eine erneute Durchfüh-
rung des Referendums erlauben. Sie kennen die irischen
Anliegen: im Wesentlichen ethische Fragen
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach was!
Soziale Fragen!)
sowie Fragen des Familienrechts, auch der Abtreibung,
des Steuerrechts und der Verteidigung. Dem soll durch
rechtliche Garantien Rechnung getragen werden. An
dieser Stelle geht es um rechtliche Klarstellungen; der
Vertrag selbst wird nicht wieder aufgemacht.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang
Zöller [CDU/CSU])
Meine Damen und Herren, Sicherung der europäi-
schen Handlungsfähigkeit, Vorangehen auf dem Weg zur
Weltklimakonferenz, weltweite Finanzarchitektur – das
sind die Fragen, die anstehen.
Meines Erachtens spiegelt die Agenda dieses Euro-
päischen Rates wider, was der Karlspreisträger und Eu-
ropäer der ersten Stunde Hendrik Brugmans einmal pro-
phezeit hat. Er hat gesagt:
Weltpolitik … werden wir als Europäer gemeinsam –
oder gar nicht mehr führen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner erhält
der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion
das Wort.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas
Schockenhoff [CDU/CSU])
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Bundesaußenminister, zunächst einmal ist Ihr
Hinweis richtig, dass dies die erste europäische Debatte
im Deutschen Bundestag seit der Wahl zum Europäi-
schen Parlament ist. In diesem Zusammenhang sind
zwei Dinge bemerkenswert.
Erstens. Die Kräfteverhältnisse im Europäischen
Parlament haben sich verändert; aus unserer Sicht glück-
licherweise. Diese Ansicht wird nicht jeder teilen. Aus
unserer Sicht ist vor allen Dingen erfreulich, dass dieje-
nigen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise als Vorwand
nutzen wollten, um die soziale Marktwirtschaft abzuwi-
ckeln, bei diesen Wahlen geschwächt wurden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das Zweite ist die Wahlbeteiligung selbst. Meines
Erachtens macht man es sich zu einfach, wenn man die-
jenigen, die an der Wahl nicht teilgenommen haben, au-
tomatisch als Skeptiker oder Gegner der Europäischen
Union einstuft. Ich habe eher den Eindruck, dass eine
sehr große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland sehr wohl weiß, welchen Wert die Europäi-
sche Union für Frieden, Wohlstand und Freiheit hat, dass
aber eine ebenso große Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland die Relevanz der Entscheidungen
des Europäischen Parlaments auf den ersten Blick nicht
erkennen kann.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das stimmt!)
Deswegen ist zweierlei unsere Aufgabe. Erstens müs-
sen wir kenntlich machen, dass die im Europäischen Par-
lament getroffenen Entscheidungen auch für jede Bürge-
rin und jeden Bürger in Deutschland von großer
Bedeutung sind. Zweitens ist es notwendig, dass wir
endlich die demokratischen Institutionen demokratisie-
ren, damit in Europa die demokratische Legitimation für
Entscheidungen wächst. Das ist unsere Aufgabe.
(Beifall bei der FDP)
Vor diesem Hintergrund ist die Subsidiarität das
wichtigste Prinzip. Wir müssen wieder zu dem Prinzip
zurückfinden: Europa soll sich auf das beschränken, was
nur auf europäischer Ebene beschlossen werden kann.
Was Europa nicht regeln muss, das soll es auch nicht re-
geln dürfen.
Wir wollen Europa für einen gemeinsamen Markt.
Wir wollen es für Frieden. Wir wollen es für Stärke der
Außenpolitik in der Welt. Wir wollen aber kein Europa,
in dem sich eine nicht demokratisch legitimierte Be-
hörde herausnimmt, den Bürgerinnen und Bürgern zu
Hause vorzuschreiben, welche Leuchtmittel sie ein-
schrauben dürfen und welche Glühbirnen verboten sind,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das ist nicht Aufgabe von Europa.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen, dass wir infolge der Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise auch die europäischen Kontrollstrukturen, die
europäische Finanzmarktaufsicht verbessern müssen.
Sie haben auch auf die Rolle der Europäischen Zen-
tralbank hingewiesen. Ich glaube, man muss der Regie-
rung Kohl/Genscher heute dankbar dafür sein, dass sie
bei der Einführung des Euro eine so unabhängige Euro-
päische Zentralbank konstituiert hat. Das war voraus-
schauende Politik.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ohne Europa wäre diese Finanzkrise sehr schnell
auch zu einer wirklichen Währungskrise geworden. Die
Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank hat ihren
Wert. Dass wir gemeinsame Marktaufsichtsstrukturen
brauchen, ist wahr. Wir haben Vorschläge dazu gemacht.
Sie haben gesagt, Sie wollen bei der Finanzmarktauf-
sicht die Rolle der Europäischen Zentralbank stärken.
Das ist das, was Ihnen für Europa vorschwebt. Aber wie
wollen Sie in Europa eine vernünftige Bankenaufsicht
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Dr. Guido Westerwelle
durchsetzen, wenn es Ihnen nicht einmal gelingt, hin-
sichtlich der nationalen Neuregelung der Bankenaufsicht
innerhalb der Regierungskoalition Einigkeit herzustel-
len?
(Beifall bei der FDP)
Seit mehr als einem halben Jahr debattieren wir im Deut-
schen Bundestag über die Notwendigkeit, die zersplit-
terte deutsche Bankenaufsicht zusammenzufassen. Seit
mehr als einem halben Jahr gelingt es Ihnen nicht, die
Bankenaufsicht in Deutschland neu zu regeln. Wer in
Europa Autorität haben will bei der Regelung der Ban-
kenaufsicht, muss zuvor zeigen, dass er zu Hause, in
Deutschland, seine Hausaufgaben machen kann.
(Beifall bei der FDP)
Schließlich, Herr Bundesaußenminister, bleibt die
Frage, was in den letzten elf Jahren getan wurde. Sie
können hier keine Regierungserklärung abgeben, dass
wegen fehlender Regulierung Veränderungen bei der
Bankenaufsicht notwendig sind, und heute und morgen
beim Europäischen Rat so tun, also befänden Sie sich in
einem Stadium der Unschuld. Sie tragen als Sozialdemo-
kraten seit elf Jahren im Finanzministerium die Verant-
wortung für die Finanz- und Bankenaufsicht. Warum ha-
ben Sie nicht gehandelt?
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried
Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ist Ihr Versagen, was hier heute auf der Tagesordnung
steht.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass Eu-
ropa auch in der Außenpolitik mit einer Stimme spre-
chen muss. Das sehen wir gerade in diesen Tagen bei der
Debatte über den Iran. Ich glaube, es ist richtig, dass
sich Europa hierzu äußert und sich einbringt. Es ist ver-
nünftig, in der Außenpolitik wieder stärker mit einer
Stimme zu sprechen. Wir wünschen Ihnen dafür Erfolg.
Denn die junge Generation im Iran möchte Vertrauen in
den Rechtsstaat haben können, möchte durch ihre Regie-
rung nicht ihrer Möglichkeiten beraubt werden.
Wir hoffen, dass auch von dem bevorstehenden Gip-
fel ein gemeinsames europäisches Signal an diejenigen
ausgeht, die im Augenblick unter Lebensgefahr auf der
Straße für ihre Bürgerrechte und für die Demokratie
streiten. Hoffentlich kann Europa es schaffen, mit einer
Stimme aufzutreten. Das ist auch keine Einmischung in
die inneren Angelegenheiten des Iran, das ist eine Ange-
legenheit der Menschenrechte, und es gibt eine Pflicht
zur Einmischung, wenn es um die Menschenrechte geht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
Wir unterstützen das Anliegen der Bundesregierung,
die Inkraftsetzung des Lissabon-Vertrages zu beför-
dern. Dieses Anliegen ist richtig. Wir verstehen nicht
diejenigen, die – auch in Deutschland – den Lissabon-
Vertrag ablehnen. Auch wir wissen, dass der Lissabon-
Vertrag nicht das Gelbe vom Ei ist, nicht in allem perfekt
ist. Aber wir erkennen, dass er einen wesentlichen Fort-
schritt gegenüber dem Zustand, den wir haben, bringt.
Vieles von dem, was Europa vorgeworfen wird, wird
durch den Lissabon-Vertrag reformiert. Wenn man in
Europa das Beste nicht bekommen kann, dann soll man
das Zweitbeste nehmen.
(Beifall bei der FDP)
Wir haben es geschafft, dass wir in Europa mittler-
weile ein riesiger Binnenmarkt mit politischen Institutio-
nen geworden sind. Das war ein Prozess für den Frie-
den. Eine wesentliche Voraussetzung dieses Prozesses
für den Frieden nach Jahrzehnten und Jahrhunderten des
Krieges auf unserem Kontinent ist die Tatsache, dass
sich kein Land über ein anderes erhebt.
In den letzten Jahren haben wir sorgenvoll beobach-
tet, dass sich die kleinen Länder mittlerweile oft genug
nicht mehr auf gleicher Augenhöhe respektvoll behan-
delt fühlen. Es gibt eine gute Lehre aus der Regierungs-
zeit von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher,
nämlich die, dass in der Europapolitik Luxemburg eben
nicht kleiner als Frankreich ist und dass alle Staaten,
gleich welche geografische Größe oder welche Bevölke-
rungszahl sie haben, gemeinsam und respektvoll auf
gleicher Augenhöhe miteinander reden.
Herr Bundesaußenminister, deswegen wäre es richtig,
wenn Sie auch ein Wort an unsere kleineren Nachbarlän-
der richten würden. Mit der Kavallerie droht man unse-
ren Nachbarländern nicht. Das ist ein Thema der Außen-
politik und nicht nur der Finanzpolitik.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das mag sich hier als Satire anhören, in diesen Ländern
ist das aber von großer Bedeutung. Das zu beachten, ist
auch notwendig; denn um unsere eigenen Interessen
durchsetzen zu können, müssen wir auch auf die kleine-
ren Länder setzen.
Wie nötig das ist, werden wir bereits jetzt sehen,
wenn es um die Personalentscheidungen geht. Herr
Bundesaußenminister, dazu hätten wir in der Regie-
rungserklärung gerne etwas gehört.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Genau! – Rainder Steenblock [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)
Wie kann es sein, dass zu einem der wichtigsten Anlie-
gen in den nächsten beiden Tagen, nämlich zu der Frage,
wer in Europa wo was zu sagen hat, in der Regierungser-
klärung kein einziges Wort verloren wird? Was ist das
für eine Regierungserklärung?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wir als Parlamentarier werden doch veräppelt, wenn Sie
zu der wichtigsten Frage hier nichts sagen.
Warum sagen Sie dazu nichts? Sie sagen dazu nichts,
weil Sie sich natürlich wieder nicht einig sind. Ich habe
gehört, dass die stellvertretende Chefin der SPD-Frak-
tion über den Präsidenten gesagt hat, dass Barroso kein
starker Kommissionspräsident war. Wörtlich sagte sie:
25032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Dr. Guido Westerwelle
Deswegen sind wir in der SPD dagegen, dass
Barroso erneut Kommissionspräsident wird.
Ist das die Haltung der Bundesregierung?
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)
Hat die Bundesregierung überhaupt eine Haltung?
(Heiterkeit – Zurufe von der CDU/CSU: Ja! –
Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nicht eine, sondern mehrere!)
– Es ist eine wirklich glückliche Stunde in diesem Parla-
ment, dass wenigstens die Parlamentarier noch an diesen
Unfug glauben.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)
Es ist ein Treppenwitz, dass in einer Regierungserklä-
rung nichts zu den künftigen Machtverhältnissen in Eu-
ropa gesagt wird. Sie verhandeln längst und äußern sich
dazu öffentlich, aber das Parlament soll dazu nichts er-
fahren. Sie wollen, dass Europa in der Welt stark ist, in-
dem wir mit einer Stimme sprechen – da haben Sie recht –,
aber Deutschland ist in Europa nur stark, wenn wir eine
Regierung haben, die mit einer Stimme spricht. Sie aber
sind ein vielstimmiger Chor. Dadurch werden die deut-
schen Interessen in Europa geschwächt.
(Beifall bei der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist die letzte europapolitische Debatte in dieser Legisla-
turperiode, und damit haben wir Anlass, Bilanz zu zie-
hen, aber auch nach vorne zu schauen.
Durch die Themen, die beim EU-Gipfel heute und
morgen eine wichtige Rolle spielen werden – die Bewäl-
tigung der Wirtschafts- und Finanzkrise oder auch die
Bekämpfung des Klimawandels –, werden wir in den
kommenden Jahren und nicht nur in der kommenden Le-
gislaturperiode erheblich gefordert. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns dabei von einem klaren Kompass,
von einer überzeugenden Idee leiten lassen.
Wenn durch die Wirtschafts- und Finanzkrise eines
bestätigt wurde, dann ist es die Stärke und Attraktivität
des europäischen Modells der sozialen Marktwirt-
schaft.
Wir müssen den Erfolg unserer werte- und regelge-
bundenen Wirtschaftsordnung in der Welt herausstellen
und für die Umsetzung ihrer Prinzipien eintreten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das gilt sowohl gegenüber unregulierten Marktmecha-
nismen als auch gegenüber Konzepten einer etatistischen
Planwirtschaft.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb
sehr, dass die Bundeskanzlerin immer wieder diesen
zentralen Leitgedanken europäischen Handelns für eine
globale, dem Menschen dienende Wirtschafts- und Fi-
nanzordnung hervorhebt und danach handelt. In den ers-
ten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die
Aufgabe Europas vor allem die Herstellung einer Frie-
densordnung. Wir sind bei diesem Ziel weit vorange-
kommen.
Jetzt muss Europa zu seinem eigenen Schutz seine
Kräfte und seine Stärke noch mehr nach außen wenden.
Angesichts von Herausforderungen wie der Finanz- und
Wirtschaftskrise oder des Klimawandels ist es die Auf-
gabe der EU, die Stimme der sozialen Marktwirtschaft
für eine internationale Ordnung nachhaltigen Wirtschaf-
tens zu sein. Denn es gibt keine Alternative zu einer
Wirtschaftsordnung, die auch auf den Grundsätzen be-
ruht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass
Kinderarbeit und Raubbau an der Natur nicht hingenom-
men werden und dass wir soziale und ökologische Min-
deststandards haben. Sonst werden wir in der Welt von
morgen nicht so leben können, wie wir es wollen. Das ist
der Gedanke, von dem wir uns leiten lassen und der un-
ser Handeln bestimmt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
wie des Abg. Kurt Bodewig [SPD])
Aktuell geht es darum, eine echte europäische Regu-
lierung des Finanzsektors sicherzustellen. Wir müssen
ein Finanzsystem schaffen, das unsere Sparer schützt, den
Unternehmen und Arbeitnehmern verpflichtet ist und mit
Blick auf Hedgefonds, Steueroasen oder Managergehäl-
ter im Finanzsektor das europäische Vorbild für eine ver-
antwortungsbewusste internationale soziale Marktwirt-
schaft darstellt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wer dieses Ziel nach außen erreichen will, braucht
zunächst einmal größtmögliche Geschlossenheit inner-
halb der EU und vor allem ein gutes Vertrauensver-
hältnis. Deshalb war es gut, dass die Bundeskanzlerin
unmittelbar nach ihrem Amtsantritt wieder für Bere-
chenbarkeit und Glaubwürdigkeit der deutschen Außen-
politik, für ein Vertrauensverhältnis zu unseren Partnern
und darauf aufbauend auch für Geschlossenheit inner-
halb der EU gesorgt hat. Beides war 2005 nicht der Fall.
Wenn man heute Bilanz zieht, dann muss noch einmal
darauf hingewiesen werden, dass die Regierung
Schröder Europa und die NATO gespalten hatte.
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Unsinn!)
– Ich erinnere nur an die Pressekonferenz von Chirac,
Schröder und Putin, Herr Kollege, als eine neue Achse
Paris–Berlin–Moskau ausgerufen wurde. Das hat die
Geschlossenheit von NATO und EU nachhaltig zerstört.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Völlig ab-
surd!)
Ich erinnere auch an die Verhandlungen über die Ost-
see-Pipeline, die vor 2005 über die Köpfe unserer mittel-
europäischen Nachbarn hinweg vorangetrieben wurden.
Damit wir uns richtig verstehen: Das Projekt ist im Inte-
resse der gesamten EU unverzichtbar, aber die Art und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25033
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Dr. Andreas Schockenhoff
Weise, wie es von der Regierung Schröder betrieben
wurde, hat die EU nicht geeint, sondern gespalten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie, Herr Außenminister, waren damals Kanzleramts-
minister und tragen damit eine entscheidende Mitverant-
wortung für diese Spaltungspolitik. Unsere Nachbarn
sind darüber bis heute verunsichert. Wenn Sie jetzt in Ih-
rer Budapester Rede – also in einem Nicht-Euroland –
eine, so wörtlich, „engere Abstimmung in der Eurozone
zu zentralen wirtschaftlichen Fragen, insbesondere zur
Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik“ fordern, dann ist das
nicht nur unsensibel gegenüber dem Gastland, das nicht
der Eurozone angehört; es birgt vor allem die Gefahr ei-
ner neuen Spaltung. Zumindest ist es in seinen Konse-
quenzen nicht zu Ende gedacht, Herr Außenminister.
Wollen Sie wirklich, dass stabilitätsorientierte Länder
wie Schweden oder Dänemark oder auch unser Nachbar-
land Polen, das unter seinem Ministerpräsidenten Tusk
eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreibt, bei zentra-
len wirtschaftlichen Fragen außen vor bleiben, weil sie
nicht in der Eurogruppe sind? Was heißt eigentlich „en-
gere Abstimmung“? Entweder geht es um Information
untereinander. Das braucht man nicht zu fordern; denn
es ist heute schon möglich. Man muss es nur tun, und
zwar ohne andere auszuschließen. Oder heißt „engere
Abstimmung“, Vorentscheidungen zu treffen, die wir im
Bundestag im Übrigen nur nachvollziehen könnten? Das
ist eine Beschneidung unseres Haushaltsrechts und
schon daher inakzeptabel.
Nein, Herr Außenminister, die Zuständigkeit für die
Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik liegt aus guten
Gründen nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Es ist der
einheitliche europäische Binnenmarkt, der die Grund-
lage der Union aller Mitgliedstaaten bildet, sowohl de-
rer, die bereits zum Euroraum gehören, als auch der
Nicht-Eurostaaten. Die entscheidende Rolle bei der Ko-
ordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik muss der
Rat der 27 Wirtschafts- und Finanzminister spielen. Al-
les andere würde nur zu neuen Verwerfungen führen, die
wir uns nicht leisten können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
In diesem Zusammenhang begrüßen wir sehr, dass die
Bundeskanzlerin die kleinen und mittleren EU-Staaten
– Herr Westerwelle, Sie haben das soeben erwähnt – im-
mer mitnimmt, wenn es um wichtige Entscheidungen
geht. Ich möchte daran erinnern, dass die Bundeskanzle-
rin Estland und Polen bei der Pressekonferenz zum EU-
Russland-Gipfel in Samara vor laufenden Kameras in
Schutz genommen hat. Das hat der Außenminister als
Schaufensterpolitik bezeichnet.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Was erzählen Sie
denn da?)
Es handelt sich aber um die Wahrnehmung deutscher In-
teressen. Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt,
finden in der EU künftig häufiger Mehrheitsentscheidun-
gen statt. Deutschland könnte dabei sehr schnell in eine
Minderheitenposition geraten.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie bei der Arbeitszeitrichtlinie!)
Deswegen ist es gerade im deutschen Interesse, die klei-
nen und mittleren EU-Partner immer mitzunehmen, ei-
nen fairen Interessenausgleich zu suchen, zu vermitteln
und nicht zu spalten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die von der Bundeskanzlerin maßgeblich herbeige-
führte Geschlossenheit in der EU und die neu geschaf-
fene Vertrauensgrundlage waren die entscheidenden Vo-
raussetzungen dafür, dass die Finanzierung der EU
Ende 2005 sichergestellt werden konnte, dass die Ver-
handlungen zum Lissabonner Vertrag während der deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft erfolgreich abgeschlossen
wurden und dass unter deutschem und französischem
EU-Vorsitz ein entschiedenes Bekenntnis zur Bekämp-
fung des Klimawandels abgelegt wurde.
Mit dem Klimapaket ist die Europäische Union die
erste und bisher einzige Region in der Welt, die ehrgei-
zige und rechtlich verbindliche Regeln verabschiedet
hat, um zu verhindern, dass ein weltweiter Temperatur-
anstieg von mehr als 2 Grad stattfindet. Es kommt jetzt
darauf an, dass sich die anderen großen Industriestaaten
genauso engagieren wie wir Europäer. Das gilt insbeson-
dere für die USA. Den ermutigenden Worten von Präsi-
dent Obama müssen nun auch überzeugende Taten fol-
gen.
Nur so werden wir erreichen, dass Schwellenländer
wie China oder Indien ihren Beitrag leisten und wir im
Dezember in Kopenhagen ein echtes weltweites Klima-
abkommen beschließen können. Damit es dazu kommt,
müssen alle Staaten noch erhebliche Anstrengungen un-
ternehmen. Wir können aber heute schon sagen: Wir
würden dieses Ziel nicht erreichen, wenn es nicht die
treibende Kraft der Bundeskanzlerin für die führende
Rolle der EU in der Klimapolitik gäbe.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben in
vielen EU-Ländern – nicht nur hier in Deutschland –
wichtige Signale für die künftige Entwicklung gesetzt.
Wir haben mit besonderem Interesse auf das Ergebnis in
Irland geschaut. Aufgrund dieses Ergebnisses können
wir hoffen, dass das erneute Referendum im Herbst den
Weg für das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages frei
machen wird. Der EU-Gipfel wird den irischen Wün-
schen Rechnung tragen.
Mit dem Lissabonner Vertrag werden wir einen Prä-
sidenten des Europäischen Rates bekommen. Ich bin
davon überzeugt, dass dieser Präsident nicht nur für
mehr Kontinuität und Effizienz der Arbeit des Europäi-
schen Rates sorgen wird. Da er mindestens zweieinhalb
Jahre amtiert, wird er die herausragende EU-Persönlich-
keit werden. Als der europäische Präsident wird er eine
halbe Milliarde EU-Bürger repräsentieren. Er wird daher
auf gleicher Augenhöhe mit dem amerikanischen, dem
chinesischen oder dem russischen Präsidenten stehen
und besondere Aufmerksamkeit erhalten.
25034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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(B) (D)
Dr. Andreas Schockenhoff
Das wird aus meiner Sicht nicht nur mehr europäische
Identität stiften; das wird auch die Möglichkeit bieten,
bei künftigen europäischen Wahlen im Wahlkampf die
Aufmerksamkeit auf die Persönlichkeiten und die Kan-
didaten für die Spitze Europas zu konzentrieren. Da-
durch wird die Wahl spannender, was vielleicht zu einer
höheren Wahlbeteiligung führen wird. Ich finde, die
Rolle des europäischen Präsidenten eröffnet eine
Chance, mehr Interesse für Europa zu wecken.
Die Regierung Merkel hat Vertrauen und Handlungs-
fähigkeit in der Europäischen Union zurückgewonnen.
Das ist die wichtigste Voraussetzung, um die enormen
Herausforderungen der kommenden Jahre geschlossen
und gemeinsam zu bewältigen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der EU-Gipfel wird sich mit drei Themen befas-
sen: mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, mit dem Lis-
sabon-Vertrag und mit dem Klimaschutz.
Zum Klimaschutz: Man kann deshalb auf wirkliche
Veränderungen – und zwar in einem positiven Sinn –
hoffen, weil Obama diesbezüglich offensichtlich eine
gänzlich andere Politik macht als Bush. Ohne die USA
kann man das Klima nicht retten und den Klimawandel
nicht verhindern. Deshalb haben wir diesbezüglich Hoff-
nung.
Zur Finanz- und Wirtschaftskrise: Der Europäische
Rat hat die Absicht, vorzuschlagen, auf keinen Fall mehr
Konjunkturmaßnahmen durchzuführen. Ich muss Ihnen
sagen: Ich finde diese Empfehlung der EU abenteuer-
lich.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Wir haben die Talsohle der Krise noch gar nicht erreicht.
Wir wissen noch gar nicht, wie viele Arbeitslose es 2010
geben wird. Aber schon soll entschieden werden: Nichts
mehr investieren! Was heißt „nichts mehr investieren,
keine Konjunkturprogramme mehr“ überhaupt? Die Stu-
denten sowie die Schülerinnen und Schüler gehen auf
die Straße und streiken, weil wir ein unterdurchschnittli-
ches Bildungssystem in Europa haben. Wir sollen nun
aber im Europäischen Rat beschließen: Es gibt nicht
mehr Geld für Bildung. – Das ist doch abenteuerlich; das
geht nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Nehmen wir als Beispiel die Binnenwirtschaft: Wir
brauchen endlich einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Wir brauchen höhere Sozialleistungen.
Wir brauchen höhere Renten, und zwar auch für die
Wirtschaft; denn sonst wird immer weniger gekauft und
werden immer weniger Dienstleistungen in Anspruch
genommen – mit dem Ergebnis, dass die Binnenwirt-
schaft weiter zusammenbricht. Ich kann diese Empfeh-
lung bzw. – wenn es dazu kommt – diesen Beschluss
des Europäischen Rates überhaupt nicht nachvollziehen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Sie haben dazu nichts gesagt, Herr Außenminister.
Im Übrigen will die Regierung selbst über 90 Mil-
liarden Euro weitere Schulden für das Jahr 2009 aufneh-
men. Sie verraten uns aber nicht, was Sie im Jahr 2010
vorhaben. Wir wissen zudem nicht, wie viele Schrottpa-
piere unsere privaten Banken in ihren Bilanzen eigent-
lich noch haben. Sind es nun über 800 Milliarden, über
900 Milliarden oder über 1 000 Milliarden Euro? Wir
bekommen keine Auskünfte. Wir alle sollen bis zum
27. September nur vor uns hinhecheln. Danach werden
wir Ihre Wahrheiten erfahren. Aber mir ist das zu spät,
muss ich Ihnen sagen, Herr Bundesaußenminister.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Union und FDP beschließen in dieser Phase der Ent-
wicklung Deutschlands auch noch Steuersenkungen. Das
ist mehr als ein Zauberladen, den Sie da aufmachen wol-
len. Das ist völlig absurd.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Ich sage Ihnen, was nach dem 27. September passieren
wird. Ich befürchte, dass man zwei Dinge machen wird:
Man wird Sozialleistungen kürzen und natürlich Steuern
erhöhen. Ich beschreibe Ihnen nun einmal, wie der Zeit-
geist dafür organisiert wird. Zuerst gibt es einen Arbeit-
geberverband, der sagt: Per 1. Januar 2011 muss die
Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent erhöht werden.
Dann kommt noch ein satanisches Argument: Wenn man
das rechtzeitig beschließt und die Leute schon 2010 wis-
sen, dass am 1. Januar 2011 alles teurer wird, dann kau-
fen sie 2010 mehr ein, und das belebt die Binnenwirt-
schaft. So die Theorie dieses Arbeitgeberverbandes.
Dann kommt ein Institut aus Hamburg und sagt, man
müsse doch zum 1. Januar 2011 die Mehrwertsteuer von
19 auf 25 Prozent erhöhen, und bringt dasselbe Argu-
ment. Dann kommt das Deutsche Institut für Wirt-
schaftsforschung und sagt, man müsse doch zum 1. Ja-
nuar 2011 die Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent er-
höhen, und macht denselben Vorschlag. Was machen
nun Union und SPD? Beide sagen: Das kommt gar nicht
in die Tüte.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
hatten wir schon!)
Aber ehrlich, Herr Bundesaußenminister, ich fühle mich
sehr an die Plakate von 2005 „Keine Mehrwertsteuerer-
höhung“ erinnert. Aus null wurden dann 3 Prozent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25035
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Dr. Gregor Gysi
punkte. Ich befürchte, dass wir dasselbe nach dem
27. September erleben.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Nun komme ich zum nächsten Thema – auch das ist
sehr ernst –, zum Lissabon-Vertrag. Sie haben die ge-
ringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl und eine ge-
wisse EU-Skepsis kritisiert. Sie sagen aber nichts dazu,
dass die Regierung das mitorganisiert. Ich will Ihnen
dazu zwei Beispiele nennen.
Das eine Beispiel ist: Alle Regierungen der EU versu-
chen immer, Regelungen im Rahmen des Europarechts
dort zu schaffen, wo sie meinen, national nicht weiterzu-
kommen. Dann erleben die Bürgerinnen und Bürger,
dass ihnen jeder zweite Bürgermeister jedes dritte Mal,
wenn sie berechtigte Anträge stellen, erklärt, das gehe
wegen des EU-Rechts leider nicht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das habe ich noch
nie gesagt, und ich bin Bürgermeister!)
Wenn er das sagt, stimmt das in der Hälfte der Fälle, in
der anderen Hälfte stimmt es nicht. Das verbessert das
Image der EU im Sinn, im Denken und Fühlen der Men-
schen nicht gerade.
Das zweite Beispiel – das finde ich viel dramatischer –
ist: Der Entwurf einer europäischen Verfassung wird
vorgelegt. Dann sagen zwei Völker, nämlich Frankreich
und die Niederlande, Nein. Daraufhin überlegen Sie
nicht, eine bessere Verfassung zu entwickeln. Sie überle-
gen auch nicht, in allen Mitgliedsländern einen Volks-
entscheid durchzuführen und überall eine Mehrheit zu
erreichen, damit wir eine EU der Völker bekommen.
Vielmehr überlegen Sie, wie Sie diesen Vertrag kosme-
tisch leicht korrigieren, um zu verhindern, dass es in
Frankreich und Holland noch einmal einen Volksent-
scheid gibt. Das heißt, Sie überlegen, wie Sie eine EU
der Regierungen schaffen, nicht eine EU der Völker. Ge-
nau das haben wir kritisiert.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Eine Ausnahme hier ist Irland. In Irland muss es nun
mal zwingend einen Volksentscheid geben. Prompt sagt
die Bevölkerung Nein.
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Abwarten!)
Nun überlegen Sie sich, was Sie machen. Herr Außenmi-
nister, Sie erklären: 26 Staaten haben diesen Vertrag rati-
fiziert bzw. die Parlamente haben zugestimmt, oder man
ist dabei, ihn zu ratifizieren. Die Bevölkerung wurde
nicht gefragt. Schön. Dann sagen Sie: Mit Irland müssen
wir ein Protokoll anfertigen und eine Regelung finden,
damit die Bevölkerung auch Ja sagt. Wissen Sie, dass
Sie damit alle 26 Ratifizierungsverhandlungen wieder
infrage stellen? Wenn Sie jetzt Irland etwas zubilligen,
müssen Sie bedenken, dass das von den anderen Ländern
während der Ratifizierung nicht genehmigt worden ist.
Jetzt müssten Sie, wenn Sie das rechtlich korrekt ma-
chen wollen, noch einmal 26 Ratifizierungsverfahren
einleiten. Das sollten Sie aber erst dann tun, wenn die
irische Bevölkerung Ja gesagt hat. Eines geht nicht,
nämlich dass Sie in Irland so lange abstimmen lassen,
bis es eine Mehrheit für den Vertrag gibt. Gehen Sie
doch einen anderen Weg! Schaffen Sie einen Vertrag, der
mit Sicherheit die Zustimmung aller Völker der Europäi-
schen Union finden wird! Das wäre der richtige Weg.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Ich möchte nun zwei Punkte ansprechen, die Sie mir
einmal erklären müssten. Der erste Punkt ist: In Art. 42
des Lissabon-Vertrages steht:
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militäri-
schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.
Warum, Herr Außenminister, kann in diesem Artikel
nicht stehen: Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ab-
zurüsten? Warum muss in dem Vertrag stehen, dass sie
sich verpflichten, aufzurüsten? Weshalb muss man dazu
Ja sagen?
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Der zweite Punkt – das ist das stärkste Stück, finde
ich –: Sie haben gesagt, Sie wollen eine internationale
Finanzzone ohne Grauzonen und ohne schwarze Lö-
cher. Daraufhin wurde sehr intensiv geklatscht. Neue
Regulierungen und mehr Bankenaufsicht haben Sie ge-
fordert. Was steht im Vertrag? In Kap. 4, nämlich in
Art. 63, steht – das sage ich auch der FDP –:
Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind
alle Beschränkungen des Zahlungsverkehrs zwi-
schen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mit-
gliedstaaten und dritten Ländern verboten.
Sie haben im Lissabon-Vertrag jede Regulierung ausge-
schlossen und behaupten hier das Gegenteil.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Axel Schäfer
[Bochum] [SPD]: Unsinn!)
Sie haben nicht einmal vor, das zu ändern, was dort gere-
gelt ist.
(Kurt Bodewig [SPD]: Die Ausgrenzung von
Ländern ist verboten! Das ist wirklich Un-
sinn!)
– Sie können hier so viel herummaulen, wie Sie wollen.
Ich weiß, dass Sie alle dem Vertrag zugestimmt haben.
(Kurt Bodewig [SPD]: Zu Recht! – Rainder
Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aus guten Gründen haben wir zugestimmt!)
Aber das Bundesverfassungsgericht entscheidet erst am
30. Juni dieses Jahres. Danach unterhalten wir uns noch
einmal neu.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Axel Schäfer
[Bochum] [SPD]: Sehr gerne! Darauf kommen
wir zurück!)
25036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Gregor Gysi
Vielleicht haben Sie doch das eine oder andere überse-
hen.
Ich komme zu einer weiteren Frage. Der Europäische
Gerichtshof hat immer wieder Einschränkungen des
Streikrechts bestätigt und erklärt, dass öffentliche Auf-
träge nicht an Tariflöhne gebunden werden dürfen. Wa-
rum? Im EU-Recht ist geregelt – keine Regelung im EU-
Recht ist ohne Zustimmung der Bundesregierung ent-
standen, weil dort das Einstimmigkeitsprinzip gilt –,
dass die Kapitalfreiheit Vorrang vor sozialen Grund-
rechten hat. Deshalb gibt es jetzt gemeinsame Erklärun-
gen des DGB mit der SPD, mit den Linken und mit den
Grünen, in denen gefordert wird, diese Regelung im Eu-
roparecht umzudrehen und dafür zu sorgen, dass die so-
zialen Grundrechte Vorrang vor der Kapitalfreiheit ha-
ben. Nichts davon steht im Lissabon-Vertrag! Er ist
nämlich noch unter dem neoliberalen Zeitgeist abge-
schlossen worden. Das ist die Wahrheit. Deshalb müssen
wir das korrigieren.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Rainder
Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
So ein Unfug!)
Ich bin relativ sicher, dass wir in der Europäischen
Union vorankommen, aber nicht auf der Basis der Kon-
servativen und auch nicht auf der Basis des Neoliberalis-
mus. Wir werden nur dann vorwärtskommen, wenn den
Menschen soziale Sicherheit gewährt wird. Das heißt,
die sozialen Grundrechte müssen endlich im Vorder-
grund des Europarechts stehen, damit der Europäische
Gerichtshof nicht mehr so abenteuerliche Entscheidun-
gen treffen kann, wie er das in der Vergangenheit getan
hat.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Kurt Bodewig (SPD):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe leider häufig das Vergnügen, nach einem Redner
der Linkspartei zu sprechen. Das zwingt mich dann im-
mer zu Korrekturen:
Der Art. 63 – eine sachliche Korrektur – verhindert
nur, dass ein Land im Finanzsystem der EU ausgegrenzt
wird. Es ist also völliger Unsinn, was der Kollege Gysi
hier gesagt hat.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der zweite Punkt, der mich etwas mehr berührt, be-
trifft die Frage des Umgangs der Partei Die Linke mit
dem Vertrag von Lissabon. Ich will Ihnen eines sagen:
Sie machen nichts anderes, als auf einer antieuropäi-
schen Welle zu surfen. Sie müssen aufpassen, dass Sie
nicht in einer Schmuddelumgebung im Europäischen
Parlament landen, wo eine ganze Reihe von nationalisti-
schen Antieuropäern mit Ihren Argumenten Politik
macht. Diese Ähnlichkeit sollten Sie einmal überdenken.
Ich glaube, das hat etwas mit politischer Kultur zu tun.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch
bei der LINKEN)
Deswegen werde ich noch eines sagen: Sie werden am
30. Juni eine Watsche vom Bundesverfassungsgericht
bekommen, die sich wirklich sehen lassen kann.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
werden wir ja erleben! – Dr. Diether Dehm
[DIE LINKE]: Woher wissen Sie denn das?)
Ich glaube und hoffe, dass zumindest das zu Vernunftan-
sätzen führt.
(Beifall bei der SPD)
Ich will aber auch auf die anderen Debattenredner
ganz kurz eingehen, bevor ich meine eigenen Anliegen
einbringe. Zur FDP: Ich glaube, jeder hier ist für Subsi-
diarität. Subsidiarität steht im Lissabon-Vertrag, und sie
wird von keinem infrage gestellt. Ich will aber sehr deut-
lich machen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union bewusst Themen, die vorher nicht Gemein-
schaftsrecht waren, zum Gemeinschaftsrecht gemacht
haben, weil sie gesagt haben: Die einzige politische Lö-
sung, die machbar ist, ist eine europäische Lösung. – Ich
glaube, das ist ein guter Ansatz. Das ist unser Umgang
mit Subsidiarität, und der ist vernünftig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Zu Herrn Kollegen Schockenhoff: Ich sagte noch zu
meiner Kollegin: Das ist doch ein vernünftiger Kollege. –
Als dann Ihre Rede begann, Herr Schockenhoff, war ich
anderer Ansicht und wusste nicht mehr, in welcher Ko-
alition wir sind.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist ja das
Thema, das uns auch bewegt!)
Ich will nur auf einen Punkt eingehen. Erklären Sie mir
doch einmal, warum Ihre damalige Position der Unter-
stützung des Irak-Kriegs, der von der Koalition der Wil-
ligen geführt wurde, richtig war.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das
ist doch eine absurde Unterstellung!)
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Was Bundeskanzler
Gerhard Schröder damals gemacht hat, war ein Zeichen
der Vernunft; denn dieser Irak-Krieg war ein einziges
Desaster, und er führte dazu, dass der Nahe Osten dauer-
haft destabilisiert wurde.
(Beifall bei der SPD)
Über diese Verantwortung müssen wir alle miteinander
reden. Ich glaube, das war eine Fehlentscheidung, und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25037
(A) (C)
(B) (D)
Kurt Bodewig
man darf historisch auch einmal etwas korrigieren; das
sage ich allen.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt kommen.
Ich glaube, dass der Europäische Rat jetzt eine ganz
wichtige Rolle spielt. Es gibt wirklich wichtige Themen.
Ich erinnere daran, dass der Außenminister zu Beginn
des Jahres ein Neun-Punkte-Programm über die Grund-
züge des zweiten Konjunkturpakets und die Finanz-
marktgrundzüge vorgelegt hat. Das wurde im
Steinbrück/Steinmeier-Papier präzisiert. Es wurde
dann von der G 20 fast eins zu eins übernommen. Ich
finde, das ist ein guter Schritt, der sich sehen lassen kann
und auf den man stolz sein kann.
(Beifall bei der SPD)
Es wurde das Thema Steuerentlastung angespro-
chen. Ich glaube, es ist nicht die Zeit für Steuerentlastun-
gen, es sei denn, alle diejenigen, die diese fordern, erklä-
ren, wo sie Einsparungen vornehmen wollen. Wollen sie
an die Sozialsysteme, wollen sie an die Rente, oder in
welcher Form wollen sie agieren? Denn Steuerentlastun-
gen werden nicht zusätzlich möglich sein. Ich freue mich
auf Antworten; denn diese führen zu neuen Auseinan-
dersetzungen.
Ich glaube, dass der Rat richtig liegt, wenn er sich für
eine europäische Finanzaufsicht ausspricht. So müssen
die nationalen Finanzaufsichten koordiniert werden, es
muss aber auch eine Risikoanalyse auf der Makroebene
durch den geplanten Europäischen Ausschuss für Sys-
temrisiken erfolgen. Wir brauchen das. Dies war ein Be-
reich, der in der Vergangenheit vernachlässigt wurde,
was dazu führte, dass die Finanzkrise in eine Wirt-
schaftskrise mündete. Ich glaube, dass wir mit dem Kon-
junkturprogramm der Krise weiter entgegenwirken kön-
nen und wir irgendwann Licht am Ende des Tunnels
sehen. Ich hoffe nicht, dass im Tunnel uns andere Züge
entgegenkommen.
Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt einge-
hen: Klima und Energie. Das Thema Klima und Ener-
gie wird ein ganz zentrales Thema dieses Rates sein. Ich
glaube, wir haben nur ein ganz kleines Zeitfenster. Der
Klimawandel schreitet bedrohlich fort. Wir müssen die-
ses Zeitfenster nutzen. Eine der ganz großen Aufgaben
wird das sein, was der Außenminister beschrieben hat.
Es muss uns nämlich gelingen, mit diesem Rat die Kon-
ferenz von Kopenhagen vorzubereiten. Wir sollten nicht
nur unsere eigenen Anstrengungen noch einmal be-
schreiben, sondern darauf abzielen, die CO2-Emissionen
um 30 Prozent zu reduzieren, wenn es gelingt, andere In-
dustrie- und Schwellenländer in diesen Prozess mit ein-
zubeziehen. Das ist der richtige Weg.
(Beifall bei der SPD)
Ich kann Ihnen sagen, es ist jetzt auch die richtige Zeit.
Der Wechsel in den USA war ein wichtiger Meilenstein
auf dem Weg, ein Nachfolgeprogramm für das Kioto-
Protokoll aufzustellen. Kopenhagen wird wichtig sein.
Es wird übrigens nicht einfach sein, 192 Länder auf
eine gemeinsame Position festzulegen. Ich warne davor,
sich jetzt innerhalb der EU bei der Frage zu verhakeln,
wie der regionale Lastenausgleich erfolgen soll; ich bitte
Sie, auch beim Rat darauf zu achten. Das wäre in diesem
Moment nämlich ein falsches Signal. Erst muss es gelin-
gen, sich auf ein globales Ziel zu verständigen und die-
ses zu verankern. Wenn dies nicht gelingt, dann wird
diese Welt in weitere neue konkurrierende Blöcke zerfal-
len, die nicht mehr den alten Blockkonfrontationen ent-
sprechen. Es wird Ressourcenkonflikte in einem Aus-
maß geben, das uns alle die Zukunft wirklich fürchten
lässt. Einher damit gehen nicht nur Flüchtlingsbewegun-
gen oder eine Ausdehnung der Sahelzone, vielmehr wer-
den die Grundfesten der Gesellschaften in der Welt er-
schüttert werden. Deswegen halte ich es für so wichtig,
dieses Thema gut vorzubereiten und zum eigentlichen
Schwerpunkt des Rates zu machen.
(Beifall bei der SPD)
Wir brauchen auch eine globale Technologierevolu-
tion. Deutschland hat vor zehn Jahren angefangen, er-
neuerbare Energien und Energieeffizienz zu einem
Schwerpunktthema zu machen. Bei diesen Themen sind
wir jetzt sozusagen Weltmarktführer. Meiner Meinung
nach hat jedes Land dieser Welt Anspruch auf eine preis-
werte Form der Energiegewinnung. Hierbei voranzu-
kommen, ist unsere große Aufgabe.
Ich nenne ein nächstes Ziel, das auf dem Rat behan-
delt wird: die Ostsee-Strategie. Sie ist ein großes Anlie-
gen der schwedischen Ratspräsidentschaft. Ich selber bin
ehrenamtlich Chairman des internationalen Baltic Sea
Forums; das Thema ist auch mir also ein großes Anlie-
gen. Es hat aber auch etwas mit der Integration in Eu-
ropa zu tun. Der Ostsee-Raum bietet eigentlich nach
1989 das beste Beispiel für die Integration von Staaten:
Diese waren bedroht, konnten sich dann aus dem sowje-
tischen System befreien und schaffen es jetzt in einer
stabilen europäischen Gemeinschaft, sich ökonomisch
zu entwickeln. Hier weiter voranzukommen, ist eine der
großen Aufgaben. Ich halte diese Ostsee-Kooperation
für eine Erfolgsgeschichte; sie kann ein Modell für an-
dere Meeresregionen in dieser Welt sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diese Region stellt einen großen Block innerhalb der EU
dar, und wir sollten dies wirklich ernst nehmen. Wir soll-
ten sagen: Die Ostsee-Strategie ist etwas, das uns hilft,
auch die Kooperation in anderen Regionen zu bestärken,
etwa im Schwarzmeer-Raum. Wenn sich auch Deutsch-
land als maritimer Standort noch etwas weiterentwickelt,
dann ist das eigentlich kein schlechtes Aushängeschild.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Lassen Sie es mich auch an dieser Stelle noch einmal
sagen: Meines Erachtens gibt es immer noch eine Spal-
tung der Energieversorgung zwischen Ost und West.
Es gibt wenig durchgehende Leitungsnetze, etwa in die
baltischen Staaten. Hier müssen wir etwas tun. Entspre-
chende Programme sowohl europäisch zu verankern wie
auch anzureizen, ist eine große Aufgabe und wird die In-
tegration Europas weiter voranbringen.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr wichtig!)
25038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Kurt Bodewig
Dazu gehört auch das Pipelineprojekt, das ich für sehr
wichtig halte, denn es dient nicht nur unserem Land,
sondern auch der Versorgung Westeuropas, also einer
Solidarität, die das Zusammenwachsen der beiden gro-
ßen Teile Europas fördert.
Mir ist wichtig, dass auch Folgendes klar ist: Wir soll-
ten selbstbewusst sagen, es gibt Interessen, auch deut-
sche Interessen, aber bei allem steht im Mittelpunkt das
Interesse an der Sicherheit der Energieversorgung in
Europa. Wenn wir auf diesem Gebiet vorankommen,
dann sind wir auch ein Vorbild für andere Konfliktberei-
che in dieser Welt und zeigen, dass es Lösungsmöglich-
keiten gibt, deren Verwirklichung zwar Zeit braucht, die
aber dann auch nachhaltig sind.
(Beifall bei der SPD)
Da ich meine letzte Rede im deutschen Parlament
halte, möchte ich noch einiges über die Zusammenarbeit
in der vergangenen Zeit sagen. Meines Erachtens war es
immer wichtig, dass in außen- und europapolitischen
Fragen ein Konsens erreicht wurde, der so weit wie nur
möglich ging. Antieuropäer einzubinden ist natürlich
schwierig, aber der Rest konnte sich in sehr vielen wich-
tigen Punkten zusammenfinden. Das war keine Selbst-
verständlichkeit. Ich sehe darin einen guten Hinweis da-
rauf, dass Deutschland aus der Kontinuität seiner
Außenpolitik die eigentliche Kraft schöpft.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)
Diese Kontinuität war nie durchbrochen. Deswegen ist
es wichtig, dies auch einmal festzustellen, und ich
möchte dies auch mit einem Dank an den Außenminister
verbinden.
Lieber Herr Außenminister, lieber Frank, ich glaube,
es war eine gute Zusammenarbeit. Gerade im Europa-
ausschuss haben wir wirklich gut kooperiert. Die Verein-
barung zwischen Bundesregierung und Bundestag ist ein
sichtbares Zeichen dafür. Die Kollegen in vielen anderen
europäischen Ländern schauen immer auf Deutschland
und sagen, so etwas hätten wir auch gern. Insofern kann
man sagen: Wir haben damit ein Stück europäischer Ge-
schichte geschrieben. Herzlichen Dank!
(Beifall bei der SPD)
Ich möchte Ihnen auch für Ihre klare Stellungnahme
nach den Ereignissen im Iran danken. Die vielen Toten
dort sind schon erschütternd. Wahrscheinlich hat ein
massiver Wahlbetrug stattgefunden. Ich fand es richtig,
dass Sie den Botschafter einbestellt haben. Ich fand es
richtig, dass die deutsche Bundesregierung nachgefragt
und nachgehakt hat. Wir werden das Geschehen im Iran
nicht von Europa aus verändern. Wenn sich jetzt Hun-
derttausende Menschen treffen und sagen: „Gebt uns un-
sere Stimme zurück“, dann kann ein verantwortliches
Europa dazu beitragen, diesen Stimmen Gewicht zu ver-
schaffen. Ich glaube, das ist die Position des ganzen
Hauses. Es tut gut, dass wir alle gemeinsam an dieser
Stelle Flagge zeigen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte schließen mit einem Satz des wunderba-
ren Satirikers Karl Valentin, der vor etwa 100 Jahren ge-
sagt hat: „Kunst ist schön, macht aber Arbeit.“ Ich
glaube, das gilt auch für Europa. Europa ist schön, Eu-
ropa ist wichtig, Europa macht Sinn; aber es macht auch
eine Menge Arbeit. Wir sollten gemeinsam daran arbei-
ten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Lieber Kollege Bodewig, zu der von Ihnen gerade
hervorgehobenen Zusammenarbeit im Hause, auch über
Fraktionsgrenzen hinweg, und der Bereitschaft zum
Kompromiss als Voraussetzung für gemeinsame Ent-
scheidungsbildung haben Sie selber in Ihrer parlamenta-
rischen Arbeit ganz wesentlich beigetragen. Dazu
möchte ich Ihnen heute auch im Namen des Hauses
herzlich danken und Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute
wünschen.
(Beifall)
Nun erhält der Kollege Jürgen Trittin das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letzte
Europawahl hat erstaunliche Erkenntnisse offenbart. Um
18.15 Uhr am Wahlabend verkündete Horst Seehofer:
„Die CSU ist wieder da!“ Dabei müssen Herrn Seehofer
wirklich alle Maßstäbe verrutscht sein: Sie hatte gerade
8 Prozent Verlust eingefahren.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Dass Sie
sich so mit uns beschäftigen!)
Man denke einmal daran zurück, was der Maßstab von
Franz Josef Strauß war: 50 Prozent plus X für die CSU.
Dennoch freut sich Herr Seehofer heute, dass sie in Eu-
ropa nicht zur außerparlamentarischen Opposition ge-
worden ist. Ich sage Ihnen von der CSU: Sie hätten es
verdient; denn Sie haben einen Wahlkampf geführt, der
mit Europa gar nichts zu tun hatte; er hat sich nämlich
nur darauf beschränkt, antitürkische Vorurteile zu schü-
ren. Das ist die Wahrheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter
Ramsauer [CDU/CSU]: Sie reden wie der
Blinde von der Farbe! Können Sie das Wort
Bayern überhaupt buchstabieren? Sie können
das Wort Bayern überhaupt nicht buchstabie-
ren! Sie waren überhaupt nie in Bayern! Es
will Sie da auch niemand!)
Was Ihre europäische Haltung angeht, sind Ihre Äuße-
rungen, Herr Ramsauer, in meinen Augen nicht besser
als manches, was da von Oskar Lafontaine kommt.
Wo wir schon über den Europawahlkampf sprechen,
ist auch festzuhalten: Die CDU war nicht besser als die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25039
(A) (C)
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Jürgen Trittin
CSU. Ich habe mit großem Interesse gesehen, dass die
CDU in diesem Europawahlkampf vor allen Dingen die
Bundeskanzlerin plakatiert hat. Ich habe dann auf dem
Wahlzettel nachgeschaut: Sie stand da gar nicht drauf;
sie stand nicht zur Wahl.
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Gut, dass
Sie nachgeguckt haben auf dem Wahlzettel! –
Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
– Es freut mich, dass Sie das so aufregt. Wissen Sie, wa-
rum? Eine Tätigkeit im Europaparlament wäre für die
Bundeskanzlerin im Herbst ja eine schöne Anschlussbe-
schäftigung gewesen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Was jedoch nicht geht, ist, sich nach der Wahl darüber
zu ereifern, dass wir eine schlechte Wahlbeteiligung hat-
ten, nachdem man ausschließlich mit nationalen The-
men, mit nationalen Politikern Wahlkampf betrieben
hatte und das, was man für Europa vorhat, nicht offen-
bart hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wenn Sie in diesem Wahlkampf ehrlich gewesen wären,
dann hätten Sie Friedrich Merz plakatieren müssen.
Wenn Sie das jedoch getan hätten, dann hätten CDU und
CSU – das garantiere ich Ihnen – nicht 6,7 Prozent, son-
dern mehr als 10 Prozent verloren; denn niemand in Eu-
ropa will nach dieser Finanzkrise, wie Herr Merz fordert,
mehr Kapitalismus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker
Kauder [CDU/CSU]: Aber war „WUMS!“ ein
tolles Thema für Europa? Rums! Bums!
Wums!)
Das, was CDU/CSU und auch die SPD gemacht haben – –
(Volker Kauder [CDU/CSU]: WUMS!
WUMS!)
– Herr Kauder, ich schicke alle Ihre Zwischenrufe an un-
sere Agentur. Ich fürchte nur, dass sie dann mehr Geld
verlangen wird, weil „WUMS!“ wirkt – zumindest bei
der CDU/CSU.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber eine Politik, bei der man europäisch blinkt, aber
in Wirklichkeit national abbiegt, also von Europa redet,
aber im Kern nationale Politik macht, ist die falsche Ant-
wort auf die europäische Situation. Wir brauchen ein
starkes Europa. Entgegen Ihren Ausführungen, Herr
Westerwelle, muss man klar sagen: Ein starkes Europa
ist mehr als nur ein Binnenmarkt mit politischen Institu-
tionen.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das habe ich
natürlich nicht gesagt!)
Es ist ein handlungsfähiges Europa, ein Europa, das eu-
ropäisch gestalten kann. Gerade Europa ist die Antwort
auf die Herausforderung durch die derzeitige Wirt-
schafts- und Finanzkrise.
Lieber Frank-Walter Steinmeier, normalerweise liegt
eine Regierungserklärung am Abend vorher vor. Sie
hat mich dieses Mal nicht erreicht, weil ich unterwegs
war.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mich auch nicht!
Ich war allerdings nicht unterwegs!)
Ehrlich gesagt, war es aber nicht weiter schlimm, dass
ich sie nicht bekommen habe. Ich habe nichts vermisst.
Ich habe mich fast danach gesehnt, dass die Bundes-
kanzlerin diese Regierungserklärung abgibt, obwohl
auch sie – zumindest was Regierungserklärungen betrifft –
keine begnadete Rednerin ist.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind aber ein
charmanter Kerl!)
Von einer Regierungserklärung hätte ich mir eine
Antwort auf die Frage erhofft, wie wir mit der Finanz-
krise umgehen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Wie ist der Stand der Debatte über die Schließung von
Steueroasen, lieber Frank-Walter Steinmeier? Werden
sie geschlossen, oder stemmt sich Gordon Brown immer
noch dagegen und hält seine Hand über diesen rechts-
freien Raum? Wie verhält es sich mit den Bürgschaften?
Hat Herr Steinbrück endlich die Vergabe von Bürgschaf-
ten an Banken daran geknüpft, dass sie keine Geschäfts-
modelle mehr in Steueroasen pflegen? Warum haben Sie
an dieser Stelle immer noch nichts unternommen, indem
Sie zum Beispiel Bürgschaften oder Kapitalbeteiligun-
gen an deutschen Banken daran binden, dass diese auf-
hören, zur Steuerhinterziehung und zur Nutzung von
Steueroasen anzustiften? Hier ist noch nichts passiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben den Aspekt, ob es eine europäische Fi-
nanzaufsicht geben wird, vorsichtig angesprochen. In
einer Situation, in der Barack Obama in den USA den
härtesten Gesetzentwurf zur Regulierung der Finanz-
märkte vorlegt, lautet die offizielle Position der deut-
schen Bundesregierung: Sie will eine dreigeteilte euro-
päische Finanzaufsicht,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: WUMS!)
sie will jedoch auf keinen Fall, dass die Zuständigkeit
für die Großbanken auf die europäische Ebene verlagert
wird. Dieser Bereich soll weiterhin in die Zuständigkeit
der nationalen Aufsichten fallen. Sie machen nichts an-
deres, als das System zu verfestigen, das uns in die Kata-
s-trophe, in das Desaster mit der Hypo Real Estate oder
der DEPFA geführt hat. Das ist falsch. Das ist nicht eu-
ropäisch. Das ist national borniert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
So blockiert der Finanzminister eine Richtlinie über
internationale bzw. europäische Stresstests für europäi-
sche Großbanken. Man muss sich an dieser Stelle ein-
mal die Dimensionen klarmachen. Die Mitgliedstaaten
25040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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Jürgen Trittin
der Europäischen Union haben mittlerweile Risiken in
Höhe von 3 700 Milliarden Euro verbürgt. Diese Summe
entspricht 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der
Europäischen Union. In einer solchen Situation spricht
sich nun die Bundesregierung gegen Stresstests für euro-
päische Banken aus. Das ist verantwortungslos; das ist
das Letzte. Man hätte mehr aus dieser Krise lernen sol-
len.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kauder?
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: „WUMS!“
kommt jetzt! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Er fragt nach „WUMS!“!)
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Kollege Trittin, ich stimme Ihnen zu, dass wir
eine Finanzmarktaufsicht brauchen. Die Koalition ist
deshalb auch dabei, zu prüfen, welche Möglichkeit die
beste ist.
Sie haben jetzt in besonderer Weise den Vorschlag
von Präsident Obama gelobt. Auch wir von der Unions-
fraktion wollen, dass die Bundesbank stärker in die Auf-
sicht eingebunden wird. Aber es gibt da einen Unter-
schied: Wollen Sie wirklich das von Obama
vorgeschlagene System, nämlich die Aufsicht durch eine
von der Regierung kontrollierte Bank, oder sind Sie mit
uns der Meinung, dass eine unabhängige Bank für die
Kontrolle besser geeignet wäre? Ich warne jedenfalls da-
vor, den Vorschlag von Obama auf unser Land zu über-
tragen und so zu tun, als ob wir dieses Modell nachbil-
den sollten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Kauder, zunächst einmal muss
man feststellen: Der Vorschlag von Barack Obama läuft
darauf hinaus, den gesamten amerikanischen Banken-
sektor zu regulieren. Jetzt kann man darüber streiten, wie
groß die Unabhängigkeit der Zentralbank sein soll. Dazu
gibt es in Ihrer Fraktion – ich erinnere an die letzte
Rede von Frau Merkel zu diesem Thema – interessante
Positionen, die nicht widerspruchsfrei sind. Entschei-
dend ist, dass es für diesen Markt eine Regulierung aus
einer Hand gibt.
Ich habe davon gesprochen, dass es die Position der
Bundesregierung ist, auf dem europäischen Binnenmarkt
eine Regulierung zu implementieren, die zwischen Ban-
ken, Finanzdienstleistern und Versicherungen unterschei-
det. Dabei sollen europäische Unternehmen nicht der eu-
ropäischen Aufsicht, sondern der jeweiligen nationalen
Aufsicht unterstellt werden. Das ist der Unterschied zu
dem Vorschlag aus den USA. Es geht nicht darum, wel-
ches Maß an Unabhängigkeit die Zentralbank hat, son-
dern darum, dass wir eine Regulierung für einen Markt
aus einer Hand haben.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein!)
Genau das blockieren Sie. Das ist nicht im Interesse der
Steuerzahler und nicht im Interesse Europas.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben ja
keine Ahnung, Herr Trittin!)
Wenn wir schon bei den Unterschieden zu den USA
sind, Herr Kauder, will ich noch weitere Unterschiede an
dieser Stelle anführen. Wir brauchen eine koordinierte
europäische Wirtschaftspolitik. Diese Koordination
wird zurzeit ausgerechnet von der größten Wirtschafts-
macht Europas, der Bundesrepublik Deutschland, blo-
ckiert. Sie haben sich allen Ansätzen, eine europäische
Antwort auf die Krise zu geben, hier im Hause und im
Europäischen Rat systematisch widersetzt.
Ich kann Ihnen das an vielen Beispielen erläutern.
Vielleicht wird das am Beispiel Klimaschutz, der schon
angesprochen wurde, am deutlichsten. Frau Merkel, Sie
haben gesagt: Mit mir wird es keine Klimaschutzbe-
schlüsse geben, die in Deutschland Arbeitsplätze oder
Investitionen gefährden. – Liebe Frau Bundeskanzlerin,
gefährden niedrigere Verbrauchsstandards für Autos Ar-
beitsplätze oder verbessern sie nicht vielmehr die Wett-
bewerbsfähigkeit unserer Automobilindustrie auf den
Märkten von morgen? Wer gefährdet denn Arbeitsplätze –
Sie oder diejenigen, die für moderne Fahrzeuge eintre-
ten?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie, Frau Merkel und Herr Gabriel, haben beim Emis-
sionshandel fast die gesamte Industrie mit Ausnahme des
Kraftwerksbereichs vom Klimaschutz ausgenommen.
Was haben Sie damit erreicht? Sie haben damit den Re-
publikanern im US-Senat eine Entschuldigung geliefert;
denn diese versuchen heute mit Verweis auf dieses Bei-
spiel, die Klimapläne von Barack Obama zu blockieren.
Das ist keine Vorreiterpolitik. Sie haben aus Deutschland
einen Bremser beim Klimaschutz gemacht. Das ist die
Wahrheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schauen Sie sich einmal an, wie die Antwort auf die
Krise in anderen Ländern aussieht: China investiert in
den Ausbau des Schienenverkehrs Beträge in einer
Größenordnung, die exakt dem Volumen des dritten
Konjunkturprogramms der Bundesregierung entspre-
chen. Sie haben deutschen Kommunen verboten, im
Rahmen des Konjunkturprogramms auch nur einen Euro
in den schienengebundenen Nahverkehr zu stecken. Das
ist der Unterschied.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Michael Roth [Heringen] [SPD]: Och Jürgen!)
Andere Länder haben von uns gelernt. Sie aber gehen
jetzt einen Schritt zurück, was Investitionen in diesem
Bereich angeht.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist die Lage in
China vielleicht doch etwas schwächer?)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25041
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Jürgen Trittin
Ich kann die Reihe der Beispiele fortsetzen. Gehen
wir einmal von China weg und schauen in die USA, lie-
ber Herr Kollege Westerwelle.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist ja eine
Weltreise, Herr Kollege!)
Die USA investieren zehnmal so viel gegen die Krise
wie die Bundesrepublik Deutschland. Die USA wollen
in den nächsten Jahren 5 Millionen neue grüne Jobs
schaffen, so die amerikanische Regierung. Sie wollen bis
zum Jahre 2020 1 Million Elektrofahrzeuge auf den
Markt bringen. Aber was passiert in Deutschland? Wir
organisieren den Ausverkauf von veralteter Technologie
über eine Abwrackprämie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch
Quatsch!)
Das Problem ist, dass Sie nicht vernünftig aufgestellt
sind, um gegen die Krise anzugehen. Sie konzentrieren
sich vielmehr darauf – wenn auch mit einem kleinen
Schlenker; erst gestern haben Sie die Kurve bekommen –,
Herrn Barroso durchzusetzen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Trittin, auch Sie müssten jetzt die Kurve
bekommen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich will
Ihnen noch eines sagen: Ich halte José Manuel Barroso
für dieses Amt nicht für geeignet. Er hat bisher nicht nur
alle Initiativen zur Regulierung von Hedgefonds und zur
Regulierung des europäischen Finanzmarktes massiv
blockiert; er hat auch jahrelang selbst bescheidenste
Fortschritte im Klimaschutz blockiert. Wenn CDU/CSU
und SPD nun versuchen, diesen Kandidaten, wenn auch
über einen Umweg, noch einmal durchzubringen, dann
kündige ich an, dass wir Ihnen das nicht durchgehen las-
sen. Es kann doch nicht sein, dass eine in Insolvenz be-
findliche Koalition auf den letzten Metern noch Tatsa-
chen schafft.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
befinden uns am Beginn eines wichtigen Europäischen
Rates, von dessen Entscheidungen viel für die Zukunft
Europas abhängen wird.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der entscheidet doch gar nichts!)
Zudem – das ist in dieser Debatte schon mehrfach aufge-
taucht – befinden wir uns wenige Tage nach der Neu-
wahl des Europäischen Parlamentes. Nach solch einer
Wahl, Herr Kollege Trittin, kann man sicherlich unter-
schiedliche Auffassungen über die Wahlkampagnen der
einzelnen Parteien haben.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich
habe über die Ergebnisse geredet!)
Ihre „WUMS!“-Kampagne war ja wenigstens noch wit-
zig. Ob sie der Bedeutung Europas angemessen war, das
würde ich allerdings in Zweifel ziehen. Hinzufügen
möchte ich, dass ich die Kampagne der SPD nicht ein-
mal für witzig hielt; aber das Wahlergebnis zeigt ja auch,
dass Sie wohl noch lernen müssen, es in Zukunft anders
und besser zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Entscheidend ist aber das Ergebnis der Europawahl.
Ein Eingehen darauf habe ich auch bei den Aussagen des
Bundesaußenministers vermisst.
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Was Sie al-
les vermisst haben!)
Deswegen will ich noch einmal darauf zu sprechen kom-
men. Das Ergebnis der Europawahl ist, dass die Euro-
päische Volkspartei diese Wahl gewonnen hat, und
zwar eindeutig. Die Europäische Volkspartei stellt
264 Abgeordnete im Europäischen Parlament, über
100 Abgeordnete mehr als die sozialistische Fraktion.
Sie dürfen mir nicht übel nehmen, dass ich mich über
dieses Ergebnis freue.
(Beifall bei der CDU/CSU – Rainder Steenblock
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lag nicht
an den deutschen Konservativen! – Michael
Roth [Heringen] [SPD]: Habt ihr die Antieuro-
päer dazugenommen?)
Im Übrigen hat es solch einen großen Abstand seit der
ersten Direktwahl 1979 noch nicht gegeben, und das ist
schon ein Weilchen her.
Wenn mit diesem Wahlergebnis die Bürger Europas
entschieden haben, dass die Konservativen – also die Eu-
ropäische Volkspartei – die Mehrheit im Europäischen
Parlament bilden, ist es doch völlig selbstverständlich,
dass die EVP einen konservativen Kommissionspräsi-
denten fordert und sagt, sie will Manuel Barroso unter-
stützen.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das sagt die Regierung, nicht das
Parlament!)
Ob Ihnen das gefällt oder nicht, Herr Trittin: Die Men-
schen in Europa haben das entschieden. Wir haben
nichts heimlich gemacht. Die EVP hat schon vor einem
halben Jahr Herrn Barroso als Kommissionspräsidenten-
anwärter für den Fall nominiert, dass sie die Wahl ge-
winnt. Deswegen denke ich, dass die Zielrichtung der
Europäischen Volkspartei richtig ist.
(Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch absoluter
Quatsch!)
Wir müssen aber Folgendes bedenken: Das Europäi-
sche Parlament hat sich noch nicht konstituiert; das wird
25042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Michael Stübgen
erst am 14. Juli geschehen. Die Wahl des Kommissions-
präsidenten sollte in engem Schulterschluss mit dem Eu-
ropäischen Parlament erfolgen. Die Mehrheitsfindung
wird schwierig sein; deshalb brauchen wir Zeit. Außer-
dem müssen wir bedenken, dass wir uns nicht zwischen
nichts und nirgends, sondern zwischen Nizza und Lissa-
bon befinden. Der Nizza-Vertrag sieht andere Regelun-
gen für die Inthronisierung der neuen Kommission vor
als der Lissabon-Vertrag. Deshalb sind drei Dinge zu be-
denken; ich glaube, wir und der Europäische Rat sind da
auf dem richtigen Weg.
Erstens. Ich halte es für richtig, dass der Europäische
Rat plant, morgen ein klares politisches Signal für Barroso
als Kommissionspräsidenten abzugeben. Herr Kollege
Westerwelle, ich kann auch Ihrer Unwissenheit abhelfen:
Die Bundesregierung unterstützt einmütig Herrn Barroso
als Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsiden-
ten.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Könnten wir
das auch mal von der Bundesregierung erfah-
ren? Sind Sie Mitglied der Bundesregierung?)
– Nein, aber ich kann Ihnen das sagen, weil ich das weiß.
Auch Sie werden das in den nächsten Stunden erfahren,
wenn der Europäische Rat votiert.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was ihr so al-
les wisst! – Michael Roth [Heringen] [SPD]:
Also ich weiß das nicht, Herr Westerwelle! –
Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Dafür
müssen Sie erst einmal eine Mehrheit haben!)
Zweitens. Wir müssen dem Europäischen Parlament
Zeit geben, sich mit den Plänen von Herrn Barroso als
Kommissionspräsidenten auseinanderzusetzen.
Drittens müssen wir es schaffen, dass die neue Kom-
mission, wenn unser Plan aufgeht und im Oktober bzw.
spätestens im November der Lissabon-Vertrag in Kraft
treten kann, nach den besseren, demokratischeren Maß-
regeln des Lissabon-Vertrags eingesetzt wird.
Ich denke, die Vorarbeiten, die der Europäische Rat
heute und morgen hierfür leisten will, sind richtig. Für
den Rest brauchen wir einfach noch Zeit. Zudem müssen
zuvor noch ein paar wichtige Entscheidungen getroffen
werden.
Es ist schon viel über die Notwendigkeit der
Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise gesagt
worden. Das, was für den Europäischen Rat vorbereitet
wurde, ist grundsätzlich richtig. Ich will in der mir ver-
bleibenden Zeit auf das eingehen, wovon ich meine, dass
es für Europa nicht notwendig ist.
Es geht um Folgendes: Die Europäische Kommission
unter Barroso wollte schon auf dem letzten Europäi-
schen Rat im Dezember ein eigenes Konjunkturpro-
gramm in Höhe von 5 Milliarden Euro auflegen. Man
stelle sich vor: 5 Milliarden Euro für 27 EU-Mitglied-
staaten, für fast 500 Millionen Menschen. Da ist schon
der Name ein Etikettenschwindel. Nun soll es ein neues
Konjunkturprogramm in Höhe von 19 Milliarden Euro
geben, wie aus einer Mitteilung der Europäischen Kom-
mission vom 3. Juni dieses Jahres hervorgeht. Was in
dieser Mitteilung steht, klingt zunächst alles sehr gut: Es
soll Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, geholfen
werden, sie in Qualifizierungsmaßnahmen einzuglie-
dern. Es soll eine neue EU-Kreditfazilität eingeführt
werden usw.
Der Gipfel ist nun aber: Herr Spidla hat noch vor zwei
Tagen auf einer Pressekonferenz erklärt, dies alles solle
keinen zusätzlichen Cent kosten. Solche Märchenstun-
den sollte uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Eu-
ropäische Kommission eigentlich für immer ersparen.
Natürlich stimmt es nicht, wenn man es sich genau an-
schaut, dass dieses Programm nichts kostet. Ziel ist im
Kern, dass die Auszahlung der Mittel für den Europäi-
schen Sozialfonds, die für die nächsten sieben bis acht
Jahre vorgesehen war, in den nächsten zwei Jahren
durchgeführt werden soll. Dafür soll die wichtige diszi-
plinierende Wirkung der Kofinanzierung aufgehoben
werden. Das alles mag noch gehen; man muss jedoch se-
hen: Im Ergebnis wird es in Europa eine Förderung nach
dem Gießkannenprinzip geben. Meine Frage ist aber:
Was machen wir, wenn wir alle ESF-Mittel, deren Aus-
zahlung für die nächsten sieben bzw. acht Jahre vorgese-
hen war, in den nächsten zwei Jahren ausgeben, nach
2011? Es kann sich doch keiner ernsthaft vorstellen, dass
es ab 2011 keinen Europäischen Sozialfonds mehr gibt
und dass es nach 2011 die Notwendigkeit einer europäi-
schen Sozialpolitik und entsprechender Fördermaßnah-
men nicht mehr gibt.
Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung die-
sen Plan der Europäischen Kommission auf dem letzten
Sozialministerrat abgelehnt hat und Bundeskanzlerin
Angela Merkel angekündigt hat, auf dem Europäischen
Rat Widerstand gegen dieses Programm vorzutragen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Michael Roth ist der nächste Redner für
die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Michael, begründe
mal, warum ihr für Barroso seid! – Dr. Guido
Westerwelle [FDP]: Der sagt jetzt auch etwas
zu Barroso!)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
dramatisch niedrige Wahlbeteiligung bei den Europa-
wahlen muss jede engagierte Europäerin und jeden enga-
gierten Europäer entsetzen. Wir sollten deshalb nicht
einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich begrüße es
deshalb, dass einige Kolleginnen und Kollegen heute
Morgen darauf Bezug genommen haben. Wir müssen uns
im Deutschen Bundestag schon fragen: Was hat das mög-
licherweise mit unserer politischen Arbeit in Berlin, im
Bundestag zu tun? Wie können wir dazu beitragen – das
lässt sich in keiner Wahlkampagne, die fünf Wochen
währt, erledigen –, dass mehr Bürgerinnen und Bürger
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25043
(A) (C)
(B) (D)
Michael Roth (Heringen)
bereit sind, sich an den wichtigen Wahlen zum Europäi-
schen Parlament zu beteiligen, um damit die demokrati-
sche Legitimation des europäischen Integrationsprojek-
tes zu erhöhen?
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Roth, der Kollege Trittin würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
(Ute Kumpf [SPD]: Der Kollege hat ja ein un-
heimlich großes Redebedürfnis!)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Jetzt schon? – Gut, bitte.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Kollege Roth, können Sie die Aussagen von
Herrn Stübgen bestätigen, dass auch mit der Fraktion der
Sozialdemokraten abgestimmt worden ist, dass Sie die
neue Präsidentschaft von José Manuel Barroso unterstüt-
zen, und wie vereinbaren Sie, wenn es zutrifft, was Herr
Stübgen sagt, dies mit den noch heute Morgen getätigten
Äußerungen Ihres Spitzenkandidaten für die Europa-
wahl, Herrn Schulz, in denen er Herrn Barroso nach-
drücklich abgelehnt hat? Warum unterstützen deutsche
Sozialdemokraten im Bundestag über die Koalition
Herrn Barroso, während deutsche Sozialdemokraten im
Europäischen Parlament gegen ihn sind?
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Lieber Herr Kollege Trittin, ich werde nicht den Feh-
ler einiger Kolleginnen und Kollegen machen, hier das
Amt des Regierungssprechers zu übernehmen. Ich kann
Ihnen gerne sagen, was meine Fraktion und ich für rich-
tig halten. Herr Kollege, ich nehme Ihre Frage gerne
zum Anlass, dazu etwas zu sagen, weil die vorbereiten-
den Aspekte der „Kreation“ des Kommissionspräsiden-
ten etwas damit zu tun haben könnten, warum Bürgerin-
nen und Bürger nicht in notwendigem Maße bereit
waren, sich an den Wahlen zum Europäischen Parlament
zu beteiligen. Dazu gehört für mich, dass wir endlich
einmal für eine stärkere Übereinstimmung zwischen den
Sonntagsreden und unserem konkreten Handeln von
Montag bis Freitag sorgen.
(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle
[FDP]: Und das heißt?)
– Ich werde Ihnen gleich sagen, was das heißt, Herr
Westerwelle.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sagen Sie es Herrn
Trittin! Er hat gefragt! Ich war es nicht!)
Ich möchte das ein wenig einleiten. Das heißt für mich,
dass der Geist des Vertrages von Lissabon schon jetzt
gilt, auch wenn der Vertrag von Lissabon noch nicht in
Kraft getreten ist.
(Beifall bei der SPD)
Deshalb kritisiert meine Fraktion es, dass sich Regie-
rungschefs, Staatschefs, offensichtlich auch einige Man-
datsträgerinnen und Mandatsträger
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]:
Außenminister!)
vor den Wahlen zum Europäischen Parlament auf Herrn
Barroso verständigt haben. Im Vertrag von Lissabon
steht, dass die Nominierung des Kommissionspräsi-
denten im Lichte der Wahlen zum Europäischen Parla-
ment erfolgt. Deswegen verdient diese Wahl Respekt.
Deswegen wäre es besser gewesen, wenn sich alle vor
den Wahlen zum Europäischen Parlament zurückgehal-
ten hätten.
(Beifall bei der SPD)
Meine Fraktion ist der Auffassung, dass wir jetzt eine
kraftvolle, dynamische Persönlichkeit an der Spitze der
Kommission brauchen. Deswegen können wir den Vor-
schlag, der immer wieder gemacht wurde, nicht unter-
stützen. Darüber entscheidet aber nicht die SPD-Bundes-
tagsfraktion, auch nicht die Fraktion der CDU/CSU,
sondern andere. Darüber entscheidet vor allem das Euro-
päische Parlament und nicht wir.
(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur der Spitzenkan-
didat der SPD, der entscheidet das!)
Das Europäische Parlament bestätigt den Kommissions-
präsidenten. Mein Vertrauen in die Kolleginnen und
Kollegen der meisten Fraktionen im Europäischen Parla-
ment ist so groß, dass ich davon überzeugt bin, dass sie
die Wahl sicher etwas schwerer und ambitionierter ma-
chen werden, als dies jetzt schon den Anschein hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun möchte Ihnen auch der Kollege Westerwelle eine
Zwischenfrage stellen. Erfahrungsgemäß ist der Redner
für die Verlängerung der Redezeit immer dankbar. Ich
möchte nur daran erinnern, dass wir mit Blick auf die
heutige, sehr ehrgeizige Tagesordnung auch eine Verein-
barung über die Gesamtdauer dieser Debatte getroffen
haben, an der wir uns gelegentlich orientieren sollten.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Gut. – Bitte schön.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Aber, Herr Präsident, es geht doch um Europa.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Drum!
(Heiterkeit)
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Das war eine – es fällt mir wirklich schwer, das zu sa-
gen – sehr kluge Frage von Herrn Trittin; das ist mir
richtig unangenehm.
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
Sie haben minutenlang darauf geantwortet.
25044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Das war doch nicht schlecht, was ich gesagt habe.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Wenn Sie selbst davon überzeugt sind, so ist es we-
nigstens einer in diesem Hause.
(Heiterkeit bei der FDP und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Zu Ihnen komme ich gleich noch!
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Ja, natürlich. Wir fürchten uns auch schon.
Herr Kollege, ich hätte die Frage von Ihnen gerne be-
antwortet bekommen. Herr Trittin hat doch eine sehr ein-
fache Frage gestellt:
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Er hat sie
doch beantwortet!)
Unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion die Wiederwahl
von Herrn Barroso zum Präsidenten, ja oder nein, und
hat der Bundesaußenminister die Unterstützung der
SPD-Bundestagsfraktion, wenn er in den nächsten bei-
den Tagen gemeinsam mit der Bundesregierung für die
Wiederwahl von Herrn Barroso eintritt? Ich darf darauf
aufmerksam machen, dass wir keine lyrische Europa-
debatte abhalten, sondern auf eine Regierungserklärung
antworten, in der uns berichtet wurde, was in den nächs-
ten beiden Tagen entschieden wird.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Im Hinblick auf die mahnenden Worte des Bundes-
tagspräsidenten sage ich: Ja, die SPD-Bundestagsfrak-
tion lehnt diesen Vorschlag ab. Ansonsten loben, ehren
und preisen wir unseren Außenminister, weil er eine ex-
zellente Arbeit leistet.
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD:
Sehr wahr! – Jochen-Konrad Fromme [CDU/
CSU]: Und tschüs!)
Ich weiß nicht, was das für ein Verständnis von Parla-
mentarismus ist, wenn Abgeordnete einen Abgeordneten
fragen, was die Bundeskanzlerin, die auf dem Europäi-
schen Rat offensichtlich das entscheidende Wort hat,
dort sagen und tun wird. Das finde ich etwas merkwür-
dig. Nicht nur ich, sondern auch andere Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion haben in den ver-
gangenen Stunden und Tagen das Entsprechende dazu
gesagt.
Lieber Herr Kollege Westerwelle, da Sie den Bundes-
tagspräsidenten heute ermahnt und darauf hingewiesen
haben, dass es sich um eine wichtige Europadebatte han-
delt, muss ich Ihnen sagen: Diese Aussage passt nicht zu
dem inhaltsleeren Beitrag, den Sie vorher in der Debatte
geleistet haben. Wenn die einzigen mahnenden Worte,
die Ihnen zu Europa einfallen, das Thema Glühbirnen
betreffen, dann ist das ein sehr kleines Karo. Zu den
wegweisenden Entscheidungen, die die Europäische
Union zu treffen hat, passt das überhaupt nicht.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ihre Rede war der Beitrag eines Wünsch-dir-was-Au-
ßenministers und nicht besonders ambitioniert. Aber das
müssen Sie und Ihre Fraktion natürlich selbst entschei-
den.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das schaffen
wir!)
Das gebietet der Respekt.
Ich erlaube mir noch einige Bemerkungen zu dem,
was ich gerade unter dem Stichwort „Sonntagsreden“
beschrieben habe: Wie ich bereits deutlich gemacht
habe, hielt ich es für falsch, dass sich einige Staats- und
Regierungschefs schon vor der Europawahl auf Herrn
Barroso festgelegt haben. Ich finde es auch problema-
tisch, dass manche Staats- und Regierungschefs meinen,
sie könnten bei irgendwelchen Kaffeegesprächen oder
Abendessen über Ressortzuschnitte und die Zustän-
digkeiten der Europäischen Kommission verhandeln.
Im Vertrag von Lissabon heißt es ganz eindeutig: Für die
Ressortzuschnitte und die Verteilung der Zuständigkei-
ten ist der Kommissionspräsident zuständig.
Darauf mache ich deshalb aufmerksam, weil wir alle
mit Ausnahme der Linken engagiert für den Vertrag von
Lissabon gestritten haben und für ihn eintreten. Ich
hoffe, dass es uns gelingt, diese Regelung zu respektie-
ren und das, was wir in unseren Reden immer wieder be-
kundet haben, mit konkreten Inhalten zu füllen. Der Ver-
trag von Lissabon bringt uns voran. Allerdings dürfen
wir uns nicht nur ein paar Punkte, die uns im Tagesge-
schehen passen, heraussuchen. Vielmehr müssen wir da-
für eintreten, dass das Europäische Parlament im Hin-
blick auf die Zusammensetzung und Bestellung der
Europäischen Kommission gestärkt wird und dass der
Kommissionspräsident über die Ressortzuständigkeiten
entscheidet.
Zur Europawahl. Im Zusammenhang mit der Wahl-
beteiligung und dem Wahlergebnis besorgt mich der Zu-
wachs, den extremistische, nationalistische und populis-
tische Kräfte und Parteien in der Europäischen Union
erzielt haben. Das sollte jeden Demokraten und jeden
engagierten Europäer beunruhigen,
(Beifall bei der SPD)
weil es um zentrale Grundwerte der Europäischen Union
geht: um Toleranz, Freiheit, Solidarität und Rechtsstaat-
lichkeit.
Blicken wir einmal zurück: Es gab schon einmal eine
Phase, in der junge Demokratien dem vereinten Europa
beigetreten sind, nämlich Spanien, Griechenland und
Portugal. Diese Länder sind durch ihren Beitritt zur da-
maligen Europäischen Gemeinschaft stabilisiert worden,
ihre Demokratien wurden gefestigt, und die Rechtsstaat-
lichkeit konnte ausgebaut werden. Mich beunruhigen
aber nicht nur die Entwicklungen in Mittel- und Osteu-
ropa, sondern auch die Wahlergebnisse in den Niederlan-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25045
(A) (C)
(B) (D)
Michael Roth (Heringen)
den, wo rechtsextremistische und populistische Kräfte
massive Zuwächse erzielt haben.
Offen antisemitische Kräfte – nicht nur in Ungarn,
sondern auch in anderen Staaten – und offen rechtsextre-
mistische Kräfte haben Zuwächse erzielt und sind in Zu-
kunft mit mehreren Abgeordneten im Europäischen Par-
lament vertreten. Dazu dürfen wir nicht schweigen.
Vielmehr müssen wir deutlich machen: Das ist mit den
Grundwerten der Europäischen Union nie und nimmer in
Übereinstimmung zu bringen. An dieser Stelle brauchen
wir die Solidarität aller Demokraten in Europa.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Diether
Dehm [DIE LINKE])
Vor diesem Hintergrund frage ich den ansonsten von
mir geschätzten Kollegen Michael Stübgen, wie er zu
den Zahlen, die er genannt hat, gekommen ist. Ich weiß
nicht, ob Sie stolz darauf sind, die Fini- und Berlusconi-
Truppe zur EVP-Fraktion zu zählen. Wenn ich Ihre Zähl-
weise richtig verstanden habe, haben Sie diese populisti-
schen Kräfte aber zu Ihrer Fraktion im Europäischen
Parlament gezählt.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr wahr!)
Nur so konnten Sie zu dem Ergebnis kommen, auf das
Sie gerade sehr stolz hingewiesen haben.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr wahr!)
Jeder sollte erst einmal vor der eigenen Haustür kehren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt er-
wähnen, den ich im Hinblick auf den Weg, den die Euro-
päische Union zukünftig einschlagen sollte, für wesent-
lich erachte. Wir brauchen in der Europäischen Union
neue kraftvolle Projekte, die diesem Integrationswerk
Dynamik und Richtung weisen. Die Kolleginnen und
Kollegen, die heute Morgen auf die USA hingewiesen
haben, haben recht. Die USA sind inzwischen sowohl
beim Klimaschutz als auch bei der Regulierung der
Finanzmärkte offensichtlich viel ambitionierter, als wir
es noch vor zwei oder drei Jahren für möglich gehalten
hätten.
Was die wirtschaftliche Dynamik anbelangt, muss
man feststellen: Es gibt auf der Welt manche Regionen
und Länder, zum Beispiel China – ich will China aller-
dings nicht als Vorbild anführen –, die ein Tempo vor-
legen, bei dem wir uns fragen müssen: Sind wir noch die
dynamischste, wettbewerbsfähigste, ambitionierteste
und kreativste Region der Welt? Oder müssen wir nicht
möglicherweise neue Projekte auf den Weg bringen oder
darüber nachdenken, die Projekte, die wir unter der deut-
schen Ratspräsidentschaft dankenswerterweise – das ist
auch Frank-Walter Steinmeier zu verdanken – auf den
Weg gebracht haben, zum Beispiel im Klimaschutz, wei-
terhin mit großer Ernsthaftigkeit zu verfolgen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diejenigen in diesem Hohen Hause, die argumentie-
ren, Europa sei mitunter sehr beschwerlich und koste
auch Geld, sollten sich bei jeder nationalen Option, die
man ins Spiel bringt, fragen lassen müssen, ob eine rein
nationale Option langfristig gesehen für Deutschland
besser, kostengünstiger, demokratischer und erfolgrei-
cher ist. Ich bin mir hundertprozentig sicher: Wenn wir
diese kritische Prüfung vornehmen, werden wir feststel-
len, dass jeder finanzielle und politische Aufwand lohnt,
die europäische Karte und nicht die nationale Karte zu
spielen. Das liegt im deutschen und im europäischen In-
teresse.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eduard Lintner,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eduard Lintner (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich freue mich, dass ich meine vermutlich letzte
Rede im Deutschen Bundestag zum Thema Europäische
Union halten kann.
Diese Freude resultiert aus der gerade in letzter Zeit
immer wieder gemachten Erfahrung, dass die Europäi-
sche Union in vielen Teilen der Welt, vor allem bei den
Völkern in unserer engeren und weiteren Nachbarschaft
– praktisch von Island bis Zentralasien – als ein überaus
attraktives Gebilde wahrgenommen wird. Sie steht für
breit verteilten Wohlstand, überdurchschnittliche soziale
Sicherheit, echte Demokratie, verlässliche Gewährleis-
tung von Rechtsstaatlichkeit und die Geltung der Men-
schenrechte. Das Beispiel der EU lässt die Menschen in
diesen Ländern auf persönliche Entfaltungsfreiheit
und faire Chancenverteilung hoffen.
Nicht immer – das wissen wir – entsprechen diese Er-
wartungen der Realität bei uns. Außerdem sind sie dif-
fus. Sie mobilisieren aber ungeheuer stark Sympathie
und Dynamik in Richtung demokratisches Europa und
mobilisieren so viele Menschen für das Ziel, Anschluss
an dieses Europa zu finden.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns dieser
Wirkung bewusst sein und bei unserem Tun in der EU
und in Deutschland bedenken, dass wir solche Hoffnun-
gen nicht enttäuschen dürfen, weil dann die Reaktionen
Frustration und brüske Abwendung wären.
Das bedeutet aber auch, dass mit jedem europäischen
Gipfel – so auch mit dem jetzt bevorstehenden – von
vielen Völkern große Erwartungen und Hoffnungen ver-
bunden werden, denen unsere Politik im Rahmen des
Möglichen gerecht werden muss. Das ist eine gewaltige
Verantwortung, die auf den Schultern der beteiligten Re-
gierungschefs ruht.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei der Bun-
desregierung, allen voran bei der Bundeskanzlerin, dafür
bedanken, dass sie stets eine führende Rolle bei der Ge-
staltung dieses Europas gespielt hat und das in Zukunft
sicher weiter tun wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
25046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Eduard Lintner
Solcher Verantwortung und Erwartungshaltung kann
man nur gerecht werden, wenn die EU sich selbst in ei-
ner Verfassung befindet, die es ihr erlaubt, sich auf diese
Ziele zu konzentrieren, und man nicht gezwungen ist,
sich mit aller Kraft dem Innenleben der EU zu widmen.
In einer solchen Situation befinden wir uns derzeit.
Der Vertrag von Lissabon hängt seit langer Zeit in der
Schwebe. Der Ratifikationsprozess muss alsbald erfolg-
reich zu Ende gebracht werden,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
weil die mit dem Vertragswerk verbundenen Reformen
Voraussetzung dafür sind, dass die notwendige Arbeits-
und Entscheidungsfähigkeit gegeben ist, und die ganz in
unserem Sinne liegende substanzielle Mitsprache des
Europäischen Parlaments stärken.
Meine Damen und Herren, es ist daher zu wünschen,
dass es beim bevorstehenden Gipfel gelingt, den Vertrag
von Lissabon voranzubringen, die richtigen personellen
Weichenstellungen vorzunehmen, Vorreiter für den Kli-
maschutz und die Neuordnung der Finanzmärkte zu sein,
die eingegangenen strategischen Partnerschaften und
Nachbarschaftspolitiken dynamisch und erfolgreich zu
gestalten, die Visumsregelungen entgegenkommend an-
zuwenden,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den Demokratisierungsprozess in Gang zu halten und
voranzubringen sowie die wirtschaftliche Kooperation
eng und für alle Beteiligten vorteilhaft zu gestalten.
Die Fähigkeit dazu hat die EU, wie die Erfolge bei der
Integration der neuen Mitgliedstaaten zeigen. Im Inte-
resse unserer eigenen Zukunft wünsche ich, dass die
Verantwortlichen in der EU auch beim kommenden Gip-
fel und darüber hinaus die Fähigkeit haben, weiterhin
der Motor zu sein und die richtigen Wege zu finden.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Herr Präsident! Wenn ich darf, möchte ich heute gerne
Glückwünsche überbringen an Jürgen Habermas, der
heute seinen 80. Geburtstag feiert. Ich hoffe, dass alle in
diesem Hause erkennen, welche große, historische Rolle
dieser Philosoph nicht nur in Deutschland als Inspirator
europäischen Denkens gespielt hat und noch spielt.
Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat, wie
man heute in der Süddeutschen Zeitung lesen kann, eine
wunderbare Laudatio auf Jürgen Habermas geschrieben:
Er ist eine Inspiration für uns alle.
In den 50 Jahren seiner wissenschaftlichen Arbeit hat
Habermas für das gestanden und gelebt, was Thomas
Mann gesagt hat, als er zurückkam aus dem Land, in das
er vor Nazideutschland, vor Hitler hat fliehen müssen.
Thomas Mann hat sich gewünscht, dass Deutschland
nicht, wie die Nazis es wollten, versucht, Europa zu
überwältigen, sondern dass Deutschland in Europa eine
aktive Rolle übernimmt. Es geht nicht darum, ein deut-
sches Europa zu schaffen, sondern ein europäisches
Deutschland. Das hat Thomas Mann gesagt.
Jürgen Habermas lebt das.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
In seinem wunderbaren Buch „Ach, Europa“, das letztes
Jahr erschienen ist, hat Habermas genau beschrieben,
was den inneren Kern des europäischen Projekts aus-
macht, nämlich die internationalen Beziehungen in
rechtliche Beziehungen zu verwandeln. Nicht mehr das
Recht des Stärkeren soll sich durchsetzen, sondern die
Stärke des Rechts. Dabei nimmt Habermas – wie kann es
in diesem Zusammenhang anders sein? – den Grundge-
danken von Immanuel Kant neu auf – und er führt ihn
weiter aus –, dass aus einem Recht des Staates ein Welt-
bürgerrecht werden muss, das allen Menschen als Welt-
bürgern zusteht.
Mein lieber Kollege Kampeter, wenn Sie den Lissa-
bon-Vertrag lesen, finden Sie genau diesen Grundgedan-
ken, der von Immanuel Kant schon vor mehr als
200 Jahren formuliert worden ist, im europäischen
Staatsbürgerbegriff wieder. Was hier im Lissabon-Ver-
trag niedergelegt worden ist, ist ein qualitativer Sprung.
Hier wird die Bilanz einer langjährigen europäischen
Denktradition gezogen.
Wir dürfen die Schwierigkeiten, die wir in der Euro-
päischen Union jeden Tag erkennen und über die wir uns
häufig genug erregen können, nicht in kleiner Münze
messen. Wir müssen – auch aus der Sicht eines Libera-
len, Herr Westerwelle – den großen Sprung nach vorne,
den dieser Vertrag darstellt, verteidigen und dafür sor-
gen, dass der Lissabon-Vertrag überall durchgesetzt
wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Meine Sorge, Herr Außenminister, ist nicht Island.
Island mag jetzt aus ökonomischen Interessen, ja, fast
aus einem nationalen Egoismus heraus Mitglied der Eu-
ropäischen Union werden wollen. Es ist kein schlechter
Zug, dass man aus eigenen Interessen Mitglied der Euro-
päischen Union wird.
Meine wirkliche Sorge ist, dass die Probleme und
Konflikte, die wir in Großbritannien gegenwärtig er-
kennen, dazu führen könnten, dass das Inkrafttreten des
Lissabon-Vertrags auf die lange Bank geschoben werden
kann. Ich wünschte mir, dass die Kolleginnen und Kolle-
gen in der Mutter des Parlamentarismus, in Westminster,
allen möglichen Versuchungen widerstehen, diesen gro-
ßen qualitativen Schwung, den wir nach einer langen
Debatte gemeinsam erlebt haben, jetzt wieder zu verlie-
ren. Das ist eine große Gefahr.
Gerade die Bildung von Nationalstaaten zeige, sagt
Jürgen Habermas – ich darf noch einmal an ihn anknüp-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25047
(A) (C)
(B) (D)
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
fen –, wie rechtliche Begriffe „erst mit Anschauung,
Emotion und Gesinnung“ erfüllt wurden. Er fragt:
Warum sollte sich die Hülse der längst eingeführten
europäischen Staatsbürgerschaft nicht auf ähnliche
Weise mit dem Bewusstsein füllen, dass alle euro-
päischen Bürger inzwischen dasselbe politische
Schicksal teilen?
Das ist der innere Zusammenhang: Die sozialen Bin-
dekräfte müssen neu entwickelt werden, damit – das ist
vielleicht der wirkliche Indikator dafür, warum die
Wahlbeteiligung am 7. Juni 2009 so dramatisch zurück-
gegangen ist – das soziale Europa als ein neues gemein-
sames Projekt der Europäer erfunden werden kann.
Denn die Sorgen und Ängste der Menschen, die wir in
der ökonomische Krise gegenwärtig erkennen müssen,
können dazu führen, dass die politische Beteiligung der
Menschen – gerade in Wahlakten zeigt sich das – zu-
rückgeht.
Die Vision der Europäischen Union muss auch die so-
ziale Gerechtigkeit mit einbeziehen; denn – durch Soli-
darnosc wurde uns das gezeigt – es gibt keine Freiheit
ohne Solidarität. Auch das ist ein europäischer Auftrag.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle
[FDP]: Oh Gott, was ist das doch für ein Paar!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Die letzten beiden Redner dieser Europadebatte ha-
ben heute voraussichtlich zum letzten Mal von dieser
Stelle aus das Wort ergriffen. Sie werden am Ende dieser
Legislaturperiode nach einer außergewöhnlich langen
Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag ihre Arbeit an
anderer Stelle hoffentlich fortsetzen.
Weil es in diesem Hause außergewöhnlich selten vor-
kommt, dass jemand mehr als 30 Jahre lang ein solches
Mandat wahrnimmt, möchte ich den beiden Kollegen
Eduard Lintner und Gert Weisskirchen
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie haben sich
überhaupt nicht verändert!)
ganz besonders herzlich für dieses außergewöhnlich
lange und außergewöhnlich fruchtbare Engagement dan-
ken und alle guten Wünsche für die Zukunft damit ver-
binden.
(Beifall)
Herr Kollege Weisskirchen, im Übrigen wird es Sie
hoffentlich beruhigen, dass ich die Glückwünsche an
Herrn Professor Habermas auch im Namen des ganzen
Hauses pünktlich übermittelt habe.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf der Drucksache 16/13367? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser
Entschließungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
16/13391? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Auch dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Staatsgarantie für die Sozialversicherungen –
Schutzschirm für Menschen
– Drucksache 16/12857 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre hierzu keinen Widerspruch. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wieder einmal beschäftigen wir uns mit der
Wirtschaftskrise in unserem Land. Allmählich werden
die wahren Ausmaße dessen bekannt, was sich in unse-
rem Land abspielt, und die wahren Zahlen werden offen-
kundig. Dem Gemeinschaftsgutachten der Wirtschafts-
forschungsinstitute zufolge haben wir im ersten Halbjahr
2009 mit einem negativen Wachstum – also mit dem Ab-
bau der Wirtschaftsleistung – von 7,2 Prozent und im
zweiten Halbjahr mit einem Minus von 4,8 Prozent zu
rechnen.
Was macht die Bundesregierung, und was macht die
Kanzlerin? Im Fernsehen wurde uns eine Garantie für
die Spareinlagen verkündet. Wir haben einen Schutz-
schirm für die Banken mit einem Volumen von
480 Milliarden Euro beschlossen. Wir erleben gleichzei-
tig die Konzeptionslosigkeit bei dem Versuch, einzelne
Unternehmen zu retten. Einerseits wird eine Bank wie
die Commerzbank mit staatlicher Unterstützung am Le-
ben erhalten, um die Einlagen der Aktionäre zu sichern.
Andererseits haben wir die Streiterei der Bundesregie-
rung über die Frage, wie mit Opel zu verfahren ist, und
eine absolute Konzeptionslosigkeit und Handlungsunfä-
higkeit gegenüber Arcandor erlebt. Wir haben ein Kon-
junkturprogramm von circa 25 Milliarden Euro bezogen
auf das Jahr, während sich das Bruttoinlandsprodukt um
voraussichtlich 6 Prozent verringern wird.
All das wird nicht einmal ansatzweise reichen, um die
Probleme in unserem Lande zu lösen.
(Beifall bei der LINKEN)
25048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Ernst
Die Arbeitslosigkeit steigt dramatisch. Gegenwärtig
wird das alles noch überdeckt. Es wird nicht offensicht-
lich, weil richtigerweise die Kurzarbeiterregelungen aus-
gedehnt wurden. Das befürworten wir ausdrücklich.
Aber wie lange kann das Instrument der Kurzarbeit Ihrer
Meinung nach noch helfen? Wir müssen davon ausge-
hen, dass sich in den nächsten Monaten und insbeson-
dere nach der Bundestagswahl die Arbeitsmarktsituation
dramatisch verändern und es in unserem Land zu einer
steigenden Zahl von Arbeitslosen kommen wird, die die
Situation in den letzten Jahren in den Schatten stellt.
Wir wissen auch, wie der Anstieg der Arbeitslosen-
zahlen zustande kommen wird. Die ersten, die in der
Krise ihren Job verloren haben und nicht mehr durch ir-
gendeine Form von Kurzarbeit vor Hartz IV geschützt
sind, sind die Leiharbeiter. Bei Opel droht trotz aller
Rettungsversuche der Abbau von Arbeitsplätzen. Auch
beim Unternehmen Schäffler ist mit einem Arbeitsplatz-
abbau zu rechnen. Bei meinem Besuch in Schweinfurt
gestern wurde deutlich, dass auch in der EDV-Industrie
inzwischen ein dramatischer Abbau von Arbeitsplätzen
angedacht wird, dem nicht durch irgendeine Form von
Kurzarbeit begegnet werden soll.
Die Zahl der Pleiten steigt. Das daraus entstehende
Problem müsste jedem zu denken geben. Wir werden er-
leben, dass die Sozialversicherungen dramatische Finan-
zierungsprobleme bekommen werden. Die Einnahmen
werden sinken, weil es weniger Beitragszahler gibt,
während die Ausgaben zum Beispiel der Bundesagentur
für Arbeit steigen werden, weil sie die arbeitslosen Men-
schen finanzieren muss.
(Widerspruch des Abg. Peter Weiß [Emmen-
dingen] [CDU/CSU])
– Ich weiß nicht, warum Sie den Kopf schütteln, Herr
Weiß. Glauben Sie, die kriegen ihr Geld vom Weih-
nachtsmann?
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Peter
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU])
Selbstverständlich werden die Einnahmen sinken und
die Ausgaben steigen. Das ist die Realität. Man muss
schon auf einem anderen Stern leben, wenn man das
nicht zur Kenntnis nimmt.
Ich frage Sie alle, wie Sie dem Problem begegnen
wollen. Was haben Sie vor? Was wollen Sie in der Situa-
tion sinkender Einnahmen und steigender Ausgaben ma-
chen, um den Menschen die Sicherheit zu geben, dass
ihre Existenz nicht bedroht wird, wenn die Arbeitslosig-
keit zunimmt? Was haben Sie dazu für Vorschläge?
Der einzige Vorschlag, der zurzeit durch die Welt
geistert, ist die Sicherung der Renten. Das ist gut und
schön. Sie sollen nicht sinken. Ehrlicherweise müssten
Sie aber dazusagen, dass die Renten in den nächsten vier
oder fünf Jahren nicht mehr steigen werden. Das ist die
Wahrheit.
(Beifall bei der LINKEN)
Damit ist Ihr Konzept offengelegt, wie Sie die Krise
bewältigen wollen. Nach Ihrer Vorstellung sollen die
Menschen, die nichts mit den Ursachen der Krise zu tun
haben – nämlich die Beschäftigten, die Rentner und die
Arbeitslosen –, für die Krise zahlen und sie bewältigen.
Das ist eigentlich Ihr Konzept. Das macht die Konzep-
tionslosigkeit, in der Sie sich befinden, deutlich.
Das Handelsblatt schreibt am 27. April 2009:
Allein bei der Arbeitslosen- und bei der Kranken-
versicherung addieren sich Fehlbeträge von bis zu
50 Mrd. Euro bis Ende kommenden Jahres.
1,1 Millionen Kurzarbeiter kosten circa 9 Milliarden
Euro. Wer soll das bezahlen?
Jetzt will die Kanzlerin Mehrwertsteuererhöhungen
ausschließen. Das ist ja klasse. Das hatten wir doch
schon einmal, auch vonseiten der Sozialdemokraten. Ich
habe die alten Flugblätter dabei, auf denen stand:
Merkel-Steuer, das wird teuer. Oder: Ich kann mir
Angela Merkel nicht leisten. Oder: Ich koste 2 Prozent
mehr. – Das war vor der Wahl. Nach der Wahl waren es
dann aber 3 Prozent.
Vor der letzten Wahl haben die Sozialdemokraten ge-
sagt: Es wird keine Heraufsetzung des Renteneintritts-
alters geben. – Jetzt liegen wir bei einem Renteneintritts-
alter von 67 Jahren. Glauben Sie denn, dass das, was Sie
in Ihre Wahlprogramme schreiben, von der Bevölkerung
wirklich ernst genommen wird?
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE]: Das kann man gar
nicht ernst nehmen!)
Dagegen sind die Münchhausen-Geschichten eine Aus-
geburt an Wahrheit. Glauben Sie tatsächlich, dass Sie
noch jemand ernst nimmt, wenn Sie sagen, dass Sie eine
Mehrwertsteuererhöhung ausschließen? Glauben Sie
wirklich, dass Ihnen das jemand in dieser Republik, an-
gesichts dessen, wie Sie mit den Bürgern in den letzten
vier Jahren umgegangen sind, abnimmt? Wenn sich Herr
Müntefering hinstellt und sagt, er findet es unfair, dass er
an das erinnert wird, was er vor der Wahl gesagt hat,
dann weiß doch der Bürger, dass er den Politikern über-
haupt nicht trauen kann.
(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim
Fuchtel [CDU/CSU]: Lafontaine! Dem kann
man vertrauen!)
– Ich weiß nicht, warum Sie sich so echauffieren. Es war
doch letztendlich auch Ihre Partei, die sich an das, was
sie vor der Wahl gesagt hat, nicht mehr erinnert. Inzwi-
schen schreiben Sie sogar bei den Linken ab, was Sie
vorher als populistisch bezeichnet haben, zum Beispiel
bei der Kilometerpauschale.
(Lachen der Abg. Waltraud Lehn [SPD])
Sie müssten an dieser Stelle ganz ruhig sein; das wollte
ich Ihnen einmal sagen.
(Beifall bei der LINKEN)
Weil Ihnen die Bürger nicht mehr trauen können, ha-
ben wir einen Antrag vorgelegt, der ganz einfache Sätze
enthält, die eigentlich jeder hier verstehen müsste.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25049
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Ernst
(Lachen der Abg. Waltraud Lehn [SPD] –
Anton Schaaf [SPD]: In der Tat!)
– Ich weiß, dass Sie es mit dem Einfachen nicht so ha-
ben. Ich möchte es Ihnen aber einmal vorlesen, vielleicht
macht es dann für Sie Sinn:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, … Kürzungen der sozialen Leistungen für
die nächsten vier Jahre verbindlich auszuschlie-
ßen; …
(Anton Schaaf [SPD]: Warum denn nicht für
immer?)
– und –
für die aufgrund der Wirtschaftskrise entstehenden
Defizite der Sozialversicherungen mit einer Staats-
garantie zu bürgen.
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sich alle Parteien
hier im Bundestag verpflichten,
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Haben
Sie die Sozialgesetze mal gelesen?)
eines in dieser Krise nicht zu machen: dass wir, wenn die
Rechnung nach der Bundestagswahl präsentiert wird, die
Bürger zur Kasse bitten, dass wir die zur Kasse bitten,
die von Sozialleistungen leben müssen, dass wir die
Rentner zur Kasse bitten
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir
entlasten den Bürger!)
und dass wir schließlich die Arbeitslosenversicherungs-
leistungen kürzen. – Das ist eine klare Ansage,
(Beifall bei der LINKEN)
die bewirken würde, dass die Menschen in unserem
Land das, was wir sagen, ansatzweise ernst nehmen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie
kann man nicht ernst nehmen!)
Ich gehe davon aus, dass Sie unseren Antrag ablehnen
werden. Sie werden sagen: Das ist purer Populismus. –
Das sagen Sie aber zu allem. Hinterher schreiben Sie es
dann aber ab. Das beeindruckt mich nicht mehr.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich kann Ihnen sagen: Die Bürger dieses Landes werden
ernst nehmen, ob Sie tatsächlich bereit sind, eine Sozial-
staatsgarantie abzugeben, und ob Sie bereit sind, vor
der Wahl zu erklären: Nein, es gibt keine Sozialkürzun-
gen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie
nehmen Sie aber nicht ernst!)
Wenn Sie das nicht tun, wissen die Bürger, dass Sie nach
der Bundestagswahl im September die Rechnung für das
präsentieren werden, was Sie jetzt noch verschleiern.
Das ist die Wahrheit.
Ich danke fürs Zuhören.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE]: Ohne uns! Ohne
die Linke! – Peter Weiß [Emmendingen]
[CDU/CSU]: Dümmer geht es nimmer! –
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir müssen noch beten, dass das nicht
im Ausschuss beraten wird!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter für
die CDU/CSU-Fraktion.
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die soeben vorgetragene Rede und der Antrag
der Linken haben gezeigt, dass wir eigentlich eine
Grundsatzdebatte über Reformfähigkeit und Reformwil-
ligkeit in Bezug auf unsere Sozialversicherungssysteme
führen müssten. Es geht darüber hinaus auch um die
grundsätzliche Regierungsfähigkeit bzw. Regierungs-
unfähigkeit linker Parteien angesichts der enormen He-
rausforderungen, die wir in den nächsten Jahren zu
bewältigen haben. Durch die globale Wirtschafts- und
Finanzkrise sind die Aufgaben nicht kleiner, sondern
größer geworden. Die vor uns liegende demografische
Entwicklung und unser Anspruch an eine humane, das
Leben schützende und soziale Belange respektierende
Gesellschaft – dies bleibt Aufgabe.
Wenn ich die Rede von Herrn Ernst Revue passieren
lasse und den Antrag der Linken lese, dann stelle ich
fest: Unter dem Begriff „Schutzschirm“ wird der völlige
Stillstand aller Reformbemühungen in der Renten-,
Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung ver-
langt.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist Sozial-
abbau!)
Die Linke fordert die Politik tatsächlich auf, quasi
eine Selbstblockade des Staates und der Sozialversiche-
rung zu verfügen. Dies ist nichts anderes als ein Frontal-
angriff auf die nachfolgenden Generationen. Die Soziali-
sierung der Reformnotwendigkeiten in den sozialen
Sicherungssystemen, wie sie die Linke fordert, wird von
einer breiten Mehrheit in diesem Haus abgelehnt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Vorschlag der Linken ist nicht nur populistisch, son-
dern auch brandgefährlich und liegt nicht im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger. Diese erwarten – anders als
hier vorgeschlagen – von der Politik Lernfähigkeit. Aus
dem Schaden, der durch die Finanz- und Wirtschafts-
krise entstanden ist, müssen wir klug werden. Wir müs-
sen eine intelligente Reform anstoßen.
(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE
LINKE])
Die Sozialisierung der Reformnotwendigkeiten ist
nichts anderes als ein Verrat an den nachfolgenden Ge-
nerationen; den lehnen wir ab.
(Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/
CSU])
25050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Steffen Kampeter
Wir müssen die vorhandenen Potenziale erkennen und
nutzen sowie die Zukunft gestalten. Das, was Sie, meine
Damen und Herren von der Linken, in Ihrem Antrag vor-
tragen, ist ein politisches Versagen, eine Bankrotterklä-
rung. Sie versagen vor den Herausforderungen, vor die
uns die Krise stellt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Wenn ich davon spreche, dass wir die Generationen-
gerechtigkeit zum Maßstab der Reformen machen, dann
bedeutet das: Wir stehen bei der langfristigen Finanzie-
rung der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung
und der Rentenversicherung vor großen Herausforderun-
gen. Die demografische Entwicklung und eine bessere
medizinische Versorgung sind Punkte, mit denen wir uns
befassen müssen. Ein langes, erfülltes Leben bei guter
Gesundheit ist das, was wir uns alle wünschen. Wir wol-
len, dass alle Bürgerinnen und Bürger an den medizini-
schen Fortschritten teilhaben und bestmöglich versorgt
werden. Aber die Finanzierung der Systeme wird eine
zunehmend schwierigere Aufgabe. Einen gesellschaftli-
chen Kampf Alt gegen Jung kann nur derjenige verhin-
dern, der sowohl die Generationengerechtigkeit als auch
die Sensibilität bei der Nachjustierung der Systeme zur
Grundlage seiner Entscheidungen macht. Dies kann nur
eine politische Kraft aus der Mitte der Gesellschaft; dies
können nur Volksparteien. Dies darf man nicht linken
Populisten überlassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dabei ist eines ganz klar: Wir haben auch in der zu
Ende gehenden Legislaturperiode diese Aufgaben in
großer Solidarität aller Interessengruppen bewältigt. Mit
großer Zuverlässigkeit haben wir dort, wo es anstand,
die sozialen Sicherungssysteme auch mit Steuermitteln
stabilisiert. Dabei gehen wir aktuell so weit, Rentenkür-
zungen per Gesetz auszuschließen, selbst wenn die Ein-
kommen der Erwerbstätigen sinken sollten. Wir sollten
an dieser Stelle auch würdigen, dass die junge Genera-
tion dieses große Maß an Solidarität in dieser Krise auf-
bringt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Was Sie von der Linken betreiben, ist ein übles Spiel
mit der Angst, ein übles Spiel auf Kosten derer, die heute
Leistungen beziehen und durch Ihre Panikmache verun-
sichert werden. Es ist ein übles Spiel auf Kosten derer,
die heute in die Kassen einzahlen und zu Recht erwarten,
dass wir, die Politik, die Systeme zukunftssicher ma-
chen. Ich will es in einem Satz zusammenfassen: Die ei-
gentlichen politischen Spekulanten in der Krise sitzen
auf der linken Seite dieses Hauses.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir brauchen eine umfassende Reformdebatte über
die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssys-
teme und keine Schutzschirmillusionen. Die Bürgerin-
nen und Bürger fragen: Welche Rezepte habt ihr zu
bieten, um unsere soziale Absicherung langfristig zu ge-
währleisten? Dabei gilt es, –
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege!
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
– Fehler in den Strukturen zu beheben.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Darf ich Sie unterbrechen?
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Das tun Sie bereits, Frau Präsidentin.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Es tut mir leid, aber Sie waren so im Redefluss. Ich
habe gedacht, der Satz sei schon beendet gewesen. – Der
Kollege Ernst hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Der Kollege Ernst kann gerne meine Redezeit durch
eine Zwischenfrage verlängern.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte, Herr Kollege.
(Dirk Niebel [FDP]: Aber er soll kurz fragen,
und Sie antworten bitte länger!)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Ich verlängere Ihre Redezeit sehr gerne. – Sie haben
über die prinzipielle Reformfähigkeit gesprochen. Ha-
ben Sie denn Verständnis dafür, dass die Bürger, wenn
sie das Wort „Reform“ hören, nicht mehr nur positiv ge-
stimmt sind, weil sie in den letzten Jahren die Erfahrung
gemacht haben, dass die Reformen letztendlich immer
zu ihren Lasten gingen und dass es hinterher nicht besser
war als zuvor? Haben Sie Verständnis dafür, dass die
Bürger, wenn sie das Wort „Reform“ hören, inzwischen
ihre Geldbörse festhalten, weil sie wissen, dass man ih-
nen dort hineingreifen will?
(Beifall bei der LINKEN)
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Herr Kollege Ernst, wenn Sie die vergangenen Jahre
bis zum Eintritt der Wirtschafts- und Finanzkrise in der
Bundesrepublik Deutschland unter sozialen Gesichts-
punkten betrachten, dann werden Sie feststellen: Es hat
noch nie ein so dichtes Netz der sozialen Sicherungssys-
teme wie in dieser Legislaturperiode gegeben.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Glauben Sie das selbst?)
Wir haben in den sozialen Sicherungssystemen eine
so umfassende Reformpolitik durchgesetzt, dass wir so-
gar einen Nachkriegsrekord bei der Beschäftigung hat-
ten.
(Zuruf von der LINKEN: Was?)
Es ist uns gelungen, in den vergangenen Jahren durch
diese soziale Reformpolitik eine Integration von Pro-
blemgruppen in den Arbeitsmarkt durchzuführen – bei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25051
(A) (C)
(B) (D)
Steffen Kampeter
spielsweise der Jüngeren, der Älteren und der wenig
Qualifizierten –, was dazu geführt hat, dass weit über
40 Millionen Menschen in Deutschland eine Beschäfti-
gung gefunden haben. Die Reformpolitik der sozialen
Sicherungssysteme, des Steuersystems und auch anderer
Bereiche hat zentral dazu beigetragen, dass wir jetzt in
der Lage sind, dieser Krise zu begegnen und die Heraus-
forderungen, die sich nicht nur in der Krise stellen, von
einem starken Stück Deutschland aus anzugehen.
Die Menschen, die dazu beigetragen haben, sitzen
nicht nur in diesem Haus. Vielmehr sind das die Men-
schen, die durch ihren Fleiß und ihre Arbeit diese starke
wirtschaftliche Position unseres Landes geschaffen ha-
ben. Diese sollten Sie nicht in der Art und Weise denun-
zieren,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich
überhaupt nicht getan!)
wie Sie das in Ihren Reden und Fragen dauernd tun.
Vielmehr sollten Sie anerkennen: Wir Deutsche sind ge-
meinsam bereit, diese Herausforderungen anzunehmen.
Dieses Haus, dieser Deutsche Bundestag, wird alles Er-
denkliche dafür tun, dass die Herausforderungen der
Krise sozialverträglich gemeistert werden können. – Das
ist meine Antwort auf Ihre Frage.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP – Klaus Ernst [DIE
LINKE]: Sie haben meine Frage nicht beant-
wortet!)
Horst Köhler hat in seiner Berliner Rede eine sehr be-
achtliche Analyse über die Fehler in der Finanzwirt-
schaft erstellt. Er hat uns ins Stammbuch geschrieben,
dass die Misere, die wir an den Finanzmärkten erleben,
das Ergebnis von mangelnder Transparenz, Laxheit, un-
zureichender Aufsicht und von Risikoentscheidungen
ohne persönliche Haftung ist. Er hat zu Recht gesagt,
dass das, was wir jetzt erleben, das Ergebnis von Freiheit
ohne Verantwortung ist.
An dieser Stelle möchte ich eine Lanze für mehr
Transparenz und persönliche Verantwortung auch in den
Verwaltungsapparaten der Behörden und der Sozialver-
sicherungen brechen. Erhebliche Leistungssteigerungen
sind möglich, wenn wir moderne Managementmetho-
den, wie beispielsweise das Benchmarking, auch im öf-
fentlichen Sektor konsequent nutzen. Nur mit mehr
Transparenz kann man Vertrauen stärken.
Vor gut einem Jahr hat sich Bundesinnenminister
Schäuble für das Benchmarking als entscheidenden
Schritt in der Verwaltungsmodernisierung eingesetzt.
In den Verwaltungen, so Schäuble, mangele es an der
Bereitschaft, sich öffentlich dem Wettbewerb zu stellen
und eine Diskussion über Kosten und Leistungen zu füh-
ren. Effizienzgewinne in Milliardenhöhe seien durch
Leistungsvergleiche und eine Bereitschaft, vom Besten
zu lernen, möglich. – Dies zeigt, dass Reformen in den
sozialen Sicherungssystemen nicht den Abbau von
sozialen Leistungen bedeuten. Sie bedeuten im Kern
mehr soziale Absicherung für entsprechend weniger
Geld oder – umgekehrt – zusätzliche Spielräume, um
diese Reformdividende zu nutzen.
Qualitätsprüfungen und Qualitätsvergleiche brauchen
wir für alle sozialen Sicherungssysteme. Krankenhäuser
werden geprüft und verglichen. In den letzten Tagen
wurde von den Kassen ein Ärzte-TÜV gefordert. Wir ha-
ben einen Pflege-TÜV vereinbart. Pflegebedürftige
Menschen und ihre Angehörigen wollen wissen, was in
Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten geleistet
wird. Die Bürgerinnen und Bürger – das muss klar ge-
sagt werden – sehen nicht ein, warum die Qualität sozia-
ler Dienstleistungen einer Geheimniskrämerei unterlie-
gen soll. Kundenfreundlichkeit und Wettbewerbsdenken
müssen in die Einrichtungen und Amtsstuben einziehen.
Ich will ein anderes Beispiel anführen. Wir haben
über die Bundesagentur für Arbeit keinen Schutz-
schirm gespannt. Vielmehr haben wir die Bundesagentur
für Arbeit einem schweren und herausfordernden Re-
formprozess unterworfen. Wir haben bei der Bundes-
agentur für Arbeit gesehen, dass mehr Wettbewerb mehr
Leistung bringt. Nach dem Vermittlungsskandal wurde
die Bundesagentur grundlegend umgebaut. In der Ar-
beitslosenversicherung haben mit der Führung durch
Frank-Jürgen Weise betriebswirtschaftliche Grundsätze
Einzug gehalten. Controlling und Benchmarking haben
dazu geführt, dass jede Führungskraft für die Leistung
seines Teams persönliche Verantwortung übernimmt.
Transparenz führt zu Reformdruck und Innovation aus
der Organisation heraus.
Der Nutzen für Versicherte und für die Beschäfti-
gungsuchenden war enorm. Seit 2004 wurden die Bei-
träge gesenkt und die Vermittlungsleistungen zugleich
deutlich gesteigert. Die Dauer der faktischen Arbeits-
losigkeit wurde in den Agenturen für Arbeit um rund
40 Prozent reduziert. Damit wird das Hauptinteresse ar-
beitsloser Menschen bedient: eine professionelle und
schnelle Vermittlung in einen neuen Job.
Dieses Beispiel zeigt, dass durch Reformoptionen in
den sozialen Sicherungssystemen, nicht aber durch
Schutzschirme die Qualität der sozialen Dienstleistun-
gen verbessert und unser soziales Netz ausgebaut wird.
Das ist zukunftsweisende und verantwortliche Politik,
die die Union vertritt.
Es gibt im Übrigen einen ganz bemerkenswerten Vor-
gang: In den Jobcentern, die die Langzeitarbeitslosen
betreuen, gibt es nach wie vor große Defizite bei der
Transparenz und der Zuordnung der Verantwortungsbe-
reiche. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch
die Meinung der verantwortlichen Leistungsträger. In
den vergangenen Wochen haben sowohl die Bundes-
agentur für Arbeit als auch die kommunalen Spitzenver-
bände deshalb Brandbriefe an alle Haushälter der Frak-
tionen geschrieben: Die Jobcenter könnten besser
geführt werden, wenn der faire Wettbewerb gefördert
würde. Aber diesbezüglich warten wir noch auf die Ini-
tiative des Bundesarbeitsministeriums. Die Qualität
könnte für die Betroffenen verbessert werden. Wir kön-
nen uns den jetzigen Zustand definitiv nicht leisten. Ich
wünsche mir, dass der Bundesarbeitsminister diese Vor-
schläge zum Benchmarking der Jobcenter aufgreift. In
der freien Wirtschaft ist das ein ganz banaler Vorgang.
Über Qualität und Leistung der Wettbewerber wird öf-
25052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Steffen Kampeter
fentlich berichtet. Das ist ebenfalls eine Selbstverständ-
lichkeit im Verbraucherschutz. Ich glaube, dass wir das
auch im Bereich der Langzeitarbeitslosenverwaltung
durchsetzen können.
Auch dieses Beispiel zeigt: Wir haben noch einiges
vor. Ich will nicht behaupten, dass die Reformbemühun-
gen in den sozialen Sicherungssystemen durch die Große
Koalition ans Ende gekommen sind. Vor mehr als einem
Jahr hat Olaf Scholz noch angekündigt, die beste Ar-
beitsvermittlung der Welt schaffen zu wollen. Heute
scheint er schon mit der Durchführung einfacher Leis-
tungsvergleiche überfordert zu sein.
(Beifall bei der FDP – Widerspruch der Abg.
Waltraud Lehn [SPD])
Mit dieser Laxheit wird man eine Reform der sozialen
Sicherungssysteme nicht erreichen können.
(Dirk Niebel [FDP]: Das war der erste richtige
Satz!)
Ich glaube, wir brauchen auch einen Jobcenter-TÜV. Die
Kommunen und die Bundesagentur haben zu Recht an-
gemahnt, dass die Qualität der Jobcenter ein öffentliches
Thema sein muss. Dies sind wir allen Steuerzahlern und
Beitragszahlern schuldig. Sie geben uns Geld, damit wir
eine anständige Leistung erbringen. Darin besteht der
Vertrag, den wir mit den Bürgerinnen und Bürgern ge-
schlossen haben. Deswegen finde ich es unerträglich und
unverantwortlich, wenn hier von den Linken diese Leis-
tungen nicht ausreichend gewürdigt werden und der Ein-
druck erweckt wird, wenn man einfach einen Regen-
schirm in die Hand nähme und ihn über den sozialen
Sicherungssystemen aufspannte, wäre irgendein Pro-
blem der deutschen Politik gelöst.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bei
den Banken waren Sie mit dem Schirm sehr
fix!)
Sie, die Krisenspekulanten, haben keine Alternative. Wir
in der Großen Koalition stellen uns den Aufgaben in gro-
ßer Verantwortung für die Menschen. Wir als Union
werden dies auch weiterhin tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke hat in dieser Legislaturperiode eine Reihe von
Anträgen eingebracht, die in der Regel eines gemeinsam
hatten: Sie erhoben teure Forderungen, hielten sich aber
nicht lange mit der Frage auf, wie denn die Finanzierung
dieser Wunschlisten erfolgen solle.
(Beifall bei der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: Oh doch! Spitzensteuersatz,
Börsenumsatzsteuer!)
Der heutige Antrag „Staatsgarantie für die Sozialver-
sicherungen – Schutzschirm für Menschen“ stellt sozu-
sagen die Krönung dieser Bemühungen dar; denn mitten
in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise in der
Geschichte der Bundesrepublik geht es um nicht mehr
und nicht weniger, als dass der Staat, egal was passiert,
auf jeden Fall seine Leistungen für die Bürger auch in
den nächsten Jahren uneingeschränkt und ungeschmälert
fortführen soll. Herr Kollege Ernst, schöner als mit die-
sem Antrag kann man eigentlich nicht verdeutlichen,
wes einfachen Geistes Kind die Linken sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Für mich wirft der Antrag einige Fragen auf: Wer ist
eigentlich der Staat, an den sich diese Erwartungen rich-
ten? Wer finanziert den Staat?
(Dirk Niebel [FDP]: Die anderen!)
Wo ist die Grenze der Belastbarkeit unseres Gemeinwe-
sens?
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
480 Milliarden verbrannt!)
Kann man sich wirklich – Baron von Münchhausen, das
ist nicht der Wirtschaftsminister, lässt grüßen – an den
eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen?
Meine Damen und Herren von den Linken, wenn ich
mir einmal Ihren Kopf zerbreche, dann muss ich fragen:
Greift Ihr Antrag am Ende nicht zu kurz? Kann es eine
Leistungsgarantie geben, wenn es keine Beitragsgarantie
gibt? Müsste man denen, die mit ihren Beiträgen das So-
zialsystem finanzieren, nicht konsequenterweise auch
das Einkommen garantieren? Muss man dann nicht allen
Unternehmen den Bestand garantieren, damit diese Ein-
kommen von den Arbeitnehmern auch tatsächlich erzielt
werden können und sich nicht ein Einziger aufgrund der
Krise schlechter stellt?
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist saubere
Dialektik!)
Das sind Fragen, die deutlich machen, wie unausgegoren
und wie wenig durchdacht dieser Antrag ist. Ich frage
mich auch: Wie würde eigentlich ein Einzelner oder eine
Familie in einer vergleichbaren Situation handeln? Je-
denfalls nicht nach dem Motto: Wenn wir schon das
Dach reparieren müssen, dann sollen die Kinder auch
neue Computer bekommen. Der Einzelne und die Fa-
milie schränken sich ein, wenn eine unvorhergesehene
Ausgabe das Familienbudget belastet und den finanziel-
len Spielraum einengt. Das, Frau Kollegin Lehn, müsste
Ihnen eigentlich auch Ihre Tante Käthe und Ihr Onkel
Otto als Maxime des finanziellen Handelns mitgegeben
haben.
(Heiterkeit)
Ich bin gespannt, was Sie nachher sagen werden.
(Anton Schaaf [SPD]: Die kommt noch!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25053
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Heinrich L. Kolb
Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, glauben wir
eigentlich, dass der Staat sich anders verhalten könnte
oder dürfte als der Einzelne oder eine Familie? Nur des-
halb, weil der Staat scheinbar unbegrenzt Schulden ma-
chen kann, während dem Einzelnen die Bank früher oder
später den Geldhahn zudreht? Kreditfähig ist der Staat
nur deswegen, weil die Erwartung an künftige Genera-
tionen ist, das Erbe werde schon nicht ausgeschlagen
werden, auch wenn es hoch verschuldet ist, weil die Er-
wartung ist, dass die kommenden Generationen schon
treu und brav den heutigen Konsum mit ihrer künftigen
Leistung nachträglich noch erarbeiten werden.
Genau das, Herr Kollege Ernst, ist der Punkt: Ihre Po-
litik, die Politik der Linken, gibt vor, sozial zu sein, ist in
Wahrheit aber unsozial, weil sie den Grundsatz der Ge-
nerationengerechtigkeit grob außer Acht lässt, weil sie
den Konsum von heute bedingungslos mit der Staatsver-
schuldung von morgen finanziert.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Nein, meine Damen und Herren, solche Schutzschirme
taugen nichts. Es gilt das Wort von Milton Friedman:
„There ain’t no such thing as a free lunch“; es gibt kein
kostenloses Mittagessen, irgendeiner zahlt immer die
Zeche.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen
Koalition, sollten auch Sie sich hinter die Ohren schrei-
ben;
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Haben Sie meine
Rede nicht gehört, Herr Kollege?)
denn auch Sie planen, Herr Kollege Kampeter, in dieser
Woche noch zwei Schutzschirme, die sich als teurer Bu-
merang erweisen können. Ich spreche von der ewigen
Rentengarantie und der nochmaligen Erweiterung der
Erstattungsregelung für Sozialversicherungsbeiträge für
alle Arbeitnehmer eines Arbeitgebers ab dem siebten
Monat Kurzarbeit.
Herr Kampeter, ich empfehle Ihnen – das müssen Sie
sich wirklich einmal anschauen – die Lektüre des Gut-
achtens von Professor Raffelhüschen für die Initiative
„Neue Soziale Marktwirtschaft“.
(Joachim Poß [SPD]: Eine sehr interessante
Organisation!)
Ich sage Ihnen voraus, dass wir in der Rentenversiche-
rung auf ein riesiges Desaster zusteuern. Der Beitrags-
satz in der Rentenversicherung wird nicht nur nicht sin-
ken – er sollte ja auf dem Weg in das Jahr 2020 von
19,9 auf 19,1 Prozent zurückgehen –, sondern wird in
naher Zukunft deutlich ansteigen. Das scheint mir unver-
meidbar, und dazu hat der Kollege Peter Weiß eine
Frage.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Selbstverständlich; ich freue mich.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Weiß, bitte.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Dr. Kolb, würden Sie, da Sie soeben das
Gutachten von Herrn Professor Raffelhüschen, Freiburg,
erwähnt haben, erstens zur Kenntnis nehmen, dass das
Gutachten nicht für die Initiative „Neue Soziale Markt-
wirtschaft“ geschrieben wurde und auch von dieser nicht
in Auftrag gegeben wurde, wiewohl Herr Professor
Raffelhüschen Mitvorsitzender dieser Initiative ist?
(Anton Schaaf [SPD]: Würde uns aber nicht
wundern! – Weiterer Zuruf von der SPD:
Könnte man aber meinen!)
Würden Sie zweitens dem Hohen Haus und der Öf-
fentlichkeit mitteilen, dass im Gutachten von Herrn Pro-
fessor Raffelhüschen ein Absinken der Löhne im Jahr
2009, also in diesem Jahr, um 2,5 bis 3,5 Prozent unter-
stellt wird? Ist dies auch die Hoffnung und Intention der
FDP, dass es dieses Jahr tatsächlich zu einer Senkung der
Löhne um 2,5 bis 3,5 Prozent kommt? Worauf gründen
Sie diese Aussage, da doch die Bundesregierung in ih-
rem Gutachten festhält, dass mit einem sinkenden Lohn-
niveau in 2009 nicht zu rechnen ist?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Peter Weiß, es trifft sich gut, dass ich
zufälligerweise das Gutachten von Herrn Professor
Raffelhüschen dabei habe.
(Heiterkeit bei der FDP sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]:
Jetzt kennen wir auch den Auftraggeber!)
Nachdem ich jetzt durch Ihre Frage etwas mehr Zeit
habe, will ich gern noch den Titel dieses Gutachtens ver-
lesen: „Tricksen an der Rentenformel – Rentenpolitik zu
Lasten der Beitrags- und Steuerzahler“. Es ist sehr wohl
für die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ ge-
schrieben; es steht hier: Kurzexpertise des Forschungs-
zentrums Generationenverträge im Auftrag der Initiative
„Neue Soziale Marktwirtschaft“. – Damit ist der erste
Punkt abgehakt: Sie haben leider nicht recht.
Zweiter Punkt. Natürlich hat Herr Professor Raffelhüschen
Annahmen getroffen; sie finden sich auf Seite 3 dieses
Gutachtens. Genau das haben wir auch am Montag in
der Anhörung des Ausschusses am Ende diskutiert. Sie
waren leider noch nicht da, weil Ihr Flugzeug Verspä-
tung hatte. Es war sehr schön, zu sehen, wie Herr Rische
von der Deutschen Rentenversicherung Bund sich ge-
wunden hat. Auf die Frage, ob denn das alles noch zu-
sammenpasse, antwortete er: Wenn die Annahmen der
Bundesregierung zutreffen, ja; wenn die Annahmen der
Wissenschaft zutreffen, nein. Nun ist leider die Erfah-
rung – das muss ich sagen –,
(Joachim Poß [SPD]: Seit wann ist Herr
Raffelhüschen d i e Wissenschaft?)
dass die Annahmen der Bundesregierung in den letzten
zehn Jahren selten zugetroffen haben.
(Beifall bei der FDP)
25054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Heinrich L. Kolb
Deswegen muss ich sagen: Es ist leider davon auszu-
gehen, dass das stimmt, was Professor Raffelhüschen äu-
ßert. Übrigens meint nicht nur er – auch Professor
Börsch-Supan aus Mannheim kommt zu dem gleichen
Ergebnis –, dass die Rentenbeiträge in der nächsten Zeit
deutlich ansteigen werden. Gleichzeitig – darin gebe ich
dem Kollegen Ernst sogar recht – werden die Rentner in
den nächsten Jahren – –
(Dirk Niebel [FDP]: Er muss noch die Frage beant-
wortet kriegen, ob wir das gut finden!)
– Das kann ich Ihnen sagen: Nein! – Danke für den Hin-
weis; ich nehme damit die Beantwortung der Frage wie-
der auf, Frau Präsidentin.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU so-
wie bei Abgeordneten der SPD)
Nein, wir finden das nicht gut. Wir wollen keine Ren-
tenkürzung. Wir haben ein großes Interesse daran, dass
die Rentnerinnen und Rentner ein ausreichendes Ein-
kommen haben. Nur, den Menschen ist nicht gedient,
wenn man – wie Sie – Garantien für die nominale Höhe
von Renten gibt, aber gleichzeitig das verfügbare Ein-
kommen der Rentnerhaushalte durch eine Vielzahl von
Maßnahmen – durch eine drastische Anhebung der Ein-
kommensteuer, durch die Einführung der Verbeitragung
von Direktversicherungen, Zusatzversorgungen und was
auch immer – kürzt. Am Ende zählt, was ins Portemon-
naie kommt, und da haben Sie in den letzten Jahren gna-
denlos zugeschlagen.
(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Was wollt ihr denn?)
An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen der
SPD gerichtet, will ich hier noch sagen: Sie haben den
Weg von Walter Riester – er wollte Nachhaltigkeit in der
Rentenversicherung schaffen und die Lasten der demo-
grafischen Alterung gerecht verteilen – längst verlassen.
Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie das „Projekt 18“ wei-
ter, von oben kommend, verfolgen, werden Sie hem-
mungslos die Rente mit 67 kippen und damit das letzte
Relikt der Agenda 2010 im Bereich der Sozialpolitik
zum Verschwinden bringen.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)
Ich empfehle wirklich jedem, den Beitrag von Franz
Müntefering in der heutigen Ausgabe der Welt zu lesen.
Franz Müntefering ist im Moment alles zuzutrauen und
am Ende auch dieses.
(Beifall bei der FDP)
Ein Weiteres ist – das sei hier noch kurz erwähnt – die
in letzter Minute noch einmal deutlich ausgeweitete Er-
stattungsregelung ab dem siebten Monat bei der Kurzar-
beiterregelung. Lange haben Sie sich, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Großen Koalition, in einer positi-
ven Arbeitsmarktentwicklung gesonnt – ich habe Ihre
Reden noch im Ohr –; aber diese Entwicklung war nicht
das Ergebnis Ihrer Politik; vielmehr haben Sie Windfall-
Profits einer guten Weltkonjunktur mitgenommen. Jetzt,
da Sie erkennen, dass Sie Ihre Hausaufgaben bei der Re-
form des Arbeitsmarktes nicht gemacht haben, dass Sie
nicht vorbereitet sind, dass Sie auch die Reform der so-
zialen Sicherungssysteme nicht in Angriff genommen
haben, versuchen Sie, sich über den Wahltag zu retten,
indem Sie viel, viel Geld in die Hand nehmen. Diese
Milliarden sind aber nicht Ihr Geld, sondern es ist das
Geld der Beitragszahler und, wenn die Kasse in Nürn-
berg leer ist, auch das Geld der Steuerzahler. Was Sie
morgen beschließen wollen, ist die Lizenz für die Groß-
unternehmen, die Kasse der Arbeitslosenversicherung
auszuplündern; das sage ich hier in dieser Deutlichkeit.
(Beifall bei der FDP)
Man hat in den Sitzungen des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung, insbesondere in der Anhörung am
Montag, sehr deutlich beobachten können: Die Große
Koalition ist am Ende. Es wird Zeit, dass diese Vorstel-
lung, die die Beitrags- und Steuerzahler viel Geld kostet,
endlich beendet wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Lehn für
die SPD-Fraktion.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was sagt Tante
Käthe zu dem Thema?)
Waltraud Lehn (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der An-
trag der Linken weckt in der Tat Erinnerungen an einen
meiner zahlreichen Verwandten; aber diesmal ist es
Onkel Theo.
(Heiterkeit bei der FDP sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
Onkel Theo war klein, etwa so klein wie ich, und sein
ganzes Leben wollte er größer sein, als er tatsächlich
war.
(Dirk Niebel [FDP]: So wie der Gysi!)
Also hat er getrickst: Er trug ständig – bis hin zu den
Hausschuhen – Plateausohlen. Onkel Theo sah die Welt
sehr einseitig, und er war beseelt davon, diese Sicht allen
zu verkünden. Im Brustton der Überzeugung konnte er,
berauscht von sich selbst, vor allem Halbwahrheiten ver-
treten – immer ein bisschen etwas Richtiges, aber immer
auch ein bisschen etwas Falsches.
Als ihm in der Praxis eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes
eröffnet wurde, dass seine Mandeln entfernt werden soll-
ten, bekam Onkel Theo einen Riesenschreck und fragte:
Mein Gott, machen Sie das jetzt nicht mehr in einem
Krankenhaus? – Fortan sammelte er Unterschriften für
den Erhalt der Krankenhäuser, und er verunsicherte da-
mit die Menschen in der Stadt. Sie wussten ja nicht, wie
schräg seine Überlegungen waren. Denn richtig war:
Seine Mandeln mussten raus. Richtig war: Die Opera-
tion sollte ambulant erfolgen. Falsch war, dass irgendein
Krankenhaus bedroht war.
So ist es mit dem Antrag der Linken.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25055
(A) (C)
(B) (D)
Waltraud Lehn
(Dirk Niebel [FDP]: Und mit der Regierung
auch!)
Sie tricksen und sind selbstverliebt in ihre meist einsei-
tige Sicht der Dinge. Allerdings so harmlos wie Onkel
Theo sind sie nicht; denn sie wollen verunsichern, sie
wollen aufwiegeln, koste es, was es wolle, also um jeden
Preis.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE]: Wir haben die Au-
gen auf!)
Richtig ist, dass wir uns in einer schweren Krise be-
finden. Richtig ist auch, dass wir einen wirksamen
Schutzschirm für Menschen spannen müssen; was wir
im Übrigen – ich komme gleich darauf zu sprechen –
auch tun. Die Vorschläge im Antrag der Linken sind je-
doch falsch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Wir haben schon lange vor den Folgen eines ungezü-
gelten Turbokapitalismus gewarnt. Ich erinnere nur an
Franz Müntefering und die Heuschreckendebatte.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ihr habt das
doch gemacht! – Zuruf der Abg. Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE])
Immer mehr Menschen verzweifeln an einem Finanz-
markt, der nur noch auf schnellste und höchste Rendite
setzt und in dem niemand mehr Verantwortung über-
nimmt. Die Aussage der Linken, dass wir für diesen Fi-
nanzmarkt und die Banker 480 Milliarden Euro zahlen,
ist grottenfalsch!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Lötzsch?
Waltraud Lehn (SPD):
Immer.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Lehn,
Sie sprachen Franz Müntefering und die Heuschrecken
an. Erinnern Sie sich daran, wann in Deutschland die
Hedgefonds, die Franz Müntefering liebevoll als Heu-
schrecken bezeichnet hat, zugelassen wurden? Falls
nicht, darf ich Sie daran erinnern, dass das im Jahr 2004
war. Damals war Franz Müntefering Vorsitzender der
SPD-Fraktion, und es regierte Rot-Grün in diesem Land.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Lin-
ken: Genau so war es!)
Waltraud Lehn (SPD):
Auf Ihre Frage würde ich gerne zweifach antworten.
Erstens. Heuschrecken als liebevoll zu bezeichnen, kann
man – mit Verlaub – so nicht stehen lassen. Sie fressen
nämlich eine Menge kahl. Ich glaube, dass Franz
Müntefering nicht die grüne Farbe gemeint hat, sondern
die Tatsache, dass Heuschrecken alles abgrasen.
Zweitens. Ja, ich glaube, dass wir in der Vergangen-
heit auch Fehler gemacht haben. Das ist so.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dann korri-
giert sie!)
Derjenige, der nicht nur motzt und herumschreit, aufwie-
gelt und zerstören will, der wird in seinem Leben auch
Fehler machen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass
wir dabei sind, unsere Fehler an den entsprechenden
Stellen zu korrigieren.
(Widerspruch bei der LINKEN)
Die Entfesselung, wie sie stattgefunden hat, haben ich
und auch viele andere nicht erwartet; das gebe ich gerne
zu. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass Probleme in
der Dimension entstehen würden, wie sie tatsächlich ent-
standen sind. Wir sind eindeutig aufgefordert, zu han-
deln. Ich finde, dass alle Minister, die wir stellen, ihre
Arbeit sehr gut machen.
Die Behauptung der Linken – ich sage das noch ein-
mal –, dass wir für den Finanzmarkt und die Banker
480 Milliarden Euro zahlen, ist falsch. Diese 480 Mil-
liarden Euro, von denen die Linke spricht, stellen vor al-
lem Garantieleistungen dar. Der Haushalt wird durch
sie nicht automatisch belastet. Es wird mit dem guten
Namen der Bundesrepublik Deutschland gebürgt. Bei all
dem gilt: Die Märkte haben den Menschen zu dienen
und nicht umgekehrt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wissen das die
Menschen auch, Frau Kollegin?)
Wir helfen nicht den Bankern, sondern wir sorgen dafür,
dass Geld zum Beispiel an Unternehmen fließt, damit In-
vestitionen getätigt werden können. Das ist notwendig,
damit Arbeitsplätze geschaffen bzw. erhalten werden
können.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, ich muss Sie noch einmal unterbre-
chen. Herr Kollege Ernst hat eine Zwischenfrage.
Waltraud Lehn (SPD):
Er darf die Zwischenfrage gleich stellen. Ich möchte
meinen Gedankengang noch in zwei Sätzen abschließen.
Unsere Hilfen sichern – auch das wird nicht erkannt –
die Rücklagen von zum Beispiel Krankenkassen oder
Vereinen, die den Banken gutgläubig ihr Geld zur Ver-
wendung anvertraut haben. Deshalb noch einmal: Das,
was wir tun, tun wir für die Menschen in Deutschland.
(Beifall bei der SPD)
Jetzt kann der Kollege seine Zwischenfrage stellen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Ernst, bitte sehr.
25056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Werte Kollegin, ich habe gerade gelernt, dass die
480 Milliarden Euro, die wir beschlossen und denen Sie
auch zugestimmt haben, den Haushalt nicht belasten,
weil sie lediglich eine Garantie darstellen. Auch in unse-
rem Antrag steht, dass wir keine Ausgaben beschließen
sollten. Vielmehr sollen Defizite in der Sozialversiche-
rung durch Bürgschaften in Form von Staatsgarantien
ausgeglichen werden. Wir wollen also dasselbe, nämlich
eine Garantie, wie Sie sie für Banken beschlossen haben.
(Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: Un-
informiert!)
Kann ich davon ausgehen, dass Sie zumindest dem zwei-
ten Teil unseres Antrags ebenso freudig zustimmen, wie
Sie für die Unterstützung der Banken gestimmt haben?
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
CDU/CSU: Massenproduktion mit hoher Aus-
schussquote!)
Waltraud Lehn (SPD):
Hätten Sie noch ein bisschen abgewartet, hätten Sie
gemerkt, dass ich darauf noch eingehen wollte. Durch
die Beantwortung Ihrer Frage kann ich diesen Punkt
schon jetzt erläutern.
Die Banken brauchen einen Schutzschirm, damit
Geld zur Verfügung gestellt wird. Ich sage sehr deutlich:
Wenn die Banken den Unternehmen kein Geld mehr lei-
hen, sie deswegen pleitegehen und Arbeitsplätze verlo-
ren gehen, dann ist das eine sehr ernstzunehmende Be-
drohung für unseren Arbeitsmarkt, der zurzeit ohnehin
in einer schwierigen Lage ist. Wenn Sie das nicht erken-
nen, dann sind Sie – mit Verlaub gesagt – in einer Art
und Weise fehlgesteuert, die kaum zu beschreiben ist.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das beantwortet
doch meine Frage nicht!)
– Ich komme noch darauf.
Selbstverständlich ist eine gesicherte Rente wichtig.
Selbstverständlich ist es wichtig, die Erwerbslosen in der
ohnehin schweren Zeit der Arbeitslosigkeit zu unterstüt-
zen. Selbstverständlich muss es eine funktionierende
Pflege- und Krankenversicherung geben. Aber wir ha-
ben sie doch! Wir müssen sie nicht erst schaffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Was soll dieses Gerede? Mit Ihrer Demagogie hetzen Sie
die Menschen auf. Es ist Ihre Absicht, damit die Men-
schen zu verunsichern. Sie tun das wider besseres Wis-
sen. Darauf komme ich später in meiner Rede noch zu-
rück.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine
Frage haben Sie noch nicht einmal ansatzweise
beantwortet! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: Wie blind sind Sie eigentlich?)
Wir haben noch viel vor. Es ist richtig, dass wir noch
längst nicht alles erreicht haben. Wir wollen flexible
Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente ermöglichen.
Wir wollen die Arbeitslosenversicherung zu einer Ar-
beitsversicherung weiterentwickeln. Wir wollen die
Weiterbildung verstärkt fördern, was der Sicherung der
Arbeitsplätze dient. Wir setzen uns für einen allgemein
verbindlichen gesetzlichen Mindestlohn ein.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist
doch abgelehnt!)
Auf unseren Sozialstaat ist Verlass, und zwar auch in
Krisenzeiten. Ich sage es noch einmal: Das gilt ganz be-
sonders für die Rente. Die Renten steigen zum 1. Juli
2009 – das wissen Sie doch – in Westdeutschland um
2,41 Prozent und im Osten sogar um 3,38 Prozent. Das
ist ein höherer Zuwachs, als die Arbeitnehmer und Ar-
beitnehmerinnen in diesem Jahr haben werden. Ich sage
es sehr klar: Die Renten steigen. Wem wollen Sie eigent-
lich hier etwas in die Tasche lügen?
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Lügen? Un-
verschämtheit!)
Aus den USA – vielleicht meinen Sie, wir hätten Ver-
hältnisse wie dort – erreichen uns ganz andere Nachrich-
ten. Dort sind Milliarden aus den Pensionsfonds verloren
gegangen. Dort ist es keine Seltenheit mehr, dass 80-Jäh-
rige in Coffeeshops arbeiten müssen. Wir hingegen kön-
nen unseren Rentnerinnen und Rentnern sagen: Die Ren-
ten werden nicht nur nicht gekürzt, sondern sogar erhöht.
Vertrauen in unser System schafft auch fair entlohnte
Arbeit. Es darf natürlich nicht sein, dass manchem Bür-
ger die Millionen ins Portemonnaie sprudeln, während
anderswo für 3,50 oder 4 Euro die Stunde gearbeitet
werden muss. Deswegen sind Mindestlöhne ein zentra-
les Anliegen der SPD.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist
doch abgelehnt worden!)
Da sind wir ein gutes Stück weitergekommen. Aber na-
türlich sind wir noch nicht am Ende. Deswegen ist es
notwendig, dass wir wieder mitregieren. Denn nur dann
können Mindestlöhne eingeführt werden.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Mit der FDP!)
Der Schutz der Menschen in der Arbeitslosenversi-
cherung ist verlässlich. Sie, Herr Ernst, und auch Sie,
Herr Kolb, haben über die Rücklage der Bundesagentur
gesprochen. Diese Rücklage von 17 Milliarden Euro
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schmilzt wie
Schnee in der Sonne!)
wurde für den Fall einer Krise angespart. Jetzt ist die
Krise da, jetzt wird dieses Geld ausgegeben. Das muss
niemand bedauern. Das ist genau der Sinn und Zweck
dieser Rücklage gewesen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sprechen
uns am Ende des Jahres 2010 wieder, Frau
Kollegin!)
Horrorszenarien, so wie die Linke sie prophezeit, helfen
nicht. Ich wiederhole: Sie haben nur einen Zweck, näm-
lich die demagogische Verunsicherung eines funktionie-
renden Sozialstaates.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25057
(A) (C)
(B) (D)
Waltraud Lehn
Schauen wir uns die Zahlen einmal sehr genau an.
Dieses Jahr geben wir 155 Milliarden Euro für die so-
ziale Sicherung aus. Diese Mittel wurden aktuell im ers-
ten und zweiten Nachtragshaushalt aufgestockt. Viel-
leicht hilft Ihnen von der Linken diese Information: Von
100 Euro Steuern, die wir einnehmen in diesem Land,
geben wir 70 Euro für soziale Leistungen aus,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mehr als 35 Euro für die Rentnerinnen und Rentner,
30 Euro für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, auch Frau Dr. Höll würde gern eine
Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese?
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt reicht es doch langsam!)
Waltraud Lehn (SPD):
Ich glaube, jetzt ist es genug. Ich will Ihnen kein Fo-
rum für Ihre demagogischen Reden bieten. Ich finde,
was Sie sagen wollten, konnten Sie sagen. Jetzt muss
auch mal gut sein.
(Zuruf von der LINKEN: Weil Sie keine Ant-
wort haben! – Peter Rauen [CDU/CSU]: Es
reicht jetzt!)
Ich sage Ihnen noch einmal: Mehr als 35 Euro davon
fließen in die Rentenversicherung, 30 Euro in die Ar-
beitslosenversicherung bzw. Arbeitslosenhilfe. Ist das
kein Schutzschirm? In welchem Land der Welt wollen
Sie so einen Schutzschirm noch einmal finden?
(Beifall bei der SPD)
Den Schutzschirm, den Sie für die Menschen fordern,
gibt es längst. Er ist uns über 70 Prozent der Steuerein-
nahmen wert.
Eigentlich weiß ich ja, was Frau Höll fragen wollte.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hell-
seherische Fähigkeiten!)
Die Linken sagen immer: Nehmt es doch von den Mil-
lionären! Dazu will ich klar sagen: Ihre Forderungen be-
laufen sich auf insgesamt 255 Milliarden Euro. Das kann
jeder bei mir erfragen; das kann man öffentlich machen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da
bin ich mal gespannt!)
Wissen Sie, was das bedeutet? Von 100 Euro Steuern,
die eingenommen werden, wollen die Linken 113 Euro
ausgeben. Na bravo!
(Beifall bei der SPD)
Augenwischerei wie das Gerede von Steuererhöhungen
für Besserverdienende können Sie dabei getrost weglas-
sen. So viele Millionäre gibt es in ganz Deutschland
nicht, die diese Luftschlösser bezahlen könnten.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habt ihr doch
selber im Programm! Das eigene Programm
lesen!)
Manchmal frage ich mich tatsächlich, was die Raupe
Nimmersatt gegen meine Kollegen ist. Die Linke will
das Vertrauen der Bürger in unsere Sozialsysteme ähn-
lich schnell vernichten wie die Raupe die Blätter.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Raupe
wurde am Ende ein Schmetterling! Das ist
kein gutes Beispiel!)
Die Zeit ist denkbar ungünstig, um solche Verunsiche-
rung zu schüren. Umso trauriger ist es, dass sich die An-
träge der Linken nicht ähnlich schnell auf und davon
machen wie der Schmetterling, in den die Raupe Nim-
mersatt sich schließlich verwandelt.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin
Dr. Höll das Wort.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin Lehn, an-
scheinend haben Sie unseren Antrag, der so knapp und
verständlich gefasst ist, nicht verstanden. Erstens ist fest-
zuhalten, dass die Bundesagentur für Arbeit ihre Leis-
tungen aus den Versicherungsbeiträgen der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeberseite
erbringt. Das sind also keine Steuergelder.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Zweitens möchte ich wissen – diese Frage haben Sie
nicht beantwortet –, warum wir für die Banken 480 Mil-
liarden Euro zur Verfügung stellen können, für Garantie-
übernahmen, aber auch für direkte Zahlungen. Wir alle
wissen, dass das Geld – das zeigt sich schon jetzt bei
konkreten Maßnahmen – der Bundesagentur nicht aus-
reicht. Das Einzige, was Sie in Bezug darauf im Kon-
junkturpaket vorschlagen, ist, dass die Bundesagentur ei-
nen Kredit aufnehmen darf, der gestundet wird und
abgezahlt werden muss. Also werden durch Kürzungen
der Leistungen wieder die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer betroffen sein. Damit genau das nicht ein-
tritt, fordern wir hier einen Schutzschirm. Dazu verlan-
gen wir eine Stellungnahme.
Ihr wiederholt vorgetragenes Argument, dass wir un-
sere Vorschläge nicht finanzieren könnten, ist einfach
Blödsinn. Sie sollten nicht wider besseres Wissen reden.
Sie haben in Ihrem Bundestagswahlprogramm meines
Erachtens eine Börsenumsatzsteuer verabschiedet. Diese
haben wir 2007 hier eingebracht. Ich möchte sehen, wie
Sie sie verwirklichen wollen, wenn nicht mit uns. Ei-
gentlich müssten Sie da ehrlich sein. Oder wollen Sie
das mit der Union oder mit der FDP machen? Das möch-
ten wir mal sehen.
(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Linke
will doch gar nicht regieren!)
25058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Barbara Höll
Sie haben eine Erbschaftsteuer verabschiedet, bei der
es nur darum ging, nicht mehr Geld einzunehmen und
die wirklich Vermögenden im Endeffekt zu entlasten,
statt sie in der jetzigen Krise heranzuziehen, zum Bei-
spiel in Form einer Millionärssteuer. Sie müssen einmal
sagen, warum Sie ablehnen, dass die Leute, die sich vor-
her dumm und dämlich verdient haben, jetzt einen Bei-
trag leisten.
Wir bleiben dabei: Vermögensteuer, Börsenumsatz-
steuer, Erbschaftsteuerreform müssen sein. Da hätten
wir schon Vorschläge. Wenn man eine Reform der Ein-
kommensteuer angeht, dann sozial gerecht. Das heißt, es
muss eine Entlastung unten und eine Belastung oben ge-
ben. Wir verlangen einen Schutzschirm. Die Menschen
sollen die Sicherheit haben, dass ihre sozialen Leistun-
gen nicht weiter gekürzt werden, obwohl sie Versiche-
rungsbeiträge eingezahlt haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Lehn, bitte.
Waltraud Lehn (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
haben eben gesagt, dass ich Sie für blöd halte. Sie sind
nicht blöd. Dann wäre es einfach. Bedauerlicherweise
sind Sie aber hetzerisch und demagogisch, und das ist
unendlich schlimmer. Deswegen muss man sich leider
mit Ihnen auseinandersetzen, was wir, wenn Sie nur blöd
wären, nicht tun müssten. – Das ist das Erste, was ich sa-
gen will.
Das Zweite, was ich sagen will, ist – ich wiederhole
mich jetzt –: Wenn wir von 100 Euro Steuereinnahmen
70 Euro für den Sozialstaat und das soziale System zur
Verfügung stellen,
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das haben wir
schon mal gehört!)
dann bedeutet das, dass wir sehr viel für die Menschen in
diesem Land tun, und zwar verantwortungsbewusst und
nach dem Prinzip, dass dem Schwächsten dabei zuerst
geholfen werden muss. Die Arbeitslosenversicherung ist
hier nicht eingerechnet. Ich weiß nicht, was Sie da mit-
einander vermengen. Wenn von 225 Milliarden Euro
Steuereinnahmen 155 Milliarden Euro für soziale Zwe-
cke ausgegeben werden, dann ist das, was aus der Ren-
tenkasse und der Arbeitslosenversicherung finanziert
wird, darin nicht eingerechnet,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
sondern dies ist Euro für Euro Geld, das aus dem Bun-
deshaushalt kommt.
Es ist bezeichnend, dass jemand wie Sie, Frau Höll,
der im Finanzausschuss sitzt, das nicht weiß.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vielleicht
sind die doch blöd! – Dirk Niebel [FDP]: Sit-
zen allein reicht nicht! Man muss auch zuhö-
ren!)
Vielleicht sollte Ihnen zu denken geben, was ich Ihnen
zu Ihrem permanenten Röhrenblick gesagt habe, den Sie
sich ständig selbst einreden und den Sie aufrechterhal-
ten. Lernen Sie doch einfach einmal die Breite kennen
und versteifen Sie sich nicht auf einzelne Dinge, mit de-
nen Sie – mit Verlaub – nichts anderes vorhaben, als sie
demagogisch einzusetzen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort die Kollegin Birgitt Bender für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser
Schwesternstreit zwischen Linkspartei und SPD hat ja
etwas Rührendes; aber darauf möchte ich jetzt nicht wei-
ter eingehen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich dachte, Sie
seien in diesem Bund die Dritte!)
Herr Kollege Ernst, Sie haben gesagt, Sie wollten
nichts von purem Populismus hören. Ich will Ihnen ei-
nen Gefallen tun und Ihnen erklären, was der pure Popu-
lismus Ihres Antrages real bedeutet. Wenn man sich
diesen durchliest, dann fragt man sich, welches Gesell-
schaftsbild die Linkspartei eigentlich hat.
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Reiner
Sozialismus!)
Das ist recht einfach zu verstehen: Da gibt es ein paar
Superreiche – das ist eine kleine Clique von Profiteuren
dieser Krise –, und da gibt es eine große Masse von So-
zialleistungsempfängern, die jetzt vor diesen Profiteuren
beschützt und beschirmt werden müssen.
Sie scheinen aber etwas vergessen zu haben, Herr
Ernst – ich glaube nicht, dass Sie es nicht wissen; einem
Gewerkschaftsfunktionär darf man dieses Wissen zu-
trauen –: Unsere Sozialversicherungssysteme sind bei-
tragsfinanziert. Die Rentenbeiträge – Sie wollen ja die
Rentner schützen – werden von denjenigen aufgebracht,
die jetzt arbeiten. Diese Beiträge müssen gezahlt wer-
den. Auch die Aldi-Verkäuferin an der Kasse zahlt Ren-
tenbeiträge.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und
was kriegt sie am Ende dafür?
Auch der Kurzarbeiter zahlt Rentenbeiträge. Wenn Sie
wollen, dass es niemals Rentenkürzungen gibt, dann
müssen Sie sagen, mit wie viel mehr diejenigen belastet
werden sollen, die die Beiträge aufbringen. Dieser Mehr-
belastung müssen Sie sich stellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab-
geordneten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: Unsere Vorschläge liegen alle
auf dem Tisch!)
Schauen Sie sich die anderen Systeme an: Für die Ge-
sundheitsversorgung, für die Arbeitslosenversicherung
zahlt man Beiträge, wobei man hofft, dass man niemals
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25059
(A) (C)
(B) (D)
Birgitt Bender
krank oder arbeitslos wird. Dieses Risiko wird von allen
Erwerbstätigen abgedeckt. Das heißt, es sind die poten-
ziell Betroffenen, die zahlen; es sind letztendlich diesel-
ben Menschen, die zahlen und die Leistungen bekom-
men. Deswegen kann man nicht so tun, als würde man
die Menschen auf der einen Seite schützen und auf der
anderen nicht belasten können. Das funktioniert nicht.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Ich glaube, wenn man das doch tut, dann ist man nicht
ehrlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
ten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
Dass ich bei Ihnen mal klatschen kann!)
Sie schwätzen von einer Staatsgarantie. Die drohen-
den Beitragserhöhungen sollen offenbar – ich weiß
nicht, ob ganz oder teilweise – aus dem Steuersäckel ge-
genfinanziert werden. Sie tun so, als würde eine solche
Staatsgarantie von ein paar Reichen finanziert. Sie tun
so, als würden Sie die Rechnung an die Familien Por-
sche, Schaeffler und wie sie alle heißen schicken, die das
dann schon zahlen würden.
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Die ha-
ben ja auch nichts mehr!)
Aber wer zahlt denn Steuern? Man muss sich schon
auch darüber unterhalten, dass es hier im Hause welche
gibt, die meinen, man könne die Steuern senken. Herr
Kolb, ich schaue in Richtung FDP. Das ist angesichts der
größten Staatsverschuldung aller Zeiten aber fernab je-
der politischen Realität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kann man! Wenn
man den Aufschwung befördern möchte, sollte
man das tun! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]:
Aber Sie wollen die Steuern ja erhöhen! –
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist zumin-
dest kein völlig falsches Konzept!)
– Herr Kampeter, die Tatsache, dass die Kanzlerin dieses
Konzept jetzt entdeckt hat, macht es auch nicht besser.
Wir Grünen wollen in bestimmten Bereichen die
Steuern erhöhen, weil wir nachhaltige Investitionen wol-
len, zum Beispiel in Bildung, um dieses Land zukunfts-
fähig zu machen. Dazu stehen wir.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das machen
wir ohne Steuererhöhungen!)
Aber so zu tun, als würden Steuern nicht von Leuten ge-
zahlt, die Beiträge zahlen, das ist doch völlig irrwitzig.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt!)
Ein großer Teil derjenigen, die die Beiträge zu den So-
zialversicherungen aufbringen, zahlt auch Steuern. Na-
türlich möchte jeder möglichst wenig Beiträge und mög-
lichst wenig Steuern zahlen. Aber die Rechnung dafür
kommt immer an. Wenn man so tut, als gäbe es diese
Rechnung nicht, und wenn man sich diesem Interessen-
konflikt nicht stellt, Herr Ernst, dann ist man entweder
dumm oder man betreibt Volksverdummung. Das Letz-
tere ist der Vorwurf, den ich hier erhebe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP –
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Spekulanten
der Krise sind das!)
Es ist ja nicht so, dass die Garantien und die Nichtkür-
zungen, die Sie hier fordern, schon alles sind, was man
bei Ihnen finden kann. Sie haben uns in der letzten Sit-
zungswoche mit 17 Anträgen zum Thema Rente be-
schäftigt. In 17 Fällen sollten die Renten von Menschen
im Osten dieser Republik erhöht werden. Gegenfinan-
zierung? Keine. Sie sind dafür, dass bei der Rente alle
Dämpfungsfaktoren wieder herausgenommen werden.
Gegenfinanzierung? Keine. Nachdem alles erhöht
wurde, soll natürlich niemals gekürzt werden. Wie hoch
soll der Rentenversicherungsbeitrag denn werden?
22 Prozent? 25 Prozent?
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: 28 Prozent sagen sie!)
28 Prozent, so hoch würde er wohl sein. Sagt das die
Linkspartei den Leuten? Ich glaube kaum.
Bereits jetzt wird ein Drittel der Rentenausgaben über
Steuern finanziert.
Aus unserer Sicht gibt es durchaus einen Grund für
zusätzliche Steuermittel, aber wir verbinden damit eine
Reformvorstellung: Es droht nämlich Altersarmut bei
denen, die jetzt lange arbeitslos oder Geringverdiener
sind. Um diese Altersarmut zu verhindern, wollen wir,
unterstützt durch Steuermittel, eine Garantierente für
diejenigen, die langjährig wenig verdient haben. Das
wäre Zielgenauigkeit von Sozialleistungen und Bekämp-
fung von Armut. Dazu würde ich gerne etwas von Ihnen
hören.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein, die haben jetzt genug gefragt.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Jetzt erzähle ich einmal etwas.
Es gibt weiteren Reformbedarf, zum Beispiel im Be-
reich der Gesundheitsversorgung. Auch Sie tragen das
Wort „Bürgerversicherung“ vor sich her. Dabei geht es
darum – so stellen zumindest Grüne sich das vor –, dass
alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden und alle
Einkommensarten zur Finanzierung beitragen. Aber die
Belastungen dafür – da muss man einmal ehrlich sein –
kommen nicht nur bei Herrn Ackermann an; das zahlen
vielmehr alle Menschen, die Kapitaleinkünfte oder Miet-
einkünfte haben, alle, die Einkünfte oberhalb der jetzi-
gen Beitragsbemessungsgrenze erzielen. Sie werden sich
wundern, wer alles dazugehört. Rentner mit Kapitalein-
künften zum Beispiel gehören durchaus auch dazu. Sie
aber tun so, als sei die Bürgerversicherung eine allge-
25060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Birgitt Bender
meine Geldsammelstelle. Sie haben uns neulich einen
Antrag vorgelegt, in dem Sie via Bürgerversicherung un-
ter anderem den Ärzten und Apothekern höhere Einkom-
men versprechen. So funktioniert das nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Bürgerversicherung ist ein Beitrag zu mehr Ge-
rechtigkeit bei der Finanzierung und ein Beitrag zu mehr
Nachhaltigkeit, aber sie ist nicht das Füllhorn, mit dem
man alle Interessenkonflikte, die es bei der Versorgung
gibt, einfach so wegbügeln kann. So, wie Sie sich das
vorstellen, sichert man nicht die Nachhaltigkeit der so-
zialen Sicherungssysteme. So verhindert man nicht Ar-
mut. Politik braucht Konzepte, nicht nur Versprechun-
gen. Was Sie uns mit Ihren Anträgen hier liefern, ist das
Wolkenkuckucksheim einer Partei, die beschlossen hat,
nicht zu regieren. Selbst Monika Knoche, Mitglied Ihrer
Fraktion, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass der
Linkspartei die Vision einer ökologisch-sozialen Erneue-
rung fehlt. Das ist sehr präzise ausgedrückt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ernst das
Wort.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Liebe Kollegin Bender, zwei Bemerkungen.
Erstens. Sie sprachen von einem Beitragssatz zur
Rentenversicherung in Höhe von 28 Prozent.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja! Das sagen Sie doch selber auch im-
mer!)
Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass diese
28 Beitragssatzpunkte schon heute zu zahlen sind. Zählt
man die private Versicherung, die jeder Einzelne ab-
schließen muss, um seinen Lebensstandard einigerma-
ßen zu sichern, hinzu, liegt der Beitragssatz eines Arbeit-
nehmers gegenwärtig nicht bei unter 10 Prozent, sondern
bei ungefähr 16 Prozent. Berücksichtigt man dann noch
den Arbeitgeberbeitrag, ist man sehr schnell bei einem
Beitragssatz von 28 Prozent. Im Jahre 2030 werden wir
einen Beitragssatz in dieser Größenordnung erreichen.
Insofern bitte ich Sie, sich, bevor Sie Zahlen anführen,
mit der Frage zu befassen, wie hoch die Belastung der
Arbeitnehmer bereits heute ist. Dann würden Sie näm-
lich zu anderen Ergebnissen kommen.
Zweitens. Sie haben gesagt, unser Weltbild sei sehr
einfach. Ich nehme zur Kenntnis, dass durch die Politik
Ihrer Regierung, die auch Sie zu verantworten haben, die
Spaltung unserer Gesellschaft größer geworden ist, die
Armut in diesem Lande zugenommen hat und die Sozial-
systeme heutzutage nicht mehr die Rolle spielen können,
die sie in der Vergangenheit gespielt haben. Sie haben
sie nämlich geschliffen, insbesondere im Rahmen der
auch von Ihnen zu verantwortenden Hartz-Gesetze.
Ich sage Ihnen: Mein Weltbild ist – da haben Sie recht –
in der Tat sehr einfach:
(Waltraud Lehn [SPD]: Ja! Das stimmt aller-
dings!)
In einem Land, das eines der reichsten Länder der Welt
ist, muss es allen Menschen gut gehen. In einem solchen
Land darf es nicht nur denjenigen gut gehen, die Ein-
künfte aus Unternehmertätigkeit, Vermögen und Aktien-
besitz beziehen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was man sich
von so einem braungebrannten Klassenkämp-
fer alles anhören muss! Erstaunlich!)
Die Grünen haben sich von ihren ursprünglichen Positio-
nen verabschiedet. Es ist sehr bemerkenswert, dass ge-
rade Sie zum Schluss Ihres Redebeitrags eine Aussage
von Frau Knoche angeführt haben, da Frau Knoche die
Grünen aus genau diesem Grunde verlassen hat.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Bender.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das war wieder einmal ein schönes Beispiel für die
Unseriosität Ihrer Argumentation.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
Es stimmt nicht, dass für den Beitragssatz zur Renten-
versicherung einschließlich der Riester-Rente schon
heute 28 Prozent fällig sind. Würden Ihre Vorschläge
umgesetzt, würde sich die Belastung der Beitragszahler
maßgeblich erhöhen. Das sagen Sie den Bürgern aber
nicht. Das, was Sie im Hinblick auf die Sozialversiche-
rung vorschlagen, ist das Gegenteil von Armutsbekämp-
fung.
Wir wollen, dass eine Garantierente eingeführt wird,
um die Entstehung von Armut zu verhindern. Wir wollen
darüber hinaus, dass eine Grundsicherung eingeführt
wird, die diesen Namen verdient und deren Sätze weit
über den jetzigen Hartz-IV-Sätzen liegen. Außerdem
wollen wir, dass anders mit den Menschen, die solche
Leistungen beziehen, umgegangen wird.
Man muss feststellen, dass bei einigen Reformen, die
wir, als wir an der Regierung beteiligt waren, mitgetra-
gen haben – dazu stehen wir –, Nachbesserungsbedarf
besteht.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aha! Dann reden
Sie doch mal darüber!)
Sie hingegen schlagen immer nur vor, eine Rolle rück-
wärts zu machen. Sie sagen nicht, wie viel die Umset-
zung Ihrer Vorschläge kosten würde und wer diese Kos-
ten zu tragen hätte, sondern tun so, als könne die
Rechnung immer an Dritte, die böse Kapitalisten sind,
weitergeleitet werden. So kann man dieses Land nicht fit
für die Zukunft machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Markus
Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist
wohl wahr! Die können das sowieso nicht!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25061
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(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Kurt Rossmanith für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Das Thema, über das wir heute diskutie-
ren, ist es in der Tat wert, diese Debatte zu führen. Der
Antrag der Linken hingegen – das war, wie immer, zu er-
warten – ist es natürlich nicht wert, behandelt zu werden.
Denn wer, wie wir es heute Morgen beim Kollegen Ernst
erlebt haben, nicht mit Fakten und nicht ehrlich debat-
tiert, sondern nur das Ziel verfolgt, demagogisch zu
agieren – so hat es die Kollegin Lehn beschrieben –,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, ja! Was ist
denn Ihr Vorschlag?)
der wird der Bedeutung dieser Thematik nicht gerecht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und der wird, lieber Kollege Ernst, vor allem auch den
Menschen in unserem Lande nicht gerecht. Um die Men-
schen muss es uns aber gehen. Denn von ihnen, den Bür-
gerinnen und Bürgern dieses Landes, wurden wir ge-
wählt,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir auch! Genau
wie Sie!)
um ehrlich und verantwortungsbewusst und nicht etwa
volksverdummend für sie und zum Wohl unseres Landes
tätig zu werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wer dies verneint, weiß entweder nicht, wovon er
spricht, oder er weiß sehr genau, wovon er spricht, und
will ausschließlich als Demagoge aktiv sein.
(Dirk Niebel [FDP]: Genauso ist es!)
Aus der Krise, in der wir uns im Moment befinden
und die durch die internationale Finanzkrise ausgelöst
wurde, ist inzwischen eine Wirtschaftskrise entstanden.
Dass diese Wirtschaftskrise auch Auswirkungen auf un-
sere Sozialversicherungssysteme hat, steht außer Frage.
Ich kann hier Franz Müntefering zitieren, der zu einer
anderen Thematik gesagt hat: Man muss nicht mehrere
Studien abgeschlossen haben, sondern es genügt die
Grundschule, egal ob im Sauerland, im Allgäu oder wo
auch sonst, um dies zu erkennen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Allgäu finde
ich gut!)
– Die Grundschulen im Allgäu sind hervorragend. Des-
halb sind die Leistungen der Allgäuer so gut.
Wir haben, wenn man es so nennen will, einen Schirm
gespannt. Sie sagen, wir wollten nur bei der Rente etwas
bewegen. Der Bund haftet aber auch bei der Kranken-
versicherung mit einem zinslosen Darlehen. Morgen
wird der Nachtragshaushalt mit einem Umfang von ins-
gesamt 4 Milliarden Euro in erster Lesung eingebracht,
um das Defizit, das in diesem Jahr bereits 2,9 Milliarden
Euro beträgt, auszugleichen. Wir haben schon längst ei-
nen Schirm – man kann es so nennen – für die Sozialver-
sicherungszweige gespannt; aber wir müssen im Auge
behalten, dass die Sozialversicherungssysteme nach der
Krise – wir alle sollten uns daran orientieren, die Krise
so schnell wie möglich zu überwinden – ohne Liquidi-
tätshilfen auskommen. Diese Systeme müssen sich sel-
ber tragen; das ist unser Bestreben, wir alle sollten unser
Handeln danach ausrichten.
Heute Morgen haben wir mit der deutsch-brasiliani-
schen Parlamentariergruppe sowie dem Vizeaußenminis-
ter und dem Botschafter Brasiliens gesprochen. Eines
der wesentlichen Themen war die internationale Krise:
Wie ergeht es Brasilien und dem lateinamerikanischen
Kontinent? Sie haben gesagt, sie seien natürlich davon
betroffen, nur komme das Wort „Krise“ bei ihnen nicht
vor; man müsse aus der aktuellen Situation das Beste
machen und schauen, wie man dieses Tal schnellstens
verlassen könne.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Man müsse – beide nannten diesen wesentlichen Punkt –
den Menschen Mut machen.
Wir haben von der Bevölkerung Verantwortung über-
tragen bekommen. Viele von uns streben an, am 27. Sep-
tember von den Bürgerinnen und Bürgern Verantwor-
tung für die nächsten vier Jahre übertragen zu bekom-
men. Wenn wir nur von der Krise reden und keine Ant-
worten wissen, wenn wir nicht Zuversicht geben und
sagen, dass wir alles tun, damit wir aus dem Tal heraus-
kommen, wer soll dann Mut machen?
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer, wenn
nicht wir?)
Das ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher
Punkt.
Es ist wichtig, die Kosten der Sozialsysteme so gering
wie möglich zu halten. Wir haben es in der Großen Ko-
alition seit 2005 geschafft, die Lohnzusatzkosten unter
40 Prozent zu senken. Wir müssen dafür Sorge tragen,
dass es so bleibt. Deshalb sind Anträge wie jene, die Sie
von der Fraktion der Linken stellen, in denen gesagt
wird, irgendjemand werde es schon bezahlen, mehr als
nur Effekthascherei; manch einer könnte sie als böswil-
lig bezeichnen, weil sie auf die niederen Instinkte der
Menschen abzielen. Ich muss Ihnen aber sagen: Die Bür-
gerinnen und Bürger in unserem Lande fallen auf Ihre
Versprechungen nicht herein. Die Menschen in unserem
Land sind sehr intelligent und wissen ganz genau, wer
was tut, wer ehrliche Arbeit, einen Beitrag zur Überwin-
dung dieser schwierigen Situation leistet. Einen solchen
Beitrag leisten Sie mit Sicherheit nicht.
Morgen werden wir, was die Rentenversicherung an-
belangt, Änderungen am Sozialgesetzbuch IV beschlie-
ßen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die
Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande in wenigen
Tagen, am 1. Juli, höhere Rentenleistungen erhalten wer-
den: In den alten Bundesländern steigt die Rente um
2,41 Prozent, in den neuen Bundesländern um 3,38 Pro-
25062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Kurt J. Rossmanith
zent. Das ist die höchste Rentensteigerung seit über
zehn Jahren.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
LINKE]: Das letzte Mal war 2002!)
Das Einkommen, das den Rentnerinnen und Rentnern
zur Verfügung steht, wird durch diese Erhöhung um
5,6 Milliarden Euro steigen.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
LINKE]: Was ist mit der Aussetzung des
Riester-Faktors?)
Wir müssen bei dieser Diskussion – das wurde heute
nur kurz gestreift, vom Kollegen Kolb und von der Kol-
legin Lehn – bedenken: Zu bezahlen haben das die Men-
schen in diesem Lande, die arbeiten.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist doch eine
Binsenweisheit! Ihre Vorschläge genauso!)
Das Steueraufkommen fällt nicht wie Manna vom
Himmel, die Steuern wollen gezahlt werden. Die Frau
Kollegin Bender hat dargestellt, wer alles Steuern zu
zahlen hat. Dafür tragen wir Verantwortung.
Versprechungen in Hülle und Fülle abzugeben, ist
leicht. Doch wer politische Verantwortung trägt, weiß:
Es geht darum, verantwortungsvoll mit der Schaffens-
kraft, mit der Leistung der Bürgerinnen und Bürger um-
zugehen, damit unser Land aus der Situation, in der wir
uns im Moment befinden, herauskommt. Gemeinsam
müssen wir diese Krise überwinden, wir, die Politik, und
ihr, liebe Bürgerinnen und Bürger, mit eurem Fleiß und
eurer Leistungsbereitschaft, aber auch mit Mut und Zu-
versicht. So sollte es auch in Zukunft sein.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich bedanke mich auch bei denjenigen – es sind ja nicht
mehr allzu viele –, die mich in diesem Parlament
29 Jahre ertragen haben; denn ich gehe davon aus, dass
dies heute meine letzte Rede sein wird.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie soll das
ohne dich gehen, Kurt?)
– Der Politik, lieber Heinz Kolb, werde ich verbunden
bleiben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir kommen im
Allgäu vorbei!)
Ich werde dem einen oder der anderen, wenn gewünscht,
Ratschläge geben. Ein bisschen Berlin, dieses Zigeuner-
leben zwischen Bayern und Berlin
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU,
der SPD und der FDP – Dr. Peter Ramsauer
[CDU/CSU]: Protest!)
werde ich weiter in Kauf nehmen.
Herzlichen Dank, und Ihnen alles Gute und Gottes
Segen!
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Rossmanith, Sie gehören diesem Haus
nun fast 30 Jahre an und haben in diesen fast 30 Jahren
im Parlament ganz unterschiedliche Funktionen wahrge-
nommen, auch an führender Stelle, viele Jahre davon im
Haushaltsausschuss, mit einer enormen Arbeitsbelas-
tung. Ich möchte Ihnen dafür sehr herzlich danken und
Ihnen für das weitere Arbeiten – in Berlin oder wo auch
immer – alles Gute wünschen.
(Beifall)
Nun hat das Wort der Kollege Heinz-Peter Haustein
für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Der Antrag der Linken trägt den Titel
„Staatsgarantie für die Sozialversicherungen – Schutz-
schirm für Menschen“. Das ist pure Polemik; denn im
ersten Moment könnte man meinen, dieser Antrag sei
nichts Schlechtes.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber dieser Mo-
ment ist sehr kurz!)
Gestern war der 17. Juni, sodass wir hier der Opfer
des Volksaufstandes in der DDR gedacht haben. Damals
ging es mit Panzern gegen Demonstranten, eiskalt. Ich
habe gestern das Stasigefängnis Hohenschönhausen be-
sucht und mir mit Herrn Kürschner angeschaut, was dort
abgegangen ist. Da wurden Leute dafür, dass sie zwei
Spiegel-Artikel bei sich hatten, zu fünf Jahren Gefängnis
verurteilt.
Dabei habe ich an die Linke gedacht. Die Linke ist die
Nachfolgepartei der SED. Sie hat nach wie vor das
gleiche geistige Element wie damals diese Leute: Marx,
Engels, Lenin,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrü-
cken] [DIE LINKE]: Kennen Sie den Unter-
schied zwischen den Blockparteien und den
Liberalen? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ich
komme aus Bayern!)
Klassenkampf pur, Verstaatlichung, Gleichschaltung,
Maulkorb. Sie sitzen heute hier im Bundestag, dank un-
serer Demokratie.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Und da reden Sie von Schutzschirmen! Von Schutzschir-
men verstehen Sie nichts, von Schutzwällen, von Mau-
ern und Stacheldraht – Sie haben die Mauer ja als „anti-
faschistischen Schutzwall“ bezeichnet – dagegen schon.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Wer Schutzschirme fordert, baut auch Schutz-
wälle! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: Ganz große Geschütze haben Sie da
herausgeholt!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25063
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Heinz-Peter Haustein
Das muss man sich einmal durch den Kopf gehen lassen.
Deshalb ist Ihr Antrag untauglich und einfach nur
schlimm.
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die Bankenrettung
habe lediglich der Sicherung der Rendite von vermögen-
den Menschen gedient. Das ist falsch. Es ging um den
Schutz der Spareinlagen, der kleinen Sparer und der
Leute insgesamt und nicht um einen Schutz für vermö-
gende Anleger, was hier immer wieder behauptet wird.
Sie betreiben hier Demagogie, und das lässt sich auch
nicht mehr ändern.
Von einem funktionierenden Bankensystem profitie-
ren wir alle.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Kurt J.
Rossmanith [CDU/CSU])
Wir als FDP
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Besonders!)
haben dem zugestimmt, weil wir etwas für unser Land
übrig haben, weil wir Patrioten sind und unser Land lie-
ben. Es war richtig, diesem Bankenrettungspaket, das
ein Rettungspaket für die Spareinlagen der Menschen
war, zuzustimmen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
des Abg. Joachim Poß [SPD])
Ihre Idee funktioniert nicht; das wurde ja weltweit
durch diesen Feldversuch des Sozialismus gezeigt. Ir-
gendwann haben die Menschen Freiheit verlangt, und
durch die Pleite des Staates – auch rein wirtschaftlich
zum Ende der DDR-Zeit – wurde einfach bewiesen: Das
funktioniert nicht.
(Beifall bei der FDP)
Wir als FDP fordern, dass die Lohnnebenkosten im
Rahmen bleiben. Besser wäre es, wenn man sie senken
würde; denn wer bringt die Steuern letztlich auf?
(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen die Kranken-
kassen abschaffen!)
Das sind die Menschen, aber vor allem der Mittelstand.
Gerade dieser Mittelstand wird bei uns hier im Lande
stiefmütterlich behandelt.
(Beifall bei der FDP)
Die Lohnnebenkosten, durch die er immens belastet
wird, sind nicht so sehr gesenkt worden, wie immer be-
hauptet wird; denn bei diesen unter 40 Prozent wird von
unseren Kollegen der Großen Koalition ja einiges ver-
gessen.
Wir setzen genau bei der Mitte, beim Mittelstand,
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Beim
Mittelmaß!)
an und sagen: Das Sozialste überhaupt und das beste So-
zialsystem ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dafür
stehen und kämpfen wir.
(Beifall bei der FDP – Volker Schneider [Saar-
brücken] [DIE LINKE]: Darin war die FDP ja
sehr erfolgreich! – Gegenruf des Abg. Dirk
Niebel [FDP]: Von uns reden zwei Unterneh-
mer, die wissen, wie man Arbeitsplätze
schafft!)
Wenn jemand kränkelt, dann braucht er Arzneien und
Vitamine. Das beste Vitamin für einen kränkelnden
Menschen und für diese Wirtschaft ist ein einfaches,
niedriges und gerechtes Steuersystem. Das Wort „ein-
fach“ muss einmal unterstrichen werden. Solange noch
90 Prozent aller Steuergesetze hier in Deutschland gel-
ten, ist doch etwas falsch.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Schon durch eine Vereinfachung des Steuersystems
würde mehr Geld in die Kasse gespült werden. Wenn wir
unser Steuerkonzept durchbringen werden, dann bedeu-
tet das ja nicht, dass es insgesamt weniger Steuereinnah-
men gibt. Man muss die Leute nur motivieren und ihnen
wieder Lust auf Arbeit machen, und man muss den Un-
ternehmen wieder Lust machen, etwas zu unternehmen,
und darf sie nicht gängeln.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Liebe Freunde, in 101 Tagen haben Sie die Möglich-
keit, darüber abzustimmen. In diesem Sinne ein herzli-
ches Glückauf aus dem Erzgebirge.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Dr. Harald Terpe
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPD-
Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Anton Schaaf (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
was ist es denn anderes als eine Staatsgarantie, wenn wir
jährlich Steuergelder in Höhe von 80 Milliarden Euro in
die Rentenkasse einzahlen, damit die Renten, die Ren-
tenleistungen und all das, was damit verbunden ist,
monatlich an die Rentnerinnen und Rentner ausgezahlt
werden können? Was ist es denn anderes als eine Staats-
garantie, wenn man diese 80 Milliarden Euro nicht über
Beiträge, sondern als Sozialstaat über Steuern finanziert?
Es ist natürlich eine Staatsgarantie, dass die Renten und
die Leistungen, die damit verbunden sind, jeden Monat
garantiert werden. Was ist das denn sonst?
Was ist es denn anderes als eine Staatsgarantie, wenn
zur Finanzierung des Gesundheitsfonds steigende Steu-
ergelder zur Verfügung stehen, damit es für die Men-
schen bezahlbar bleibt? Was ist es denn anderes als eine
Staatsgarantie, wenn man so etwas tut?
Was ist es denn anderes als ein gesetzlich verbriefter
Leistungsanspruch, der sich aus den Arbeitslosenversi-
cherungsbeiträgen ergibt? Der Anspruch, der darin
steht, ist gesetzlich verbrieft. Ich brauche das im Deut-
25064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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schen Bundestag schlichtweg nicht noch einmal zusätz-
lich zu beschließen.
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Die SPD ist schon viel weiter als die
Linken!)
Was ist denn mit den Leistungen nach dem SGB II?
Selbstverständlich sind sie gesetzlich geregelt und für je-
den beanspruchbar. Sie sind nicht infrage gestellt. Ich
habe hier im Deutschen Bundestag keinen Antrag gese-
hen, mit dem die Leistungen nach dem SGB II oder an-
dere infrage gestellt werden. Was soll also dieser Antrag,
wenn der Staat seinen sozialen Verpflichtungen sowieso
nachkommt?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Von daher hat der eine oder andere Vorredner hier an
dieser Stelle wirklich absolut Recht. Sie machen hier
ohne jeden Zweifel etwas ganz Eindeutiges.
(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich
zu einer Zwischenfrage)
– Nein, Herr Ernst, ich lasse keine Zwischenfrage mehr
zu. Die Kollegin Bender hat nämlich völlig recht: Sie ha-
ben einen plakativen, nichtssagenden und überflüssigen
Antrag zu diesem Thema gestellt und schon viel zu viel
Redezeit über Ihre Fragen in Anspruch genommen. Von
daher beschränke ich mich hier auf das, was ich zu sagen
habe.
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
[CDU/CSU])
Dazu möchte ich kurz Herrn Kampeter ansprechen.
Herr Kampeter, wenn Sie sagen, dass der Arbeitsminis-
ter in der Frage, wie das Benchmarking bei der BA
noch verbessert werden kann – in der Tat ist noch einiges
zu tun, weil es um enorme Umstrukturierungsprozesse
geht, die ihre Zeit brauchen –, seiner Aufgabe nicht
nachgekommen ist, dann muss ich darauf hinweisen,
dass alle Vorschläge, die der Arbeitsminister gemacht
hat, zurzeit von der CDU/CSU blockiert werden.
(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So funktioniert
das also in der Koalition! Jetzt wundert mich
nichts mehr!)
Das muss man in aller Deutlichkeit sagen.
Ich habe heute Morgen schon wahrgenommen, wie
versucht wurde, den Bundesaußenminister zu kritisieren.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Rede macht
noch keinen Kanzler, Herr Kollege!)
Das wird wohl bis zum Ende der Legislaturperiode, die
nur noch eine Sitzungswoche umfasst, zum üblichen Stil
werden.
(Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie doch mal was
zum Wirtschaftsminister!)
Dann will ich aber etwas dazu sagen. Die sozialdemo-
kratischen Ministerinnen und Minister in der Bundesre-
gierung haben in der Frage, wie man diese Krise bewäl-
tigt – wofür es keine Blaupausen gibt –, ihre Arbeit
gemacht, zum Beispiel der Arbeitsminister mit dem Vor-
schlag zum Kurzarbeitergeld. Das war doch niemand
anders als der sozialdemokratische Arbeitsminister.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo sind denn die
großartigen Minister, Herr Schaaf? Fehlan-
zeige!)
Das Kurzarbeitergeld ist eine Erfolgsgeschichte gerade
dieser Republik. Weltweit wird abgefragt, wie wir Deut-
schen das mit dem Kurzarbeitergeld machen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich bin der festen Über-
zeugung – darin sind wir uns wahrscheinlich beide einig,
Herr Kampeter –, dass wir ohne unsere Regelungen zum
Kurzarbeitergeld über ganz andere Arbeitslosenzahlen
reden müssten als jetzt. Das ist doch wohl unbestritten
wahr.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Desinteresse
der Regierung spricht Bände!)
Weil es mir wichtig ist, will ich etwas zu dem Schutz-
schirm sagen, der hier auch gefordert wird.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Den Schutzschirm
brauchen wir für die Steuerzahler!)
Man kann plakativ sagen: Wir brauchen einen Schutz-
schirm für die Menschen. Was aber heißt das konkret?
Ich meine, die erste und vornehmste Aufgabe ist der Ver-
such, zu verhindern, dass in dieser Krise massenhaft
Menschen arbeitslos werden. Arbeit zu sichern ist der
beste Schutzschirm, den wir den Menschen zurzeit bie-
ten können. Das ist für mich der zentrale Punkt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sie sind nämlich diejenigen, die die Beiträge aufbringen
und unsere sozialen Sicherungssysteme leistungsfähig
erhalten. Je mehr Arbeit es gibt und je mehr Menschen
eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ha-
ben, desto sicherer sind unsere sozialen Sicherungssys-
teme. Sie werden nicht durch plakative Anträge sicherer,
mit denen Sie Sozialleistungen ohne Ende versprechen,
sondern nur dadurch, dass es in diesem Land Arbeit gibt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dazu leisten Sie in keiner Weise einen Beitrag. Das ha-
ben andere getan, nämlich diese Regierung und die sie
tragende Koalition mit der Abwrackprämie, die ökolo-
gisch in der Tat beanstandet werden kann, aber arbeits-
marktpolitisch mit Sicherheit nicht.
Es waren sozialdemokratische Minister, die ein Kon-
junkturprogramm für die Kommunen aufgelegt ha-
ben, für das der Bund 10 Milliarden Euro investiert.
Wem nutzt dieses Konjunkturprogramm? Es nutzt den
kleinen und mittelständischen Unternehmen vor Ort und
sichert dort Arbeitsplätze. Das ist der Hintergrund. Das
ist der Schutzschirm für die Menschen in diesem Lande.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25065
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Anton Schaaf
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen brauchen wir Ihre Vorschläge dazu mit Si-
cherheit nicht.
Ob das alles letzten Endes ausreicht, kann in einer Art
Kaffeesatzleserei durchaus erst einmal bezweifelt wer-
den. Aber das eine oder andere hat schon gut gewirkt,
zum Beispiel die Kurzarbeit oder die Abwrackprämie.
Das kommunale Investitionsprogramm beginnt langsam
zu wirken und wird sicherlich auch noch seine nötigen
Erfolge zeitigen. Davon bin ich fest überzeugt.
Sie haben wieder einmal plakativ die 480 Milliarden
Euro für den Bankenrettungsschirm angesprochen. Dann
sollten Sie den Menschen auch sagen, dass der Schutz-
schirm für die Banken nicht nur irgendwelche Einlagen
der Aktionäre sichert – das ist nämlich in der Regel gar
nicht der Fall; da, wo wir unmittelbar helfen, gibt es
strenge Auflagen für die Hilfen –, sondern auch der öf-
fentlichen Hand, zum Beispiel der Kommunen oder der
Deutschen Rentenversicherung Bund. Hätten wir das al-
les vor die Wand fahren lassen, dann hätte das mit Si-
cherheit einen größeren volkswirtschaftlichen Schaden
zur Folge gehabt als den, den wir unter Umständen
– wenn man Kaffeesatzleserei betreibt – durch die
480 Milliarden Euro für Schutzmaßnahmen zu konsta-
tieren haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aus meiner Sicht ist es der Sache nicht angemessen, so
plakativ damit umzugehen.
Was die Hedgefonds angeht – auch das bringen Sie
immer wieder vor –, ist festzustellen, dass in diesem
Land einige wenige Hedgefonds ansässig sind: In der Tat
haben wir sie damals geöffnet. Das ist richtig. Der Druck
war enorm. Er ist übrigens nicht nur durch internationale
Finanzhaie oder Ähnliches auf Deutschland entstanden,
sondern auch von politischer Seite im Inland,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber nicht von
uns!)
und zwar durch die damalige Opposition.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber nicht von
uns!)
Die Regeln, die wir damit verbunden haben, sind aber so
stringent, dass es in Deutschland nur einige wenige
Hedgefonds gibt; in der City of London dagegen sind es
2 000. Das ist der zentrale Unterschied. Sie siedeln sich
bei uns weniger an. Man kann aber die internationalen
Finanzströme weniger kontrollieren; denn die sozialde-
mokratisch geführte Bundesregierung wurde damals in
Gleneagles durch Regelungen von beispielsweise den
Amerikanern und den Briten ausgebremst. Dass man das
nicht alleine machen kann, stellen wir jetzt fest.
Lassen Sie mich noch zwei Sachen ansprechen, die
mir wichtiger sind. In Bezug auf Arcandor liegt seit
Montag ein Ergebnis vor, das der ein oder andere poli-
tisch gewollt hat. Ich sage denen, die das Modell Insol-
venz präferiert haben und es mit der Aussage, dass Insol-
venz auch Chancen bedeutet, verbunden haben: Aus
meiner Sicht haben die jetzt eine herausragende und be-
sondere Verantwortung für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bei Arcandor. Ich fordere Sie auf, diese
wahrzunehmen.
(Beifall bei der SPD)
Ich weiß nicht, ob heute das Thema Bildung im Laufe
des Tages noch eine Rolle spielen wird. Deshalb möchte
ich einen kurzen Satz dazu sagen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dazu findet
gleich eine Aktuelle Stunde statt, Herr Kol-
lege!)
– Ich möchte es trotzdem ansprechen; denn in der Aktu-
ellen Stunde rede ich nicht. – Gestern haben weit über
200 000 junge Menschen für bessere Bildungschancen
und damit verbunden für bessere Zukunftschancen de-
monstriert.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Einen
Holzmann-Effekt können wir uns nicht noch
mal leisten!)
Man sollte das ernster nehmen, als das die eine oder an-
dere Ministerin gestern in der Kommentierung getan hat.
Wir nehmen die jungen Menschen ernst.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Sie ist
bereits überschritten.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Kollege,
Ihre Redezeit!)
Anton Schaaf (SPD):
Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. – Lieber
Kollege Ernst, ich möchte noch etwas ansprechen, das
mich in letzter Zeit bewegt hat, obwohl ich mich mit
dem Innenleben der Linken eigentlich weniger auseinan-
dersetze.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie können
doch jetzt keine neue Sache anfangen!)
Sie haben sich in den letzten Jahren hier bei fast jeder
Debatte als die Hüter der Arbeitnehmerschaft generiert.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Schaaf, achten Sie bitte auf die Rede-
zeit. Ein Satz ist vorbei.
Anton Schaaf (SPD):
Was ich zu meinem Bedauern feststelle, ist, dass die
Linke auf ihrer Landesliste alle Gewerkschafter abge-
semmelt hat und wir demnächst nur noch in der SPD Ge-
werkschafter haben werden.
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Bei der SPD ist aber auch einiges im
Gange bei der Listenaufstellung!)
25066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Hans-Joachim Fuchtel
für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
diese Diskussion nicht in der Öffentlichkeit stattfinden
würde, würde ich nicht noch einmal auf die Linke einge-
hen. Nachdem Sie aber versuchen, dieses Forum zu nut-
zen, will ich Ihnen jedoch sagen: Sie kommen mir so vor
wie manche Leute auf dem Fußballfeld.
(Dirk Niebel [FDP]: Hooligans heißen die!)
Manche Exemplare stehen dort am Strafraum und war-
ten, bis irgendwann der Ball kommt. Mit möglichst we-
nig Aufwand spielen sie dann den Ball ins Tor.
(Peter Friedrich [SPD]: Abstauber!)
Genau so verhalten Sie sich. Sie sind politische Abstau-
ber von der übelsten Sorte,
(Beifall bei der CDU/CSU)
und zwar deswegen, weil Sie die Leute mit Wissen und
Wollen verunsichern. Das tun Sie aber nicht aus Sorge
um die Leute, sondern um Ihr politisches Süppchen zu
kochen. Das ist das Motiv Ihres Handelns am heutigen
Tag.
(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE
LINKE]: Nur diffamieren, ohne jedes Argu-
ment! Das ist Ihr Stil!)
Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen nur sagen:
Dieses politische Süppchen ist versalzen. Die Koalition
braucht sich mit Sicherheit von Ihnen nicht sagen zu las-
sen, was im sozialen Bereich zu tun ist. Es wurde näm-
lich sehr viel getan.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Als Haushälter sage ich: Die Zahlen sprechen für sich.
Es stehen 303 Milliarden Euro zur Verfügung, von denen
annähernd die Hälfte für Soziales vorgesehen ist.
(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
– Wie soll denn das gehen? Ist ein Staat erst ein Sozial-
staat, wenn 100 Prozent oder sogar 150 Prozent des ge-
samten Geldes ausgegeben werden?
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Können Sie nicht
lesen? Es geht um die Garantie!)
– Herr Ernst, Sie reden nicht ernst; das muss ich Ihnen
sagen. Sie sollten lieber ruhig sein.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
Und Sie reden Quatsch!)
Viele Rentnerinnen und Rentner sind durch das Ge-
schwätz, das wir gerade gehört haben, wahrscheinlich
verunsichert.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Durch Ihre Poli-
tik!)
Ich möchte daher nun zur Sache kommen. In § 214
Abs. 1 Sozialgesetzbuch VI steht:
Reichen in der allgemeinen Rentenversicherung die
liquiden Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage nicht
aus, die Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen, leistet
der Bund den Trägern der Rentenversicherung der
Arbeiter und der Angestellten eine Liquiditätshilfe
in Höhe der fehlenden Mittel (Bundesgarantie).
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Hier ist die Garantie im Gesetz gesichert. Als Ihre
Vorgänger, deren Geld Sie gerne genommen haben, um
dann im politischen Raum so aufzutreten wie heute,
noch nicht einmal an der Macht waren, gab es bereits
diese Regelung. Das stand schon in der Reichsversiche-
rungsordnung von 1911 und wurde dann übernommen.
Diese Regelung hat alles überlebt – zum Beispiel die
Währungsreform und die Rentenreform von 1957 – und
hat auch in der heutigen Zeit Bestand. Das ist die Wahr-
heit. Darauf können sich die Renterinnen und Rentner in
Deutschland verlassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das gilt auch für die Arbeitslosenversicherung, § 364
Abs. 1 des SGB III, oder die Krankenversicherung,
§ 271 Abs. 3 Satz 1 des SGB V. Überall gibt es die glei-
che Grundlage und herrscht Klarheit, dass dieser Staat
den Sozialstaat schützt, und zwar mit voller Macht, und
dafür sorgt, dass die Schwächeren in der Gesellschaft
auf jeden Fall unter dem Schutzschirm sind, der hier an-
gemahnt wird. Das ist das Wichtigste, das wir heraus-
stellen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wenn Sie eine ordnungspolitische Diskussion wollen,
kann ich nur sagen: Solange auf dem etwas erhöhten Sitz
eine Bundeskanzlerin Merkel sitzt, so lange werden wir
dem Sozialismus eine Absage erteilen, die Prinzipien der
sozialen Marktwirtschaft würdigen und sie auch nutzen,
um in der aktuellen Krise wieder zu Festigkeit zu kom-
men und für die Zukunft zu sorgen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Fuchtel, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Kolb?
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Ich bin es gewohnt, dass der Kollege versucht, – –
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD –
Zuruf von der CDU/CSU: Einen ganzen Satz,
bitte!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte, Herr Kollege Dr. Kolb.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25067
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Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ich darf den Satz vervollständigen: Sie sind es ge-
wohnt, dass der Kollege Kolb versucht, Licht in das
Dunkel zu bringen. – Stimmen Sie mir zu, dass die von
Ihnen beschriebenen Staatsgarantien so funktionieren,
dass in der Regel das Darlehen im Laufe des Jahres ge-
währt wird, dass es aber schon im nächsten Jahr zurück-
gezahlt werden muss – in der Krankenversicherung erst
ab 2011 – und dass dafür die Sozialversicherungsbei-
träge angepasst werden müssen, dass diese Garantien
also nicht kostenlos sind, sondern nur eine vorüberge-
hende Liquiditätshilfe darstellen?
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Lieber Herr Kollege Kolb, wir waren schon zusam-
men in einer Koalition. Damals haben Sie das alles wun-
derbar gefunden und mitgetragen. Sie wollen doch nicht
behaupten, dass Sie das künftig nicht mehr mittragen
würden, wenn Sie wieder einmal in der Regierung sein
sollten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Es geht um die Frage „kostenlos oder nicht?“!)
– Mehr braucht man dazu vielleicht nicht zu sagen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es sollte Ja hei-
ßen!)
Opportunismus muss man auf allen Seiten etwas Einhalt
gebieten, auch aufseiten der FDP, die ansonsten heute
schon sehr Richtiges gesagt hat.
Ich möchte die letzte Minute, die mir verbleibt, nut-
zen, um der Kollegin Lehn für ihre Arbeit zu danken.
Sie war in den letzten Jahren mein Kontrapart in dieser
Koalition. Sie scheidet nun nach 15 Jahren aus dem Bun-
destag aus. Soweit ich mit ihr zusammenarbeiten durfte,
hat sie immer gezeigt, dass sie eine Sozialpolitikerin mit
Augenmaß ist – sie hat zehn Geschwister –, die das
Handwerkszeug von der Pike auf gelernt hat. Wir haben
gespürt, dass ihr soziales Engagement von Herzen kam.
Alles Gute, liebe Waltraud!
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Lehn, wie ich gerade höre, kandidieren
Sie nicht mehr. Ich möchte Ihnen ganz herzlich für Ihr
Engagement in vier Legislaturperioden danken. In die-
sen Jahren haben Sie engagiert in den Ausschüssen und
im Plenum mitgearbeitet. Herzlichen Dank! Alle unsere
guten Wünsche begleiten Sie.
(Beifall)
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Peter Friedrich für die SPD-Fraktion.
Peter Friedrich (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann leider mit keinem Onkel Otto und keiner Tante
Käthe dienen. Insofern werden wir noch eine Weile auf
einen Ersatz für Waltraud Lehn warten müssen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie wird uns
wirklich fehlen! Das kann ich Ihnen schon
jetzt sagen!)
Ich will nur zu dem Fußballvergleich eines anmerken,
Herr Fuchtel. Auch mit meinen eingeschränkten fußbal-
lerischen Fähigkeiten bin ich mir bewusst, dass Abstau-
bertore auch zählen. Deswegen ist es notwendig, sich in
der Sache mit dem auseinanderzusetzen, was von der
Linken eben vorgetragen wurde.
Der wesentliche soziale Schutz für die Menschen in
Deutschland ist, dass Menschen füreinander einstehen,
dass Menschen für Menschen da sind, dass es organi-
sierte Solidarität gibt. Es geht eben nicht um abstrakte
Gruppen, sondern darum, dass Menschen füreinander
einstehen.
(Beifall bei der SPD)
Dieses Grundprinzip hilft uns jetzt. Schauen wir uns die
Auswirkungen der Krise in anderen Ländern an. Herr
Kolb, Sie sollten hier in Ihrer Argumentation der Red-
lichkeit halber hinzufügen, wozu Ihre Vorstellungen von
Sozialstaatlichkeit in der Krise führen. Das können wir
in den Ländern beobachten, die auf eine reine Kapital-
deckung umgestellt haben. Daran sieht man, dass der
Schutz durch die sozialen Sicherungssysteme, auf den
etwa Rentner, Kranke und Arbeitslose angewiesen sind,
nur durch die unmittelbare Solidarität von Menschen
füreinander gewährleistet werden kann.
(Beifall bei der SPD)
Wenn man sich mit dem Antrag der Linksfraktion
auseinandersetzt, stellt sich die Frage: Was meinen Sie
eigentlich mit Staatsgarantie? Ist das irgendetwas Ab-
straktes? Sind denn die Menschen, die sich Leistungsan-
sprüche selber erarbeitet haben, mit Bürgschaften zufrie-
den? Sicherlich nicht. Schauen wir uns doch die einzel-
nen sozialen Sicherungssysteme an. Faktisch gibt es
diese Staatsgarantie dadurch, dass die Menschen ver-
briefte Ansprüche gegenüber den Sozialversicherungen
haben und dass wir hier im Plenum, in den Sozialversi-
cherungen und in der Selbstverwaltung dafür verant-
wortlich sind, eine ausreichende Finanzierung zu ge-
währleisten. Das ist ein permanenter Prozess politischer
Gestaltung, nicht eine abstrakte Regelung in Form eines
Briefes, der über die Theke geschoben wird.
(Beifall bei der SPD)
In Ihrer Begründung greifen Sie ausgerechnet das
Thema Gesundheit auf. Man kann der Konstruktion des
Gesundheitsfonds einiges vorwerfen.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
Aber was man dem Fonds sicher nicht vorwerfen kann,
ist eine fehlende Garantie für die Einnahmen der Kran-
kenkassen. Ich möchte gerne wissen: Wie wäre denn die
Situation der großen Versorgerkassen ohne die garantier-
ten Einnahmen des Fonds? Das Spektrum der Beitrags-
sätze ginge munter auseinander, und es käme zu Wande-
25068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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Peter Friedrich
rungsbewegungen. Ob die Steigerungen der Ausgaben
bei Krankenhäusern, Ärzten und Arzneimitteln zu ver-
kraften wären und ob die Versorgung gewährleistet wäre,
scheint mir äußerst fraglich. Deswegen halte ich es für
völlig falsch, als Begründung gerade den Gesundheits-
fonds anzuführen.
Ihnen geht es im Kern gar nicht um Staatsgarantien.
Sie möchten vielmehr den Schutzschirm, den wir über
dem Finanzmarkt aufgespannt haben, gegen die Frage
der sozialen Sicherung ausspielen. Darum geht es Ihnen
tatsächlich. Ich habe versucht, mitzuzählen: Mindestens
zwölfmal ist aus Ihren Reihen „480 Milliarden für die
Banken!“ gerufen worden.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)
Sie spielen die Anleger und Arbeitnehmer gegen die
Leistungsempfänger aus, die auf Leistungen angewiesen
sind. Genau das machen Sie: Sie spielen die Menschen
gegeneinander aus.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Rentnerin, die ihren Notgroschen bei einer Bank
angelegt hat und jetzt auf dieses Geld angewiesen ist –
ist das kein Mensch? Der Schüler, für den die Tanten und
Onkel eine Ausbildungsversicherung abgeschlossen ha-
ben, die wir mit absichern – ist das etwa kein Mensch?
Der Handelsvertreter, der eine Kapitallebensversiche-
rung abgeschlossen hat, weil er bei Wind und Wetter und
auch nachts durch die Landschaft fahren muss – ist das
etwa kein Mensch? Die Krankenschwester, die eine Be-
rufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen hat und de-
ren Versicherung das Geld auch bei Hypo Real Estate
angelegt hat – ist das etwa kein Mensch? So kann man
nicht miteinander umgehen. Hören Sie auf, so zu tun, als
würden die einen in Plüsch gebettet und hätten die ande-
ren die Lasten alleine zu tragen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Sie gehen aber noch weiter und beziehen sich auch
auf das Konjunkturprogramm. Ich frage Sie: Der Stu-
ckateurgeselle, der jetzt durch die Gebäudesanierungs-
programme einen Auftrag hat – ist das nicht jemand, um
dessen Arbeitsplatz wir uns bemühen sollten? Die
473 mittelständischen Betriebe, die jetzt einen Kredit
von der KfW als Absicherung erhalten haben – sind das
nicht Arbeitsplätze, um die man kämpfen sollte? Der Ar-
beiter beim Automobilzulieferer, der von der Abwrack-
prämie profitiert, weil er jetzt aus der Kurzarbeit heraus-
kommt – ist das kein Mensch, für den es sich zu
kämpfen lohnt? Sie stellen das in Ihrem Antrag ganz be-
wusst gegeneinander. Das ist zynisch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es ist genau der gleiche Zynismus, wenn die Arcandor-
Pleite im CDU-Vorstand als politischer Erfolg gefeiert
wird. Beides ist zynisch.
Es geht darum, dass wir um jeden Arbeitsplatz kämp-
fen, sei es mit einem Bankenrettungsschirm, sei es mit
einem Fonds für notleidende Unternehmen, die von der
Krise betroffen sind, sei es durch Steuerzuschüsse, mit
denen wir dafür sorgen, dass die Sozialversicherungssys-
teme sicher sind. Es wurde schon mehrfach erwähnt:
Wenn Sie sehen, wie viel Geld wir aus dem Bundeshaus-
halt in die sozialen Sicherungssysteme hineinpumpen
und auch noch hineinpumpen werden, dann macht das
deutlich, dass es ein Rettungssystem auf Steuerbasis
längst gibt. Es funktioniert jeden Tag, und zwar schon
seit vielen Jahren.
Wir werden weiter daran arbeiten müssen, die Steuer-
finanzierung auszuweiten. Bei der Krankenversicherung
machen wir es bereits. Wir werden auch weiterhin die
Renten mittels einer Steuerfinanzierung vernünftig absi-
chern. Deswegen ist der Steuersenkungswettlauf, der
zwischen CDU/CSU und FDP ausgebrochen ist, wirk-
lich eine Gefahr für die soziale Sicherheit in diesem
Land.
(Beifall bei der SPD)
Wenn man auf der einen Seite beschließt – wir haben
mitgestimmt, und auch ich bin dafür –, die Schulden zu
begrenzen, dann kann man auf der anderen Seite nicht
das bewusste Ausbluten des Staates in Kauf nehmen und
gleichzeitig den Menschen soziale Sicherheit verspre-
chen. Das passt nicht zueinander.
(Beifall bei der SPD)
Eine der wesentlichen sozialen Fragen – darauf wurde
schon hingewiesen – haben Sie in Ihrem Papier über-
haupt nicht erwähnt. Die wesentliche soziale Frage ist
doch, wie es mit dem Bildungsland Deutschland weiter-
geht. Das ist die zentrale Frage, wenn es darum geht, wie
wir jedem Menschen eine Chance eröffnen können, dass
er eigenständig für sich selbst sorgen kann. Ich bin für
einen Sozialstaat, der die Menschen gegen die großen
Risiken des Lebens absichert, aber dieser Sozialstaat
muss die Menschen dazu befähigen, wieder eigenständig
werden zu können. Sie haben ein Verständnis von Sozi-
alstaat, der ausschließlich aus Opfern besteht. Für diese
sind Sie zuständig – darin besteht die Arbeitsteilung –,
bei allem anderen, zum Beispiel wie das Sozialprodukt
erwirtschaftet werden soll, halten Sie sich fein heraus.
Wir brauchen Investitionen in Bildung, um die Wirt-
schaftskraft in Deutschland überhaupt zu erhalten und
das Niveau der sozialen Sicherung auf Dauer zu gewähr-
leisten. Wir brauchen eine soziale Sicherung, die alle
einschließt. Deshalb geht es um Bürgerversicherung, um
Bildung und um die Rettung von Arbeitsplätzen da, wo
es uns möglich ist.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12857 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25069
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss,
die Fraktion Die Linke wünscht die Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wir stimmen zu-
nächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion
Die Linke ab, das heißt Federführung beim Ausschuss
für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Dann ist der Überweisungsvorschlag mit großer Mehr-
heit abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD ab, das heißt
Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gro-
ßer Mehrheit angenommen.
Nun kommen wir zu einer Reihe von Abstimmungen,
bei denen ich Sie um Konzentration bitte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 66 a bis 66 g und
67 y sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h auf:
66 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz (Herborn), Kerstin Andreae, Christine
Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Innovationskraft von kleinen und mittleren
Unternehmen durch steuerliche Förderung ge-
zielt stärken
– Drucksache 16/12894 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Sonderstellung der Bundeswehr an
Schulen
– Drucksache 16/13060 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsverletzungen durch Unterneh-
men verhindern
– Drucksache 16/13180 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Bettina Herlitzius, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Standards für die Abgasuntersuchung
einführen
– Drucksache 16/13181 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Auch Verletztenrenten früherer NVA-Angehö-
riger der DDR anrechnungsfrei auf die
Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen
– Drucksache 16/13182 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Wolfgang Bosbach, Norbert Barthle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dagmar Freitag, Swen
Schulz (Spandau), Dr. Peter Danckert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Max
Stadler, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Unterstützung der Bewerbung der Landes-
hauptstadt München zur Ausrichtung der
XXIII. Olympischen und XII. Paralympischen
Winterspiele 2018
– Drucksache 16/13481 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Stadtentwicklungsbericht 2008
– Drucksache 16/13130 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
25070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
67 y) Beratung des Antrags der Fraktionen FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfahren gegen Michail Chodorkowski be-
gleiten, Rechtsstaatlichkeit in Russland stär-
ken
– Drucksache 16/13371 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Fünf Jahre Karenzzeit für Mitglieder der
Bundesregierung
– Drucksache 16/13366 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Arbeitslosengeld I in der Krise befristet auf
24 Monate verlängern
– Drucksache 16/13368 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Gisela Piltz, Dr. Max Stadler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verbot des Vereins „Hilfsgemeinschaft für na-
tionale politische Gefangene und deren Ange-
hörige“ prüfen
– Drucksache 16/13369 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Unschuldsvermutung muss auch im Arbeits-
recht gelten – Verdachtskündigung gesetzlich
ausschließen
– Drucksache 16/13383 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Kai Gehring, Irmingard Schewe-
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für einen Nationalen Aktionsplan gegen Ho-
mophobie
– Drucksache 16/13394 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Renate Künast, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bahnanbindung für den Flughafen Berlin
Brandenburg International optimieren und
beschleunigen
– Drucksache 16/13397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Tourismus
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kein Genmais-Anbau gegen den Willen der
Bürger in der EU
– Drucksache 16/13398 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Birgitt Bender, Christine
Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches An-
legerschutzniveau überwinden
– Drucksache 16/13402 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte. Zunächst kommen wir zu
einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 66 a. Interfraktionell wird die
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen betreffend die steuerliche Förderung von kleinen
und mittleren Unternehmen auf Drucksache 16/12894 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25071
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Auch hier stimmen wir zunächst über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab,
das heißt Federführung beim Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gro-
ßer Mehrheit abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD ab, das heißt
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gro-
ßer Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisun-
gen, und zwar betreffend die Tagesordnungspunkte 66 b
bis 66 g und 67 y sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h. In-
terfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 67 a bis 67 i, k
bis x sowie z bis ii auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 67 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung des elektronischen Rechtsver-
kehrs und der elektronischen Akte im Grund-
buchverfahren sowie zur Änderung weiterer
grundbuch-, register- und kostenrechtlicher
Vorschriften (ERVGBG)
– Drucksache 16/12319 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13437 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Carl-Christian Dressel
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13437, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12319 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Beratung einstimmig angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 67 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Geschmacksmus-
tergesetzes
– Drucksache 16/12586 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13435 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Dirk Manzewski
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13435, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12586 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in dritter Bera-
tung angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu der Genfer Fassung vom 2. Juli 1999 (Gen-
fer Akte) des Haager Abkommens vom 6. No-
vember 1925 über die internationale Eintra-
gung gewerblicher Muster und Modelle
– Drucksache 16/12591 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13434 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Dirk Manzewski
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13434, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12591 an-
25072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Lesung auch in dritter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Beschlüssen vom 24. September 2004
zur Änderung des Rotterdamer Übereinkom-
mens vom 10. September 1998 über das Ver-
fahren der vorherigen Zustimmung nach In-
kenntnissetzung für bestimmte gefährliche
Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und
Schädlingsbekämpfungsmittel im internatio-
nalen Handel
– Drucksache 16/13110 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)
– Drucksache 16/13413 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Heinz Schmitt (Landau)
Angelika Brunkhorst
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13413, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/13110 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Ist jemand dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetiket-
tierungsgesetzes
– Drucksache 16/13112 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
– Drucksache 16/13374 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13374, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/13112 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Ist jemand dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu der Änderung des Überein-
kommens vom 25. Juni 1998 über den Zugang
zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteili-
gung an Entscheidungsverfahren und den Zu-
gang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten
(Erstes Aarhus-Änderungs-Übereinkommen)
– Drucksache 16/13115 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
– Drucksache 16/13401 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Gustav Herzog
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13401, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/13115 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig
angenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25073
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 67 g:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung
des Weingesetzes
– Drucksache 16/13158 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
– Drucksache 16/13420 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Gustav Herzog
Dr. Volker Wissing
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13420, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/13158 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 h:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frakti-
onen der CDU/CSU und der SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes über die Sicherung der Baufor-
derungen
– Drucksache 16/13159 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes über die
Sicherung der Bauforderungen
– Drucksachen 16/13345, 16/13376 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(15. Ausschuss)
– Drucksache 16/13415 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Hettlich
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/13415, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/13159 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis wie bei der zweiten Lesung.
Nun kommen wir zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über die Sicherung der Bauforderungen. Es
handelt sich um den gleichen Gesetzentwurf, allerdings
von der Bundesregierung eingebracht. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt un-
ter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13415, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksachen 16/13345 und 16/13376 für erle-
digt zu erklären. Gleichwohl müssen wir über diese Be-
schlussempfehlung abstimmen. Wer dafür ist, den bitte
ich um das Handzeichen. – Ist jemand dagegen? – Ent-
hält sich jemand? – Die Beschlussempfehlung ist ein-
stimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Rainer Brüderle, Martin Zeil, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Privatisierung öffentlicher Aufgaben zur Stär-
kung der sozialen Marktwirtschaft
– Drucksachen 16/7735, 16/10504 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/10504, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/7735 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 k:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt
25074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wirksame Begrenzung des CO2-Ausstoßes
neuer Personenkraftwagen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Bettina Herlitzius, Peter Hettlich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ambitionierte europäische Emissionsnor-
men für mehr Klimaschutz im Straßenver-
kehr
– Drucksachen 16/9307, 16/9105, 16/12728 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller (Chemnitz)
Michael Kauch
Lutz Heilmann
Hans-Josef Fell
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12728 die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/9307 mit dem Titel „Wirksame Begrenzung des
CO2-Ausstoßes neuer Personenkraftwagen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9105 mit
dem Titel „Ambitionierte europäische Emissionsnor-
men für mehr Klimaschutz im Straßenverkehr“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 l:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Grietje
Staffelt, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Medienkompetenz Älterer stärken – Die digi-
tale Kluft schließen
– Drucksachen 16/11365, 16/13070 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Jürgen Kucharczyk
Sibylle Laurischk
Diana Golze
Ekin Deligöz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13070, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11365 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 m:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Rainer Brüderle, Markus Löning,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Wettbewerbspolitik als Fundament der Sozia-
len Marktwirtschaft stärken
– Drucksachen 16/7522, 16/13147 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13147, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/7522 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 n:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
(Köln), Monika Lazar, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen
Rechtsextremismus gesetzlich schützen –
Rechtsprechung zur Verwendung von Kenn-
zeichen verfassungswidriger Organisationen
auswerten
– Drucksachen 16/3202, 16/13467 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Dr. Peter Danckert
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13467, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3202 für er-
ledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25075
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Tagesordnungspunkt 67 o:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Martin Zeil, Rainer Brüderle, Paul K.
Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Kompetenzen des Bundeskartellamts weiter-
entwickeln
– Drucksachen 16/8078, 16/13361 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Schultz (Everswinkel)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13361, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/8078 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthält sich jemand? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 p:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschaftsfreiheitsgesetz einführen –
Mehr Freiheit und Verantwortung für das
deutsche Wissenschaftssystem
– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
(Herborn), Kai Gehring, Grietje Bettin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wissenschaftssystem öffnen – Mehr Qualität
durch mehr verantwortliche Selbststeue-
rung und Kooperation
– Drucksachen 16/7858, 16/8221, 16/13356 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Kretschmer
René Röspel
Cornelia Pieper
Volker Schneider (Saarbrücken)
Priska Hinz (Herborn)
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13356 die Ableh-
nung des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/7858 mit dem Titel „Wissenschaftsfreiheitsgesetz
einführen – Mehr Freiheit und Verantwortung für das
deutsche Wissenschaftssystem“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthält sich
jemand? – Die Beschlussempfehlung ist damit bei Ge-
genstimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller
anderen Fraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8221 mit
dem Titel „Wissenschaftssystem öffnen – Mehr Qualität
durch mehr verantwortliche Selbststeuerung und Koope-
ration“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 q:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen,
Michael Kauch, Florian Toncar, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bi-
sexuellen und Transgendern in Deutschland
und weltweit schützen
– Drucksachen 16/12886, 16/13414 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Angelika Graf (Rosenheim)
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Josef Philip Winkler
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13414, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/12886 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist
damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie
der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 r:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Undine
Kurth (Quedlinburg), Bettina Herlitzius, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bundeswildwegeplan als Ergänzung zum Bun-
desverkehrswegeplan
– Drucksachen 16/7145, 16/9529 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg Vogelsänger
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9529, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7145 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
25076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 s:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einheitliches Stromnetz schaffen – Unabhän-
gige Netzgesellschaft gründen
– Drucksachen 16/9798, 16/11843 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11843, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9798 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 t:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Dr. Harald Terpe, Cornelia Behm, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Schutz vor Emissionen aus Laserdruckern,
Laserfax- und Kopiergeräten
– Drucksachen 16/5776, 16/12468 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller (Chemnitz)
Michael Kauch
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12468, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5776 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen sowie der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung
der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 u:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Ute
Koczy, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Korruptionsbekämpfung bei Hermesbürg-
schaften
– Drucksachen 16/11211, 16/13153 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Herbert Schui
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13153, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11211 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 v:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
(Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung einer Positivliste zur Haltung von
Tieren im Zirkus
– Drucksachen 16/12864, 16/13206 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Nicole Maisch
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13206, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12864 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und der FDP sowie bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 w:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Die gewerbliche Haltung von Mast- und
Zuchtkaninchen in Deutschland und der Eu-
ropäischen Union deutlich verbessern
– Drucksachen 16/12307, 16/13208 –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25077
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13208, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12307 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 x:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Thea Dückert, Sylvia Kotting-Uhl,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemein-
schaftsdiagnose und Begutachtung der ge-
samtwirtschaftlichen Entwicklung aufnehmen
– Drucksachen 16/11649, 16/13250 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Axel Berg
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13250, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11649 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 z:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Abstufung nicht mehr fernverkehrsrelevanter
Bundesfernstraßen
– Drucksache 16/13387 –
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 67 aa bis
67 ii; das sind die Beschlussempfehlungen des Petitions-
ausschusses.
Tagesordnungspunkt 67 aa:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 576 zu Petitionen
– Drucksache 16/13191 –
Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 576 ist damit einstim-
mig angenommen.
Tagesordnungspunkt 67 bb:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 577 zu Petitionen
– Drucksache 16/13192 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 577 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 67 cc:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 578 zu Petitionen
– Drucksache 16/13193 –
Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 578 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 67 dd:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 579 zu Petitionen
– Drucksache 16/13194 –
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Die
Sammelübersicht 579 ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 67 ee:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 580 zu Petitionen
– Drucksache 16/13195 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 580 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
25078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Tagesordnungspunkt 67 ff:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 581 zu Petitionen
– Drucksache 16/13196 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 581 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 gg:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 582 zu Petitionen
– Drucksache 16/13197 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthält sich
jemand? – Die Sammelübersicht 582 ist damit angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 67 hh:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 583 zu Petitionen
– Drucksache 16/13198 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Sammelübersicht 583 ist damit angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke.
Nun haben wir noch Tagesordnungspunkt 67 ii:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 584 zu Petitionen
– Drucksache 16/13199 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthält sich
jemand? – Die Sammelübersicht 584 ist damit angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich bedanke mich herzlich für die Konzentration und
die gute Begleitung bei diesen Abstimmungen.
(Ulla Burchardt [SPD]: Gute Leitung!)
Ich komme nun zum Zusatzpunkt 4:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Forderungen des bundesweiten Bildungs-
streiks ernst nehmen
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Cornelia Hirsch für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Cornelia Hirsch (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten Tagen waren weit über 200 000 Schülerin-
nen und Schüler, Auszubildende und Studierende auf der
Straße. Sie fordern mehr Geld für Bildung, selbstbe-
stimmtes Lernen, bessere Schulen und Hochschulen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Insbesondere in
Berlin!)
Die Linke sagt: Diese Bildungsstreikwoche ist schon
jetzt ein Erfolg; denn den Studierenden, den Schülerin-
nen und Schülern und den Auszubildenden ist das gelun-
gen, was die Placebo- und Sonntagsredenpolitik der Re-
gierung mit Bildungsreisen und Bildungsgipfeln nicht
vermocht hat, nämlich endlich Bewegung in die bil-
dungspolitische Debatte zu bringen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist längst überfällig. Wir brauchen eine grundle-
gende Bildungsreform.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da sind
wir mal auf Ihre Vorschläge gespannt!)
Die Linke hat diese Aktuelle Stunde beantragt, weil es
uns wichtig ist, dass die berechtigten Forderungen der
Jugendlichen nicht einfach verpuffen und nur zu neuen
Sonntagsreden führen, sondern ernst genommen werden.
Wenn wir uns die bisherigen Reaktionen anschauen,
so scheint dies leider wieder einmal nicht der Fall zu
sein. Ich beginne einmal mit den Reaktionen aus der
Union und allen voran der Bundesbildungsministerin
Annette Schavan, die bei dieser Debatte leider nicht an-
wesend ist. Sie sagt, diese Proteste seien zum Teil ges-
trig. Sie wirft den Studierenden vor, dass sie mit ihrer
Kritik am Bachelor- und Mastersystem den kompletten
europäischen Hochschulraum infrage stellen, was diese
doch nicht allen Ernstes tun könnten.
Liebe Regierung, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, aus unserer Sicht ist das, was die Minis-
terin tut, gestrig.
(Beifall bei der LINKEN)
Offensichtlich kennt sie die wahren Zustände an den
Hochschulen nicht. Sie sollte mehr vor Ort sein. Dann
würde sie sehen, dass alle zentralen Versprechungen des
Bologna-Prozesses gebrochen wurden.
Sie haben gesagt, es solle mehr Mobilität geben. Sie
haben gesagt, es solle eine bessere Lehre geben. Die Stu-
dierenden stellen nun ganz konkret fest, dass ihre Studien-
gänge unstudierbar werden, dass sie nach dem Bachelor
die Hochschule verlassen sollen und kein Masterstudium
mehr aufnehmen können, dass es weniger Qualität statt
mehr Qualität gibt und nicht einmal mehr ein Wechsel in-
nerhalb Deutschlands möglich ist. Das zeigt doch, dass
die Kritik berechtigt und notwendig ist. An dieser Situa-
tion muss sich etwas ändern. Die Regierung könnte etwas
mehr tun, als nur zu sagen, es handele sich um „gestrige“
Proteste.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25079
(A) (C)
(B) (D)
Cornelia Hirsch
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In eine ganz andere Richtung gehen die Reaktionen
aus der SPD.
(Ulla Burchardt [SPD]: Da bin ich jetzt ge-
spannt!)
Dort spricht man von Solidarität und Unterstützung für
diese Forderungen. An dieser Stelle müssen wir sagen:
Das ist zu einem großen Teil unglaubwürdig.
(Christel Humme [SPD]: Wo waren Sie die
letzten Jahre?)
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen, an
der Forderung „Mehr Geld für Bildung!“, was eine der
zentralen Forderungen der Streikenden ist. Mehr Geld
für Bildung – Sie sagen, dass Sie diese Forderung unter-
stützen. In der letzten Sitzungswoche haben wir hier
über die Föderalismusreform II abgestimmt. Die Schul-
denbremse ist auch mit den Stimmen Ihrer Fraktion im
Grundgesetz verankert worden.
(Ulla Burchardt [SPD]: Da verwechseln Sie
aber ein paar Dinge, liebe Kollegin! Ein biss-
chen grober Unfug war das!)
Diese Schuldenbremse bedeutet weniger Geld für Bil-
dung. Das haben sämtliche Sachverständigen in den An-
hörungen deutlich gemacht. Wir halten es für grundver-
kehrt, dass Sie sich hinstellen und sagen: „Schön, dass
ihr euch engagiert, wir unterstützen das, und ihr habt un-
sere Solidarität“, da Sie im konkreten politischen Han-
deln das Gegenteil machen.
(Beifall bei der LINKEN – Ulla Burchardt
[SPD]: Das hat Ihnen nicht gepasst!)
Wenn es Ihnen wirklich darum geht, mehr Geld für
die Bildung bereitzustellen, dann wären Forderungen
wie die, die die Linke aufgestellt hat, angebracht: eine
Gemeinschaftsaufgabe Bildungsfinanzierung, ein Natio-
naler Bildungspakt, mindestens 7 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts für Bildung bereitstellen. Das wären For-
derungen gewesen, denen Sie hätten zustimmen müssen,
anstatt eine weitere Runde bildungspolitischer Sonntags-
reden einzuleiten.
(Willi Brase [SPD]: Sie hätten beim BAföG
zustimmen sollen!)
Ein letztes Beispiel – darüber habe ich mich fast am
meisten amüsiert –: Stefan Müller, der nach mir spre-
chen wird, hat sich darüber mokiert, dass die Studieren-
den, die Auszubildenden, die Schülerinnen und Schüler
einfach nur im Park sitzen und vor den Karren linker Or-
ganisationen gespannt würden.
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist
doch so!)
Lieber Kollege, ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen,
sich so ein Bildungsprotestcamp einmal vor Ort anzu-
schauen. Dann würden Sie vielleicht erfahren, um was es
bei diesen Protesten auch geht, nämlich um eine emanzi-
patorischere Bildung, um ein selbstbestimmteres Lernen.
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wenn Sie
sich jetzt einmal selbstbestimmt hinsetzen
würden!)
Ich glaube, dass wir den Jugendlichen das durchaus zu-
trauen sollten und nicht nur davon ausgehen sollten, dass
Bildung nur dann erfolgreich ist, wenn man den Jugend-
lichen Wissensinhalte eintrichtert.
Die Linke findet es richtig, dass mit diesem Bildungs-
protest der Aufschlag gemacht wurde und dieser hier
ernst genommen wird. Wir wollen uns ernsthaft einen
Kopf darüber machen und nicht nur den Jugendlichen
auf die Schulter klopfen. Wir wollen ein Recht auf Bil-
dung für wirklich alle durchsetzen.
Besten Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Stefan Müller hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Hirsch, Sie haben uns vorgetragen, was
wir alle schon gewusst haben, nämlich das, was wir in
den letzten Tagen zu dem sogenannten Bildungsstreik
gesagt haben. Was Sie wollen, haben Sie uns leider vor-
enthalten.
(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Da haben Sie
nicht zugehört!)
Sie hätten lieber mehr zu Ihren Vorschlägen sagen sol-
len, als sich hier hinzustellen und etwas zu kritisieren,
was Sie selber mit angestiftet haben.
Ich finde es schon spannend, dass Sie und Ihre Ju-
gendorganisation Mitinitiatoren dieses sogenannten Bil-
dungsstreiks sind. Dann sagen Sie auch noch: Wenn
schon gestreikt wird, dann muss es besonders schlimm
sein, dann muss sich auch das Parlament damit beschäf-
tigen. Das finde ich wirklich sehr bemerkenswert.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Über Hunderttausende von Menschen!)
Das Thema dieser Aktuellen Stunde heißt: Forderun-
gen des bundesweiten Bildungsstreiks ernst nehmen. Ich
kann für die CDU/CSU-Fraktion sagen, dass wir alle
Anliegen ernst nehmen und wir es insbesondere ernst
nehmen, wenn Menschen für politische Anliegen kämp-
fen; ausdrücklich ja.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
LINKE]: Das liest sich aber ein bisschen an-
ders! – Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das hat
man nicht mitbekommen!)
Natürlich sind die Anliegen, die vorgetragen werden,
sehr vielschichtig. Man kann einzelne Punkte ja durch-
aus einmal durchgehen. Wenn es darum geht, kleinere
Klassen einzurichten und mehr Lehrer einzustellen, be-
steht volle Zustimmung. Natürlich muss an den Schulen
25080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Stefan Müller (Erlangen)
diesbezüglich noch viel passieren. Natürlich gibt es noch
Hausaufgaben, die die Bundesländer zu erledigen haben.
Sie sprachen Fehlentwicklungen im Bologna-Prozess
an. Ich glaube, wir können heute noch gar nicht abschlie-
ßend sagen, ob es Fehlentwicklungen gibt.
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Eben!)
Wenn sich nach zwei oder drei Jahren Fehlentwicklun-
gen herausstellen würden, würde doch niemand von uns
sagen, dass man diese nicht abstellen muss. Deswegen
muss man aber nicht das ganze System infrage stellen.
Das darf man nicht. Es geht nämlich in die richtige Rich-
tung. Wir brauchen auf europäischer und internationaler
Ebene eine Vergleichbarkeit. Das ist alternativlos.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zu den Studiengebühren. Ich respektiere, dass es zum
Thema Studiengebühren unterschiedliche Auffassungen
gibt. Eines glaube ich aber nicht: dass Studiengebühren
allein über Chancengerechtigkeit entscheiden. Wie es
um die Chancengerechtigkeit bestellt ist, entscheidet
sich viel früher, zum Beispiel im vorschulischen Be-
reich, und nicht erst bei der Aufnahme eines Studiums.
(Christel Humme [SPD]: Die Leute müssen
für die Studiengebühren arbeiten gehen!)
Im Übrigen macht es keinen Sinn, in Ländern, in denen
es gar keine Studiengebühren gibt, dagegen zu demon-
strieren.
Teilweise führen wir wieder einmal Debatten von vor-
gestern, auch in diesem Fall. All die Strukturdebatten,
die wir uns immer noch leisten, bringen uns überhaupt
nicht weiter, erst recht nicht in Ländern und Regionen, in
denen uns allein die demografische Entwicklung zwingt,
andere und neue Wege zu beschreiten. Wenn wir aber
immer nur Diskussionen über die Strukturen führen,
bringt uns das nicht weiter.
Jetzt komme ich auf die Forderung nach mehr Mitbe-
stimmung der Studierenden zu sprechen. Ich habe mit
mehr Beteiligung der Studierenden kein Problem. Aber
vielleicht sollten wir uns, bevor wir über noch mehr Mit-
bestimmung diskutieren, erst einmal näher mit der Frage
befassen: Warum ist die Beteiligung an Wahlen zu Stu-
dentenparlamenten in den meisten Fällen nicht höher als
30 Prozent?
Ich sage noch einmal: Wir, die CDU/CSU, nehmen
die Forderungen, die erhoben werden, ernst. Wir nehmen
auch ernst, dass auf Missstände aufmerksam gemacht
wird und gegen diese Missstände protestiert wird. Wer
konsequent ist, müsste aber auch auf einen ganz anderen
Missstand aufmerksam machen, der uns in diesen Tagen
ebenfalls beschäftigt. Ich zumindest frage mich: Warum
wird nicht kritisiert, dass Plätze an Berliner Gymnasien
künftig per Losentscheid vergeben werden?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Monika Grütters [CDU/
CSU]: Genau! Das ist völliger Unsinn!)
Auch mit diesem Thema sollten wir uns auseinanderset-
zen. Diese Regelung führt nämlich in die völlig falsche
Richtung. Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die
jetzt Bildungsstreiks initiieren, sich auch einmal zu die-
sem Thema äußern. Aber hier ist leider Fehlanzeige. Da-
ran wird deutlich, dass es Ihnen eher um politische Stim-
mungsmache und weniger um die Sache geht. Ich finde
das nicht in Ordnung. Im Gegenteil, ich finde, das ist un-
verantwortlich.
Frau Hirsch, Sie haben einige wesentliche Punkte an-
gesprochen. Dass das, was ich gerade gesagt habe – dass
es Ihnen nicht in erster Linie um die Sache geht –, richtig
ist, beweist ein Artikel in einer Streikzeitung, den Sie
verfasst haben. Darin heißt es – ich zitiere –, „dass die
Hochschulen einen erheblichen Beitrag für die Militari-
sierungspolitik der Bundesregierung und der NATO leis-
ten.“
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Was das mit Bildungspolitik zu tun haben soll, kann ich
nicht nachvollziehen.
(Widerspruch bei der LINKEN)
In einem anderen Artikel heißt es – ich zitiere noch-
mals –, „dass es nur einen Weg gibt, diese Übel“, ge-
meint ist der Kapitalismus, „loszuwerden, nämlich den,
ein sozialistisches Wirtschaftssystem zu etablieren …“.
Auch daran wird deutlich: Es geht Ihnen in erster Linie
um Klassenkampf, wobei allerdings keine Schulklassen
gemeint sind, sondern etwas ganz anderes. Das, was Sie
hier machen, ist ausschließlich politische Agitation. Das
wird der Sache nicht gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es gibt einige Begleiterscheinungen, die zu hinterfra-
gen sind. So heißt es in einem Aufruf zum Bildungs-
streik in Berlin in einem Veranstaltungshinweis – ich zi-
tiere noch einmal –:
Im Sommer sind Parks irgendwie tausendmal at-
traktiver als Schulen. Darum setzen wir uns lieber
in den Mauerpark. … Bringt alles mit, was für ei-
nen netten Streik-Tag im Park von Nutzen sein
kann.
Dass es in einem Park bei schönem Wetter schöner ist als
in der Schule, kann ich nachvollziehen. Dass es schöner
ist, bei schönem Wetter in einem Park zu sitzen als hier
in einer Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, zu re-
den, kann ich auch nachvollziehen. Hier tut allerdings je-
der von uns seine Pflicht. Allerdings fällt es mir schwer,
nachzuvollziehen, was das mit der Vertretung von Bil-
dungsinteressen zu tun haben soll.
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Jawohl!)
Die Liste solcher Beispiele ließe sich fortsetzen. So
ist zum Beispiel von geplanten Banküberfällen die Rede.
(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Ja! Heute!
Eine gute Aktion!)
Man sollte einmal darüber nachdenken, ob das vielleicht
sogar Straftaten oder schwere Eingriffe in die Rechte
Dritter sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25081
(A) (C)
(B) (D)
Stefan Müller (Erlangen)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Oh! Oh!)
Ich wiederhole: Wir nehmen die Anliegen der Studie-
renden ernst. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass ge-
rade diese Bundesregierung, diese Große Koalition, in
den letzten vier Jahren mehr für die Bildungspolitik ge-
tan hat als manch eine Regierung zuvor. Das wird im
Übrigen auch daran deutlich, dass wir alle die Fortset-
zung der Bund-Länder-Programme unterstützt haben.
Wir sollten sachorientiert darüber diskutieren, was sich
in der Bildungspolitik verändern muss, anstatt hier ir-
gendwelchen Zirkus zu veranstalten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt spricht Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Cornelia Pieper (FDP):
Sehr verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich glaube, wir sollten erst einmal festhalten, dass es be-
eindruckend ist, dass die Mehrheit der Schülerinnen und
Schüler und der Studierenden, die gestern auf die Straße
gegangen sind, in einer friedlichen Demonstration für
bessere Bildungsbedingungen in Deutschland eingetre-
ten sind.
(Beifall bei der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abge-
ordneten der CDU/CSU und der SPD)
Ich finde, das ist in einer demokratischen Gesellschaft
grundsätzlich anerkennenswert.
Natürlich haben wir in Deutschland immense Bil-
dungsmängel. Das wird uns immer wieder, nicht nur in
internationalen Studien, aufgezeigt. Natürlich gibt es
Schwierigkeiten – wir alle wissen das – bei der Umstel-
lung auf die neuen Studiengänge Bachelor und Master.
Wir müssen einfach feststellen, dass diese Debatte für
unser Land unverzichtbar ist. Ich halte es einfach für
wichtig, dass wir in den Parlamenten nicht nur Worte
machen, sondern endlich auch Taten folgen lassen, wenn
es um mehr Bildungsinvestitionen und um Entscheidun-
gen für mehr Freiheit der Hochschulen und Schulen in
diesem Lande geht.
Ich vermisse in diesem Hause das leidenschaftliche
Plädoyer der Bundesregierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Heute haben wir, wenngleich auf Antrag der Linken – ich
komme noch auf Sie zu sprechen –, eine Aktuelle Stunde
zum Bildungsstreik. Ich erwarte einfach, dass sich die
Bildungsministerin dazu äußert, erst recht hier im Hohen
Hause, wenn fast 200 000 junge Menschen draußen auf
der Straße stehen. Ich bedauere sehr, dass die Bildungs-
ministerin heute nicht da ist.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der SPD)
Frau Hirsch, Sie wettern hier gegen zu geringe Bil-
dungsinvestitionen. Die Linkspartei regiert in Berlin mit
und ist daher für den Bildungsabbau im Land Berlin mit-
verantwortlich. Wo waren Vertreter der Linkspartei aus
dem Berliner Senat gestern bei den Demonstrationen,
bei denen es um den Berliner Bildungshaushalt ging?
Die Opposition war da; Sie waren nicht dabei. Man
sollte nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im
Glashaus sitzt.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich glaube, dass sich dieses Thema nicht für ideologi-
sche Grabenkämpfe eignet. Wir sollten endlich damit
aufhören! Wir müssen dieses schablonenhafte Denken
überwinden. Ich halte aber auch nichts davon, dass diese
friedlichen Streiks für mehr Bildungsinvestitionen von
einigen linksradikalen Gruppen in Deutschland zur
Durchsetzung ihrer politischen Interessen missbraucht
werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
Das darf auch nicht sein.
Ich halte es für ein Zeichen mangelnden Geschichts-
verständnisses, wenn radikale Gruppen während der
Ausstellung zum Arbeiteraufstand des 17. Juni den
Landtag in Mainz stürmen, wenn die FU in Berlin be-
setzt wird, es dabei letztendlich zu Vandalismus kommt
und Gelder zur Verfügung gestellt werden müssen, um
die Schäden zu beheben, die dann für Investitionen in
Bildung und Forschung fehlen. Das ist nicht die De-
monstration für eine bessere Bildungspolitik in Deutsch-
land, die ich mir vorstelle. Wir sollten uns, was die Ideo-
logisierung anbelangt, sehr in Acht nehmen.
Wir brauchen starke Botschafter für mehr Bildungsin-
vestitionen. Gute Bildung kostet viel, schlechte noch viel
mehr;
(Beifall bei der FDP)
das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen. Die
Große Koalition lobt sich zwar an dieser Stelle. Eine
namhafte Zeitung aus Berlin hat diese Woche aber zehn
Bildungssünden benannt. Darunter fiel nicht nur der Bil-
dungsmangel an Schulen und Hochschulen – ich will die
Bildungssünden nicht alle aufzählen –, sondern auch der
Bildungsmangel in Kindertagesstätten oder in der Wei-
terbildung. Ich will daran erinnern, dass die Ausgaben
der öffentlichen Haushalte für Weiterbildung zwischen
1999 und 2005 um 20 Prozent reduziert worden sind,
und das, obwohl wir in diesem Hause des Öfteren über
einen Paradigmenwechsel zur Wissensgesellschaft, zum
lebenslangen Lernen sprechen.
(Beifall bei der FDP)
Da stelle ich mir einfach eine andere Prioritätensetzung
vor.
Um bei der Prioritätensetzung zu bleiben: Die Men-
schen draußen und die Zuschauer hier im Hohen Hause,
im Bundestag, sollten wissen, dass der Bundeshaushalt
lediglich 3 Prozent für Bildung und Forschung vorsieht
25082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Cornelia Pieper
und fast die Hälfte des Bundeshaushaltes für Sozialaus-
gaben reserviert ist. Das ist die falsche Prioritätenset-
zung.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was ist
denn Ihre Alternative? Ist das Ihre Alterna-
tive? Wollen Sie Sozialabbau für Bildung? –
Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie will sogar Steuersenkungen!)
– Herr Rossmann, ich glaube, wir müssen endlich um-
denken. Für mich ist bessere Bildungspolitik die eigent-
liche, präventive Sozialpolitik. Je früher wir in die Köpfe
investieren, je besser die Ausbildung von jungen Men-
schen in diesem Land ist, desto besser ist das für unsere
Sozialsysteme, deren Kosten heute explodieren.
(Katja Mast [SPD]: Sagen Sie das mal den Rentne-
rinnen und Rentnern in unserem Land!)
Die Sozialkosten explodieren auch deshalb, weil wir
zu wenig in die Bildung sozialer Randgruppen investie-
ren.
Das Thema Bildung ist für mich ein Thema der sozia-
len Gerechtigkeit und der Zukunftsinvestitionen in
Deutschland. Es gehört ganz oben auf die Prioritäten-
liste.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sozialab-
bau für Bildung, ist das Ihre Linie?)
– Sozialabbau für Bildung ist nicht unsere Linie, Herr
Rossmann.
(Uwe Barth [FDP], an den Abg. Dr. Ernst
Dieter Rossmann [SPD] gewandt: Sie spielen
gerade beides gegeneinander aus, Herr
Rossmann!)
Aber durch Ihre Bildungspolitik, auch in den Ländern,
hat Sozialabbau stattgefunden.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was haben
Sie eben gefordert? – Ulla Burchardt [SPD]:
Was haben Sie in Nordrhein-Westfalen, Frau
Kollegin?)
Es sind nämlich zu wenig Bildungsinvestitionen auf den
Weg gebracht worden.
Ich sage noch einmal: Wenn wir etwas bewegen wol-
len, meine Damen und Herren hier im Hohen Haus, dann
müssen wir Bildung als gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe begreifen und mehr tun. Bildung ist nicht nur eine
Aufgabe des Bundes, sondern auch der Länder, die ja
insbesondere für die Schulen und Hochschulen Verant-
wortung tragen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Christel Humme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Christel Humme (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-
nen! Wenn 240 000 Schülerinnen und Schüler, Studen-
tinnen und Studenten auf die Straße gehen, eine Aktions-
woche ausrufen und uns zu Recht fragen: „Was wird aus
mir? Was wird aus unseren Bildungschancen?“, dann ha-
ben sie ein Recht darauf, konkrete Antworten zu bekom-
men, Frau Pieper und Herr Müller.
Sie von der Linkspartei betreiben die übliche
Schwarz-Weiß-Malerei, tun so, als ob nur Sie wüssten,
in welche Richtung es gehen muss. Das ist unglaubwür-
dig, und das nehmen Ihnen die jungen Leute auch nicht
ab, ebenso wenig wie die Überschrift, die Sie für die
heutige Aktuelle Stunde gewählt haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Stefan Müller [Erlangen]
[CDU/CSU]: Bis jetzt war das, was Sie gesagt
haben, gut!)
– Herr Müller, Sie behaupten, Sie nähmen die Studentin-
nen und Schülerinnen, die Studenten und Schüler ernst.
Wie können Sie dann behaupten, da wird Stimmung ge-
macht?
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die
Linken!)
Wie können Sie behaupten, dass es den Schülerinnen
und Schülern und den Studentinnen und Studenten nicht
um Bildung geht, sondern um Party? Damit sprechen Sie
ihnen die Ernsthaftigkeit ab, nehmen sie nicht ernst.
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das tun sie
teilweise selber nicht! Er hat das zitiert! Das
war nicht seine Erfindung! – Gegenruf des
Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
LINKE]: Das liest sich in der Süddeutschen
Zeitung ganz anders!)
Das sollte man auf keinen Fall tun.
Frau Hirsch, ich weiß nicht, wo Sie die letzten Jahre
waren. Ich sage für die SPD-Bundestagsfraktion ganz
stolz: Ohne die SPD hätte es in der bildungspolitischen
Landschaft in den letzten Jahren keinen frischen Wind
gegeben,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
keine Ganztagsschulen, keinen Kitaausbau, nicht mehr
Studienplätze, keine Sanierung von Kitas, Schulen und
Hochschulen und keine Fortsetzung der Hochschul- und
Wissenschaftsinitiative, vor allen Dingen aber keine
zweimalige Erhöhung des BAföGs. Das hat die SPD
durchgesetzt. Das waren keine Sonntagsreden, das wa-
ren unsere konkreten Antworten auf notwendige Verbes-
serungen in der Bildungslandschaft.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Stefan
Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Allein haben
Sie das nicht beschließen können!)
Klar ist, Frau Pieper – andere haben das auch gesagt –:
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Unser Bil-
dungssystem ist nach wie vor unterfinanziert. Wir brau-
chen mehr Geld. Wir haben nach wie vor ein Bildungs-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25083
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Christel Humme
system, das ausgrenzt, höchst selektiv ist, viel zu
undurchlässig ist und wenn, dann nur von oben nach un-
ten, nicht aber von unten nach oben.
Schauen wir uns die Forderungen der Protestbewe-
gung konkret an! Ich möchte gerne fünf Punkte aufgrei-
fen, die zu diesen Forderungen gehören.
Erstens. Die jungen Leute warnen davor, Bildung nur
noch unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrach-
ten. – Ja, Bildung ist mehr als ein ökonomisches Gut.
Wir sagen: Bildung ist ein Menschenrecht, ein Wert an
sich. Es geht dabei um Lebenschancen und Teilhabe. In-
sofern teilen wir die Auffassung der jungen Menschen
voll und ganz.
Zweitens. Die jungen Menschen warnen vor einer zu-
nehmenden Privatisierung der Bildung. – Sie haben
recht damit. Die Verkürzung der Schulzeit an den Gym-
nasien – schauen wir uns das einmal an! – führt dazu,
dass die Eltern immer mehr Geld für Nachhilfeunterricht
ausgeben. Eine Studie belegt, dass bis zu 3 Milliarden
Euro pro Jahr für Nachhilfe ausgegeben werden. Wenn
das der Fall ist, dann ist mit unserem Bildungssystem et-
was nicht in Ordnung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Drittens. Die jungen Leute fordern, dass Bildung eine
öffentliche Aufgabe bleibt. – Auch dem stimmen wir zu.
Es ist die Aufgabe des Staates, für ausreichende Kita-
plätze, gute Schulen und offene Hochschulen zu sorgen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das gilt – keine Frage – auch für die Ausgestaltung von
Bachelor und Master. Da müssen wir gegenüber der Kul-
tusministerkonferenz den Anspruch haben, dass kontrol-
liert wird, was gut ist und was schlecht ist, und dass die
Hausaufgaben gemacht werden.
Es bleibt natürlich die Aufgabe des Staates, für den
sozialen Ausgleich zu sorgen. Darum denke ich, dass der
vierte Punkt sehr wichtig ist. Die jungen Leute fordern,
keine Studiengebühren zu erheben.
(Beifall bei der SPD)
Es gibt kein unsozialeres Ausschlusskriterium als Stu-
diengebühren.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
ist Quatsch! Warum steigen dann die Studie-
rendenzahlen?)
Darum gibt es in keinem SPD-regierten Land allgemeine
Studiengebühren.
(Beifall bei der SPD)
Der fünfte und letzte Punkt, den ich erwähnen
möchte, ist die finanzielle Ausstattung, die Sie ja auch
schon angesprochen haben, Frau Pieper. Die jungen
Leute sagen: Wir brauchen mehr Geld und mehr Bil-
dungsinvestitionen. – Dem können wir voll zustimmen.
Wir haben das 10-Prozent-Ziel. 10 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts wollen wir zukünftig für Bildung und For-
schung ausgeben.
(Cornelia Pieper [FDP]: Wir auch!)
Das ist eine Riesenkraftanstrengung, vor allen Dingen
unter den gegebenen Bedingungen der Krise; das ist
überhaupt keine Frage.
(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)
Deshalb kann ich es überhaupt nicht verstehen – das
sage ich in Richtung der rechten Seite des Hauses –, dass
man die Forderung stellt, die Steuern stärker zu senken.
Das ist für mich an dieser Stelle völlig unverständlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker
Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])
Ich glaube, wir haben ein viel besseres Konzept. Wir
sagen: Wenn mehr Geld zur Verfügung gestellt wird,
dann muss dies mit einem Bildungssoli auch gerecht fi-
nanziert werden. – Das ist unsere Antwort auf die Forde-
rung, mehr Geld in die Bildung zu investieren.
(Cornelia Pieper [FDP]: Dafür braucht man
Steuereinnahmen, und damit hat man auch
mehr Geld für die Bildung!)
Ich komme zum Schluss. – Ich denke, wir sollten die
Jugendlichen, die auf der Straße sind und viele Fragen
haben, tatsächlich ernst nehmen. Wir sollten ihnen Ant-
worten geben. Unsere Antworten heißen: mehr Bil-
dungsinvestitionen, die gerecht finanziert sind, keine
Studiengebühren, weniger Privatisierung und mehr staat-
liche Verantwortung. – Ich denke, das sind richtige und
konkrete sozialdemokratische Antworten.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat Kai Gehring für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh darüber, dass Schülerinnen und Schüler so-
wie Studierende ihren Unmut über die Bildungsmisere in
unserem Land in diesen Tagen mit kreativen und bunten
Aktionen auf die Straße tragen. Das ist erst einmal eine
positive Meldung, zumal sonst an vielen anderen Stellen
über die Politikferne von Jugendlichen lamentiert wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Volker
Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])
Für den bundesweiten Bildungsstreik gibt es in der
Tat sehr gute Gründe: Durch die vielerorts schlechten
Lernbedingungen an unseren Schulen, Universitäten und
Fachhochschulen sind viele junge Menschen bedrückt
und empört; denn sie sind die Leidtragenden von
schlechten und falsch gemachten Bildungsreformen.
Deshalb ist der laute Ruf nach einer neuen Bildungsof-
fensive überfällig. Deshalb ist es so wichtig, einen Kurs-
wechsel einzuleiten.
Unser Bildungssystem ist heute ungerecht, demotivie-
rend und noch immer chronisch unterfinanziert. Pro Jahr
25084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Kai Gehring
fehlen zum OECD-Durchschnitt bis zu 20 Milliarden
Euro. Unser Bildungssystem darf deshalb nicht länger
Spitzenreiter in sozialer Auslese bleiben, sondern es
müssen eine individuelle Förderung ermöglicht und glei-
che Chancen und Aufstiegsmöglichkeiten für alle ge-
währleistet werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Tendenz, vor allem seitens der FDP und der
Union, die Bildung rein marktwirtschaftlichen Kriterien
zu unterwerfen, führt in die Sackgasse.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
wollen wir überhaupt nicht! Wer behauptet das
denn? Das ist falsch!)
Sie sagen in Nordrhein-Westfalen: Privat vor Staat. –
Das ist das falsche Rezept für Bildungsreformen, und
das muss man hier auch klar festhalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir Grüne wollen dagegen eine gute öffentliche Finan-
zierung unseres Bildungs- und Hochschulsystems si-
cherstellen. Dafür schlagen wir unter anderem einen Bil-
dungssoli vor.
Auch ein vielgliedriges Schulsystem wie in Nord-
rhein-Westfalen ist nicht mehr zukunftsfähig. Wir wol-
len eine Schule für alle Kinder und alle Jugendlichen in
unserem Land, weil so individuelle Förderung besser ge-
lingen kann und soziale Selektivität verringert wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Ernst Burgbacher [FDP]: Oh, oh!)
– Schauen Sie sich die Gewinnerländer bei der PISA-
Studie und die schlechten Ergebnisse in Nordrhein-
Westfalen unter der jetzigen schwarz-gelben Landesre-
gierung an!
(Uwe Barth [FDP]: Hamburg zum Beispiel!)
Wichtig ist auch, dass Studiengebühren kritisch hin-
terfragt werden; denn sie schrecken vom Studium ab.
Deshalb wollen wir sie abschaffen bzw. verhindern.
Auch durch Studienplatzmangel und Zugangshürden
werden die Wege auf den Campus verbaut. Deshalb for-
dern wir 500 000 zusätzliche Studienplätze in den nächs-
ten fünf Jahren und eine gerechtere Studienfinanzierung
mit einem Zwei-Säulen-Modell.
Kurzum: Wir Grüne wollen mehr Geld, wir wollen
aber auch bessere Strukturen und eine höhere Qualität in
unserem Bildungssystem insgesamt erreichen: von der
Kita über die duale Ausbildung bis hin zur Weiterbil-
dung.
Die derzeitige Protestkultur und -bereitschaft sind
eine Chance auf eine neue gesellschaftliche Bewegung
und eine breitere Bildungsdebatte in unserem Land, was
wir uns als Bildungspolitiker geradezu wünschen. Des-
halb sage ich insbesondere in Richtung der Union: Die
junge Generation braucht Aufmerksamkeit und Respekt
für ihre Forderungen statt Häme und Ignoranz.
Herr Müller, auch ich habe Ihre Pressemitteilung mit
Freude gelesen. Sie stellen fest, dass man durch die Pro-
teste von der Ausbildung abgehalten wird. Zu Bildung
gehört aber auch Freiheit, und zwar nicht zuletzt die
Freiheit, in einer Aktionswoche darüber nachzudenken
und zu diskutieren, wie unser Bildungssystem besser ge-
staltet werden kann.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aber
nicht darüber, wie man Hörsäle besetzt! Sagen
Sie doch mal etwas zur Besetzung von Hörsä-
len! Ist das auch Freiheit?)
Solche Freiräume für Engagement und kritische Re-
flexion sind wertvoll und wichtig. Genau diese Zeitfens-
ter und Freiräume werden durch die Schul- und Studien-
zeitverkürzung immer enger. Das ist ein wichtiger Punkt.
Wir sind nicht gegen eine Schulzeit- oder Studienzeit-
verkürzung. Die Bologna-Reform oder das Abitur nach
zwölf Jahren sind aber in vielen Ländern handwerklich
schlecht umgesetzt worden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie der Abg. Cornelia
Pieper [FDP])
Die Verkürzungen gingen eben nicht mit einer Ent-
frachtung der Curricula oder der Studienordnung einher.
Sie brachten nicht mehr Qualität, sondern oftmals mehr
Druck und eine höhere Arbeitsbelastung. Genau dieser
zentrale Konstruktionsfehler muss behoben werden.
Schule und Studium brauchen mehr zeitliche Flexibili-
tät, zum Beispiel sieben- oder achtsemestrige Bachelor-
Studiengänge.
Auch ich möchte an Frau Schavan gerichtet feststel-
len, dass die Forderungen der Demonstrierenden nicht
gestrig sind. Die junge Generation ist nicht gegen die
Vision eines europäischen Hochschulraums; sie lebt das
längst. Keine Generation zuvor war so mobil, flexibel
und offen fürs Ausland. Sie beklagt aber die schlechten
Studienbedingungen und die teils miserable Umsetzung
der Bologna-Reform nach dem Motto „Verschulen, Ver-
dichten, Umbenennen“. Darauf kann man nicht einfach
antworten: Wir haben alles richtig gemacht. – Diese Stu-
dienstrukturreform braucht dringend eine Reform.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
„Wäre die Bildung eine Bank, hättet ihr sie längst ge-
rettet“, wurde auf den Demonstrationen skandiert. Das
mögen Sie populistisch finden; es zeigt aber das Problem-
bewusstsein der Schüler und Studierenden. Einerseits
wird immer gesagt, dass das Geld für dringende Bil-
dungsreformen fehlt. Andererseits bewirkt die Große Ko-
alition für Banken- und Unternehmensrettungsschirme
sowie für unausgegorene Konjunkturpakete – zum Bei-
spiel mal eben 5 Milliarden Euro für eine aberwitzige
Abwrackprämie –
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD –
Katja Mast [SPD]: Das machen alle nach!)
eine beispiellose Rekordneuverschuldung. Die junge
Generation merkt doch, dass die Prioritäten offensicht-
lich falsch gesetzt und die Generationengerechtigkeit
massiv verletzt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25085
(A) (C)
(B) (D)
Kai Gehring
Wenn man darüber hinaus noch Steuersenkungen à la
FDP und CDU/CSU vornehmen will, dann frage ich
mich, wie Sie die Forderung nach höheren Bildungsin-
vestitionen umsetzen wollen. Dann fährt doch der Bun-
deshaushalt völlig vor die Wand.
Auch Union und SPD haben zulasten künftiger Gene-
rationen verbockt, dass der Bund in der Bildungspolitik
wirkungsvolle Impulse setzen kann. Die Föderalismus-
reform war bildungspolitisch absoluter Murks. Daher
muss das weitreichende Kooperationsverbot zwischen
Bund und Ländern im Bildungsbereich fallen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]:
Das wird Hamburg jetzt mit durchkämpfen! –
Gegenruf der Abg. Ulla Burchardt [SPD]: Die
hatten sich jetzt schon bei der Föderalismusre-
form II profiliert!)
Wir sind der Auffassung, dass nur gemeinsam der Kraft-
akt gelingen kann, einen Kurswechsel für einen gesamt-
staatlichen Bildungsaufbruch einzuleiten.
Wenn wir die genannten Schritte in der nächsten Le-
gislaturperiode angehen und umsetzen, dann war der
bundesweite Bildungsstreik ein Erfolg.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. – Diesen Erfolg wünsche ich sowohl den Protes-
tierenden als auch uns.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Michael Kretschmer spricht jetzt für die CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
keinen Politikbereich, der mit so viel Ideologie aufgela-
den ist wie die Bildung. Das wird auch heute wieder
deutlich. Man muss sich über die Wortbeiträge vor allen
Dingen vonseiten der Linken wundern. Wenn ich höre
„Ökonomisierung der Bildung“ oder „Bildung als öf-
fentliches Gut“ oder „sozialer Ausgleich“,
(Beifall bei der LINKEN)
dann muss ich darauf hinweisen, dass all das in diesem
Land Realität ist.
(Lachen bei der LINKEN)
– Ich weiß nicht, in welchem Land der Welt, wenn nicht
in Deutschland, das Realität sein soll.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Auf
Kuba nicht!)
Diese Debatte ist richtig und notwendig. Wenn sie tat-
sächlich geführt wird, um nachzudenken und um neue
Ideen hervorzubringen, ist sie auch hilfreich. Was hier
gemacht wird, geht aber komplett am Thema Bildung in
diesem Land vorbei. Die Herausforderungen können mit
Begriffen wie „demografische Entwicklung“ oder „Glo-
balisierung“ oder „Wissensgesellschaft“ beschrieben
werden. Die Frage lautet aber: Was müssen wir tun, da-
mit Junge und Ältere diesen Herausforderungen gerecht
werden? Wie können wir sicherstellen, dass sie in einer
sich verändernden Welt bestehen können? Dafür müssen
wir die Voraussetzungen schaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir haben in den vergangenen Monaten und Jahren
viel Gutes erreicht. Natürlich muss das Bildungssystem,
insbesondere das Hochschulsystem, stets weiterentwi-
ckelt werden. Deswegen muss man immer Fragen stel-
len. Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass Gu-
tes und Richtiges passiert ist. Es ist aber bösartig und
geht an der Sache vorbei, wenn die Leute, die vor Mona-
ten und Jahren – im Übrigen zu Recht – bemängelt ha-
ben, dass die Schulgebäude nicht in Ordnung sind, dass
es zu wenige Kindergärten gibt und dass die Turnhallen
nicht in Ordnung sind, uns vorwerfen, dass dieses gewal-
tige Konjunkturpaket, welches den Fokus ganz klar auf
Bildung legt, am Bedarf vorbeigeht. Im Gegenteil: Das
Konjunkturpaket ist ein gewaltiger Kraftakt und wird da-
für sorgen, gerade im Bereich der Bildung vernünftige
Bedingungen zu schaffen. Es ist gut, dass wir das ge-
macht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Ein weiterer Punkt geht völlig an der Sache vorbei. Es
gibt drei Pakte: die Exzellenzinitiative, den Hochschul-
pakt und den Pakt für Forschung und Innovationen; sie
haben einen Umfang von 18 Milliarden Euro. Das ist
eine gewaltige Leistung von Bund und Ländern.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Es ist ein Beweis dafür, dass der Föderalismus funktio-
niert und dass dieses Land auf Zukunft setzt. Dann kom-
men aber manche und sagen: Das ist völlig an der Sache
vorbei. Wir wollen das nicht. Das ist nur für die Elite. –
Es handelt sich aber um eine großartige Sache. Es ist
toll, das Deutschland so etwas macht und wir es hinbe-
kommen haben.
Es geht noch weiter. Ich höre immer wieder von ein-
zelnen Debatten, zum Beispiel von der Debatte in Berlin.
Dort soll das Abitur bzw. der Zugang zum Gymnasium
verlost werden. Das kann doch nicht wahr sein! Das ist
doch nicht Ihr Ernst!
(Monika Grütters [CDU/CSU]: In Berlin bei
Rot-Rot ist das wahr! Die meinen das ernst! –
Ulla Burchardt [SPD]: Machen Sie sich sach-
kundig! Hier wird kein Abitur verlost!)
Dieselben Leute kommen dann und machen uns Vor-
würfe. Das gibt es in keinem anderen Land auf der Welt.
Die Leute fragen sich, ob wir noch ganz dicht sind.
25086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Michael Kretschmer
Diese Leute sagen uns dann, wie Bildung organisiert
wird. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bildung ist eine Sa-
che der Länder. Ich als Sachse bin froh darüber, dass ich
mit dem Bildungssystem von Berlin nichts zu tun habe.
Wir wollen das nicht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir wollen ein vernünftiges Bildungssystem. Wir
wollen den Föderalismus, gerade im Bildungsbereich.
Mit denjenigen, die willig sind, gemeinsam etwas zu tun,
schaffen wir mehr Qualität im Bildungsbereich. Qualität
setzt sich durch. Länder wie Berlin werden aber ganz
schnell zurückfallen. Hoffentlich werden die Verant-
wortlichen wegen der Experimente, die mit jungen Leu-
ten gemacht werden, abgewählt. Denn das ist nicht in
Ordnung.
(Mechthild Rawert [SPD]: Was haben Sie
denn gegen Berlin? – Swen Schulz [Spandau]
[SPD]: So ein alberner Quatsch!)
Ich möchte noch auf einige Punkte eingehen, die im-
mer wieder angesprochen werden. Wir haben zu Recht
gesagt, dass wir die Abiturquote erhöhen wollen. Wir
müssen aber gleichzeitig die Frage stellen, was ein Abi-
turient am Ende seiner Schulzeit können muss. Wir wol-
len mehr Studenten der Natur- und Ingenieurwissen-
schaften haben. Wir müssen aber die Frage beantworten,
was ein junger Mann oder eine junge Frau können muss,
um dieses Studium zu absolvieren. Deshalb müssen wir
über die Ziele und Inhalte des Bildungssystems reden.
Bevor wir über Strukturen reden, müssen wir über Leis-
tungen reden. Die jetzt geführte Debatte hat etwas Des-
truktives, weil sie sich nicht mit den eigentlichen Inhal-
ten beschäftigt, sondern nur an der Oberfläche
entlangschrammt.
Von Bundesland zu Bundesland gibt es große Unter-
schiede. Manche Länder sind im PISA-Vergleich ganz
vorn gelandet und somit auf dem Niveau Finnlands. An-
dere Länder bewegen sich auf dem Bildungsniveau von
Mexiko. Ich wünsche mir eine Debatte, die sich damit
ernsthaft auseinandersetzt. Erschreckenderweise stellt
man fest, dass die jungen Leute dort, wo linke Ideolo-
gien am Werk sind und wo es nicht um Leistung geht,
schlechtere Chancen haben.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ihr seid ja so
sachlich, so ganz ohne Ideologie!)
Das ist eine Wahrheit, die angesprochen werden muss.
Über eines bin ich wirklich froh: Alle Versuche, im
Rahmen des Bildungsstreiks die jungen Leute aufzuput-
schen und zu instrumentalisieren, haben nicht gefruchtet.
In aller Regel waren es friedliche Diskussionen. Man
kann sich auf die deutsche Jugend verlassen, und das ist
gut so.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Zurufe von der SPD: „Die
deutsche Jugend“? – Mechthild Rawert [SPD]:
Sind Sie jetzt auch verlassen? Sie sind doch
eindeutig noch jung!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Volker Schneider hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kretschmer, was Sie hier erzählen, ist das eine. Was
Sie aber im Vorfeld verbreitet haben, ist etwas ganz an-
deres. Ein Beispiel: Dass so viele an den Demonstratio-
nen teilgenommen haben, ist doch bestimmt nicht Ihr
Verdienst. In Baden-Württemberg beispielsweise sind
Schülerinnen und Schüler massiv mit Repressionen für
den Fall bedroht worden, dass sie an den Demonstrationen
teilnehmen. Schuld daran ist ein Kultusminister Ihrer
Partei, nämlich Helmut Rau. Das ist die Politik, die Sie
hier betreiben.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja
Mast [SPD])
Die Resonanz auf diesen Bildungsstreik quer durch
die Bevölkerung ist nicht nur im linken Lager, wie die
Union das nennt, mehr als positiv. Selbst die Präsidentin
der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel,
hat gesagt, sie könne gut nachvollziehen, dass viele Stu-
dierende ihre Situation nicht akzeptieren könnten und für
eine Verbesserung der Studienbedingungen auf die
Straße gingen. Auch das Institut der deutschen Wirt-
schaft sagt, dass die Protestaktionen wichtig seien und
die bildungspolitischen Anstrengungen insbesondere im
Hinblick auf die sogenannten bildungsfernen Schichten
und Migranten zu verstärken seien:
Mehr Bildung insbesondere bei diesen Gruppen ver-
bessert deren soziale Lage und schafft mehr Wachs-
tumspotenziale für die gesamte Volkswirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Präsident des Deutschen Studentenwerks, Rolf
Dobischat, hat gesagt:
Unterfinanzierte Hochschulen und Studentenwerke;
Studiengebühren, aber viel zu wenige Stipendien;
eines der sozial selektivsten Hochschulsysteme
weltweit, Studierende, die sich als „Kunden“ ihrer
Hochschule und nicht als Mitgestalter begreifen sol-
len; Stress und Leistungsdruck in überfrachteten
Bachelor-Studiengängen: Es gibt viele gute Gründe,
um zu protestieren.
Dem haben wir als Linke kaum noch etwas hinzuzufü-
gen.
(Beifall bei der LINKEN)
Frauke Hass kommt in einem Kommentar der Frank-
furter Rundschau sogar zu dem Ergebnis:
Es werden sich selbst bei intensiver Suche in den
politischen Zirkeln der Republik nur wenige finden,
die diese Kritik rundweg zurückweisen würden.
Weit gefehlt, Frau Hass! Die Union scheint, abgesehen von
dem, was sie hier erzählt, gegen derlei Einsichtsfähigkeit
einigermaßen resistent zu sein. Der Bildungsministerin
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25087
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Volker Schneider (Saarbrücken)
muss man fast das Kompliment machen, dass sie immer-
hin die Argumente der Studierenden aufgegriffen hat.
Allerdings komme ich nach der Lektüre ihres Interviews
im Deutschlandfunk zu dem Ergebnis, dass diejenigen, die
gestrig sind, auf der anderen Seite des Mikrofons saßen.
(Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
[SPD] und Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Was ist denn sonst aus der Union zu hören? Man muss
wirklich genau hinschauen. Die Schüler-Union äußert
sich, im Zweifelsfall auch ohne irgendwelche Informatio-
nen zu haben. Ich frage, wie ich denn sonst Folgendes
verstehen darf:
Bald haben wir Zustände wie Ende der 60er-Jahre.
Linksradikale Ideologen stellen unseren Rechtsstaat
infrage. Wann auch bundesweit die ersten Autos wie
in Frankreich oder in Berlin brennen, ist mittlerweile
nur noch eine Frage der Zeit. … Linke Gewalt darf
kein Forum finden. Wir fordern daher ein hartes
Einschreiten der Polizei!
Woher hat denn die Schüler-Union diese Information:
etwa aus der Abteilung „Panik und Propaganda“ des
Hauses Schäuble? Das Einzige, was ich aus den 60er-
Jahren wieder zu entdecken vermag, ist der Stil der
Hetze, wie er seinerzeit von der Springer-Presse betrie-
ben wurde.
(Beifall bei der LINKEN)
Da wollen natürlich auch die christdemokratischen
Studenten nicht zurückstehen. Sie schreiben in ihrer
Presseerklärung, Bildungsstreiks seien nur etwas für
Dumme. Ich frage mich nur, auf welcher Seite die Dum-
men tatsächlich zu finden sind, insbesondere wenn der
RCDS behauptet, die Forderung „Bildung für alle“ habe
am Ende zum Ergebnis gehabt, dass Deutschland eines
der sozial undurchlässigsten Bildungssysteme weltweit
habe. Das erweckt bei mir den Eindruck, dass Intelligenz
in Deutschland allein nicht zwingend ausreicht, um stu-
dieren zu können, insbesondere wenn man auf der Schat-
tenseite der Gesellschaft geboren ist; das habe ich schon
gewusst. Aber bei dieser Erklärung des RCDS fällt mir
auf, dass man, wenn man auf der Sonnenseite des Le-
bens geboren wurde, durchaus studieren kann, wenn es
an jeglicher Intelligenz fehlt.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Stephan Eisel
[CDU/CSU]: Wo sind Sie denn geboren?)
– Das darf ich Ihnen sagen: Ich bin auf der Schattenseite
dieser Gesellschaft geboren. Wenn Sie das interessiert,
können wir uns einmal privat unterhalten.
Könnte man diese beiden Beispiele noch mit Naivität
oder einem Mangel an politischer Erfahrung entschuldigen,
billige ich Ihnen, Herr Kollege Müller, das nicht zu.
Wenn Sie behaupten, linke Gruppen und Gewerkschaften
wollten mit Musikfestivals, Partys und vorgetäuschten
Banküberfällen Studierende von der Ausbildung fernhal-
ten, sind Sie offensichtlich völlig uninformiert darüber,
auf welche vielfältige und fantasievolle Art und Weise
die Protestierenden ihre Aktionen gestalten. Gehen Sie
zur Humboldt-Universität, und sehen Sie, was dort ge-
macht wird, um sich von einer verschulten Bildung in
Bachelor-Studiengängen zu verabschieden und endlich
wieder etwas selbstbestimmt zu machen.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr
fantasievoll, Herr Schneider!)
Ich komme zum Schluss. Wir Linke unterstützen die
Forderung dieses Bildungsstreiks, wobei wir zusätzlich
auch den Bereich der Weiterbildung in die Kritik einbe-
ziehen. Wir Linke sind der Auffassung, dass es höchste
Zeit wurde, der Kritik einer verfehlten Bildungspolitik in
einer sichtbaren Form des Protests Ausdruck zu verleihen.
Wir Linke haben genug von einer Politik folgenloser
bildungspolitischer Sonntagsreden aus der Abteilung:
Reden ist Silber, Handeln ist Blech. Wir Linke hoffen,
dass dieser Bildungsstreik kein einmaliges Ereignis
bleibt, sondern daraus eine dauerhafte Bewegung wird,
die die Politik zum Handeln zwingt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ulla Burchardt spricht für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ulla Burchardt (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde manches ganz richtig, was der Kollege
Schneider angeführt hat. Ich muss Ihnen aber sagen: So,
wie Sie und Ihre Kollegin Hirsch geredet haben, müssen
Sie sehr aufpassen, um nicht in einen Verdacht zu geraten:
Man nimmt die jungen Leute nicht ernst, wenn man sie
als Staffage für die eigene Profilierung gebraucht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe im Vorfeld – diejenigen, die die Agenturmel-
dungen verfolgen, werden das mitbekommen haben – auch
für meine gesamte Fraktion die Initiative zum Bildungs-
streik begrüßt. Nachdem wir jetzt gesehen haben, welch
riesengroße Bewegung auf die Beine gestellt worden ist,
muss ich ganz persönlich sagen: All denen, die dafür
verantwortlich sind, zolle ich großen Respekt. Da haben
junge Menschen ehrenamtlich und ohne Einschaltung
teurer Agenturen, wie manche Protestierende vor diesem
Haus das machen, eine riesengroße Sache auf die Beine
gestellt und sich so bundesweit Gehör verschafft. Das ist
wirklich eine tolle Leistung. Diese möchte ich an dieser
Stelle auch für meine gesamte Fraktion ausdrücklich an-
erkennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
LINKE]: Von wegen „Party“!)
Ich habe es ausdrücklich begrüßt, dass junge Menschen
ihr Grundrecht wahrnehmen und sich für ihre eigenen Be-
lange einsetzen. Das passiert viel zu selten. Ich kann nur
alle ermuntern, das weiter zu tun. Wenn sie sich für mehr
und bessere Bildung einsetzen, dann tun sie das nicht nur
25088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Ulla Burchardt
im eigenen Interesse und zum eigenen Nutzen, sondern
für die gesamte Gesellschaft. Deswegen haben sie wirk-
lich jeglichen Respekt, jegliche Würdigung und, wie ich
denke, auch Dank verdient.
Ich will an dieser Stelle aber auch ausdrücklich die
Übergriffe und den Vandalismus gestern im Dortmunder
Rathaus kritisieren. Es war schlimm, was dort passiert
ist: 200 Chaoten haben das Rathaus verwüstet, die Mit-
arbeiter haben sich in ihre Räume geflüchtet, weil sie
Angst hatten, bedroht zu werden. Alle anderen Gruppen
vom Bündnis haben sich eindeutig davon distanziert und
waren sehr erschrocken. Aber, meine Kolleginnen und
Kollegen, insbesondere Cornelia Pieper: Man darf sol-
che Ausfälle nun wirklich nicht dafür missbrauchen,
um das ernsthafte Anliegen der Initiatoren und der über
200 000 friedlich Protestierenden zu diskreditieren.
(Uwe Barth [FDP]: Das hat die Kollegin
Pieper nicht getan!)
Das ist nicht legitim. Genauso wenig können Sie einem
Fußballverein vorwerfen, dass nach Fußballspielen Chao-
ten randalieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Die jungen Leute befinden sich mit ihrer Kritik und
ihren Forderungen in bester Gesellschaft: Wir haben
noch am Dienstag mit dem Vorsitzenden der Experten-
kommission „Forschung und Innovation“ in einer kleinen
Runde des Ausschusses gesprochen. Das jüngste Gutach-
ten liegt vor. Darin wird abermals nachdrücklich darauf
hingewiesen, was das Problem ist – auch die Demonstran-
ten legen ihren Finger in diese Wunde –: Das deutsche
Bildungssystem ist chronisch unterfinanziert und hoch-
gradig selektiv. – Auf diese Expertise haben sich auch
andere schon mehrfach bezogen, und sie ist bereits
mehrfach bestätigt worden. Es ist Zeit, die Probleme
ernsthaft anzugehen.
Vor diesem Hintergrund muss ich sagen, dass die Kritik
aus der Union – dazu ist heute schon mehrfach etwas ge-
sagt worden – bemerkenswert gewesen ist. Ich fand die
Wortwahl, liebe Kollegen – das ist alles in Ihren Presse-
mitteilungen nachzulesen –, nämlich „dumm“, „faul“,
„ewig gestrig“, völlig daneben.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
waren nicht meine Worte!)
Man hat den Eindruck, dass dies eine Verweigerung ist;
man will sich nicht mit den Sachargumenten auseinan-
dersetzen. Das ist das klassische rhetorische Muster:
Wenn man sich mit der Sache nicht auseinandersetzen
will, dann schlägt man mit allen rhetorischen Mitteln auf
den anderen ein.
(Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlangen]
[CDU/CSU]: Das ist Unsinn, was Sie erzählen!)
Herr Kretschmer, Sie haben den anderen Ideologie
vorgeworfen. Da muss ich Ihnen allerdings sagen: Sie
sitzen im Glashaus, und das hat schon sehr viele Sprünge
bekommen. Was Sie als Union machen, ist die Zementie-
rung von Ideologie. Sie sind doch dafür verantwortlich,
dass immer noch junge Menschen durch das dreigliedrige
Schulsystem aussortiert werden und dass durch Studien-
gebühren verhindert wird, dass junge Menschen aus
finanzschwachen Familien studieren können.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ist das
keine Ideologie, was Sie hier erzählen?)
Daran halten Sie doch fest. Das aber ist nicht mehr ratio-
nal, das ist nur noch ideologisch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Bei uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
laufen die jungen Leute mit vielen ihrer Forderungen
offene Türen ein. Natürlich muss man im Detail über
manches reden. Natürlich wollen wir die Bologna-Be-
schlüsse nicht über Bord werfen, aber Fakt ist genauso,
dass überhastete und falsch eingeführte Reformen wie
auch G 8 das Bildungswesen nicht unbedingt fitter ma-
chen, sondern junge Leute krank. Auch das können Sie
beim DSW nachlesen.
Für uns ist ganz klar: Bildung ist Menschenrecht,
Bildung ist öffentliches Gut, Bildung darf nicht den
Zwängen des Marktes unterworfen und nicht zur Ware
werden. Wir wollen dafür sorgen, dass Herkunft, Geld-
beutel und Stadtviertel keine Sperrriegel mehr für die
Realisierung des Rechts auf Bildung sind. Das ist nicht
für alle so realisierbar, Herr Kretschmer. Die Realität
und die Lebenserfahrung zeigen etwas ganz anderes. Wir
fördern die Freiheit des Zugangs zu allen Stufen des
Bildungssystems, nicht abstrakt, sondern sehr konkret.
Überall da, wo wir regieren und Einfluss nehmen,
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: In Berlin
beispielsweise und in Bremen!)
in der Vergangenheit und in der Gegenwart, machen wir
dies auch ganz praktisch.
(Beifall bei der SPD)
Ich nenne als Stichworte die Gebührenfreiheit von der
Kita bis zur Hochschule. In keinem SPD-regierten Land
gibt es Studiengebühren. In Rheinland-Pfalz und Berlin
ist in einem ersten Schritt das letzte Kita-Jahr beitrags-
frei gemacht worden. Wir wollen mehr Geld für Bildung
und mehr Qualität. Im Rahmen der Föderalismusreform I
haben wir möglich gemacht, dass es die Hochschulpakte I
und II gibt. Die Union ist in Deckung gegangen und
kommt wie immer erst dann wieder hervor, wenn man
die Flagge schwingen und sagen kann: Wir haben etwas
Tolles erreicht. – Wir haben das als Koalition dann tat-
sächlich zusammen hinbekommen. Wir haben das Kon-
junkturprogramm mit dem Schwerpunkt Bildung von
der Kita bis zur Hochschule initiiert und die Detailarbeit
gemacht. Sie hingegen haben sich auf das Fahneschwin-
gen beschränkt. Ich finde es aber schön, dass wir es hinbe-
kommen haben, deshalb sei es Ihnen gegönnt. Wir haben
in der rot-grünen Koalition 4 Milliarden Euro für die
Ganztagsschule und jetzt 4 Milliarden Euro für die früh-
kindliche Bildung in den nächsten Jahren mobilisiert.
Wir haben das sowohl in der rot-grünen als auch in der
rot-schwarzen Koalition hinbekommen. Das zeigt die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25089
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Ulla Burchardt
Kontinuität und die Ernsthaftigkeit. Frau Kollegin
Hirsch, manchmal muss man Kompromisse machen.
Das kann man anderen zum Vorwurf machen, aber das
ist, wenn man so will, nun mal das Dilemma, aber auch
das Gute daran, wenn man regiert. Wenn man nur auf der
Barrikade sitzt, kann man nichts im Interesse der Men-
schen verändern.
(Beifall bei der SPD)
Natürlich wollen wir mehr Geld mobilisieren. Wir
wollen den Bildungssoli statt Steuersenkungen und So-
zialabbau. Wir haben dafür gesorgt, dass es das Schul-
starterpaket gibt: 100 Euro zum Schuljahresbeginn. Das
haben wir gegen den anfänglichen Widerstand der Union
erreicht, die das Schulstarterpaket erst nur bis zum zehnten
Schuljahr zahlen wollte. Was das alles bedeutet, muss
ich hier nicht weiter ausführen. Wir haben durchgesetzt,
dass das Geld bis zum Abi gezahlt wird. Wir stehen für
den Erhalt und den Ausbau des BAföG. Das wurde in
zwei Koalitionen sichtbar, der rot-grünen und der
schwarz-roten. Wir wollen das BAföG weiterentwickeln.
Wir wollen das Schüler-BAföG und die Anhebung der
Altersgrenzen, und wir wollen das Master-BAföG wie
das Meister-BAföG im Rahmen eines Erwachsenenbil-
dungsförderungsgesetzes. Wir haben nachweisbar konkrete
Schritte gemacht. Wir haben mit unserem Regierungs-
programm die Blaupause für den weiteren Ausbau der
Bildungsrepublik gelegt.
Nun kommt es wirklich darauf an, –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, es wird jetzt auch darauf ankommen,
dass Sie zum Ende kommen.
Ulla Burchardt (SPD):
– einen neuen Bildungskonsens in unserem Land zu
begründen. Dafür brauchen wir die Schüler und die Stu-
dierenden als Experten in eigener Sache. Ich habe sie in
meinem Wahlkreis Dortmund eingeladen. Auch viele
meiner Kollegen haben das in ihrem Wahlkreis getan.
Ich kann Sie nur alle ermuntern, das auch zu tun und den
Dialog konkret vor Ort zu führen.
Danke.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Marcus Weinberg hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Marcus Weinberg (CDU/CSU):
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich möchte gerne zu Beginn auf Frau Hirsch
und die sogenannten Sonntagsreden eingehen. Ich erwarte
von Ihnen keine objektive Wahrnehmung der Dinge, die
wir in den letzten vier Jahren verändert haben. Ich finde
das, was Sie sagen, schon etwas despektierlich. Wenn in
den nächsten Monaten junge Menschen, die bisher keinen
Schulabschluss haben, eine Qualifizierungsmaßnahme
bekommen, dann war das für diese Menschen keine
Sonntagsrede; das ist das Ergebnis der Qualifizierungs-
offensive. Wenn im Herbst mehr junge Menschen einen
Ausbildungsvertrag bekommen, dann war das keine
Sonntagsrede für die jungen Menschen; das ist das Er-
gebnis des Ausbildungspaktes. Wenn in wenigen Jahren
mehr Menschen studieren können, dann ist das das Er-
gebnis des Hochschulpaktes und keine Sonntagsrede.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn in wenigen Monaten begonnen wird, Schulen und
Kitas mit Mitteln des Bundes zu sanieren, dann war das
für die betroffenen Einrichtungen keine Sonntagsrede;
das ist das Ergebnis der Handlungen der letzten vier
Jahre der Großen Koalition.
Es werden – Kollege Kretschmer hat es deutlich ge-
macht –, 18 Milliarden Euro bis 2015 zusätzlich ausge-
geben. So viel wurde noch nie vonseiten des Bundes in
den Bereich von Bildung und Forschung investiert.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Man sollte wenigstens versuchen, objektiv zu sein und
anzuerkennen, was geleistet wurde.
Ich möchte zu den Schulstrukturen kommen. Das ist
eine ewige Diskussion. Frau Kollegin Burchardt, ich
frage mich: Gibt es eigentlich eine schlimmere Maß-
nahme als das Los, um Menschen auszusortieren?
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt
[SPD]: Nein, gibt es nicht!)
Das aber ist das Berliner Beispiel.
Nun kann man darüber nachdenken, wie man dazu
kommt, den weiteren Schulwerdegang eines Kindes über
einen Losentscheid zu bestimmen.
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Die Entschei-
dung über ein ganzes Leben wird dem Zufall
überlassen!)
Das macht natürlich nur dann Sinn, wenn alle Schulen
gleichgemacht werden, wenn Sie kein Gymnasium,
keine Gesamtschulen, keine Haupt- und keine Realschu-
len mehr haben.
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das wollen die
ja gern!)
Weil Kollege Barth nach der Hamburger Situation
fragte, werde ich gleich etwas dazu sagen, wie wir dort
versuchen, einen gesellschaftlichen und politischen
Kompromiss hinzubekommen, der auch inhaltlich be-
gründbar ist.
Aber die Fortführung des Projektes einer Schule für
alle wird dazu führen – Sie haben ja auf den Begriff Mit-
bestimmung Wert gelegt –, dass es keine Mitbestim-
mung mehr gibt, denn dann werden die Eltern gar nicht
mehr die Möglichkeit haben, über den Weg der Mitbe-
stimmung aus einer Bildungsvielfalt auszusuchen.
(Ulla Burchardt [SPD]: Sind die anderen euro-
päischen Länder undemokratisch?)
25090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Marcus Weinberg
Ihr Projekt einer Schule für alle verkennt, dass wir in
Deutschland eine gewachsene Tradition von verschiede-
nen Schulformen und einzelnen Schulen haben.
(Katja Mast [SPD]: Bedauerlicherweise mit
schlechten Ergebnissen!)
Goethe-Gesamtschule oder Lessing-Gymnasium sind
nicht nur Beispiele für verschiedene Schulformen, son-
dern auch für eine gewachsene Tradition und eine ge-
wachsene Vielfalt. Die Eltern haben heute die Möglich-
keit, zu entscheiden, welche Profile und welche
Schwerpunkte sie für ihre Kinder auswählen wollen.
(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das gilt für
die Ganztagsschule genauso!)
Das werden Sie mit Ihrer Schule für alle zerstören.
Diesen gesellschaftlichen Dissens versuchen wir ge-
sellschaftlich zu lösen, und zwar in Form des Hamburger
Modells, Kollege Barth, das von Herrn Gehring auch an-
gesprochen wurde. Das in Hamburg praktizierte Modell
ist meines Erachtens das richtige Modell. Wir müssen
doch nach 30 Jahren endlich aufhören, darüber zu disku-
tieren, welche Schulstruktur nun die richtige ist.
(Ulla Burchardt [SPD]: Ja, genau! Endlich ein-
mal verändern!)
Lassen Sie uns doch versuchen, über Qualität und In-
halte zu reden, und lassen Sie uns dann möglicherweise
ein Modell entwickeln, bei dem beide Seiten aufeinander
zugehen.
Ich mache keinen Hehl daraus: Das Modell der jetzi-
gen sogenannten Primarschule war für uns von der CDU
sehr problematisch. Aber wir haben klargemacht: Wir
wollen die individuelle Förderung des Kindes in den
Vordergrund stellen. Ebenso haben wir als CDU klarge-
macht, dass die Tradition und die Profile, also das, was
sich im System an Schulen entwickelt hat, erhalten blei-
ben müssen. Ich bin überzeugt, damit erreichen wir ei-
nen gesellschaftlichen und, wie ich glaube, guten Kon-
sens. Das ist möglicherweise auch ein Modell, das uns
helfen kann, die Diskussion über die Schulstruktur end-
lich zu beenden.
Als weiteren Punkt möchte ich den Bildungsgipfel
ansprechen, weil es in diesem Zusammenhang meines
Erachtens immer wieder falsche Darstellungen gibt. Na-
türlich kann man die Erwartungshaltung haben, dass bei
einem Bildungsgipfel bis zur Fußnote hinein dekliniert
wird, was denn nun passieren soll. Diese Erwartungshal-
tung ist nach meinem Dafürhalten in einem Konstrukt
aus 16 verschiedenen Ländern und dem Bund falsch. Al-
lerdings meine ich, dass der Bildungsgipfel klare und
richtige Signale gesetzt hat. In welche Richtung wird es
nun gehen?
Der erste Punkt wurde bereits angesprochen. Da ha-
ben alle ein Alleinstellungsmerkmal. Es geht um die Er-
höhung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts bis 2015. Ich halte es für richtig, dies
zu definieren, um nicht sozusagen einem Wettbewerb
Tür und Tor zu öffnen, wer denn Erster war bzw. wer als
Erster geschrien hat.
Zweiter Punkt: Dieser Bildungsgipfel hat von der
frühkindlichen Bildung in der Vorschule bis hin zur Wei-
terbildung einen klaren Katalog definiert.
Das Besondere an diesem Bildungsgipfel ist, dass
durch ihn – gerade, weil er von der Bundeskanzlerin or-
ganisiert wurde – ein deutliches politisches Zeichen ge-
setzt wurde. So wird jetzt darüber diskutiert, die Anzahl
der Schulabgänger ohne Abschluss zu halbieren, oder
darüber, die Quote derer, die ihre Ausbildung abbrechen,
zu halbieren. Das sind sehr klare und richtige Ziele. De-
ren Umsetzung wird in den nächsten Monaten und Jah-
ren von uns begutachtet werden, um herauszufinden,
was tatsächlich passiert.
Ich bin überzeugt, dass man dann im Rückblick fest-
halten kann, dass wir in den vier Jahren gerade hinsicht-
lich der Bildung, der Innovation und der Forschung sehr
viel erreicht haben. Ebenso wird festzustellen sein, dass
wir jetzt den Aufschlag dafür gegeben haben, dass neue
Wege gegangen werden und möglicherweise gewisse
Modelle, die man regional entwickelt hat und die inhalt-
lich, gesellschaftlich und politisch begründbar sind, in
diese Bildungsdiskussion aufgenommen werden. In we-
nigen Jahren wird dann zu analysieren sein, welche
Wege wir insgesamt gehen wollen.
Meines Erachtens waren die letzten vier Jahre erfolg-
reich. Trotzdem – Kollege Müller hat ja nichts anderes
gesagt – nehmen wir selbstverständlich die Forderungen
derjenigen, die sich jetzt auf der Straße für Bildung ein-
setzen, ernst.
(Lachen der Abg. Cornelia Hirsch [DIE
LINKE])
Ich glaube, dies trifft auf jeden hier im Haus zu; dies ist
wohl unbestritten. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Allerdings erwarten wir auch eine konstruktive Herange-
hensweise derjenigen, die betroffen sind. Dabei mag es
hier und da noch Defizite geben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt spricht der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann
für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine polemische Sequenz muss ich mir zu Anfang gön-
nen:
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das hätte uns
auch gewundert, wenn nicht!)
Mit Blick auf die Demonstrationen sprach der RCDS
von einem „dummen Mob“, Kollege Müller sprach von
„einem schönen Tag im Park“, und Frau Schavan be-
nutzte das Wort „gestrig“. Dergleichen muss nicht sein.
Ich freue mich, dass wir in der heutigen Debatte eine
ernsthafte Wende vollzogen haben. Auffällig ist, dass
man – FDP, CDU, quer durch alle Reihen – offensicht-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25091
(A) (C)
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
lich aufgrund der großen Zahl der Demonstranten sowie
der Ernsthaftigkeit und der Friedlichkeit, mit der sie ihre
Forderungen vortragen, jetzt vernünftig debattiert – das
ist gut –, weshalb die Situation so ist und welche
Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben.
In Bezug auf die Ernsthaftigkeit möchte ich das noch
etwas verständlicher machen: Professor Gruss von der
Max-Planck-Gesellschaft hat in die Debatte den Gedan-
ken eingebracht, dass dieser Protest eigentlich zur Un-
zeit komme; schließlich habe die Große Koalition zu-
sammen mit den Ländern erst am 4. Juni beschlossen,
zusätzlich 18 Milliarden Euro für Bildung und For-
schung zur Verfügung zu stellen. Es sei dahingestellt, ob
der Begriff „Unzeit“ wirklich zutreffend ist. Ich meine,
passender ist der Begriff „Ungleichzeitigkeit“. Die Un-
gleichzeitigkeit hat nämlich viele junge Menschen,
Schüler, Studenten, Lehrer und Eltern, dazu bewogen,
bei dieser bildungspolitischen Protestwoche mitzuma-
chen. Mit Ungleichzeitigkeit ist hier gemeint, dass zur
Aufrechterhaltung des Finanzsystems ganz schnell etwas
geschieht, während es ganz lange dauert, bis mehr Geld
für das Bildungssystem zur Verfügung gestellt wird, und
das, obwohl wir sagen, das Bildungssystem sei das
Wichtigste.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Man merkt zwar, dass es in Deutschland Menschen
gibt, die aus ökonomischen und auch aus humanisti-
schen Gründen wollen, dass jeder eine Chance hat, dass
es keine soziale Selektion und keine Unterschiedlichkeit
in den Bildungszugängen mehr gibt – Stichwort „Bil-
dungsland Deutschland“ –, stellt aber fest, wenn man
sich die Praxis anschaut, dass immer noch die einen
leichter als die anderen an die Hochschule gehen kön-
nen, dass die einen bessere Schulen als die anderen besu-
chen, dass es immer noch viele Widerstände dagegen
gibt, wirklich eine Schule für alle zu schaffen. Diese Un-
gleichzeitigkeit – oben wird das eine verkündet, und in
der Praxis erlebt man etwas ganz anderes – treibt so viele
Menschen in den Protest.
(Beifall bei der SPD)
Es wird immer wieder gesagt: Es muss ganz schnell
gehen, damit wir den Anschluss nicht verlieren. In Wirk-
lichkeit reden wir über Dinge, die 2013 und 2014 passie-
ren sollen. So sagt der Wissenschaftsrat: Initiativen für
eine bessere Lehre an den Hochschulen, etwa durch
mehr fachdidaktische Zentren, würden bestimmt nicht so
schnell ergriffen werden; angefangen werden soll erst
2014 in ganz kleinen Schritten. Aber dann haben viele
schon fertig studiert! Sowohl an der Schule als auch an
der Hochschule möchte man schon jetzt bessere Bedin-
gungen und eine gute Lehre. Es liegt also an dieser Wi-
dersprüchlichkeit, dass es diese Proteste gibt.
Kollege Kretschmer, es nützt nichts, auf die Zielvor-
gaben von 7 Prozent und 3 Prozent zu rekurrieren und zu
bekunden, dass man gemeinsam die öffentliche Bildung
stärken wolle, wenn eine ganz andere Entwicklung in
der Realität wahrgenommen wird. So merken die Eltern:
Die Kosten für Krippen und Kindertagesstätten sind
hoch. So merken die Familien, wie teuer Nachhilfe ist
und dass der Besuch von Privatschulen immer mehr
Geld kostet, dass überall Studiengebühren eingeführt
werden und dass zahlreiche weitere Kosten zu decken
sind. Ich verweise darauf, dass der private Anteil an der
Weiterbildung erstmals größer ist als der öffentliche An-
teil. Die Menschen hoffen zwar darauf, dass der öffentli-
che Sektor gestärkt wird; sie fürchten aber, dass die Ent-
wicklung in eine andere Richtung verläuft.
Beispielsweise könnte die Entwicklung darauf hi-
nauslaufen, dass Sozialausgaben gekürzt und Bildungs-
investitionen gefördert werden – das ist ja zum Beispiel
das Anliegen der FDP.
(Uwe Barth [FDP]: Sie versuchen jetzt, gegen-
einander auszuspielen! Damit machen Sie ge-
nau das, was Sie uns vorwerfen!)
Dieser Weg ist auf Selektion ausgerichtet.
Auch redet man gerne von öffentlichen Finanzen,
möchte aber in Wirklichkeit privates Geld in die öffentli-
che Finanzierung hineinfließen lassen, um so das Ziel
des 10-Prozent-Anteils zu erreichen.
Um all dem vorzubeugen, finden diese Proteste statt.
Deshalb ist damit auch eine ganz klare politische Ansage
verbunden: Glaubwürdigkeit lässt sich nicht daran mes-
sen, ob wir uns nun auf 16 Milliarden Euro oder
18 Milliarden Euro festlegen. Glaubwürdigkeit gewinnt
man vielmehr, wenn man – ich will keinen Adressaten
nennen, weil meine Äußerungen dann gleich als Wahl-
kampf denunziert würden – zum Beispiel auf einem Un-
ternehmertag sagt
(Uwe Barth [FDP]: Bis jetzt war Ihre Rede so
schön sachlich!)
– darf ich meinen Gedanken zu Ende bringen? –: Ihr
wollt doch etwas für Bildung und Forschung tun; des-
halb erwarten wir von euch, dass ihr dafür eintretet, dass
diejenigen, die ganz viel Geld haben, einen Solidarbei-
trag von in Höhe von 1,5 Prozent leisten. Wer da dafür
wirbt, wo es am schmerzhaftesten ist und wo er am we-
nigsten auf Zustimmung stößt, dass Großes nicht nur
versprochen, sondern auch materiell unterlegt wird,
schafft Glaubwürdigkeit. Das ist das, was die Menschen
einfordern, die jetzt demonstrieren.
(Beifall bei der SPD)
Diese Menschen erwarten zugleich, dass die Wirt-
schaft keine zusätzlichen Forderungen stellt; vielmehr
kann die Wirtschaft zum Beispiel dadurch einen ganz
konkreten Beitrag leisten, dass sie sich dazu verpflichtet,
600 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen.
Nicht alle, die davon profitieren, demonstrieren mit; aber
auch für deren Interessen wird demonstriert, und sie sind
uns mindestens so wichtig wie Schüler, Studenten und
andere. Auch diejenigen, die in beruflicher Bildung sind,
dürfen nicht alleingelassen werden.
(Beifall bei der SPD)
Das sind die wichtigsten Punkte.
25092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ich komme zum Schluss. Diese Bewegung ist offen,
diffus. Manche beklagen, dass es gar keine Ansprech-
partner gibt. Gut wäre es, wenn wir Parlamentarier oder
auch jede Fraktion für sich sagen würden: Wir bieten uns
zum direkten Gespräch an. Wir haben keine Angst da-
vor, „in den Park zu gehen“. Wir haben keine Angst vor
dem „dummen Mob“. Wir haben keine Angst vor sehr
kritischen Hochschullehrern. Nein, wir als Fraktionen
bieten uns für Gespräche an, jeder vor Ort an Schulen
oder Hochschulen. Das bringt Bindung und drückt die
Ernsthaftigkeit unserer Vorhaben aus. Herr Kollege
Müller, ich sehe, dass Sie nicken. Es könnte also etwas
Gemeinsames werden.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Monika Grütters hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Monika Grütters (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es
vorweg zu sagen: Ich habe Verständnis für den Frust, der
sich bei den jungen Leuten über die, wie auch ich finde,
oft zu miesen Bedingungen an den Hochschulen in
Deutschland angestaut hat. Ich habe auch Verständnis
für den einen oder anderen cleveren Protest, für einen
demonstrativ artikulierten Willen, etwas zu verbessern.
Das kennen wir ja alle aus unserer eigenen Studienzeit;
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Donner-
wetter!)
denn damals war die Situation nicht besser, aber auch
nicht schlimmer, als sie heute ist. Ich habe aber kein Ver-
ständnis für manche Aktionen, die hier genannt wurden,
und ich habe erst recht kein Verständnis für einen Streik;
denn ich finde es absurd, etwas zu bestreiken, was man
gerne haben möchte.
An anderer Stelle – das kommt nicht häufig vor –, bin
ich mit Ihnen einer Meinung, Herr Rossmann. Sie haben
den Begriff der Ungleichzeitigkeit genannt. Ich sage:
Wir haben es hier mit einem Ritual zu tun, das sich in der
Bundesrepublik seit Jahrzehnten regelmäßig wiederholt.
(Christel Humme [SPD]: Schlimm genug, dass
sich das immer wieder wiederholt!)
– Wenn Sie den Vorwurf auf sich beziehen, dann ist das
Ihre Sache. Ich habe das nicht so gemeint. Ich stelle le-
diglich fest, dass es kaum ein Thema gibt, bei dem An-
spruch und Wirklichkeit so weit auseinanderliegen wie
beim Thema Bildung. Das ist seit Jahrzehnten so. Über
dieses Phänomen müssen wir uns Gedanken machen. Es
geht immer wieder um Bildung, Bildung, Bildung. Da-
rauf verweisen wir alle seit Jahrzehnten, nicht nur in
Sonntagsreden, sondern auch bei jeder anderen Gelegen-
heit. Wir alle sind uns im Übrigen einig, dass wir in einer
globalen Wirtschaftskrise in Bildung investieren wollen.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Taten sind gefordert!)
Auf der anderen Seite – das müssen Sie sich alle an-
hören, weil Sie alle, bis auf die Grünen, in den Ländern
mitregieren – stehen Schüler, Lehrer, Eltern und Profes-
soren und beklagen sich seit 30 Jahren über dieselben
Phänomene: überforderte Lehrer, schlechte Ausstattung,
überfüllte Hörsäle, zu wenig Förderung, zu wenig Forde-
rung, blödsinnige Losverfahren bei der Aufnahme zum
Gymnasium oder einfach zu wenig Geld. Wir reformie-
ren immer weiter.
(Katja Mast [SPD]: Wir haben auch etwas vor-
zuweisen in den Ländern! – Cornelia Hirsch
[DIE LINKE]: Wie ist es denn mit den Stu-
diengebühren in den Ländern?)
Aber wir müssen uns nach 30 Jahren – auch Sie, Frau
Hirsch, die Sie vielleicht noch nicht dabei waren – auch
fragen, wo wir heute, viele Bildungsoffensiven später,
stehen: eben da, wo die Proteste schon in den 70er-Jah-
ren angefangen haben – zumindest, was die Unzufrie-
denheit der Betroffenen angeht.
Vielleicht sind es ja gar nicht die Reformen, die am
Ende wirklich etwas verbessern; auf dem Feld der Bil-
dung wird ja häufig nur noch ideologisch diskutiert.
Vielleicht fehlt es an etwas anderem, nämlich an Konti-
nuität, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Beständig-
keit.
Die Debatte, die gestern zum Thema Bachelor geführt
worden ist – Stichwort Bologna-Prozess –, ist ein beson-
ders signifikantes Beispiel für meine These. Obwohl die
Studiengänge noch nicht vollständig umgewandelt sind
– es sind gerade einmal 75 Prozent –, wird schon dage-
gen protestiert. Wenn man nicht wenigstens im Bereich
der Bildung einen etwas längeren Atem hat, dann wer-
den wir dieses Ritual nicht abschütteln können.
Ich finde es toll, dass auf der Zuschauertribüne relativ
viele junge Leute sitzen und auf diese Weise Interesse an
der Debatte zeigen. Zu Ihrer Information möchte ich sa-
gen: Die Bundesregierung, die für Bildung nicht zustän-
dig ist – Bildung ist nach wie vor Sache der Länder –,
hat in den letzten Jahren mehr, als sie eigentlich dürfte,
getan. Die Ausgaben für Bildung und Forschung wurden
um ein Viertel auf fast 10 Milliarden Euro gesteigert.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Für die Abwrackprämie 5 Milliarden! Sie zu
beschließen, hat eine Nacht gedauert!)
Ich finde, dass das dazugehört, gerade auch, weil Frau
Pieper sich bei den Leistungen der Großen Koalition et-
was vertan hat. Entgegen ihren Aussagen ist somit fest-
zuhalten: Es wurde mehr abgebaut als aufgebaut.
So haben wir auch im Zuge der BAföG-Reform, die
häufig genug von Finanzminister Steinbrück torpediert
worden ist, die Bedarfssätze um mehr als 10 Prozent er-
höht. Die Zahl der Geförderten ist heute um 75 000 Stu-
dierende gestiegen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist nicht
richtig! Wir haben das durchgesetzt!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25093
(A) (C)
(B) (D)
Monika Grütters
– Herr Rossmann, wir hatten mehr Probleme mit Herrn
Steinbrück als mit den Forderungen von Frau Schavan.
Das zu sagen, gehört zur Wahrheit dazu.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
der SPD)
Wir geben derzeit jährlich fast 2,2 Milliarden Euro für
Ausbildungsförderung aus sozialen Gründen aus. Den
einkommensunabhängigen Studienkredit, um den ges-
tern gerungen wurde, gibt es längst.
Übrigens steht in unserem Wahlprogramm, dass
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus-
gegeben werden soll, laut Ihrem sollen es gerade einmal
7 Prozent sein. Das muss in aller Deutlichkeit gesagt
werden.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sieben plus
drei macht zehn, Frau Kollegin!)
– Das steht in Ihrem Programm. Da ist von 7 Prozent die
Rede. Ich kann Ihnen sogar die entsprechende Seitenzahl
nennen.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist unter
Ihrem Niveau!)
– Es ist unter Ihrem Niveau, so etwas in das Wahlpro-
gramm zu schreiben. Ich kann Ihnen das genau nachwei-
sen.
(Ulla Burchardt [SPD]: Sieben plus drei ergibt
zehn!)
Auf den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative und
den Pakt für Forschung und Innovation will ich jetzt
nicht weiter eingehen und komme noch zu einem ande-
ren Punkt. Viele haben Probleme mit dem Begriff Elite.
In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung nach
Abschaffung von Bachelor und Master zu sehen. Zur
Angst vor der Elite will ich Folgendes sagen:
Den 87 Millionen Euro, die von den Stiftungen an ta-
lentierte Studenten in Form von Stipendien ausgereicht
werden, stehen 2,2 Milliarden Euro Ausgaben für
BAföG gegenüber. Hier kann man also kaum von Elite-
förderung sprechen. Es wäre allerdings gut, wenn man
den Anteil der Stipendiaten erhöhen würde.
40 Prozent eines Jahrgangs – da sind wir weiter als
vor 30 Jahren – gehen heute auf eine Universität. Das
heißt, die Unis sind für die Bildung eines großen Teils
der deutschen Bevölkerung zuständig. Man kann ange-
sichts dieser Zahl vielleicht nicht von Elite, aber von ei-
ner Gruppe mit gehobenem Bildungsstandard sprechen.
Das ist ein Erfolg der Bildungspolitik der letzten
30 Jahre.
Erlauben Sie mir zum Schluss, den protestierenden
Studenten einen Rat zu geben, die unter anderem eine
Demokratisierung und Stärkung der Mit- und Selbstver-
waltung fordern: Sie sollten zur Wahl gehen, wenn es
um ihr eigenes Studentenparlament geht!
(Zurufe von der SPD: Oh!)
An der letzten Wahl der Humboldt-Universität, die ges-
tern bestreikt wurde, haben nur 6,1 Prozent der Studen-
ten teilgenommen. Ich kann den Studenten nur sagen:
Wir tun hier das Unsrige, tun Sie das Ihre!
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat Katja Mast das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Katja Mast (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Liebe Frau Kollegin Grütters, Lesen hilft. Aber Zu-
Ende-Lesen ist auch wichtig. In unserem Wahlprogramm
steht: 7 Prozent für Bildung und 3 Prozent für For-
schung. Addieren wir das zusammen, ergeben sich
10 Prozent. Deshalb ist das, was Sie gerade gesagt ha-
ben, so nicht richtig. Um uns richtig zitieren zu können,
müssen Sie schon unser gesamtes Wahlprogramm lesen.
Aber dafür haben Sie ja noch bis zur Stimmabgabe am
27. September Zeit.
In der Aktuellen Stunde zum Bildungsstreik reden zu
dürfen, ist für mich eine besondere Ehre. Bildung ist
Menschenrecht. Das steht so im SPD-Regierungspro-
gramm, und zwar aus gutem Grund. Denn wer am Rand
steht und von dort weg will, schafft das zuallererst durch
Bildung. Bildung ist der Schlüssel für gesellschaftlichen
Aufstieg, für einen Job und für die eigene Zukunft. Das
habe ich persönlich erfahren, da meine eigene Bildungs-
karriere nur durch sozialdemokratische Politik möglich
war.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Hauptschule, Gymnasium, Berufsausbildung, Stu-
dium und Weiterbildung: So war das bei mir. Das war
nicht von Anfang an so angelegt; keines meiner drei Ge-
schwister hat studiert. Meine Mutter hat uns vier Kinder
alleine durchgebracht. Ich habe früh erfahren, dass Bil-
dungstüren immer wieder neu geöffnet werden müssen.
Das ist der Grund, warum ich heute für die Sozialdemo-
kratische Partei Deutschlands hier stehe und für Chan-
cengerechtigkeit im Bildungssystem kämpfe. Denn der
Aufstieg durch Bildung ist nicht eine Floskel, sondern
politisches Programm der SPD, und das nicht erst seit
gestern, sondern schon seit über 140 Jahren.
(Beifall bei der SPD)
Es ist deshalb gut, dass junge Menschen heute auf der
Straße für Bildung streiken. Denn sie wissen: Es ist Bil-
dung, die ihnen Zukunftschancen ermöglicht. Das ist der
Grund, weshalb die SPD mit Leidenschaft die Bildungs-
errungenschaften wie die Studienförderung BAföG ver-
teidigt und ausbaut – es gab zwei Erhöhungen – und er-
reichen will, dass Bildung gebührenfrei für alle ist, und
zwar von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule. Das
steckt hinter unserer Wertvorstellung: Bildung ist Men-
schenrecht.
Lassen Sie uns die Situation in den Ländern an-
schauen, wo Sozialdemokraten mit in der Regierung
25094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Katja Mast
sind: keine Studiengebühren in Berlin, Mecklenburg-
Vorpommern, Brandenburg und Bremen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Schles-
wig-Holstein!)
– Auch Schleswig-Holstein. – Lassen Sie uns jetzt noch
anschauen, wie es beim sozialdemokratischen Bildungs-
champion Rheinland-Pfalz aussieht, wo die SPD alleine
regiert: keine Studiengebühren und noch in diesem Jahr
für Kinder ab drei Jahre überhaupt keine Kita-Gebühren
mehr
(Beifall bei der SPD)
und für Kinder ab zwei Jahre ab nächstem Jahr keine
Kita-Gebühren mehr. Das ist konkrete Bildungs- und
Aufstiegspolitik.
Aber das Thema Bildung betrifft nicht nur Kindergar-
ten, Schule und Hochschule, sondern auch die Berufs-
ausbildung. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir brau-
chen gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise
mindestens 600 000 neue Ausbildungsverträge.
(Beifall bei der SPD)
Das erwarten wir von der Wirtschaft; denn die Ausbil-
dung der Fachkräfte ist zuallererst ihre Aufgabe. Aber
ganz so einfach machen wir uns das nicht. Wir helfen,
wo es geht – ab morgen hoffentlich unbürokratisch auch
den sogenannten Insolvenzauszubildenden; denn mor-
gen beschließen wir das entsprechende Gesetz. Die Aus-
zubildenden können nichts dafür, wenn ihre Ausbildung
nicht weitergeführt werden kann, weil die Firma insol-
vent geht. Wir helfen ihnen über die Bundesagentur für
Arbeit, die ihnen einen Ausbildungsbonus geben kann.
Das hilft in der Krise, das hilft den jungen Menschen,
und das hilft, eine Zukunft im Betrieb zu haben.
Jetzt denkt sicher jeder: Was hat das mit dem Men-
schenrecht auf Bildung, wie es bei der SPD heißt, zu tun?
Sehr viel; denn Rechte werden in konkreten Taten gemes-
sen und nicht auf dem Papier. Hier eröffnet die Große Ko-
alition auf sozialdemokratische Initiative hin neue Hil-
fen, um einen Schutzschirm für Ausbildungsplätze zu
spannen. Das wurde in dieser Legislaturperiode oft deut-
lich, und zwar besonders im Verantwortungsbereich un-
seres sozialdemokratischen Bundesministers Olaf
Scholz, der sich für die Bildung sehr einsetzt.
(Beifall bei der SPD)
Zum Beispiel haben wir für jeden das lebenslange Recht
auf Nachholen des Hauptschulabschlusses eingeführt,
zum Beispiel den Ausbildungsbonus für Altbewerber ge-
schaffen und zum Beispiel das Schulbedarfspaket für
Kinder in Arbeitslosengeld-II-Empfänger-Haushalten in
Höhe von jährlich 100 Euro beschlossen.
Bildung für alle statt Privilegien für wenige – das ist
die Richtschnur unseres Handelns. Wir wollen aber
mehr. Wir wollen eine Stärkung der Schulsozialarbeit
und Berufsorientierung an jeder Schule und für alle über
20 Jahre eine garantierte Berufsausbildung.
Um in Bildung investieren zu können, wollen wir et-
was mehr von den Steuern derjenigen, die sich das leis-
ten können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dafür fehlt heute noch die Mehrheit. Aber das ist Bil-
dungspolitik, die den jungen Menschen, die heute strei-
ken und ihr Zukunftsrecht einfordern, die Chancenge-
rechtigkeit gibt, die sie brauchen, damit sie den
Generationenvertrag erfüllen können. Jedem streikenden
Jugendlichen rufe ich zu: Denkt am 27. September auch
daran, wenn ihr zur Wahl geht! Bildungspolitik braucht
jede Stimme.
Glück auf!
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit schließe ich die Aussprache und beende die
Aktuelle Stunde.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 c sowie 6 a
und b auf:
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert
Hüppe, Beatrix Philipp, Dr. Norbert Lammert
und weiterer Abgeordneter
Gesetzliche Überregulierung der Patienten-
verfügung vermeiden
– Drucksache 16/13262 –
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Joachim Stünker, Michael Kauch,
Dr. Lukrezia Jochimsen und weiteren Abge-
ordneten eingebrachten Entwurfs eines Drit-
ten Gesetzes zur Änderung des Betreu-
ungsrechts
– Drucksache 16/8442 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Wolfgang Bosbach, René Röspel,
Katrin Göring-Eckardt und weiteren Abge-
ordneten eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verankerung der Patienten-
verfügung im Betreuungsrecht (Patienten-
verfügungsgesetz – PatVerfG)
– Drucksache 16/11360 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Wolfgang Zöller, Dr. Hans Georg
Faust, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weite-
ren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Klarstellung der Ver-
bindlichkeit von Patientenverfügungen
(Patientenverfügungsverbindlichkeitsge-
setz – PVVG)
– Drucksache 16/11493 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13314 –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25095
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordneter Ute Granold
Joachim Stünker
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch,
Dr. Max Stadler, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Patientenverfügungen neu regeln – Selbstbe-
stimmungsrecht und Autonomie von nichtein-
willigungsfähigen Patienten stärken
– Drucksachen 16/397, 16/13314 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Dazu werden wir später mehrere namentliche Ab-
stimmungen durchführen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll ein-
einviertel Stunden debattiert werden. Diese Zeit soll
nach dem Stärkeverhältnis der Unterstützer der vier
Gruppeninitiativen verteilt werden. – Dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Christoph Strässer für die Gruppe Stünker und
andere.
(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])
Christoph Strässer (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tag könnte ein guter
Tag werden, nicht nur für den Deutschen Bundestag
– das wäre schon sehr schön –, sondern auch für Millio-
nen von Menschen, von Bürgerinnen und Bürgern in die-
sem Land, die darauf warten, dass wir – ich sage es ein-
mal etwas platt – endlich zu Potte kommen in diesem
Hohen Hause.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und der LINKEN)
Ich sage ganz klar, dass ich für viele der Debatten
großes Verständnis habe; denn wir reden wirklich über
ziemlich fundamentale Fragen. Kein Verständnis mehr
habe ich hingegen dafür, dass es nach einer Debatten-
dauer von vielen Jahren in diesem Land noch relevante
Gruppen gibt – in diesem Hause, aber zum Beispiel auch
in Gestalt der Bundesärztekammer –, die sagen, wir
bräuchten keine Regelung, weil alles klar sei und weil
durch eine Regelung nur überreguliert werde. Wie das
zusammenpassen soll, ist ein Aspekt. Der andere aber
ist: Wer noch heute, nachdem wir mindestens seit 2003,
seit einem berühmten Urteil des Bundesgerichtshofs,
ernsthaft über die Frage der Reichweite und der Wirkung
von Patientenverfügungen streiten, sagt: „Wir brauchen
kein Gesetz, wir brauchen keine Regulierung“, der hat
mindestens die Diskussion der letzten sechs Jahre ver-
schlafen und sollte sich angesichts dessen einmal besin-
nen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich möchte in aller Kürze auf den sogenannten
Stünker-Entwurf – aufgrund der Debatten, die wir hier
geführt haben, sind noch einige Veränderungen vorge-
nommen worden – eingehen. Ich glaube – das ist meine
feste Überzeugung und auch die der Kolleginnen und
Kollegen, die diesen Entwurf unterstützen –, dass er dem
Ziel, das in vielen Debatten geäußert worden ist, zuletzt
in der Sachverständigenanhörung vor wenigen Wochen
in diesem Hause, und das die meisten in diesem Hohen
Hause erreichen wollen, nämlich ein selbstbestimmtes
Sterben, Selbstbestimmung und Menschenwürde am
Ende eines Lebens zu ermöglichen, am nächsten kommt
und die beste Form der Umsetzung darstellt.
Die wichtigste und zentrale Botschaft – ich lasse die
Punkte, in denen es Übereinstimmung gibt, wie Form-
vorschriften und Regelungen im Betreuungsrecht, außen
vor –, die von diesem Gesetzentwurf ausgeht, ist nach
meiner Überzeugung: Wir nehmen den Willen von Men-
schen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Zustand
der vollen Entscheidungsfähigkeit eine Entscheidung für
die Zukunft getroffen haben, ernst, auch wenn sie aktuell
in einer Situation sind, in der sie nicht mehr selber ent-
scheiden können. Das ist die Kernbotschaft unseres Ge-
setzentwurfes. Er entspricht dem Grundsatz der Selbst-
bestimmung und der Beachtung der Menschenwürde
auch am Ende eines Lebens am meisten. Das ist meine
Überzeugung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich möchte den Kernunterschied, den es aus meiner
Sicht zum sogenannten Bosbach/Röspel-Entwurf gibt,
darstellen, weil ich glaube, dieser Punkt ist maßgeblich
dafür, zu welcher Entscheidung man sich in diesem Ho-
hen Hause auch unter Einbeziehung Ihres Entwurfes,
Herr Kollege Zöller, durchringen wird. Der Kernpunkt
unseres Entwurfs ist, dass die Patientenverfügung, der
entweder schriftlich oder durch Auslegung eines mut-
maßlichen Willens festgestellte Wille, auch dann gelten
muss, wenn die Krankheit, um die es geht, und der
Krankheitszustand, um den es geht, nicht irreversibel
zum Tode führen. Das ist die klare Botschaft. Ich betone:
Ich will keine Zweiklassenwillenserklärung, keine Zwei-
klassenselbstbestimmung. Es soll gelten, was jemand
aufgeschrieben hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
25096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Christoph Strässer
Ferner möchte ich einen Punkt anführen, der viel-
leicht für Klarheit sorgen kann. Dem Stünker-Entwurf
wurde im Rahmen der Debatte vorgehalten, es gebe zwi-
schen der Abfassung einer Patientenverfügung und der
letztendlichen Inkraftsetzung und Durchführung dieser
Patientenverfügung einen Automatismus. Ich habe es
schon damals für falsch gehalten, als dies gesagt wurde.
Nach der Sachverständigenanhörung – ich darf Sie bit-
ten, sich das einmal anzuschauen – haben wir einen
neuen § 1901 b BGB vorgesehen, in dem sehr klar aus-
geführt wird, dass es diesen Automatismus definitiv
nicht gibt. Vielmehr wird vorgeschrieben, dass es ein
Gespräch zwischen Arzt und Betreuer geben muss und
dass infolge dieses Gespräches die Frage gestellt werden
wird: Setzen wir die Patientenverfügung um, oder setzen
wir sie nicht um? Ich glaube, das ist das Gegenteil von
Automatismus. Ich hoffe, dass es Ihnen mit dieser neuen
Formulierung in unserem Gesetzentwurf möglich wird,
diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Letzter Punkt. Ich weiß, eine Patientenverfügung ist
nicht alles. Wir brauchen – ich bin sehr froh darüber,
dass es jetzt auch bei der spezialisierten ambulanten Pal-
liativversorgung Fortschritte gibt und die Kassen da ei-
nen Sprung gemacht haben – eine Verbesserung der
Schmerztherapie und eine bessere Förderung der Hos-
pizbewegung. In diesem Kontext spielt die Patientenver-
fügung eine wichtige Rolle.
Ich bitte Sie ganz herzlich darum, am Ende dieser De-
batte unserem Entwurf zuzustimmen. Das erwarten sehr
viele Menschen in diesem Land. Wir in diesem Hohen
Hause tun ihnen einen großen Gefallen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege René Röspel hat jetzt das Wort.
René Röspel (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zwei Jahre nach dem Tod meiner Großmutter
frage ich mich noch heute, ob wir alles richtig gemacht
haben. Sie war eine Frau, die nie in ein Pflegeheim
wollte, eine Frau, die nie in den Rollstuhl wollte, weil sie
dies für entwürdigend und beschämend hielt.
Kurz vor ihrem 90. Geburtstag musste sie ins Pflege-
heim, und es kam der Tag, an dem sie ihren Besuch am
Teich mit ihren geliebten Urenkeln nur noch im Roll-
stuhl schaffte. Ja, wir haben gegen den Willen verstoßen,
den meine gesunde Großmutter ausgedrückt hat, aber
nicht gegen den Willen der Erkrankten gehandelt. Sicher
bin ich, dass wir zu ihrem Wohl gehandelt haben. Ver-
mutlich haben wir das Selbstbestimmungsrecht der ge-
sunden Frau verletzt, nicht aber das der erkrankten.
Wäre es andersherum besser gewesen?
Das ist nicht der einzige Fall, aber der mir nächste,
bei dem ich erlebt habe, dass scheinbar unverrückbare
und feststehende Positionen eines Menschen sich im
Laufe einer Krankheit veränderten und neue, andere Le-
bensperspektiven hinzukamen.
Solche Konflikte gibt es sicherlich nicht in den Fäl-
len, in denen die Krankheitsverläufe tödlich sind, Hei-
lung nicht mehr möglich ist und medizinische Behand-
lung das Sterben nur verlängern würde. Eine solche oder
ähnlich lautende Formulierung findet sich in vielen Pa-
tientenverfügungen, sowohl in der Christlichen Patien-
tenverfügung – der bin ich auf Veranstaltungen am
häufigsten begegnet – als auch in der des Bundesminis-
teriums der Justiz. Die Formulierung „tödlich verlau-
fende Krankheit“ ist eine Selbstbeschränkung, die von
vielen Menschen gewählt wird, um vor Fehlinterpreta-
tionen sicher zu sein. Diese Formulierung entspricht
auch der Reichweitenbeschränkung, die im Entwurf von
Bosbach, Röspel und anderen für die einfache Patienten-
verfügung vorgesehen ist. Die Patientenverfügung wird
verbindlich. Diese Reichweitenbeschränkung wird sehr
häufig kritisiert.
Die Frage ist allerdings, wie sich ein Patient entschei-
den würde, wenn die Krankheit heilbar wäre und er wie-
der gesund werden könnte. Wenn es darum geht, so zu
entscheiden, wie der Patient jetzt in dieser Situation ent-
scheiden würde, wenn er es denn könnte, wenn das die
zentrale Aufgabe ist, dann ist die entscheidende Frage,
wie wir sicherstellen, dass einerseits nicht diejenigen
verlieren, die sich in der konkreten Situation anders ent-
scheiden würden, als sie es als gesunder Mensch in ihrer
Patientenverfügung aufgeschrieben haben, weil ihre Pa-
tientenverfügung umgesetzt wird, und wie wir anderer-
seits sicherstellen, dass der Wille derjenigen durchge-
setzt wird, die sich in der aktuellen Situation trotz
Heilungschancen und anderer möglicherweise lebensbe-
jahender Bewertungen des Betreuers einen Handlungs-
abbruch wünschen würden. Aus meiner Sicht lassen die
anderen Gesetzentwürfe dieses Problem letztlich offen
und interpretationsfähig und werden zu mehr Unsicher-
heit führen.
Der Gesetzentwurf der Gruppe Bosbach, Röspel,
Göring-Eckardt und andere sieht als Lösung die qualifi-
zierte Patientenverfügung vor. Als Reaktion auf die An-
hörung, in der das kritisiert wurde, haben wir die notari-
elle Beurkundung gestrichen. Wir sehen die qualifizierte
Patientenverfügung vor. Wer sich ärztlich beraten lässt,
der kann unabhängig von Art und Stadium der Erkran-
kung – diesbezüglich unterscheidet sich unser Entwurf
nicht vom Stünker-Entwurf – die medizinische Behand-
lung beenden lassen.
(Joachim Stünker [SPD]: Aber nur mit vor-
mundschaftlicher Genehmigung!)
Ich sehe darin keine bürokratische Hürde, was uns
häufig vorgeworfen wird, sondern einen Sicherungs- und
Erklärungsmechanismus. Wer nach ärztlicher Beratung
sagt: „Ja, ich weiß, was meine Patientenverfügung be-
deutet, und ja, ich will, dass das so umgesetzt wird“, er-
hält mit dem Entwurf Bosbach und Röspel mehr Sicher-
heit, dass sein Wille erkannt und umgesetzt wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25097
(A) (C)
(B) (D)
René Röspel
Ich bitte Sie, Ihre parlamentarische Verantwortung
heute wahrzunehmen und für einen der Gesetzentwürfe
zu stimmen. Ich glaube, wir sind es den Menschen im
Lande schuldig, dass es eine Entscheidung gibt. Ich bitte
Sie abschließend, für den Gesetzentwurf Bosbach und
Röspel zu stimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Wolfgang Zöller.
Wolfgang Zöller (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Diskussion, die in der letzten Zeit über die Patien-
tenverfügung geführt wurde, hat eine positive Auswir-
kung: Noch nie zuvor wurde so viel und so intensiv über
Patientenverfügungen geredet und diskutiert. Das hat lo-
gischerweise große Erwartungen geweckt. Außerdem
hat diese Diskussion bei sehr vielen Betroffenen, die be-
reits eine Patientenverfügung haben, zu einer großen
Verunsicherung geführt: Gilt sie noch, oder gilt sie nicht
mehr?
Vielen Menschen flößt die Vorstellung, am Lebens-
ende Objekt einer hochtechnisierten Medizin zu sein,
nach wie vor Angst ein. Hinzu kommt, dass es viele
Menschen gibt, die der Auffassung sind, man brauche
überhaupt keine gesetzliche Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus all diesen Grün-
den haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur
das regelt, was unbedingt notwendig ist, um die derzei-
tige gute Praxis rechtssicher zu gestalten. Die zentralen
Punkte unseres Gesetzentwurfes sind:
Erstens. Die in der Praxis bestehende Rechtsunsicher-
heit im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Patienten-
verfügung wird beseitigt.
Zweitens. Der Wille des Patienten ist zu respektieren.
Die Patientenverfügung ist grundsätzlich verbindlich.
Sowohl der ausdrücklich erklärte als auch der zu ermit-
telnde mutmaßliche Wille des Patienten wirken nach
Verlust der Einwilligungsfähigkeit fort.
Drittens. Die Patientenverfügung soll in der Regel
dem Erfordernis der Schriftform nachkommen. Dies ist
unserem Gesetzentwurf zufolge jedoch nicht zwingend
erforderlich. Die Wirksamkeit der Patientenverfügung
ist auch bei mündlicher Ausdrucksweise gegeben.
Viertens. Vor der Erstellung einer Patientenverfügung
soll eine ärztliche Beratung über Krankheitsbilder, Mög-
lichkeiten der medizinischen Behandlung und die Folgen
des Abbruchs oder der Nichtvornahme von Behand-
lungsmaßnahmen erfolgen. Damit nicht aus Kostengrün-
den auf eine Beratung verzichtet wird, werden ihre Kos-
ten von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen.
Fünftens. Auch bei Vorliegen einer Patientenverfü-
gung erfolgt immer eine individuelle Ermittlung des ak-
tuellen Patientenwillens. Diese Regelung trägt der Tatsa-
che Rechnung, dass sich aufgrund des medizinischen
Fortschritts neue Behandlungsmöglichkeiten ergeben
können, von denen der Patient zu dem Zeitpunkt, als er
seine Patientenverfügung verfasst hat, noch nichts wis-
sen konnte.
Sechstens. Wir wollen keinen Automatismus, sondern
eine individuelle Betrachtung. Die Vielfalt der denkba-
ren Situationen am Lebensende entzieht sich nämlich ei-
ner pauschalen Betrachtung und lässt sich deshalb auch
nicht bis ins Details regeln. Das Sterben ist nun einmal
nicht normierbar. Eine gesetzliche Regelung darf des-
halb keinen Automatismus, der auf eine buchstabenge-
rechte Umsetzung und Ausführung gerichtet ist, in Gang
setzen.
Siebtens. Es muss ein Dialog der Beteiligten stattfin-
den. Die Umsetzung des Patientenwillens in der konkret
eingetretenen Behandlungssituation soll ein dialogischer
Prozess zwischen Arzt und rechtlichem Vertreter sein. In
diesen dialogischen Prozess können nahestehende Perso-
nen, Pflegekräfte oder Mitglieder von Behandlungsteams
beratend einbezogen werden. Wir sind fest davon über-
zeugt: Durch diesen dialogischen Prozess zwischen den
Beteiligten zur Ermittlung des Patientenwillens wird der
Patientenautonomie und dem Lebensschutz gleicherma-
ßen Rechnung getragen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich an dieser Stelle insbesondere den Kolleginnen
Dr. Däubler-Gmelin und Knoche sowie dem Kollegen
Dr. Faust Dank sagen, die mit uns gemeinsam versucht
haben, über die Parteigrenzen hinweg eine tragfähige
Lösung zu finden.
Unser Vorschlag war von Anfang an als Mittelweg
angelegt. Im Anschluss an die Anhörung sind wir den
Initiatoren der beiden anderen Gesetzentwürfe an zwei
Stellen, auf die sie in der Anhörung Wert gelegt haben,
entgegengekommen. Wir haben die Hoffnung, eine sinn-
volle gesetzliche Regelung im Sinne der Betroffenen zu
treffen, nicht aufgegeben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch eine persönliche Bitte anschließen. Ich bitte
uns alle: Unterlassen wir gegenseitige Schuldzuweisun-
gen nach dem Motto, die einen seien ausschließlich für
den Lebensschutz, die anderen ausschließlich für die
Selbstbestimmung zuständig. Diese Frage ist als Gewis-
sensfrage angelegt, daher sollten wir gegensätzliche
Auffassungen respektieren.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD sowie der Abg. Monika Knoche [DIE
LINKE])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Hubert Hüppe spricht als Nächster.
Hubert Hüppe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fünf Jahren hat die Enquete-Kommission „Recht
25098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Hubert Hüppe
und Ethik der modernen Medizin“ einen Zwischenbe-
richt zum Thema Patientenverfügung vorgelegt. Damals
habe ich als stellvertretender Vorsitzender der Enquete-
Kommission dem Vorschlag, eine umfassende gesetzli-
che Regelung zu schaffen, zugestimmt. Seitdem gab es
viele Beratungen hier im Parlament, in den Ausschüssen
und auf vielen öffentlichen Veranstaltungen. Ich habe
meine Meinung geändert.
Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso
mehr kamen mir Zweifel, dass ein Gesetz die Situation
besser machen würde, als sie jetzt ist. Viele von denen,
die meinen Antrag, auf eine rechtliche Regelung zu ver-
zichten, unterzeichnet haben, hatten vorher bei anderen
Anträgen unterschrieben; aber auch sie haben in den Ge-
sprächen mit Praktikern erfahren, dass man den Versuch,
etwas zu regeln, das man nicht regeln kann, nicht unter-
nehmen sollte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der LINKEN)
Je mehr man mit den Menschen spricht, die nah am
Patienten sind, umso mehr kommen die Zweifel. Deswe-
gen ist es nicht verwunderlich, dass uns die Bundesärzte-
kammer warnt, eine rechtliche Regelung zu treffen. In-
zwischen hat auch der Deutsche Hospiz- und Palliativ-
Verband davor gewarnt, ein Gesetz zu beschließen. Die
Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie
hat gesagt, wir sollten kein Gesetz schaffen. Vor allem
Patienten- und Angehörigengruppen wie die Deutsche
Alzheimer-Gesellschaft haben gesagt – das ist für mich
am wichtigsten –, dass man kein Gesetz schaffen solle,
weil die Situation dadurch eher schlechter als besser
werde. Inzwischen haben auch die Kirchen vor einer ge-
setzlichen Regelung gewarnt. Ich erwähne das, weil
viele dieser Gruppen in der Vergangenheit eine gesetzli-
che Regelung gefordert haben.
Ich bitte die Kollegen Strässer und Röspel, Folgendes
zu akzeptieren: Man kann seiner parlamentarischen Ver-
antwortung auch dadurch gerecht werden, dass man zu
dem Schluss kommt, eine rechtliche Regelung sei nicht
so gut ist wie eine nichtrechtliche. Zumindest das sollten
Sie verstehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der LINKEN)
Ich finde es sehr seltsam, wenn in der Öffentlichkeit
– nicht von Parlamentariern, aber von anderen – gesagt
wird, es sei ein Armutszeugnis, wenn dieses Parlament
heute kein Gesetz verabschieden würde, wenn man
nichts zustande bekäme. Es kann nicht sein, dass Men-
schen sagen: Besser ein schlechtes Gesetz als kein Ge-
setz! Wer in diesem Fall, bei einer Frage, bei der es um
Leben oder Tod geht, lieber ein schlechtes Gesetz als gar
kein Gesetz wünscht, hat die Dimension der Frage nicht
verstanden.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Hüppe, der Kollege Stöckel würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Hubert Hüppe (CDU/CSU):
Nein, ich möchte im Zusammenhang weitersprechen.
Die Änderungen an den Gesetzentwürfen, die in den
letzten Jahren immer wieder vorgenommen wurden – so-
gar jetzt, quasi in letzter Minute, werden Änderungen
vorgenommen –, zeigen, dass die Befürworter einer ge-
setzlichen Regelung im Zweifel sind, ob man für das Le-
bensende, das vielleicht nicht zu regeln ist, wirklich Re-
gelungen treffen sollte.
Die Überdehnung des Konzeptes der Patientenverfü-
gung bleibt ein großes Problem. Es ist problematisch, zu
glauben, man könne im Vorhinein, möglicherweise Jahre
vorher, tausend verschiedene Situationen, die eintreten
können, die vielen Dimensionen einer Erkrankung be-
stimmen. Ich glaube, man kann nicht voraussehen, in
welcher Lebenssituation man sich befinden wird, wie
man – Herr Röspel hat es dargestellt – als Kranker da-
rüber denken wird, welche Perspektiven es gibt.
Patientenverfügungen sind ein wichtiges Instrument,
um ein Indiz zu erhalten. Ich halte es aber für falsch, zu
glauben, man könne Jahre im Voraus für eine spätere Si-
tuation bestimmen: Wenn A und B eintreten, ist C rich-
tig; ohne weitere Überprüfung kann man auf lebensver-
längernde Maßnahmen verzichten.
Ich will – das ist mir sehr wichtig – noch etwas zum
Gesetzentwurf Stünker und andere sagen. Im Gesetzent-
wurf Stünker und andere ist für Patientenverfügungen
keine Reichweitenbegrenzung vorgesehen. Das ist ge-
fährlich genug. Was ich aber für noch gefährlicher halte,
ist, dass mit ihm auch viele andere Fälle geregelt werden
sollen, nämlich die 90 Prozent der Fälle, dass keine Pa-
tientenverfügung vorhanden ist, und ein großer Teil der
restlichen 10 Prozent der Fälle, dass zwar eine Patienten-
verfügung vorhanden ist, zur Situation aber nicht passt.
Es heißt in diesem Gesetzentwurf: Wenn sich Be-
treuer und Arzt einig sind, kann selbst dann ohne Reich-
weitenbegrenzung der mutmaßliche Wille genommen
und auf eine lebensverlängernde Maßnahme verzichtet
werden, und das ohne gerichtliche Überprüfung. Meine
Damen und Herren, das ist eine gefährliche Regelung. In
§ 1904 BGB – den Sie nicht verändern wollen – steht:
Wenn der Betreuer der Meinung ist, dass eine lebenser-
haltende Operation durchgeführt werden sollte, diese
aber Gefahr für Leben und Gesundheit des Patienten
birgt – wohlgemerkt: diese Maßnahme soll das Leben
retten –, ist die Genehmigung des Vormundschaftsge-
richts erforderlich. Dann ist es geradezu abstrus, wenn
dann, wenn auf die Maßnahme verzichtet wird – der Pa-
tient also stirbt –, Arzt und Betreuer das Recht haben,
über Leben oder Tod zu entscheiden. Das halte ich nicht
für richtig, ich halte es sogar für gefährlich.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der LINKEN)
Ich bin in Hospizen gewesen – wir haben bei uns ein
Wachkomazentrum –, ich habe mir das vor Ort ange-
schaut. Man muss mit den Menschen sprechen, um zu
erfahren, wie die Realität ist. Stellen Sie sich vor, eine
verwitwete, demente Frau, schlecht versichert, schlech-
tes Einkommen, kommt ins Heim. Dann wird ein Be-
rufsbetreuer eingesetzt. Wenn er keine Vorbildung hat,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25099
(A) (C)
(B) (D)
Hubert Hüppe
bekommt er pro Stunde 23 Euro. Im Monat kann er zwei
Stunden ansetzen. Und dieser Betreuer soll mit dem neu
behandelnden Arzt eine Entscheidung über Leben oder
Tod der Patientin treffen? Das kann nicht richtig sein.
Hier muss zumindest eine gerichtliche Überprüfung
stattfinden.
Meine Damen und Herren, die jahrelange Debatte hat
gezeigt: Das Sterben kann man nicht bis in die letzte Mi-
nute regeln, schon gar nicht mit Gesetzen. Ich appelliere
an Sie: Seien wir mutig als Parlament und geben wir zu,
dass wir uns übernommen haben, dass das Sterben nicht
zu regeln ist! Versuchen wir, dass Liebe und Angenom-
menheit dazu führen, dass sich Menschen nicht unnötig
lange quälen müssen! Das schafft man aber nicht per Ge-
setz, da hilft nur Zuwendung.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch.
Michael Kauch (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits
2004 und 2006 haben die Liberalen im Deutschen Bun-
destag Anträge für eine Stärkung von Patientenverfü-
gungen eingebracht. Sechs Jahre lang geht die Diskus-
sion inzwischen, sechs Jahre lang warten die Menschen
darauf, dass dieses Hohe Haus endlich eine Entschei-
dung trifft. Ich bin froh, dass wir heute zu einer Abstim-
mung kommen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Es stimmt nicht, dass eine gesetzliche Klarstellung
der Verbindlichkeit einer Patientenverfügung das Ster-
ben verrechtlichen würde. Der Arzt darf schon heute
nicht machen, was er will. Lieber Herr Hüppe, nicht wer
die Macht am Krankenbett hat, darf entscheiden, es gibt
bereits heute Richterrecht. Was Sie kritisieren, ist zum
Teil geltende Rechtslage.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Doch dieses Richterrecht ist widersprüchlich, Ärzte und
Patienten sind verunsichert. Deshalb brauchen wir eine
Klarstellung im Gesetz: im Interesse der Patienten, aber
auch im Interesse der Ärzte, die für ihre Tätigkeit
Sicherheit brauchen.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Die Ärzte-
kammer ist doch dagegen!)
– Es sind nicht alle Ärzte dagegen; da können Sie noch
so viele einzelne Personen hervorheben.
Meine Damen und Herren, Patientenverfügungen sind
ein wichtiger Baustein für Selbstbestimmung am Le-
bensende, sie sind aber nur ein Baustein. Genauso gehö-
ren medizinische Versorgung und mehr menschliche Zu-
wendung dazu. Fürsorge und Selbstbestimmung dürfen
nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir brauchen
Fürsorge und Selbstbestimmung für die Patientinnen und
Patienten.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Durch die moderne Medizin wurden Möglichkeiten
geschaffen, die man sich vor 50 Jahren noch nicht vor-
stellen konnte. Ob das für jemanden ein Geschenk oder
eine Qual ist, kann wirklich nur jeder Einzelne für sich
selbst entscheiden.
Wir haben auch keine naive Vorstellung von Selbstbe-
stimmung. Mit einer Patientenverfügung verfüge ich na-
türlich etwas für die Zukunft. Das geschieht immer unter
Unsicherheit. Was ist aber die Alternative zu dieser Ent-
scheidung oder Verfügung unter Unsicherheit, wenn ich
das nicht anerkenne? Die Alternative ist, dass jemand
Drittes entscheidet. Dies tut er, auch wenn er wohlmei-
nend ist, möglicherweise gegen den Willen des Patien-
ten. Die Fremdbestimmung des Menschen ist also die
Alternative.
Mit dem vorliegenden Entwurf, den ich gemeinsam
mit Joachim Stünker und anderen Kollegen erarbeitet
habe, wollen wir eben keine Beschränkung der Reich-
weite. Wir wollen das Vormundschaftsgericht nur in den
Konfliktfällen einschalten, und wir wollen vor allem
eine Bürokratisierung des Sterbens verhindern, wie dies
durch den Bosbach-Entwurf zu befürchten ist.
Was passiert denn, wenn man Ihre Formvorschriften
nicht einhält? Die Menschen werden dann zwangsbehan-
delt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD)
Was bedeutet das? Dann wird wiederbelebt, beatmet,
Blut übertragen, und es werden Magensonden gelegt,
und zwar gegen den ausdrücklichen Willen des Patien-
ten, nur weil Sie Formvorschriften vorgeben, die mögli-
cherweise nicht eingehalten werden. Das ist gegen die
Lebensrealität älterer Menschen in diesem Land gerich-
tet.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD
und der LINKEN)
Wir wollen auch keine Hintertüren im Gesetz. Bei Ih-
nen gibt es ja noch die Klausel, dass der Mensch viel-
leicht anders entschieden hätte, wenn er gewusst hätte,
dass sich die Medizin weiterentwickelt hat. Deshalb soll
die Patientenverfügung nicht beachtet werden.
(Joachim Stünker [SPD]: Genau!)
An dieser Stelle kann ich nur sagen: Es gibt noch Men-
schen in diesem Land, die nicht Professoren in der medi-
zinischen Forschung sind. Auch diese haben ein Anrecht
auf Selbstbestimmung. Wer gibt Ihnen denn die Garan-
tie, dass der Arzt weiß, dass sich der Mensch dann wirk-
lich anders entschieden hätte?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
25100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Michael Kauch
Lassen Sie mich hinzufügen: Es gibt bei unserem Ent-
wurf keinen Automatismus. Der aktuelle Wille ist ent-
scheidend. Passt die Lebenssituation, haben sich die
Umstände tatsächlich erkennbar geändert? All das muss
einbezogen werden.
Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen;
wer sich aber dafür entscheidet, festzulegen, was ihm
wichtig ist, der hat auch den Anspruch darauf, dass die-
ses Parlament seinen Willen achtet. Werden Sie diesem
Anspruch bei der späteren Abstimmung bitte gerecht.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe der Kollegin Katrin Göring-Eckardt das
Wort.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Es scheint mir, dass wir heute so er-
schöpft und zum Teil auch angefasst über die Patienten-
verfügung diskutieren wie noch nie in diesem Haus.
Die einen haben überlegt, verhandelt, Gruppen gebil-
det und Kompromisse geschlossen, die von manchen
auch wieder aufgekündigt wurden, die anderen haben
diskutiert und gefragt: sich selbst, die jeweils anderen
und vor allem und ganz oft auch diejenigen, um die es
geht. Wenn man sich heute die Nachrichtenlage an-
schaut, dann scheint es am Ende nur noch um die Ab-
stimmungsreihenfolge und darum zu gehen, ob über-
haupt abgestimmt werden muss.
Gibt es nicht Momente, in denen kein Beschluss bes-
ser ist als einer, der irgendwie halbherzig ist, der nicht
ganz meiner Position entspricht oder den ich vielleicht
für gefährlich halte, wie das Herr Hüppe sagt? Zum
Letzten: Ja, das kann sein.
Wir müssen heute nicht beschließen, weil wir sechs
Jahre lang verhandelt haben,
(Beifall des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])
wir müssen heute auch nicht beschließen, weil das Ende
der Legislaturperiode naht, und wir müssen auch nicht
beschließen, weil so viele so intensiv daran gearbeitet
haben.
(Rolf Stöckel [SPD]: Sondern weil Millionen
das fordern!)
Das ist lebendiger Parlamentarismus.
Warum sollten wir das aber doch tun? Eines wissen
wir eigentlich alle: Es gibt extrem viel Unsicherheit da-
rüber, wie die Gesetzeslage ist. Es gibt eine Unsicherheit
bei Ärztinnen und Ärzten – auch das muss man hier
deutlich sagen –, zum Teil auch darüber, was heute tat-
sächlich schon möglich ist. Unsicherheit gibt es auch bei
Freunden und Verwandten von Schwerkranken, ehren-
amtlichen Hospizhelfern und Hospizhelferinnen und bei
denen, die selbst eine Patientenverfügung in Erwägung
ziehen oder schon angefertigt haben und sich absichern
wollen.
Ich denke, die Debatte lohnt sich vor allem deswegen.
Ich plädiere noch einmal für den Entwurf, der versucht,
zu bedenken, was bedacht werden muss, zu regeln, was
geregelt werden muss, anderes aber nicht regelt und es
der individuellen Situation überlässt. Ich bin froh, dass
wir in unserem Entwurf von einer notariellen Regelung
Abstand genommen haben. Auch das gehört zu dem An-
liegen, nicht zu regeln, was nicht unbedingt geregelt
werden muss.
Zur Entlastung in der entsprechenden Situation gehört
aber auf jeden Fall, dass Abläufe und Verfahrensweisen
klar sind. Wer redet, wer wird gefragt, und wer entschei-
det am Ende? Uns ist es wichtig, dass das Verfahren als
Dialog begriffen wird. Es ist ein Dialog zwischen Be-
treuer, Arzt und Angehörigen und auch den Pflegekräf-
ten. Denn oft erleben sie den Patienten oder die Patientin
am intensivsten.
Als Ergebnis dieses Prozesses ist aber klar, wer ent-
scheidet, wenn der Patient oder die Patientin das nicht
mehr können, nämlich der Bevollmächtigte oder der Be-
treuer, und zwar auf Augenhöhe mit dem Arzt als dessen
Gegenüber. Denn es ist gerade nicht der Arzt, der allein
entscheiden sollte.
Wir regeln deswegen die Instrumente von Vorsorge-
vollmacht und Betreuungsverfügung eigenständig im
Gesetzentwurf und stärken – das ist sehr wichtig – die
Position der Vertrauensperson. Um Unsicherheiten abzu-
bauen, muss deutlich werden, dass die Vertrauensperson
nicht für sich und nicht nach ihrer Intention entscheidet,
sondern die Aufgabe hat, dem Willen des Patienten oder
der Patientin Gehör zu verschaffen, ihnen eine Stimme
zu geben und ihrer Selbstbestimmung Ausdruck zu ver-
leihen. Genau darum geht es.
(Joachim Stünker [SPD]: Ja! Genau darum
geht es!)
Klar ist aber auch, dass Automatismus das Letzte ist,
was der individuellen Situation eines Schwerstkranken
gerecht wird. Jeder endgültigen Entscheidung gehen
Fragen und die Suche nach Anhaltspunkten voraus, ob
die beschriebene Situation nun eingetreten ist und ob
das, was in der Patientenverfügung festgehalten wurde,
wirklich dem aktuellen Willen entspricht. Dabei kann es
nicht nur um den Blick aufs Papier gehen, sondern es
muss nach dem Menschen in der Situation gehen, in der
er oder sie gerade ist. Genau dafür – um das zu erkennen –
ist es notwendig, dass wir die Möglichkeit berücksichti-
gen, dass sich der aktuelle Wille geändert haben kann.
Wir müssen aber auch respektieren, dass jemand, der
sich beraten lassen hat – wir wollen, dass diese Leistung
von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen
wird –, die Möglichkeit hat, seinen Willen zu bestätigen.
Das muss akzeptiert werden. Übrigens glaube ich, dass
die Beratung als GKV-Leistung entscheidend und wich-
tig ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25101
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Denn sie gewährleistet, dass wir uns sehr viel stärker
mit Tod und Sterben auseinandersetzen.
Wenn wir heute zu einem Beschluss kommen, dann
sind wir nicht am Ende der Diskussion, sondern am An-
fang dessen, was wir zu den Fragen von Tod und Sterben
regeln müssen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Letzten Endes geht es um die Würde. Dafür werden
wir als Menschen in der Gesellschaft noch viel tun müs-
sen und auch noch das eine oder andere Gesetz zu be-
schließen haben.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia
Jochimsen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Unser Lebensende hat
sich völlig verändert. Den natürlichen Tod gibt es nicht
mehr, hat Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe festge-
stellt. Viel häufiger sei der Tod nach langwieriger Be-
handlung. Weil das so ist, müssen wir für diese Lebens-
phase Rechtssicherheit schaffen, und zwar für jene
Millionen Menschen, die diese Rechtssicherheit drin-
gend wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
der SPD)
Schätzungen zufolge werden jedes Jahr in den Kran-
kenhäusern in 400 000 bis 600 000 Fällen medizinische
Entscheidungen am Sterbebett notwendig. Wer da das
Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, muss dem Patien-
ten für jede Krankheitsphase das Recht zugestehen, über
Einleitung oder Abbruch einer lebenserhaltenden oder
das Sterben verlängernden Maßnahme selbst zu ent-
scheiden. Diese Rechtssicherheit gibt der Stünker-Ent-
wurf, für den ich hier im Namen von über
30 Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion spreche.
In diesem Entwurf wird genau und ganz bewusst nach
Art und Stadium der Erkrankung differenziert.
Viele Menschen haben die Befürchtung, am Ende ih-
res Lebens der Intensivmedizin hilflos ausgeliefert zu
sein, die die physische Lebenserhaltung in den Vorder-
grund stellt. Millionen von ihnen haben deshalb Patien-
tenverfügungen verfasst. Rechtsverbindlich sind diese
aber nicht. Ob Ärzte oder Betreuer sie umsetzen, ist of-
fen. Insofern kann ich – bei allem Respekt – die Ansicht
derjenigen Abgeordneten nicht teilen, die meinen, man
solle am besten alles so lassen, wie es ist.
Wissen Sie, wie es ist? 140 000 Ernährungssonden
werden jedes Jahr in Deutschland gelegt, zwei Drittel
davon bei Bewohnern von Pflegeheimen. Diesem Pati-
entenkreis gehören nach Schätzungen 400 000 bis
500 000 Menschen an. Die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung hat in einem Dossier vom Juni 2008
festgestellt, dass die Zwangsernährung Sterbender in
Deutschland zum medizinischen Standard wird. Das ist
die Realität. Sie steht im scharfen Kontrast zu dem, was
die Menschen wollen. Der Vorstand der Deutschen Hos-
piz Stiftung, Eugen Brysch, hat öffentlich erklärt:
Wir erleben in der Praxis täglich, dass die Men-
schen, die bei uns Rat einholen, künstliche Ernäh-
rung kategorisch ablehnen. Dahinter steht die Angst
vor einem jahrelangen Dahinvegetieren, vor einem
Leben ohne Lebensqualität, das nur durch die Ma-
gensonde aufrechterhalten wird. Dieser Angst gilt
es zu begegnen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Diese Angst müsste für uns Verpflichtung sein, die Ver-
hältnisse, so wie sie sind, zu verändern und endlich
Rechtssicherheit zu schaffen, damit Menschen selbstbe-
stimmt sterben können, wenn sie es wollen; wohlge-
merkt: wenn Sie es wollen. Niemand muss oder soll eine
Patientenverfügung verfassen. Wer findet, dass es gut ist,
wie es ist, dem wird nichts aufgedrängt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Aber den anderen, die selbstbestimmt über ihren
Körper verfügen möchten, auch wenn sie dies nicht
mehr artikulieren können, muss der Gesetzgeber dies er-
möglichen. Jede Person, die eine Patientenverfügung
verfasst hat, muss sicher sein, dass diese geachtet und
umgesetzt wird. Dabei geht unser Gesetzentwurf von ei-
nem Dialog zwischen Arzt und Betreuer aus. Der Arzt
muss zunächst prüfen, welche Maßnahmen mit Blick auf
den Zustand und die Prognose des Patienten indiziert
sind. Dann müssen diese Maßnahmen unter Berücksich-
tigung des verbindlichen Patientenwillens erörtert wer-
den. Der Patientenwille ist also ausschlaggebend.
Wichtig ist, dass die Anwendbarkeit der Verfügung
daraufhin überprüft wird, ob sie dem aktuellen Willen
entspricht. Es gibt also keinen Automatismus im
Stünker-Entwurf. Ich bitte Sie, das einmal zur Kenntnis
zu nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
25102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dadurch, dass man immer von „Automatismus“ re-
det, wird es doch nicht wahrer. Ganz wichtig ist schließ-
lich: Das Vormundschaftsgericht muss nur bei Zweifeln
am Patientenwillen oder bei Missbrauchsverdacht einge-
schaltet werden.
„Die Politik versagt vor dem Sterben“ – diesen Vor-
wurf hat uns Parlamentariern der Palliativmediziner Pro-
fessor Borasio kürzlich in einem FAZ-Artikel gemacht,
weil trotz jahrelanger Arbeit bisher keine gesetzliche Re-
gelung für Patientenverfügungen geschaffen wurde.
Ärzte, Betreuer und viele Kranke, aber auch Gesunde
warten darauf. „Die Politik versagt vor dem Sterben“ –
meine ganze Hoffnung richtet sich darauf, dass sich das
mit dem heutigen Tag ändert und Selbstbestimmung und
Fürsorge am Ende des Lebens ermöglicht werden.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke.
Otto Fricke (FDP):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Frau Kollegin Jochimsen, wenn es einen Beweis
dafür gibt, dass das Parlament vor dem Sterben nicht
versagt, dann ist es, unabhängig davon, wie die heutige
Abstimmung ausgeht, diese Debatte, wie sie bisher ge-
führt wird. Das muss das Parlament auch einmal nach
draußen deutlich machen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Heute ist mit Lord Dahrendorf jemand gestorben, der
für ein FDP-Mitglied sehr große Bedeutung hat.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nicht nur für ein FDP-Mitglied, Herr Kol-
lege!)
Zu seinem 80. Geburtstag ist in der FAZ ein Artikel er-
schienen, der die schöne Überschrift „Die Freiheit, sich
anders zu entscheiden“ trägt. Das ist der Kern, um den es
geht, nämlich die Angst, sich falsch entschieden zu ha-
ben und es nicht mehr rückgängig machen zu können.
(Joachim Stünker [SPD]: Nein!)
Das ist die Angst der Menschen, Herr Kollege Stünker.
Ich rede nicht von den juristischen Kategorien wie Sie,
sondern von der Angst, die mir in Gesprächen begegnet.
Wenn ich mich entscheide, dann will ich, dass das gilt.
Aber ich will immer die Hoffnung haben, mich nicht
falsch zu entscheiden.
(Joachim Stünker [SPD]: Dann können Sie wi-
derrufen!)
In einem immerwährenden Dialog muss sich jeder damit
auseinandersetzen.
Vor diesem Hintergrund sage ich an die Adresse von
Herrn Hüppe und des Ärztepräsidenten: Es gibt schon
rechtliche Regelungen. Es geht nicht um die Frage: kein
Gesetz oder ein schlechtes Gesetz. Es gelten bereits Ge-
setze. Neben der Menschenrechtskonvention gibt es das
Grundgesetz, das auch aufgrund der Drittwirkung von
Grundrechten für das Verhältnis des Patienten zum Arzt
gilt.
(Joachim Stünker [SPD]: Das Betreuungs-
recht!)
– Das Betreuungsrecht auch. – Mir geht es darum, das
ganz hoch anzusetzen. Deshalb verweise ich auf die Ver-
fassung. Nun müssen wir uns fragen, ob wir es präzisie-
ren können. Wir können auf keinen Fall ganz präzise
sein. Wir können nicht den Einzelfall regeln. Das sollten
wir als Gesetzgeber erst gar nicht versuchen. Aber kön-
nen wir es besser machen, oder sollten wir es bei dem
belassen, was ist? Ich glaube, die weit überwiegende
Mehrheit ist genauso wie ich der Meinung: Wir haben
eine Verpflichtung, es zu regeln, um den Bürgern grö-
ßere Sicherheit zu geben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Eine
Scheinsicherheit!)
– Nichts im Leben ist vollständig sicher, Kollege Hüppe.
So ist das nun einmal. Man kann im nächsten Moment
die Treppe herunterfallen und sich verletzen. Das müs-
sen wir hinnehmen. Das ist Teil der Begrenztheit der
Kontrolle unserer eigenen Existenz. Wir als Gesetzgeber
haben aber die Aufgabe, den Bürgern gegenüber dafür
zu sorgen, dass es in möglichst wenigen Fällen passiert
und dass sie möglichst viele Leitplanken haben, die sie
dabei stützen, das Leben verantwortungsvoll zu führen.
Der Unterschied – deswegen setze ich mich für den
Bosbach–Entwurf ein – wird für mich in der Frage der
Abstufung deutlich. Kann man sagen, dass es sich bei
der Freiheit der Selbstbestimmung im Bereich der Pa-
tientenverfügung immer um die gleiche Freiheit handelt?
Ich sage Ihnen: Nein, denn sie ist von unterschiedlichen
Verantwortungen geprägt. Wenn es sich um den Einzel-
nen mit Blick auf sich selber handelt, dann ist es viel-
leicht die gleiche Verantwortung. Aber was ist, wenn die
Krankheit nicht tödlich verläuft? Dann ist das größte
Problem für die Angehörigen und die Umwelt, die Frage
zu beantworten: Kann ich bei diesem Menschen, der nun
ohne Bewusstsein ist – um diesen Fall geht es –, loslas-
sen? Wir als Gesetzgeber müssen Hilfen geben und dies
ermöglichen. Aber es darf sich nicht einfach nur um eine
selbstentschiedene, sondern muss sich um eine selbstbe-
stimmte Beantwortung der Frage handeln, die sich der
Patient in seiner Patientenverfügung gestellt hat.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Selbstbestimmt bedeutet, möglichst genau zu wissen,
was man macht. Deswegen haben wir immer wieder
festgestellt – ich erinnere an die Debatte über Spätabtrei-
bungen, ohne einen Vergleich zu ziehen –: Es bedarf ei-
ner Abstufung. Je schwerwiegender und stärker der Ein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25103
(A) (C)
(B) (D)
Otto Fricke
griff in die Grundrechte und das Leben ist – es macht
nun einmal einen Unterschied aus, ob es sich um einen
tödlichen Verlauf handelt oder nicht –, desto mehr ist der
einzelne Bürger als Grundrechtsträger und verantwor-
tungsvoller Mensch auch anderen gegenüber verpflich-
tet, sich damit auseinanderzusetzen. Deswegen glaube
ich, dass man bei der Frage unterscheiden muss, wie
man verantwortungsvoll mit einer Patientenverfügung,
die gelten soll, umgehen muss.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Marlies
Volkmer.
Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jahrelang gab es Debatten und Anhörungen. Wir haben
uns durch Berge von Papier mit juristischen, medizini-
schen und ethischen Argumentationen durchgearbeitet.
Heute müssen wir Verantwortung übernehmen. Heute
müssen wir entscheiden.
Wir brauchen eine gesetzliche Regelung zur Patien-
tenverfügung. Das hat nicht zuletzt die Anhörung am
4. März dieses Jahres im Deutschen Bundestag sehr
deutlich gemacht. Eine gesetzliche Regelung liegt im In-
teresse von Patientinnen und Patienten; denn sie wollen
sicher sein, dass ihr verfügter Wille tatsächlich umge-
setzt wird.
Als Ärztin sage ich Ihnen: Eine gesetzliche Regelung
liegt auch im Interesse der Pflegenden und der Ärztinnen
und Ärzte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Auch sie wollen die Sicherheit, dass sie nicht mit straf-
rechtlicher Verfolgung rechnen müssen, wenn sie zum
Beispiel die künstliche Ernährung oder die Flüssigkeits-
zufuhr bei einem Menschen abbrechen, der das verfügt
hat. Deshalb finde ich Ihren Antrag, Herr Hüppe, gera-
dezu vermessen und auch unverantwortlich,
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ach!)
nach dieser Diskussion auf eine gesetzliche Regelung zu
verzichten.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Etwas mehr
Respekt voreinander! – Fritz Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran
vermessen? Das ist eine Position, die man ein-
nehmen kann!)
Natürlich geht es nicht nur um eine gesetzliche Rege-
lung. Es geht darum, dem Selbstbestimmungsrecht der
Menschen Geltung zu verschaffen, unabhängig vom
Krankheitsstadium. Das ist eine eindeutige Position ge-
genüber dem paternalistischen Prinzip: Der Arzt wird
schon wissen, was für mich das Richtige ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich werde heute dem sogenannten Stünker-Entwurf
zustimmen, obgleich ich zunächst Bedenken geäußert
und einen Änderungsantrag initiiert habe, der auch Ge-
genstand der Anhörung war. Hintergrund für meine Zu-
stimmung sind die vorgeschlagenen Änderungen im jetzt
vorliegenden Entwurf. Sie tragen meinen Einwendungen
zum großen Teil Rechnung. Im jetzigen Entwurf ist die
Rolle des Arztes bei der Entscheidungsfindung gemein-
sam mit dem Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten
klar herausgearbeitet worden. Dieser dialogische Pro-
zess gewährleistet, dass eine automatische Umsetzung
der schriftlichen Verfügung durch den Betreuer ausge-
schlossen ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Es ist schade, dass keine Formulierung im Gesetzes-
text gefunden werden konnte, die die Bedeutung der Be-
ratung vor der Abfassung der Patientenverfügung zum
Ausdruck bringt. Aber immerhin gibt es jetzt in der Be-
gründung einen ausführlichen Hinweis auf die Bedeu-
tung der Beratung vor Abfassung einer Patientenverfü-
gung, damit ebendiese Patientenverfügung wirklich
hinreichend konkret ist. Ich bin froh darüber, dass dies
im Entwurf enthalten ist. Ich möchte jedem raten, vor
Abfassung einer Patientenverfügung eine qualifizierte
Beratung wahrzunehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich bin gefragt worden, warum ich nicht dem
Bosbach/Röspel-Entwurf meine Stimme gebe, der eine
ärztliche Beratungspflicht enthält und mittlerweile auch
nicht mehr die Beglaubigung durch einen Notar vorsieht.
Das Problem des Bosbach/Röspel-Entwurfs ist es, dass
die Selbstbestimmung des Patienten unzulässig einge-
schränkt wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Werden die Kriterien einer qualifizierten Verfügung
nicht erfüllt, dann ist die Verfügung nur bei zum Tode
führenden Erkrankungen gültig. Wenn dieser Gesetzent-
wurf angenommen würde, würde sich die Situation für
alle Beteiligten schlechter darstellen als heute.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Der Zöller/Faust-Entwurf misst dem Arzt einen zu
großen Entscheidungsspielraum zu. Es werden denkbare
Behandlungsmöglichkeiten nur „unter Berücksichti-
gung“ des Patientenwillens geprüft. Das Grundrecht der
Selbstbestimmung verlangt, dass eine verbindliche Pa-
tientenverfügung strikt zu beachten ist. Der Zöller-Ent-
25104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Marlies Volkmer
wurf öffnet der freien Auslegung Tür und Tor. Davon ab-
gesehen, muss eine Patientenverfügung dem Zöller-
Entwurf zufolge nicht schriftlich vorliegen. Patienten
müssen aber vor Fremdbestimmung und Umdeutungen
ihrer Patientenverfügung geschützt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Deshalb ist die Schriftform keine überflüssige Formalie,
sondern eine Wirksamkeitsvoraussetzung.
Ziel muss eine gesetzliche Regelung der Patienten-
verfügung sein, die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit
schafft und das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen
und Patienten stärkt. Deswegen stimmen Sie bitte dem
Stünker-Entwurf zu.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nie!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis.
Norbert Geis (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Strässer hat bereits dargelegt, dass
die Patientenverfügung für zwei Phasen Geltung haben
soll, nämlich die Phase der zum Tod führenden Krank-
heit – man könnte vielleicht, wenn man es enger sieht,
„Sterbephase“ sagen – und die Phase der schweren
Erkrankung, die aber noch nicht zum Tod führt, sondern
in der der Mensch weiterleben kann. Das sind die zwei
Elemente, über die wir nachdenken müssen, wenn es um
die Patientenverfügung geht.
Für die erste Phase und für die zweite Phase geht es
um die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts. Herr
Kollege Fricke hat eben eine sehr feine Unterscheidung
zwischen Selbstbestimmung und Selbstentscheidung
getroffen. Sind wir immer so selbstbestimmt, wie wir
glauben?
(Joachim Stünker [SPD]: Genau!)
Lieber Herr Stünker, wir sind von unseren kulturellen
Vorstellungen, von unserer Erziehung und von unseren
Eltern abhängig; wir sind abhängig von unseren Lehrern
und von den Menschen, die uns umgeben und deren
Erwartungen wir erfüllen wollen; wir sind abhängig von
den Einflüssen der Medien und von allen möglichen
Dingen. Von diesen Faktoren wird unsere Entscheidung
bestimmt. Wir sind nicht so selbstbestimmt, wie wir zu
sein glauben. Ich meine, dass dieser Gedanke hier ein-
mal Erwähnung finden muss.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Joachim Stünker [SPD]: Der Arzt aber auch
nicht!)
Der zweite Punkt ist, dass alle drei Entwürfe im Hin-
blick auf die Phase der zum Tode führenden Krankheit in
etwa übereinstimmen. Alle drei Entwürfe besagen, dass
es in dieser Phase darauf ankommt, dass der Wille des
Menschen, der nicht an Schläuchen hängen will, der
nicht will, dass sein Sterben unnötig hinausgezögert wird,
der nicht so behandelt werden will, dass das Sterben noch
länger dauert, als es ohnehin schon andauert, respektiert
wird. Alle drei Entwürfe wollen übereinstimmend nicht,
dass ein Mensch nur noch das Objekt der ärztlichen
Behandlung ist, wenn dadurch keine Besserung mehr
eintritt. Aber wir unterscheiden uns hinsichtlich der
zweiten Phase bei der Frage, ob der Patientenwille, der
einmal in gesunden Tagen verfügt worden ist, auch noch
gilt, wenn der Patient in eine Phase eintritt, in der er
schwer krank ist und in der er seine Entscheidungsfähig-
keit verloren hat, in der er aber noch leben kann. Hier
kommt der Bosbach-Entwurf, wenn ich es richtig sehe,
dem Grundsatz des Lebensschutzes und dem Grundsatz
der Selbstbestimmung und einem vernünftigen Aus-
gleich zwischen beiden am nächsten. Warum?
Der Stünker-Entwurf, aber auch der Zöller-Entwurf
sehen vor, dass auch in dieser Phase unbedingt an der
einmal verfügten Entscheidung festgehalten werden
muss. Die Entscheidung wurde aber oft in einer Lebens-
phase getroffen, in der der Mensch noch volle Teilhabe
hatte und voll ins gesellschaftliche Leben integriert war,
in der er noch sportlich und aktiv sein konnte, in der er
nach der Ideologie des Erfolgs und des Wohlbefindens
lebte. In dieser Phase trifft er die Entscheidung, weil er
nicht will, dass er am Ende, wenn er nicht mehr ent-
scheidungsfähig ist, aber noch leben kann, den Ärzten,
den Apparaten und vielleicht auch der Verwandtschaft
ausgesetzt ist. Wir sind der Auffassung – dabei stützen wir
uns auf die Erfahrung der Palliativmedizin –, dass ein
Mensch, der eine Entscheidung in der Phase des vollen
Lebens, die ich beschrieben habe, für die Phase getroffen
hat, in der er noch weiterleben kann, aber schwer beein-
trächtigt ist, trotzdem an seinem Leben festhalten will,
wenn er in diese Phase hineingerät. Das soll die Regel
sein, sagen uns die Ärzte. Er will weiterleben, selbst
wenn die Voraussetzungen vorliegen, die er vorher in der
Patientenverfügung niedergelegt hat. Sie, Herr Stünker,
sagen in Ihrem Entwurf in Übereinstimmung mit dem
Bosbach- wie auch dem Zöller-Entwurf: Wenn er sich so
gegen seine eigene Entscheidung von damals richtet,
dann muss das berücksichtigt werden.
Aber mit welchem Recht sagen wir dann, dass das keine
Geltung für denjenigen haben soll, der entscheidungsun-
fähig ist und in eine solche Situation gerät? Wie ist denn
das möglich? Ist es ausgeschlossen, dass er seinen Willen
geändert und lediglich nicht mehr die Fähigkeit hat, dies
zu kommunizieren? Wir wissen, dass es in dieser Phase
an der mangelnden Kommunikationsfähigkeit liegt. Die
Leute haben ein Innenleben, kommen damit aber nicht
mehr nach außen, und wir kommen nicht hinein, sagen
uns die Ärzte.
Das müssen wir meiner Meinung nach berücksichtigen,
im Interesse des Lebens und im Interesse des Patienten.
Es geht nicht um Bevormundung, es geht nicht darum,
dass wir, dem Gesetz der Kirchen folgend, sagen, niemand
dürfe sein Leben aus der Hand geben, nur vom Schöpfer
dürfe es ihm genommen werden. Nicht darum geht es,
sondern um die Achtung des Selbstbestimmungsrechts, –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25105
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Norbert Geis (CDU/CSU):
– um die Beachtung der Möglichkeit, dass er es sich
doch noch anders überlegt hat. Der Forderung, dies zu
beachten, kommt der Bosbach-Entwurf am nächsten.
Deshalb bitte ich Sie, diesen Entwurf zu unterstützen.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jerzy Montag.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Schicksal zweier Frauen lässt mich seit Monaten
nicht los und beschäftigt mich immer wieder, wenn es
um die Patientenverfügung geht.
Die erste hieß Martha Crawford von Bülow; sie nannte
sich immer Sunny von Bülow. Sie ist im Dezember 1980
ins Koma gefallen und starb 28 Jahre später, vor sieben
Monaten, am 6. Dezember 2008, ohne je wieder das
Bewusstsein erlangt zu haben. Ihr Fall ist weltberühmt
geworden, weil ihr Ehemann zweimal wegen angeblich
versuchten Mordes vor Gericht stand. Darüber sind Bücher
geschrieben und Filme gedreht worden.
Die zweite Frau hieß Eluana Englaro und war Italie-
nerin. Sie war 21 Jahre alt, als sie am 18. Januar 1992
bei Glatteis mit einem Auto von der Straße abkam und
frontal gegen eine Mauer prallte. Nach dem Unfall fiel
sie ins Koma. Zwei Jahre später erklärten die Ärzte, ihr
Zustand sei irreversibel. Sie verstarb vor fünf Monaten,
am 9. Februar 2009, nach 17 Jahren im Koma.
Jahrelang hat ihr Vater für das Sterberecht der Tochter
gekämpft, weil diese, so der Vater, niemals in einem sol-
chen Zustand hätte am Leben gehalten werden wollen.
Die Gerichte in Mailand haben dem Vater recht gegeben,
ebenso das Verfassungsgericht in Rom. In einer Nacht-
und-Nebel-Aktion hat Berlusconi versucht, mit einer Not-
verordnung dem italienischen Verfassungsgericht in den
Arm zu fallen. Dies ist zum Glück misslungen. Daraufhin
haben die Ärzte die künstliche Ernährung erst reduziert
und dann beendet.
Meine Damen und Herren, ich bin heute sicherer denn
je, dass wir den Gesetzentwurf von Kollegen Stünker und
anderen brauchen. Denn er würde bewirkt haben, dass
diese beiden Frauen, wenn sie eine Patientenverfügung
geschrieben hätten, dieses Leid nicht über 17 oder 28 Jahre
hätten erleiden müssen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und
der LINKEN)
Wie viele von uns habe ich in den letzten Monaten an
vielen Veranstaltungen teilgenommen, an Gesprächsrunden
über Patientenverfügungen. Die letzte fand vor zwei Wo-
chen bei der Arbeiterwohlfahrt in München statt. Dort
waren 40 bis 50 ältere Menschen, und meine Erfahrung
ist: Kein einziger hatte Angst davor, dass er sich, wenn er
eine Patientenverfügung schreibt und man diese beachtet,
vielleicht doch in einem entscheidungsunfähigen Zustand
anders entschließen würde. Alle, mit denen ich gespro-
chen habe, hegten vielmehr die Befürchtung: Um Gottes
willen, wenn es mit mir einmal zu Ende geht, will ich
nicht, dass ihr mich an Schläuche hängt. Ich will das
nicht! – Das haben die Menschen uns gesagt, und deswegen
brauchen wir jetzt eine gesetzliche Regelung.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und
der LINKEN)
Hans Küng hat im Februar 2009 einen erschütternden
Bericht über seine Beobachtungen bei seinem Freund
und Nachbarn Walter Jens veröffentlicht.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Walter Jens lebt
noch!)
– Er lebt noch, ja, natürlich. – Der Bericht von Hans
Küng endet mit einem Appell an die Juristen und vor allem
an die Politik, also an uns Abgeordnete: Bringen Sie bitte
zügig gesetzliche Regelungen einer streng verbindlichen
Patientenverfügung auf den Weg, die von allen Instanzen
unbedingt respektiert werden. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, meine feste Überzeugung ist: Nach jahrelangen
quälenden, aber notwendigen Debatten ist jetzt eine Ent-
scheidung notwendig. Wir müssen sie fällen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und
der LINKEN)
Wir sind uns im Grundsatz über die Achtung der
selbstverantworteten Entscheidung einig – ich will da
keine falschen Fronten aufbauen –; aber die Unterschiede
liegen im Kleingedruckten, und das Kleingedruckte ist
nicht in unserem Gesetzentwurf, dem Stünker-Gesetz-
entwurf, enthalten, sondern im Bosbach-Gesetzentwurf.
Im vorderen Teil dieses Entwurfs wird zwar die Achtung
vor der Entscheidung beschrieben, aber durch die im
hinteren Teil aufgeführten Ausnahmen kann alles rück-
gängig gemacht werden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN-
KEN)
Ich sage Ihnen: Wenn wir den Bosbach-Gesetzentwurf
verabschiedeten, wäre das die allerschlechteste Lösung,
die wir den Menschen anbieten können. Wir würden so
den jetzigen Zustand verschlechtern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns
jetzt entscheiden. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung
zu unserem Vorschlag. Er achtet die Selbstbestimmung.
Er enthält keinerlei Automatismus. Er fördert und verhin-
dert nicht das Gespräch mit dem Arzt und den Angehöri-
gen. Nach unserem Gesetzentwurf werden Gerichte nur
dann eingeschaltet, wenn es unbedingt nötig ist. An Sie,
Herr Zöller, gerichtet: Durch die Schriftform, die wir im
Gegensatz zu Ihnen verlangen, schützt unser Vorschlag
25106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Jerzy Montag
tatsächlich vor Unklarheiten und übereilten Entschei-
dungen.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und
der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Grübel.
Markus Grübel (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Welche Ziele verfolgen die vorliegenden Ent-
würfe? Die Verrechtlichung oder Bürokratisierung des
Sterbens auf jeden Fall nicht, Herr Kollege Kauch. So
einzigartig wie das Leben ist auch das Sterben. Wer
wollte das in diesem Hause ernsthaft bestreiten? In dieser
schwierigen ethischen und rechtlichen Frage schuldet
der Gesetzgeber den Beteiligten ein Höchstmaß an
Rechtssicherheit, vor allem den Schwerstkranken, aber
auch den Angehörigen, den Ärzten, den Pflegekräften,
den Betreuern und den Bevollmächtigten. Für sie müssen
wir Klarheit schaffen über Wirksamkeit und Reichweite
von Patientenverfügungen, über Form und Verfahrens-
fragen.
Wir haben seit langem eine Rechtsprechung des BGH
in Straf- und Zivilsachen. Diese Rechtsprechung wird
entweder heftig kritisiert oder ganz unterschiedlich inter-
pretiert. Ich möchte ein Beispiel aus diesem Hohen
Hause geben. Kollege Stünker schrieb im April 2005 in
seine Begründung, dass er entgegen der Auffassung des
BGH in seiner Entscheidung vom 17. März 2003 keine
Reichweitenbeschränkung will. Er wollte also ein Gesetz,
um die falsche Rechtsprechung des BGH abzuändern. In
der Orientierungsdebatte am 29. März 2007 sagte Kollege
Stünker dann:
Deshalb postuliert die heutige Rechtsprechung …
keine Reichweitenbeschränkung …
Er ist also für ein Gesetz, das im Einklang mit der Recht-
sprechung des BGH steht. Wenn schon der rechtspolitische
Sprecher einer großen Volkspartei die gleiche Rechtspre-
chung verschieden interpretiert, wie soll dann ein Arzt
oder Betreuer wissen, was eigentlich gilt?
Viele setzen auf die richterliche Rechtsfortbildung.
Aber die Gerichte haben uns doch eindeutig gesagt, dass
sie an die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung
gekommen sind, dass es eben nicht die Aufgabe der
Gerichte ist, die Rechtsprechung dort fortzuentwickeln,
wo der Gesetzgeber, also wir in diesem Hohen Hause,
bewusst keine Regelung trifft. Die Gerichte haben uns
mehrfach aufgefordert, endlich Klarheit zu schaffen. Da-
her müssen wir uns der Verantwortung stellen, auch
wenn die Materie ebenso umstritten wie kompliziert ist.
Für die Regelungen stehen uns gemäß unserer Verfas-
sung zwei absolute Werte zur Verfügung: auf der einen
Seite das Selbstbestimmungsrecht, auf der anderen Seite
der Lebensschutz. Keiner dieser Werte hat Vorrang vor
dem anderen. Darum sind wir aufgefordert, einen scho-
nenden Ausgleich zwischen diesen beiden Werten her-
beizuführen. Dieser schonende Ausgleich ist im Entwurf
von Bosbach, Röspel, Fricke und Göring-Eckardt am
besten gelungen.
Wir wollen erstens das Selbstbestimmungsrecht stär-
ken, zweitens sicherstellen, dass das Wohl des Patienten
gerade dann Beachtung findet, wenn er in seinen
schwersten Stunden in ganz besonderer Weise auf die
Fürsorge anderer angewiesen ist, und drittens den Le-
bensschutz in angemessener Weise berücksichtigen.
Dies erscheint zwar selbstverständlich, ist aber hoch um-
stritten.
Im Grunde müssen wir uns zwei Fragen stellen: Ers-
tens. Sind der aktuelle Wille und der vorausverfügte
Wille das Gleiche? Ist es das Gleiche, ob ich ein Ge-
spräch mit einem Arzt führe oder ob ich auf dem Tisch
ein Papier liegen habe, auf dem ich ein Kreuz machen
und unterschreiben muss?
(Zuruf von der SPD: Sie wissen doch, dass das
anders aussieht!)
Jeder weiß, dass das ein Unterschied ist. Darum brau-
chen wir eine Regelung, die diesem Unterschied Rech-
nung trägt.
Zweitens muss man sich die Frage stellen: Ist es in
der ethischen und damit in der rechtlichen Bewertung
ein Unterschied, ob es sich bei einem Behandlungsab-
bruch oder einem Behandlungsverzicht, der zum Tode
führt, um einen Menschen mit einer unheilbaren Krank-
heit handelt, die unaufhaltsam zum Tode führt, bzw. um
einen Menschen, der sein Bewusstsein verloren hat ohne
jede Aussicht, das Bewusstsein wiederzuerlangen, oder
ob es sich um einen Menschen handelt, der eine heilbare
Krankheit hat, die nicht zum Tode führt, bzw. um einen
Menschen, der sein Bewusstsein verloren hat, bei dem
aber Aussicht darauf besteht, dass er sein Bewusstsein
wiedererlangt? Wer behauptet, dass hier ein ethischer
Unterschied besteht, muss zu dem Ergebnis kommen,
dass es rechtlich unterschiedlicher Regelungen bedarf.
Das kommt im Gesetzentwurf des Kollegen Bosbach
und anderer zum Ausdruck.
(Beifall der Abg. Katrin Göring-Eckardt
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Der Entwurf des Kollegen Stünker differenziert nicht,
Frau Kollegin Jochimsen, sondern er regelt im Grunde
genommen beides gleich. Darum haben wir für die
Masse der Fälle eine einfache Patientenverfügung vorge-
sehen, ohne Hürden, und für die sehr geringe Zahl der
anderen Fälle die qualifizierte Patientenverfügung. Der
Gesetzentwurf verlangt, dass in diesen Fällen, also bei
einer heilbarer Krankheit, bei einer Krankheit, die nicht
zum Tode führt, oder bei Wachkoma mit Hoffnung auf
Bewusstseinswiedererlangung, ein beratendes Gespräch
mit dem Arzt stattfindet. Das dient der Selbstbestim-
mung des Patienten. Es dient der Sicherstellung, dass der
Patient sich bei der Formulierung seiner Patientenverfü-
gung nicht getäuscht hat. Es dient dem Lebensschutz. In
anderen Bereichen würden wir sagen, dass es dem Ver-
braucherschutz dient.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25107
(A) (C)
(B) (D)
Markus Grübel
(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege.
Markus Grübel (CDU/CSU):
Auch das beratende Konzil ist keine Bürokratisie-
rung. Vielmehr dient es der Selbstbestimmung, weil da-
durch besser deutlich wird, was der Patient wollte. Man
muss die nahen Angehörigen sowie die Alten- und Kran-
kenpfleger – die mitunter eine nähere Beziehung zum
Patienten haben als der Arzt – fragen, ob der Patient an
der Patientenverfügung festhalten will, wie der Patient
sie gemeint hat oder ob er möglicherweise seine Patien-
tenverfügung widerrufen hat, ohne dass sie aus der Pati-
entenakte gestrichen wurde.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege.
Markus Grübel (CDU/CSU):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen Sie den Weg
der Rechtssicherheit mit, der den Lebensschutz und die
Selbstbestimmung miteinander verbindet, ohne große
Hürden aufzubauen. Stimmen Sie für den Gesetzentwurf
des Kollegen Bosbach.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Ungefähr 9 Millionen Menschen haben eine Pa-
tientenverfügung verfasst. Das ist die Einschätzung des
Hospizvereins. Das heißt, sie haben eine Patientenverfü-
gung formuliert, weil sie Angst haben, dass sie in einer
schwierigen gesundheitlichen Situation so behandelt
werden, wie das vielleicht ein Dritter für gut befindet.
Vielmehr wollen die Menschen selbst vorgeben, wie sie
behandelt werden, was mit ihnen passiert oder was eben
nicht mit ihnen passieren soll.
Unsere Beratung und Abstimmung heute Nachmittag
müssen dazu führen, dass für diese 9 Millionen Men-
schen Rechtssicherheit einkehrt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das bedeutet, dass dem Willen dieser Menschen, den sie
mit oder ohne Beratung und unter Einbeziehung von
Freunden, Verwandten, Pflegekräften, Ärzten und Pfar-
rern niedergelegt haben, entsprochen wird. Dieser Wille
muss aber auch dann respektiert werden, wenn sie sich
allein überlegt haben, was mit ihnen für den Fall passie-
ren soll, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Mei-
nung zum Ausdruck zu bringen.
Wir müssen diese Rechtssicherheit herstellen und vie-
len Menschen Mut machen, sich schon im gesunden Zu-
stand darüber Gedanken zu machen, was mit ihnen pas-
sieren kann. Wir müssen diese Menschen in die Lage
versetzen, ihre Selbstbestimmung auszuüben und ihren
Willen niederzulegen. Auch dieses Signal geht von die-
ser Debatte aus. Die Entscheidung, die nachher vom
Deutschen Bundestag getroffen wird, muss dies gewähr-
leisten.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich werbe für den Entwurf von Herrn Stünker und
Kollegen. Denn dieser Entwurf – das haben viele Redner
bereits gesagt – enthält die klare Aussage, dass der for-
mulierte Wille oder das, was aus der Verfügung heraus
als Wille zu verstehen ist, auch dann durchgesetzt wer-
den muss, wenn sich der betreffende Mensch im Zustand
der Einwilligungsunfähigkeit befindet. Es darf nicht
sein, dass ein Dritter Überlegungen darüber anstellt, was
hätte sein können. Wer seinen Willen formuliert hat, will
die Sicherheit haben, dass dieser Wille nachher von den
von ihm beauftragten Personen auch durchgesetzt wird.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich möchte nicht, dass ein Dritter beispielsweise mit
einer anderen religiösen Überzeugung, mit einem ande-
ren kulturellen Hintergrund oder mit anderen ethischen
Vorstellungen sagt, was aus seiner Sicht das Beste für
mich wäre. Niemand weiß nämlich, wie sich ein anderer
entscheiden würde; niemand kann einem anderen einen
Willen bzw. eine Willensänderung unterstellen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wir wollen mit unserem Entwurf dazu beitragen, dass
diejenigen, die sich für eine Patientenverfügung ent-
scheiden – jeder hat das Recht, es nicht zu tun –, Rat in
Anspruch nehmen können, wenn sie es möchten. Viel-
leicht führt das dazu, dass in einer Verfügung manches
verständlicher formuliert würde. Aber das Verfassen ei-
ner solchen Verfügung darf nicht davon abhängen, ob
der Betreffende die Zeit hat, sich von einem Arzt beraten
zu lassen. Dies kann sich nämlich unter Umständen über
Monate hinziehen. Vielleicht möchte sich der Betref-
fende auch mit jemandem beraten, der zwar kein Arzt
ist, der aber entsprechende Kenntnisse bzw. Erfahrungen
hat, weil er intensiv Pflege betreibt, sei es ehrenamtlich
oder hauptamtlich.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Es muss doch auch möglich sein, mit Vertretern von
Hospizvereinen zu sprechen. Wir können keine Zwangs-
beratung vorschreiben. Deswegen haben wir, ausgehend
25108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
von der Anhörung, Wert darauf gelegt – das war für die
Unterstützer des Vorschlags des Kollegen Stünker ganz
wichtig –, diesen dialogischen Prozess im Gesetzentwurf
zu verankern. Das kann vielleicht dazu beitragen, dass
manche Bedenken von einigen Kollegen, denen dieser
Punkt ganz wichtig ist, überwunden werden.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Wir
alle haben viele Eingaben und Briefe erhalten; darunter
waren auch Briefe von Ärzten. Es gibt keinen formellen
Beschluss der Bundesärztekammer. Der Präsident der
Bundesärztekammer hat seine Auffassung vertreten. Es
ist sein gutes Recht, uns diese mitzuteilen. Aber wie
viele Ärzte gibt es, die tagtäglich Dramen erleben!
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Diese fordern uns auf: Bitte entscheidet euch und schafft
eine gesetzliche Grundlage! Das empfinde ich als einen
wichtigen Auftrag.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Herta Däubler-
Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, die langen Diskussionen, die hier zum Teil
beklagt wurden, haben sich insgesamt positiv auf unsere
Debattenkultur und auch auf den Umgang mit Patienten-
verfügungen ausgewirkt. Man konnte es sehen: Viele
Redner haben anderen ein bisschen mehr zugehört als
sonst; das finde ich gut. Bei manchem Redner hat man
das Zuhören auch etwas vermisst; aber insgesamt gese-
hen haben sich die langen Debatten gelohnt.
Lassen Sie mich als Schirmherrin der deutschen Hos-
pizbewegung eine Vorbemerkung machen. Ich finde es
großartig, wie viel unterstützende Worte bezüglich Hos-
pizversorgung, Palliativmedizin, Hilfe beim Leiden und
Sterben aus diesem Haus nach außen gedrungen sind.
Wir haben eine Menge erreicht. Aber ich glaube, wir
müssen noch sehr viel mehr tun,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
übrigens nicht nur in gesetzlicher Hinsicht. Vielmehr
müssen wir denjenigen danken, die heute schon als
Ärzte, Schwestern oder ehrenamtliche Sterbebegleiterin-
nen und Sterbebegleiter tagtäglich mit Leidenden und
Sterbenden menschlich umgehen, und sie ermutigen, das
weiter zu tun. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass
diejenigen, die das noch nicht tun, endlich die nötigen
Informationen erhalten. Denn wir wissen doch genau,
dass die Schwierigkeiten, die Kollegin Jochimsen darge-
stellt hat, weniger auf das Fehlen von Gesetzen als viel-
mehr auf das Fehlen von Informationen und das Nicht-
umsetzen der vorhandenen rechtlichen Verpflichtungen
zurückzuführen sind. Hier wird ungeachtet der gesetzli-
chen Regelung, die dieses Haus heute beschließen wird,
noch eine Menge zu tun sein. Meine Bitte ist: Lassen Sie
uns das gemeinsam nicht aus dem Auge verlieren!
Ich finde es sehr gut, dass man an vielen Reden in die-
sem Hause spürte, dass die Redner selber in schweren
Krankheiten, auf Intensivstationen oder in Grenzerfah-
rungen anderer Art erlebt haben, was dann wirklich
zählt: menschliche Zuwendung, Vertrauen und Hilfe.
Flotte Reden, pauschalierte Gesetzentwürfe oder gut
klingende Sprüche wie „Die Politik versagt vor dem
Sterben“ hingegen werden hier völlig bedeutungslos. Es
muss darum gehen, den Menschen – den Betroffenen,
den Angehörigen, aber auch den Ärztinnen und Ärzten,
Schwestern und Pflegern – zu helfen. Dabei dürfen wir
allerdings nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir
durch ein Gesetz jegliche Unsicherheit abschaffen; das
ist nur sehr begrenzt möglich.
Wir müssen auch deutlich sagen, dass Patientenverfü-
gungen bereits heute rechtsverbindlich sind. Sie gelten
bereits heute. Die Probleme liegen nicht in der fehlenden
Rechtsverbindlichkeit, sondern darin, dass viele Men-
schen die nötigen Informationen noch nicht erhalten
oder noch nicht verarbeitet haben.
Aber wenn wir über ein neues Gesetz reden wollen,
muss es einige Anforderungen erfüllen. Dazu gehört ers-
tens, dass nur das geregelt wird, was sinnvollerweise ge-
regelt werden kann, und nicht mehr. Das tut der Entwurf,
den ich mit unterschrieben habe und für den ich werbe.
Dieser Gesetzentwurf lässt jede Patientenverfügung gel-
ten. Die Kollegin Volkmer hat verlangt, eine Patienten-
verfügung müsse auf jeden Fall in schriftlicher Form
vorliegen, weil alles andere Fremdbestimmung bedeute.
Dazu sage ich: Natürlich ist es besser, wenn die Patien-
tenverfügungen in schriftlicher Form vorliegen, wie das
heute schon bei Millionen der Fall ist. Aber warum sollte
eine klare, nachweisbare Patientenverfügung nur des-
halb nicht gelten, weil sie nicht schriftlich vorliegt?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der LINKEN)
Wer für die Selbstbestimmung des Patienten eintritt,
muss sich das doch fragen lassen.
Zweitens ist wichtig, dass in jedem Einzelfall geprüft
wird, ob die Patientenverfügung mit der Lage, in der sich
der Patient befindet und die entschieden werden muss, in
Einklang steht. Lassen Sie mich unterstreichen: Ich bin
sehr froh, dass das jetzt auch im Stünker-Entwurf klarge-
stellt wurde. Der Grund, warum wir auf die Klarstellung
gedrängt haben, ist nicht, dass wir Ärzten oder Pflegern
misstrauten; das tun wir in keiner Weise. Aber wir wis-
sen ganz genau, dass in einer älter werdenden Gesell-
schaft die ökonomischen Zwänge schon heute in eine be-
stimmte Richtung drängen. In diese Richtung wollen wir
nicht. Wir wollen auch nicht – um das sehr deutlich zu
sagen –, dass dieser Gesetzentwurf am Ende des Lebens
gegen das Leben missbraucht werden kann.
(Unruhe)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25109
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, ich will Sie nicht unterbrechen. Ich
möchte die Kolleginnen und Kollegen nur bitten, die
Ernsthaftigkeit dieses Themas zu würdigen und die
Plätze einzunehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Wenn wir einen Gesetzentwurf machen, dann – dies
ist mein dritter Punkt – will ich einen, der Vertrauen zwi-
schen den Betroffenen und den Angehörigen sowie den
Ärzten fördert. Das ist einer der wichtigsten Punkte. Ich
habe schon erwähnt, dass sich Leiden und Sterben einer
pauschalierenden Regelung entziehen. Was bleibt dann
aber? Dann bleibt nur dieses Vertrauensverhältnis zwi-
schen Ärzten und Pflegepersonal auf der einen und Lei-
denden und ihren Angehörigen auf der anderen Seite.
Das müssen wir stärken. Das tut unser Gesetzentwurf.
Wenn ich dies alles zusammennehme – jede Patien-
tenverfügung gilt; es gibt keinen Automatismus, nicht
mehr Regeln, als man sinnvollerweise regeln kann, und
vor allen Dingen eine Förderung des Vertrauensverhält-
nisses –, dann entspricht unser Gesetzentwurf diesen
Anforderungen. Und er hält, was er verspricht.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der LINKEN und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Bevor ich das Wort dem Kollegen Stünker gebe,
möchte ich Sie bitten, Ihre Gespräche außerhalb des Ple-
narsaals fortzusetzen und hier im Plenarsaal wirklich zu-
zuhören.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Joachim Stünker (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zum Ende der heute sehr sorgfältig ge-
führten Debatte auf den Kern unserer Diskussion
zurückkommen. Es geht bei unserer Entscheidung letzt-
endlich um das verfassungsrechtlich garantierte Selbst-
bestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Art. 2 unserer Verfassung sagt:
Jeder hat das Recht auf … körperliche Unversehrt-
heit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Ich füge hinzu: Die Menschen haben einen Anspruch
darauf, dass dieses Selbstbestimmungsrecht nicht nur in
der Verfassung steht, sondern auch im Alltag eingehalten
wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ausschließlich darum geht es bei unserer Entscheidung.
Es geht nicht darum – wie der Kollege Hüppe formuliert
hat –, wie ein schmerzfreies Sterben gesichert werden
kann. Nein, darum geht es nicht. Jeder Patient hat das
Recht, sich für oder gegen eine medizinische Behand-
lung zu entscheiden und gegebenenfalls deren Umfang
zu bestimmen. Jeder Patient hat aber auch das Recht, sei-
ner Krankheit den natürlichen Verlauf zu lassen und die
Möglichkeiten der modernen Medizin und der Apparate-
medizin nicht für sich in Anspruch zu nehmen. Denn un-
ser Grundgesetz postuliert gerade keine Pflicht, das ei-
gene Leben unter Ausnutzung aller Mittel so lange wie
möglich zu erhalten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist das Selbstbestimmungsrecht und das Men-
schenbild unseres Grundgesetzes. Dieses Selbstbestim-
mungsrecht wäre entwertet, wenn es nur so lange unein-
geschränkt gelten sollte, wie ich mich als Patient klar
und deutlich selber äußern kann. Wenn ich mich selber
äußern kann, kommt keiner auf die Idee, mir zu sagen:
Du hast dich möglicherweise falsch entschieden. – Es
muss deshalb Gültigkeit auch für die Lebenssituation ha-
ben, in der ich mich nicht mehr äußern kann, für die ich
aber deshalb vorsorglich in einer Patientenverfügung
meine Willensbestimmung niedergelegt habe.
Diese Diskussion führt der Gesetzgeber im Grunde
seit 20 Jahren, nämlich seitdem wir im Jahre 1992 mit
dem Betreuungsrecht das alte Vormundschaftsrecht ab-
gelöst haben,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wonach die Menschen entmündigt wurden, weil sie nicht
mehr in der Lage waren, ihre persönlichen Angelegen-
heiten zu regeln. Heute gibt es das Betreuungsrecht. Ein
Betreuer wird bestellt. Dieser entscheidet nicht danach,
was er für richtig hält, sondern danach, was der Wille
des Betreuten ist. Das ist heute ausdrücklich geltendes
Recht.
Herr Kollege Hüppe, Sie malen in Ihren Reden und
Interviews die Gefahr an die Wand, dass nach dem
Stünker-Entwurf der Arzt und der Betreuer zukünftig bei
der Feststellung des mutmaßlichen Willens entscheiden
könnten, ob ein Mensch – wie Sie sagen – sterben
müsse. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das ist heute gel-
tende Rechtslage unseres Betreuungsrechts. Im Grunde
treffen der Betreuer und der Arzt diese Entscheidung.
Die Patientenverfügung schafft hier ein Korrektiv und ist
das Gegenteil von dem, was Sie überall in Deutschland
erzählen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen, die
eine Entscheidung selbstbestimmt getroffen haben, ha-
ben einen Anspruch auf Rechtssicherheit. Die Menschen
25110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Joachim Stünker
haben in einem Rechtsstaat Anspruch darauf, dass der
Staat ihnen Rechtssicherheit gewährt. Diese haben sie
heute nicht. Trotz mehrerer Urteile des Bundesgerichts-
hofes, in denen es heißt: „Dem Patientenwillen ist Gel-
tung zu verschaffen“, trotz der Richtlinien der Bundes-
ärztekammer, dass die Patientenautonomie zu achten ist,
haben wir keine Rechtssicherheit, wie die Diskussion
der letzten Jahre deutlich gezeigt hat.
Wir brauchen nicht mehr darüber zu diskutieren, wo-
ran das liegt. Es ist ganz einfach so, weil im Betreuungs-
recht damals nicht geregelt wurde, wie es bei Entschei-
dungen am Ende des Lebens ist. Wer sich einmal die
Mühe macht, die Materialien durchzulesen, wird fest-
stellen, dass die Kolleginnen und Kollegen damals über
genau die Fragen diskutiert haben, über die auch wir seit
sechs Jahren diskutieren. Da sie sich damals nicht ent-
scheiden konnten, haben sie keine Regelung in das Ge-
setz hineingeschrieben. Die Entwicklung hat uns aber
gezeigt, dass es notwendig ist, dass wir jetzt endlich eine
klare Regelung ins Gesetz schreiben. Wir brauchen kein
Richterrecht, sondern wir – der Gesetzgeber, dieses
Hohe Haus – müssen die Voraussetzungen schaffen, die
erfüllt sein müssen, damit eine Patientenverfügung ver-
pflichtend und gültig ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Darum müssen wir heute hier die Kraft aufbringen
– ich bitte darum –, zu einer Entscheidung zu kommen.
Es darf nicht dazu kommen, dass es wieder keine Ent-
scheidung gibt, weil keiner der vorliegenden Entwürfe
eine Mehrheit findet;
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch keine Ent-
scheidung ist eine Entscheidung!)
denn die Menschen draußen im Land warten auf die
Rechtssicherheit, von der ich gesprochen habe.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn ich von Rechtssicherheit spreche, dann meine ich
damit auch, dass wir keine Regelung schaffen dürfen,
die neue Rechtsunsicherheiten und nur vermeintlich
Rechtssicherheit schafft.
Ich will auf den Entwurf der Kollegen Bosbach,
Röspel und anderer im Einzelnen nicht eingehen; das ist
schon getan worden. Ich will nur eine Fallgestaltung
nennen, um zu verdeutlichen, wie genau man hinschauen
muss bei dem, was da ins BGB, Betreuungsrecht, ge-
schrieben werden soll. Was bedeutet es, wenn eine quali-
fizierte Patientenverfügung, die ärztlich dokumentiert ist
– die notarielle Beurkundung ist ja nicht mehr vorgese-
hen –, einer vormundschaftlichen Genehmigung bedarf,
damit der Patientenwille umgesetzt werden kann? Was
macht der Arzt, bis die Genehmigung des Vormund-
schaftsgerichts vorliegt? Wie lange dauert die Genehmi-
gung? Auf welcher Grundlage soll das Gericht entschei-
den? Auf der Grundlage eines Stücks Papier, der
Patientenverfügung? Das Gericht entscheidet, obwohl es
den Menschen, um den es geht, nicht kennt.
Nein, entscheiden müssen diejenigen, die mit dem
Menschen zu tun haben, um den es geht und der die Pa-
tientenverfügung geschrieben hat: der Arzt und der Be-
treuer oder der Bevollmächtigte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn diese zu dem Ergebnis kommen, dass das, was
aufgeschrieben wurde, auch der aktuelle Wille ist, dass
die gegenwärtige Lebens- und Behandlungssituation
derjenigen entspricht, für die damals Vorsorge getroffen
wurde, dann entscheiden sie, ob die Patientenverfügung
umzusetzen ist. Das allein ist praktisch und lebensnah.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich will auf die vielen Haftungsprobleme nicht einge-
hen, die, wenn der Bosbach-Entwurf Gesetz würde, wie
eine Flut auf die Menschen und die Gerichte zukommen
würden. Ich kann nur sagen: Allein zum Schutz der
Ärzte, damit sie nicht in neue Haftungsprobleme kom-
men – darum wollen sie das nicht, darum lehnen sie die-
sen Gesetzentwurf ab –, darf dieser Entwurf kein Gesetz
werden.
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem
Entwurf des Kollegen Zöller und der Kollegin Däubler-
Gmelin machen. Ursprünglich waren wir uns sehr nahe.
Positiv ist, dass dieser Entwurf genauso wie unserer
keine Reichweitenbegrenzung vorsieht und von daher
die ganzen Probleme, die ich kurz anzureißen versucht
habe, nicht entstehen können. Leider fehlt in Ihrem Ent-
wurf aber die Schriftform, und leider haben Sie, was ich
überhaupt nicht verstanden habe, nach der Anhörung
zwei Änderungen vorgenommen, die neue Rechtsunsi-
cherheiten produzieren würden. Ich will sie Ihnen nen-
nen. In der entsprechenden Vorschrift steht heute jetzt
neu:
Soweit dies erforderlich ist, willigt der Betreuer in
die vorgeschlagene medizinische Behandlungsmaß-
nahme ein …
Das wäre eine erneute Erforderlichkeitsklausel. Diese
haben wir vor gut zwei Jahren aus Art. 72 der Verfas-
sung herausgenommen haben. Erforderlich vom Grund-
satz her und für jede einzelne Maßnahme, oder was soll
das heißen? Wann ist die Einwilligung nicht erforder-
lich? Was geschieht, wenn die Einwilligung nicht erfor-
derlich ist? Behandelt der Arzt dann ohne Einwilligung
des Betreuers oder des Bevollmächtigten? Wo bleibt im
Ergebnis die Patientenautonomie? Diese Fragen werden
in Ihrem Gesetzentwurf nicht beantwortet. Die Gerichte
müssten darüber entscheiden.
Die zweite Regelung, die sich zunächst einmal gut an-
hört, lautet:
Vor der Errichtung
– gemeint ist die Errichtung einer Patientenverfügung –
soll eine ärztliche Beratung … erfolgen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25111
(A) (C)
(B) (D)
Joachim Stünker
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss wissen,
was in der Sprache des Gesetzes „soll“ heißt. In der
Sprache des Gesetzes heißt „soll“: Du musst, wenn du
kannst, und nur dann, wenn du nicht kannst, musst du
nicht. – Das heißt, die Ausnahmefälle, in denen es darum
geht, wann man rechtzeitig vorher eine ärztliche Bera-
tung in Anspruch nehmen kann, werden eine Fülle von
Unsicherheiten mit sich bringen und eine Fülle neuer
Fragen aufwerfen, über die letzten Endes wieder Ge-
richte entscheiden müssen. Die Menschen haben wie-
derum nicht die Sicherheit, dass ihr in einer Patienten-
verfügung bestimmter Wille auch gelten wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Diese Sicherheit sowohl für den Arzt als auch für den
Patienten bietet unser Gesetzentwurf. Er trägt meinen
Namen, aber viele Kolleginnen und Kollegen aus vier
Fraktionen dieses Hauses haben daran mitgewirkt. Bei
diesen Kolleginnen und Kollegen möchte ich mich für
ihre Unterstützung recht herzlich bedanken.
Zum Schluss, Frau Präsidentin, möchte ich noch zwei
Anmerkungen machen.
Erstens. Auch die Kollegen Bosbach und Zöller ha-
ben ihre Gesetzentwürfe aus ehrenwerten Motiven so
verfasst, wie sie sie verfasst haben. Herr Kollege Grübel,
Sie begründen Ihre Auffassung immer, indem Sie auf die
Lebensschutzpflicht des Staates verweisen. Aber ich
sage Ihnen: In verfassungsrechtlicher Hinsicht begehen
Sie einen gravierenden Denkfehler. Die Begründung,
hier müsse ein Ausgleich vorgenommen werden, trägt
verfassungsrechtlich nicht. Denn eine Abwägung zwi-
schen Selbstbestimmung und Lebensschutz ist nach gel-
tender Rechtsprechung dann, wenn es sich um den glei-
chen Grundrechtsträger handelt, nicht möglich.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Hier handelt es sich um den Grundrechtsträger Patient,
der von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch ge-
macht hat. Der Staat hat in diesem Fall kein Recht, ihm
im Interesse des Lebensschutzes vorzuschreiben, seine
Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Meine zweite und letzte Anmerkung. Vor zwei Jahren
haben viele deutsche Ärzte den sogenannten Lahrer Ko-
dex verfasst. Im Rahmen eines Kongresses haben viele
führende Mediziner, vor allen Dingen Palliativmedizi-
ner, aber auch Ärzte, die jeden Tag am Operationstisch
stehen, eine Art Selbstverpflichtung unterschrieben. Der
Lahrer Kodex lautet wie folgt:
Falls ein Patient entscheidungsunfähig ist, werde
ich eine vorher … vorgelegte Patientenverfügung
respektieren, sofern diese aktuell und auf die gege-
bene Situation anwendbar ist.
Nichts anderes besagt auch der Stünker-Gesetzent-
wurf, der Ihnen heute zur Abstimmung vorliegt. Die
Menschen wollen diese Regelung. Auch die breite
Mehrheit der Ärzte will diese Regelung. Ich bitte Sie da-
her um Zustimmung.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Bosbach.
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):
Herr Kollege Stünker, wenn ich Sie richtig verstanden
habe, haben Sie gerade gesagt, der Gesetzentwurf des
Kollegen Zöller und der Gesetzentwurf, der von mir un-
terstützt wird, würden zwar ehrenwerte Motive wider-
spiegeln, seien aber leider verfassungswidrig, da in mei-
nem Gesetzentwurf differenziert wird zwischen
unheilbaren Erkrankungen, also zwischen Krankheiten,
die irreversibel sind und einen tödlichen Verlauf haben,
und Krankheitssituationen, in denen man nach einem
ärztlichen Heileingriff wieder ein bewusstes, gesundes
und erfülltes Leben führen kann. Außerdem haben Sie
ausgeführt, der Staat dürfe dann, wenn derselbe Grund-
rechtsträger betroffen sei, keine Hürden zum Schutz des
Lebens und der Gesundheit, die das Selbstbestimmungs-
recht einschränken würden, auferlegen. Das war Ihre
These.
In der Transplantationsmedizin beurteilt der Deutsche
Bundestag dies fundamental anders. Bei einer Organ-
spende unter Lebenden müssen insgesamt acht Bedin-
gungen erfüllt sein; unter anderem muss eine ärztliche
Beratung stattgefunden haben. Außerdem hat der Bun-
destag, haben wir alle sieben weitere Hürden errichtet.
Wir waren nämlich der Auffassung: Eine Organspende
ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden,
und darüber müssen wir den Spender zu seinem Schutz
aufklären. –
Nie hat bei diesem Thema auch nur eine Kollegin
oder ein Kollege im Deutschen Bundestag behauptet,
dass die Pflicht zur ärztlichen Aufklärung über die ge-
sundheitlichen Risiken einer Organspende verfassungs-
rechtlich problematisch sei.
Hier sprechen wir nicht über die ärztliche Beratung
bei einem irreversiblen tödlichen Krankheitsverlauf,
sondern darüber – und das empfinden viele als Zumu-
tung –, dass jemand über sein Leben verfügt. Für den
Fall des Falles, dass die Betroffenen doch nicht unheil-
bar erkrankt sind, wollen wir allerdings festlegen, dass
sie sich vor dieser Verfügung bitte ärztlich beraten las-
sen.
Wir können doch nicht ernsthaft die Verfügung über
ein Organ, beispielsweise eine Niere, für so risikoreich
halten, dass wir eine Zwangsberatung vorschreiben,
während wir in dem Fall, in dem jemand über sein Leben
verfügt, sagen: Ja, so ist es eben; wer schreibt, der
bleibt. – Das nennen wir dann Selbstbestimmung. Ich
halte dies für einen Widerspruch.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
25112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Wolfgang Bosbach
Es geht nicht um eine verfassungswidrige Beschrän-
kung des Selbstbestimmungsrechts. Von dem Selbst-
bestimmungsrecht kann der Mensch dann Gebrauch
machen, wenn er ärztlichen Rat eingeholt hat, aufgeklärt
ist, seine Situation kennt und weiß, für welche Situation
er welche Verfügung trifft. Das ist keine Einschränkung
des Selbstbestimmungsrechts, sondern Schutz zum
Wohle des Patienten. Auch für diesen Schutz muss die-
ser Gesetzgeber Sorge tragen.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Stünker.
Joachim Stünker (SPD):
Herr Kollege Bosbach, es ist schon gut, dass Sie zum
Schluss noch einmal in die Diskussion eingreifen. Ich
habe nicht davon gesprochen, dass Ihr Entwurf verfas-
sungswidrig sei – dazu würde ich mich nicht hergeben –,
sondern meine Bedenken geäußert. Was verfassungswid-
rig ist – das haben wir neulich bei der Anhörung wieder
gehört –, entscheidet letztendlich das Bundesverfas-
sungsgericht, wenn es angerufen wird. Wir haben hier
unsere Abwägungen zu treffen. Ich habe nur darauf hin-
gewiesen, dass ich Zweifelsfälle sehe, die zu neuer
Rechtsunsicherheit und gerade nicht zu Rechtssicherheit
führen.
Nun komme ich zu Ihrem Beispiel mit der Organ-
transplantation und meiner Aussage, dass eine Abwä-
gung hier nicht möglich sei. Das ist überhaupt kein
Widerspruch. Der Unterschied ist folgender: Bei der Pa-
tientenverfügung geht es um einen einzigen Rechtsträger
– allein um mich, Stünker, der ich sie verfasst habe –,
während bei der Organspende mindestens zwei Personen
beteiligt sind,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider-
spruch bei der CDU/CSU)
nämlich derjenige, der ein Organ hergibt, und derjenige,
dem dieses Organ eingepflanzt werden soll.
(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Der Emp-
fänger wird doch nicht beraten! – Weitere Zu-
rufe von der CDU/CSU)
– Darf ich meinen Gedanken zu Ende führen? – Das Or-
gan wird doch entnommen, um es einem anderen Men-
schen einzusetzen. Also ist ein Dritter daran beteiligt.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat doch nichts
mit der Selbstbestimmung zu tun!)
– Sie können so viel schreien, wie Sie wollen, Herr Kol-
lege Kauder. – Das ist verfassungsrechtlich nicht das
Gleiche.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich brauche
keine Belehrung von Ihnen!)
– Dann schreien Sie doch nicht dazwischen. – Das ist
verfassungsrechtlich nicht das Gleiche. Verfassungs-
rechtlich besteht ein elementarer Unterschied,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Blödsinn!)
den Sie in vielen Kommentaren nachlesen können. Mit
dieser Frage haben wir uns im Vorfeld ja sehr lange be-
schäftigt. Immer dann, wenn ein Dritter ins Spiel
kommt, kann der Staat nämlich selbstverständlich ent-
sprechende Voraussetzungen und Einschränkungen ver-
langen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das passt über-
haupt nicht zusammen!)
– Entschuldigen Sie; das gilt genauso bei der Frage des
Schwangerschaftsabbruchs. Natürlich kann der Staat
beim Schwangerschaftsabbruch diese Grenzen einzie-
hen, weil es im Ergebnis auch um das werdende Leben
und nicht nur um die Schwangere geht. Das ist der ver-
fassungsrechtliche Unterschied.
Von daher sehe ich den Widerspruch, den Sie erken-
nen, nicht und bitte nach wie vor um Zustimmung.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir mit den Abstimmungen beginnen, bitte ich
um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Ab-
stimmungsverfahren.
Zur Abstimmung stehen fünf Vorlagen zur Regelung
der Patientenverfügungen. Es handelt sich um die
Gesetzentwürfe: der Abgeordneten Stünker, Kauch,
Dr. Jochimsen und weiterer Abgeordneter auf Druck-
sache 16/8442; der Abgeordneten Bosbach, Röspel,
Göring-Eckardt und weiterer Abgeordneter auf Druck-
sache 16/11360; der Abgeordneten Zöller, Dr. Faust,
Dr. Däubler-Gmelin, Knoche und weiterer Abgeordneter
auf Drucksache 16/11493; sowie um die Anträge der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/397 und der Abge-
ordneten Hüppe, Philipp, Dr. Lammert und weiterer Ab-
geordneter auf Drucksache 16/13262.
Ich weise darauf hin, dass zu diesen Abstimmungen
mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vorliegen.1)
Der Rechtsausschuss hat in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13314 empfohlen, über die ge-
nannten Gesetzentwürfe in der Ausschussfassung sowie
über den Antrag der Fraktion der FDP einen Beschluss
herbeizuführen. Eine darüber hinausgehende Beschluss-
empfehlung hat der Ausschuss dazu nicht abgegeben.
1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25113
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
stimmungsreihenfolge liegen zwei Geschäftsordnungs-
anträge vor: ein Vorschlag der Gruppe Stünker, Kauch, Ortszusatz sowie Ihre Fraktion in gut lesbaren Druck-
Bosbach, Röspel, Göring-Eckardt, Fricke und der
Gruppe Zöller, Dr. Faust, Dr. Däubler-Gmelin, Knoche.
Die Abstimmung über diese beiden Vorschläge
erfolgt im Stimmzettelverfahren, bei dem Sie die Mög-
lichkeit haben, sich für eine der beiden Reihenfolgealter-
nativen zu entscheiden. Weiterhin haben Sie die Mög-
lichkeit, sich zu enthalten. Insgesamt können Sie auf
dem Stimmzettel nur ein Kreuz machen. Es handelt sich
dabei um eine namentliche Abstimmung mit all ihren
Konsequenzen.
(Heiterkeit)
Es ist vereinbart, nach dem Vorschlag, der die meisten
Stimmen erhält, zu verfahren. – Ich sehe, Sie sind mit
der Verfahrensweise einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.
Die Abstimmung über die Gesetzentwürfe erfolgt na-
mentlich in zweiter und gegebenenfalls auch in dritter
Beratung. Wird ein Gesetzentwurf angenommen, wird
über die verbleibenden Vorlagen nicht mehr abgestimmt.
Nach jeder namentlichen Abstimmung wird die Sitzung
bis zur Vorlage des Abstimmungsergebnisses unterbro-
chen.
Über den Antrag der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/397 wird nur dann – in einfacher Abstimmung –
abgestimmt, wenn vorher keine Vorlage angenommen
wurde.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Abgeordneten Hubert Hüppe, Beatrix Philipp,
Dr. Norbert Lammert und weiterer Abgeordneter auf
Drucksache 16/13262 mit dem Titel „Gesetzliche Über-
regulierung der Patientenverfügung vermeiden“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mit Mehrheit des Hauses ab-
gelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 572;
davon
Vorschlag A: 309
Vorschlag B: 258
enthalten: 0
ungültig: 5
Vorschlag A
SPD
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
tel ohne Namen, mit mehr als einem Kreuz oder anderen
Zusätzen sind ungültig. Die Stimmzettel wurden bereits
im Saal verteilt. Sollten Sie noch keinen Stimmzettel ha-
ben, können Sie diesen von den Plenarassistenten erhal-
ten.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. –
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbreche ich
die Sitzung.
(Unterbrechung von 16.11 bis 16.25 Uhr)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.
Bitte, Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie Ihre
Plätze ein.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über die Geschäftsordnungsanträge zur Abstim-
mungsreihenfolge bei den Entwürfen der Gesetze zur
Regelung der Patientenverfügung bekannt: abgegebenen
Stimmen 573. Auf den Vorschlag A, die Reihenfolge
Zöller/Bosbach/Stünker, entfielen 309 Stimmen. Auf
den Vorschlag B, die Reihenfolge Stünker/Bosbach/
Zöller, entfielen 258 Stimmen, ungültige Stimmen 6,
Enthaltungen keine. Es soll nach dem Vorschlag, der die
meisten Stimmen erhalten hat, verfahren werden. Dies
ist Vorschlag A, die Reihenfolge Zöller/Bosbach/
Stünker.
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Dr. Jochimsen, Montag sowie ein Vorschlag der Gruppe buchstaben auf den Stimmzettel zu schreiben. Stimmzet-
Es ist vereinbart, zunäc
Gruppe Hüppe in einer einfa
scheiden. Sollte dieser Ant
wird über die anderen Vorlag
Findet der Antrag der Gru
müssen wir zunächst über di
mungen über die Gesetzentw
hst über den Antrag der
chen Abstimmung zu ent-
rag eine Mehrheit finden,
en nicht mehr abgestimmt.
ppe Hüppe keine Mehrheit,
e Reihenfolge der Abstim-
ürfe entscheiden. Zur Ab-
Wir kommen nun zur Ab
Geschäftsordnungsanträge zu
mung über die drei Gesetze
erfolgt per Stimmzettelverfa
lichkeit, einen der beiden V
gegenüber beiden Vorschläge
zukreuzen.
Denken Sie bitte daran, Ih
stimmung über die beiden
r Reihenfolge der Abstim-
ntwürfe. Die Abstimmung
hren. Es besteht die Mög-
orschläge oder Enthaltung
n auf dem Stimmzettel an-
ren Namen mit eventuellem
25114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Caren Marks
Katja Mast
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dr. Erwin Lotter
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Bodo Ramelow
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25115
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Marieluise Beck (Bremen)
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Wolfgang Wieland
fraktionslose
Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Vorschlag B
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Willi Brase
Eike Hovermann
Karin Kortmann
Ernst Kranz
Lothar Mark
Hilde Mattheis
Sönke Rix
25116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
gungen in der Ausschussfassung, Drucksachen 16/11493
und 16/13314. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Robert Hochbaum Ruprecht Polenz Eike Hovermann
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Anke Eymer (Lübeck)
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Martina Krogmann
Helmut Lamp
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Eduard Lintner
Patricia Lips
Thomas Mahlberg
Wolfgang Meckelburg
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Franz Romer
Peter Rzepka
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Bernd Schmidbauer
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Ole Schröder
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
DIE LINKE
Sevim Dağdelen
Heike Hänsel
Ulla Jelpke
Monika Knoche
Oskar Lafontaine
Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
CDU/CSU Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Hans Raidel
Katherina Reiche (Potsdam)
Dr. Wolfgang Wodarg
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 77
nein: 486
enthalten: 8
Ja
Hartwig Fischer (Göttingen)
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Holger Haibach
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Gesetzentwurf der Abgeordneten Wolfgang
Zöller, Dr. Hans Georg Faust, Dr. Herta Däubler-Gmelin
und weiterer Abgeordneter – Entwurf eines Gesetzes zur
Klarstellung der Verbindlichkeit von Patientenverfügun-
gen – bekannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben
gestimmt 77, mit Nein haben gestimmt 486, Enthaltun-
gen 8. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
abgelehnt.
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Herta Däubler-Gmelin
in der Ausschussfassung namentlich ab. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
René Röspel
Michael Roth (Heringen)
Ottmar Schreiner
Jörg-Otto Spiller
Andreas Weigel
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
FDP
Otto Fricke
Heinz-Peter Haustein
Hellmut Königshaus
(Beifall bei Abgeordne
LINK
Wir kommen zur Abstimm
geordneten Wolfgang Zölle
Dr. Herta Däubler-Gmelin, M
ren Abgeordneten eingebrach
zur Klarstellung der Verbindl
Heinz Lanfermann
Michael Link (Heilbronn)
Patrick Meinhardt
DIE LINKE
Sevim Dağdelen
Klaus Ernst
Heike Hänsel
Cornelia Hirsch
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
ten der SPD und der
EN)
ung über den von den Ab-
r, Dr. Hans Georg Faust,
onika Knoche und weite-
ten Entwurf eines Gesetzes
ichkeit von Patientenverfü-
Monika Knoche
Oskar Lafontaine
Dr. Norman Paech
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Ilja Seifert
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Hans-Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
führerinnen und Schriftführe
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Er
Abstimmung unterbreche ich
(Unterbrechung von 1
Vizepräsidentin Dr. h. c
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Omid Nouripour
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
r, mit der Auszählung zu
gebnisses der namentlichen
die Sitzung.
6.30 bis 16.36 Uhr)
. Susanne Kastner:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25117
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Albach
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Ilse Falk
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Geis
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ingbert Liebing
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Eduard Oswald
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Daniela Raab
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Anita Schäfer (Saalstadt)
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Andreas Schmidt (Mülheim)
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
25118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Markus Meckel Jella Teuchner Detlef Parr Hans Josef Fell
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Michael Glos
Monika Grütters
Michael Hennrich
Thomas Rachel
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Storm
FDP
Daniel Bahr (Münster)
DIE LINKE
Cornelia Hirsch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25119
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Norbert Königshofen
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Norbert Barthle Dr. Peter Gauweiler Manfred Kolbe Klaus Riegert
Wir kommen nun zur Abs
Abgeordneten Wolfgang Bos
Göring-Eckardt und weiteren
Entwurf eines Gesetzes zur
verfügung im Betreuungsrech
Drucksachen 16/11360 und 1
Hierzu liegt ein Änderun
Katrin Göring-Eckardt, Dr.
Winkler und weiterer Abgeor
erst abstimmen. Wer stimm
auf Drucksache 16/13379? –
Enthaltungen? – Der Änderu
heit der Stimmen des Hauses
Wir stimmen nun über
Ausschussfassung namentlic
führerinnen und Schriftführe
einzunehmen. Sind die Plätz
Das ist der Fall. Ich eröffne d
Ist ein Mitglied des Ha
Stimme noch nicht abgegebe
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 220
nein: 344
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
timmung über den von den
bach, René Röspel, Katrin
Abgeordneten eingebrachten
Verankerung der Patienten-
t in der Ausschussfassung,
6/13314.
gsantrag der Abgeordneten
Harald Terpe, Josef Philip
dneter vor, über den wir zu-
t für den Änderungsantrag
Wer stimmt dagegen? –
ngsantrag ist mit der Mehr-
abgelehnt.
den Gesetzentwurf in der
h ab. Ich bitte die Schrift-
r, die vorgesehenen Plätze
e an den Urnen besetzt? –
ie Abstimmung.
uses anwesend, das seine
n hat? – Das ist nicht der
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Fall. Ich schließe die Abstim
führerinnen und Schriftführe
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Er
Abstimmung unterbreche ich
(Unterbrechung von 1
Vizepräsidentin Dr. h. c
Die unterbrochene Sitzung
Ich gebe das von den Sch
führern ermittelte Ergebnis d
mung über den Gesetzen
Wolfgang Bosbach, René Rös
und weiterer Abgeordneter –
Verankerung der Patientenv
recht – bekannt: abgegebene
gestimmt 220, mit Nein habe
gen 2.
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Julia Klöckner
Jens Koeppen
mung und bitte die Schrift-
r, mit der Auszählung zu
gebnisses der namentlichen
die Sitzung.
6.40 bis 16.46 Uhr)
. Susanne Kastner:
ist wieder eröffnet.
riftführerinnen und Schrift-
er namentlichen Abstim-
twurf der Abgeordneten
pel, Katrin Göring-Eckardt
Entwurf eines Gesetzes zur
erfügung im Betreuungs-
Stimmen 566. Mit Ja haben
n gestimmt 344, Enthaltun-
Marlene Mortler
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
25120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Sabine Bätzing
Willi Brase
Marco Bülow
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christian Kleiminger
Karin Kortmann
Ernst Kranz
Helga Lopez
Lothar Mark
Hilde Mattheis
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)
Ottmar Schreiner
Jörg-Otto Spiller
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Andreas Weigel
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
FDP
Otto Fricke
Heinz-Peter Haustein
Hellmut Königshaus
Michael Link (Heilbronn)
Patrick Meinhardt
Christoph Waitz
DIE LINKE
Cornelia Hirsch
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Hans Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Omid Nouripour
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Albach
Clemens Binninger
Renate Blank
Jochen Borchert
Dr. Stephan Eisel
Dr. Hans Georg Faust
Herbert Frankenhauser
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Manfred Grund
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Hubert Hüppe
Andreas Jung (Konstanz)
Steffen Kampeter
Jürgen Klimke
Dr. Rolf Koschorrek
Michael Kretschmer
Dr. Martina Krogmann
Thomas Mahlberg
Philipp Mißfelder
Carsten Müller
(Braunschweig)
Michaela Noll
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche (Potsdam)
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Ole Schröder
Jens Spahn
Gero Storjohann
Max Straubinger
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Caren Marks
Katja Mast
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25121
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Carsten Schneider (Erfurt) Angelika Brunkhorst Dr. Martina Bunge Dr. Uschi Eid
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Der Gesetzentwurf ist dam
gelehnt. Wir kommen nun
von den Abgeordneten Jo
Kauch, Dr. Lukrezia Jochims
neten eingebrachten Entwurf
Änderung des Betreuungsre
sung, Drucksachen 16/8442 u
über den Gesetzentwurf in
mentlich ab. Ich bitte die Sch
führer, die vorgesehenen Plät
Plätze an den Urnen besetzt?
öffne die Abstimmung.
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dr. Erwin Lotter
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
it in zweiter Beratung ab-
zur Abstimmung über den
achim Stünker, Michael
en und weiteren Abgeord-
eines Dritten Gesetzes zur
chts in der Ausschussfas-
nd 16/13314. Wir stimmen
der Ausschussfassung na-
riftführerinnen und Schrift-
ze einzunehmen. – Sind die
– Das ist der Fall. Ich er-
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Ist ein Mitglied des Ha
Stimme noch nicht abgegebe
Fall. Ich schließe die Abstim
führerinnen und Schriftführe
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Er
Abstimmung unterbreche ich
(Unterbrechung von 1
Vizepräsidentin Dr. h. c
Die unterbrochene Sitzung
Priska Hinz (Herborn)
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Wolfgang Wieland
fraktionslose
Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Monika Brüning
Marion Seib
uses anwesend, das seine
n hat? – Das ist nicht der
mung und bitte die Schrift-
r, mit der Auszählung zu
gebnisses der namentlichen
die Sitzung.
6.50 bis 16.56 Uhr)
. Susanne Kastner:
ist wieder eröffnet.
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Karin Roth (Esslingen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dr. Wolfgang Wodarg
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
25122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Karl Diller
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen Uwe Barth
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Martin Dörmann Astrid Klug Marianne Schieder Angelika Brunkhorst
Ich gebe das von den Sch
führern ermittelte Ergebnis d
mung über den Gesetzen
Joachim Stünker, Micha
Jochimsen und weiterer Abg
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 320
nein: 241
enthalten: 5
Ja
CDU/CSU
Dagmar Wöhrl
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
riftführerinnen und Schrift-
er namentlichen Abstim-
twurf der Abgeordneten
el Kauch, Dr. Lukrezia
eordneter – Entwurf eines
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dritten Gesetzes zur Änderu
bekannt: abgegebene Stimm
stimmt 320, mit Nein haben ge
Der Gesetzentwurf ist damit
nommen.
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
ng des Betreuungsrechts –
en 566. Mit Ja haben ge-
stimmt 241, Enthaltungen 5.
in zweiter Beratung ange-
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25123
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dr. Erwin Lotter
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Wolfgang Wieland
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
25124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Albert Rupprecht (Weiden) Lena Strothmann Josef Philip Winkler
der LINKEN und des B
GRÜNEN)
Dritte Be
und Schlussabstimmung. Au
stimmung verlangt. Ich weise
legen darauf hin, dass gleich
rückweisung der Einsprüche
namentlich abgestimmt wird
ginnen und Kollegen im Saal
Ich bitte die Schriftführeri
vorgesehenen Plätze einzune
den Urnen besetzt? – Das ist d
stimmung.
Vizepräsident Dr. h. c. W
Haben alle anwesenden M
Stimme abgegeben? – Das
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 555;
davon
ja: 318
nein: 232
enthalten: 5
ÜNDNISSES 90/DIE
ratung
ch hier ist namentliche Ab-
die Kolleginnen und Kol-
im Anschluss über die Zu-
des Bundesrates ebenfalls
. Ich bitte also, die Kolle-
zu bleiben.
nnen und Schriftführer, die
hmen. Sind die Plätze an
er Fall. Ich eröffne die Ab-
olfgang Thierse:
itglieder des Hauses ihre
ist offensichtlich der Fall.
Ja
CDU/CSU
Dagmar Wöhrl
SPD
Dr. Lale Akgün
führerinnen und Schriftführe
beginnen. Bis zum Vorliege
mentlichen Abstimmung unte
(Unterbrechung von 1
Vizepräsident Dr. h. c. W
Die unterbrochene Sitzung
Liebe Kolleginnen und K
Aufmerksamkeit. Ich gebe d
nen und Schriftführern ermitt
lichen Schlussabstimmung
Dritten Gesetzes zur Änderun
Abgeordneten Stünker, Kauch
rer Abgeordneter bekannt:
Mit Ja haben gestimmt 317,
233, Enthaltungen 5. Der Ges
ratung angenommen.
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
r, mit der Auszählung zu
n des Ergebnisses der na-
rbreche ich die Sitzung.
7.00 bis 17.07 Uhr)
olfgang Thierse:
ist wieder eröffnet.
ollegen, ich bitte um Ihre
as von den Schriftführerin-
elte Ergebnis der nament-
über den Entwurf eines
g des Betreuungsrechts der
, Dr. Jochimsen und weite-
abgegebene Stimmen 555.
mit Nein haben gestimmt
etzentwurf ist in dritter Be-
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Heinz-Peter Haustein
Heinz Lanfermann
Michael Link (Heilbronn)
Patrick Meinhardt
DIE LINKE
Sevim Dağdelen
Heike Hänsel
Ulla Jelpke
Monika Knoche
Elke Reinke
Dr. Ilja Seifert
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Hans Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Peter Hettlich
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Enthalten
SPD
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Engelbert Wistuba
DIE LINKE
Cornelia Hirsch
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Rainder Steenblock
Peter Rzepka Michael Stübgen Otto Fricke
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
SPD
Willi Brase
Eike Hovermann
Sönke Rix
René Röspel
Ottmar Schreiner
Andreas Weigel
FDP
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25125
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dr. Erwin Lotter
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
25126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Undine Kurth (Quedlinburg)
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Willi Brase
Sönke Rix
René Röspel
Ottmar Schreiner
Andreas Weigel
FDP
Otto Fricke
Heinz-Peter Haustein
Heinz Lanfermann
Michael Link (Heilbronn)
Patrick Meinhardt
DIE LINKE
Sevim Dağdelen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25127
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Wir setzen die Beratungen fort.
Zunächst Abstimmung übe
der CDU/CSU und der SPD a
spruchs des Bundesrates gege
der Förderung von Biokraftsto
Nach Art. 77 Abs. 4 Satz 1 de
Zurückweisung des Einspruc
der Mehrheit seiner Stimme
der Mitglieder des Deutsch
mindestens 307 Stimmen. W
weisen will, muss mit Ja stim
r den Antrag der Fraktionen
uf Zurückweisung des Ein-
n das Gesetz zur Änderung
ffen, Drucksache 16/13389.
s Grundgesetzes bedarf die
hs des Bundesrates, der mit
n erfolgt ist, der Mehrheit
en Bundestages. Das sind
er den Einspruch zurück-
men.
a) Zweite und dritte Bera
der CDU/CSU und d
wurfs eines Gesetzes
Vorstandsvergütung
– Drucksache 16/1227
1) Anlagen 3 bis 5
2) Ergebnis Seite 25130 C
3) Ergebnis Seite 25132 D
tung des von den Fraktionen
er SPD eingebrachten Ent-
zur Angemessenheit der
(VorstAG)
8 –
Zurückweisung von Einsprüchen des Bundesrates. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
Heike Hänsel
Ulla Jelpke
Monika Knoche
Elke Reinke
Dr. Ilja Seifert
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Hans Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Harald Terpe
Josef Philip Winkler
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Damit ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Ta-
gesordnungspunkt beendet.
Ich rufe die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zurückweisung des Einspruchs des Bundes-
rates gegen das Gesetz zur Änderung der För-
derung von Biokraftstoffen
– Drucksachen 16/11131, 16/11641, 16/12465,
16/12466, 16/13080, 16/13362, 16/13389 –
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zurückweisung des Einspruchs des Bundes-
rates gegen das Gesetz zur Modernisierung
von Verfahren im anwaltlichen und notariellen
Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlich-
tungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur
Änderung sonstiger Vorschriften
– Drucksachen 16/11385, 16/12717, 16/13082,
16/13363, 16/13390 –
Der Präsident des Bundesrates hat schriftlich mitge-
teilt, dass der Bundesrat in seiner Sitzung am 12. Juni
2009 beschlossen hat, gegen das Gesetz zur Änderung
der Förderung von Biokraftstoffen und gegen das Gesetz
zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und
notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlich-
tungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung
sonstiger Vorschriften Einspruch einzulegen. Wir kom-
men jetzt zu zwei namentlichen Abstimmungen über
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Enthalten
SPD
Dr. Ernst Dieter Rossmann
DIE LINKE
Cornelia Hirsch
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Rainder Steenblock
Zur Abstimmung liegen mehrere Erklärungen nach
§ 31 der Geschäftsordnung vor.1)
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ist das erfolgt? –
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge-
geben? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe
ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgege-
ben.2)
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 6: Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates ge-
gen das Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im an-
waltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung ei-
ner Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur
Änderung sonstiger Vorschriften, Drucksache 16/13390.
Nach Art. 77 Abs. 4 Satz 2 des Grundgesetzes bedarf die
Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates, der mit
zwei Dritteln seiner Stimmen beschlossen wurde, einer
Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens aber der Mehr-
heit der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Wer den
Einspruch zurückweisen will, muss mit Ja stimmen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ist das erfolgt? – Das
ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge-
geben? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe
ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.3)
25128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13433 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Klaus Uwe Benneter
Joachim Stünker
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Professionalität und Effizienz der Aufsichts-
räte deutscher Unternehmen verbessern
– Drucksachen 16/10885, 16/13433 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Klaus Uwe Benneter
Joachim Stünker
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Exzesse bei Managergehältern verhindern
– Drucksachen 16/12112, 16/13425 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Scheel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Joachim Poß (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im An-
schluss an die Debatte über das für uns alle sicherlich
sehr bewegende Thema Patientenverfügung wenden wir
uns jetzt einem anderen Thema zu, das man zwar nicht
damit vergleichen kann, das aber in den letzten Jahren
für große Aufregung in unserer Gesellschaft gesorgt hat:
der Angemessenheit von Vorstandsvergütungen und Ma-
nagergehältern.
Dass die Managergehälter geradezu explodiert sind,
ist nicht erst durch die Finanzkrise zu einem Problem ge-
worden. Allerdings hat die Finanzkrise dieses Problem
ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Nicht umsonst wird
kritisiert, dass die Entlohnungspraxis der Banken in den
jüngsten Vorschlägen von US-Präsident Obama ausgespart
wurde, und das, obwohl die irrwitzige Höhe der Bonus-
zahlungen, wie die Ergebnisse vieler Untersuchungen
gezeigt haben, einer der entscheiden Gründe dafür war,
dass letztlich unverantwortliche Risiken eingegangen
wurden.
Nichtsdestotrotz wäre es zu kurz gegriffen, würde
man den Blick nur auf die Finanzkrise richten. Seit rund
15 Jahren vollzieht sich auch in Deutschland ein Prozess,
in dessen Verlauf sich die Höhe der Managergehälter,
insbesondere die Höhe der Vorstandsvergütungen, von der
Höhe der Durchschnittseinkommen zunehmend abkoppelt.
Die Kluft nimmt stetig zu. Betrug die Relation früher
rund 20 : 1, so war bei den DAX-Vorstandsvorsitzenden
bei Ausbruch der Krise im Durchschnitt ein Verhältnis
von etwa 45 : 1 erreicht.
Diese Entwicklung beunruhigt die Menschen. Dabei
geht es nicht um Neid oder um eine emotionale Überreak-
tion auf die aktuelle Finanzkrise. Nein, meine Damen
und Herren, dieses Thema geht viel tiefer. Letztlich geht
es um die Fragen, in was für einer Gesellschaft wir künf-
tig leben wollen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto
Bernhardt [CDU/CSU])
und wie das Produkt gemeinsamer Arbeit in unseren Unter-
nehmen verteilt werden soll.
Die Menschen spüren, dass etwas nicht stimmt, wenn
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Vollzeit-
beschäftigung auf ergänzende Unterstützung angewiesen
sind, während gleichzeitig einige wenige, die an der Spitze
stehen, millionenschwere Bonuszahlungen einstreichen.
Um die soziale Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung zu
gewährleisten, ist es erforderlich, dafür zu sorgen, dass
Lohn und Leistung für alle Menschen in einem vernünf-
tigen Verhältnis zueinander stehen.
Wenn dieses Verhältnis grundlegend gestört ist und
die üblichen Verfahren der Lohnfindung versagen, wie
wir es zurzeit sowohl am oberen als auch am unteren
Rand der Lohnskala erleben, ist der Gesetzgeber gefragt.
Genau deshalb haben wir Sozialdemokraten uns stark für
Mindestlöhne engagiert. Aus diesem Grund arbeiten wir
seit Ende 2007 intensiv auf strengere gesetzliche Rege-
lungen für Managergehälter hin.
(Beifall bei der SPD)
Die heutige Verabschiedung dieses Gesetzes ist ein
entscheidender Schritt auf diesem Weg. Die Beharrlich-
keit, mit der wir dieses Thema verfolgt haben – zunächst
intern und seit letztem Sommer in der Koalition –, hat
sich gelohnt. Vor gerade einmal einem Jahr, als wir un-
sere Vorschläge im Parteipräsidium der SPD beschlossen
haben, haben viele noch gespottet. Heute werden wir die
meisten dieser Vorschläge in Gesetzesform gießen. Dazu
kommen einige weitere Maßnahmen, auf die wir uns in
den gemeinsamen Beratungen der Koalition verständigen
konnten.
Insgesamt liegt jetzt ein Paket vor, das in der Anhörung
des Rechtsausschusses Ende Mai bei den Experten von
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25129
(A) (C)
(B) (D)
Joachim Poß
Wissenschaft, Rechtsprechung und Gewerkschaften breite
Zustimmung gefunden hat. Dabei wurde die vom Bundes-
justizministerium geleistete Formulierungsarbeit beson-
ders gelobt. Dieses Lob wollte ich jetzt eigentlich der
Ministerin persönlich aussprechen. Das ist im Moment
leider nicht möglich.
(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Sie
kommt gleich!)
Ich bitte die Vertreter ihres Hauses, das weiterzugeben.
Jedenfalls im Namen meiner Fraktion – ich nehme an,
dass die CDU/CSU es nicht anders sieht – bedanke ich
mich ausdrücklich für die gute Formulierungsarbeit, die
vom Haus geleistet wurde.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die offenkundige Schwachstelle bei der Festsetzung
der Vorstandsgehälter hat zuletzt Hilmar Kopper – der es
wohl wissen muss – in der Zeit vom 10. Juni 2009 klar
und deutlich benannt. Nach seiner Aussage sind die Auf-
sichtsräte die eigentliche Schwachstelle. Ihnen obliegt es
nach dem Aktiengesetz, für eine angemessene Vor-
standsvergütung zu sorgen. Wir wollen auch, dass das so
bleibt. Allerdings möchten wir in Zukunft von den Auf-
sichtsräten mehr Transparenz, mehr Verantwortung und
mehr Sensibilität bei der Vorstandsvergütung sehen.
Dem Erreichen dieses Ziels dienen sämtliche Maß-
nahmen dieses Gesetzes. Wir setzen gerade nicht den
Gesetzgeber an die Stelle der Aufsichtsräte, wie in den
Medien oft zu lesen war, sondern nehmen die Aufsichts-
räte – das gilt für die Vertreter der Arbeitnehmerseite
ebenso wie für die Vertreter der Kapitalseite – in die
Pflicht. Mitbestimmung heißt auch Mitverantwortung,
gerade auch bei der Frage der Vorstandsvergütung.
(Beifall bei der SPD)
Wir wollen, dass mit geheimen Kungelrunden
Schluss ist. Künftig muss der Aufsichtsrat als ganzes
Gremium über die Vorstandsverträge entscheiden – und
nicht mehr nur ein kleiner Präsidial- oder Personalaus-
schuss. Das bedeutet mehr Verantwortung für jedes ein-
zelne Aufsichtsratsmitglied, zumal wir zugleich deren
individuelle Haftung für den Fall einer nicht angemessenen
Vergütungsfestsetzung schärfer gefasst haben.
Was unter einer angemessenen Vergütung zu verste-
hen ist, wird stärker konkretisiert. Insbesondere wird
klargestellt, dass sich die Vergütung am nachhaltigen
Unternehmenserfolg ausrichten soll. Für variable Vergütun-
gen soll eine mehrjährige Bezugsperiode gelten. Aktien-
optionen sollen erst nach vier statt bisher zwei Jahren
eingelöst werden können. Der Aufsichtsrat soll zudem
eine Obergrenze für die variable Vergütung für außerge-
wöhnliche Entwicklungen festlegen.
Durch die Vorschrift für den Aufsichtsrat, eine nach-
trägliche Herabsetzung von Vorstandsvergütungen in
dem Fall vorzunehmen, dass ein Unternehmen in wirt-
schaftliche Schwierigkeiten gerät, wird der Aufsichtsrat
verschärft in die Pflicht genommen. Auch ist künftig in
einem Zeitraum von drei Jahren nach Ausscheiden eines
Vorstandsmitglieds gegebenenfalls eine Herabsetzung
der Versorgungsbezüge möglich.
Ein Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat des-
selben Unternehmens soll erst nach einer Frist von zwei
Jahren erlaubt sein; es sei denn, dass der Wechsel von
Großaktionären – insbesondere bei Familiengesellschaf-
ten – ausdrücklich gewünscht wird.
Außerdem wollen wir, dass hohen Vorstandsgehältern
in Zukunft auch ein höheres Haftungsrisiko bei Fehlver-
halten gegenübersteht.
(Beifall bei der SPD)
Deshalb muss der Aufsichtsrat beim Abschluss sogenann-
ter D&O-Versicherungen, die bei Schäden, die durch
Fehlverhalten von Managern entstanden sind, eintreten,
einen Selbstbehalt von mindestens anderthalb Jahresfix-
gehältern vorsehen, der von den Vorständen selbst zu
tragen ist.
Schließlich fordern wir mehr Transparenz bei der indivi-
duellen Gehaltsoffenlegung gegenüber den Anteilseignern
sowie der Öffentlichkeit, insbesondere was die Versor-
gungsbezüge angeht.
Zudem sollen die Anteilseigener die Möglichkeit be-
kommen, in der Hauptversammlung einen den Aufsichtsrat
nicht bindenden Beschluss zu Vergütungsfragen zu fassen.
Meine Damen und Herren, dieses in beharrlicher Arbeit
entstandene Gesetz mit seinen vermeintlich kleinteiligen
Änderungen des Aktien- und Handelsrechts mag auf den
ersten Blick weniger ambitioniert wirken als manche
schneidig vorgetragene Forderung nach einer gesetzlichen
Deckelung der Gehälter.
Ich verschweige auch nicht, dass wir Sozialdemokraten
in diesem Gesetz gerne zwei weitere Maßnahmen unter-
gebracht hätten: erstens eine Begrenzung des steuerlichen
Betriebsausgabenabzugs für Vorstandsgehälter und Abfin-
dungen oberhalb 1 Million Euro und zweitens die explizite
und gleichrangige Verpflichtung der Unternehmen auf die
Interessen von Anteilseignern, Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und auf das Wohl der Allgemeinheit. Es
darf nicht, wie sich das in den letzten Jahren immer mehr
breitgemacht hat, nur um den Shareholder-Value gehen!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diese Ziele konnten wir in der Koalition jetzt nicht
durchsetzen. Die SPD wird aber weiter dafür kämpfen.
Ich bin überzeugt, dass das Gesetz, das heute vorliegt,
dafür sorgen wird, dass in den Mitbestimmungsgremien
über Managergehälter künftig viel offener und intensiver
diskutiert werden muss. Wir alle, die Initiatoren wie die
Kritiker dieses Gesetzes, haben es in der Hand, diese
Diskussion in Zukunft immer wieder in die Öffentlichkeit
und damit ins Bewusstsein der Menschen zu tragen. Nur
durch Öffentlichkeit und Transparenz werden wir den
– auch und gerade in den oberen Etagen – erforderlichen
Mentalitätswechsel herbeiführen können.
Ich betone: Der dringend erforderliche Mentalitäts-
wechsel steht noch aus. Der Brief, mit dem die Auf-
sichtsratsvorsitzenden zahlreicher DAX-Unternehmen
25130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Joachim Poß
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 556;
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
ja: 383
nein: 165
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helmut Brandt
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Henning Otte
Rita Pawelski
davon Georg Brunnhuber Michael Grosse-Brömer Norbert Königshofen
das Gesetz in letzter Minute s
genau den Geist der Arroga
am Beginn der Finanzkrise s
wieder aus der Deckung wag
nicht mitmachen.
(Beifall bei
Dieser Geist, diese Menta
erwähnten Interview in der
versucht, die Zahlung der Bo
senhändler dadurch zu beschö
mit 50 Jahren zwar reich, abe
Krankenschwester, ein Baua
sich nach 30 Jahren harter Ar
bisweilen leer fühlen mögen
empfinden als als blanken Ho
(Beifall bei Abgeordne
CDU/C
Ich würde mir wünschen, da
einmal bedenkt, wenn er jetz
rat der HSH Nordbank antrit
ihn zwingen, Gehaltsfragen m
Kollegen im Aufsichtsrat kün
wusstsein größerer Verantwo
Ministerin Zypries ist jetzt
noch einmal persönlich für die
toppen wollten, atmet noch
nz und Ignoranz, der auch
tand und sich jetzt langsam
t. Da dürfen wir als Politik
der SPD)
lität spricht aus dem bereits
Zeit, in dem Herr Kopper
nusmillionen an seine Bör-
nigen, dass diese Menschen
r leer seien. Wie kann eine
rbeiter, eine Erzieherin, die
beit ohne jeden Bonus auch
, einen solchen Satz anders
hn?
ten der SPD und der
SU)
ss Herr Kopper dies noch
t den Vorsitz im Aufsichts-
t. Dieses Gesetz wird auch
it seinen Kolleginnen und
ftig offener und in dem Be-
rtung zu diskutieren.
da; so kann ich mich auch
hervorragende Arbeit ihres
Hauses bedanken und die E
Bundesregierung, wie sie es
Corporate-Governance-Kode
desbesitz bzw. mit Bundesbe
im Kabinett zweimal abgese
Wir wollen ja nicht mit un
messen. Wir erwarten, dass d
Meine Damen und Herre
Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD so
der CDU
Vizepräsident Dr. h. c. W
Ich will zwischendurch zu
men und das von den Schrift
rern ermittelte Ergebnis de
mung über den Antrag der
und SPD auf Zurückweisung
desrats gegen das Gesetz zu
von Biokraftstoffen – das ist
bekannt geben: abgegebene S
gestimmt 384, mit Nein habe
gen 7. Der Antrag ist gemäß
Grundgesetzes mit der erfo
nommen.
rwartung äußern, dass die
uns versprochen hat, den
x für Unternehmen in Bun-
teiligung – dieser Punkt ist
tzt worden – zügig vorlegt.
terschiedlichen Maßstäben
a jetzt etwas kommt.
n, ich danke Ihnen für die
wie bei Abgeordneten
/CSU)
olfgang Thierse:
Zusatzpunkt 5 zurückkom-
führerinnen und Schriftfüh-
r namentlichen Abstim-
Fraktionen der CDU/CSU
des Einspruchs des Bun-
r Änderung der Förderung
die Drucksache 16/13389 –
timmen 558. Mit Ja haben
n gestimmt 167, Enthaltun-
Art. 77 Abs. 4 Satz 1 des
rderlichen Mehrheit ange-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25131
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Bernd Schmidbauer
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
25132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Cajus Caesar
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Winfried Nachtwei
Michael Glos
Josef Göppel
Dr. Peter Jahr
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Helmut Lamp
Dr. Max Lehmer
Marlene Mortler
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Dr. Joachim Pfeiffer
Johannes Röring
Norbert Schindler
Thomas Silberhorn
Christian Freiherr von Stetten
Thomas Strobl (Heilbronn)
SPD
Dr. Axel Berg
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Ich komme zu Zusatzpunk
von den Schriftführerinnen u
Ergebnis der namentlichen
trag der Fraktionen der CDU
weisung des Einspruchs des B
zur Modernisierung von Verf
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
t 6 und gebe auch dazu das
nd Schriftführern ermittelte
Abstimmung über den An-
/CSU und SPD auf Zurück-
undesrats gegen das Gesetz
ahren im anwaltlichen und
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
notariellen Berufsrecht, zur
tungsstelle der Rechtsanwalt
sonstiger Vorschriften – das is
bekannt: abgegebene Stimm
stimmt 548, mit Nein hat ges
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionslose
Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Veronika Bellmann
Uda Carmen Freia Heller
Robert Hochbaum
Katharina Landgraf
Eduard Oswald
SPD
Gabriele Groneberg
Marko Mühlstein
Lydia Westrich
Errichtung einer Schlich-
schaft sowie zur Änderung
t die Drucksache 16/13390 –
en 549. Mit Ja haben ge-
timmt einer – oder eine.
Dr. Maria Flachsbarth Schnarrenberger Ulrich Maurer Claudia Roth (Augsburg)
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Clemens Binninger
Michael Brand
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Uta Zapf Heinz-Peter Haustein Cornelia Hirsch Fritz Kuhn
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25133
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 549;
davon
ja: 548
nein: 1
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
25134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25135
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schaft. Jeder, der ein Unternehmen gründet oder ein Un- fentlichkeit nicht vermittelbar, dass Banken, die hoheVerluste gemacht haben und sich unter den Schutzschirm
ter, seine Vertragspartner u
Verantwortung gilt es zu stärk
(Beifall bei
Deshalb ist der Grundsat
tungsstrukturen oder bei der
nachhaltige, längerfristige Zi
allein am Aktienkurs ausgeri
fehltes Modell.
(Beifall bei
Das Bild des verantwortlich
tümerinteresse ausgerichtet
wie bei einem Familienunte
nd seine Umwelt. Diese
en.
der FDP)
z richtig, auch bei Vergü-
Kontrolle der Manager auf
ele zu setzen. Kurzfristiges,
chtetes Denken ist ein ver-
der FDP)
Handelnden, des am Eigen-
en Unternehmenslenkers,
rnehmen, ist zukunftswei-
beiter zahlen.
Hohe Gehälter, ein hoher
trotz Managementfehlern: H
Dienstverhältnisses klar nach
ren sind erforderlich. Verträg
gaben sollten der Vergangenh
brauchen wir mehr Transpar
dungsmöglichkeiten der Eige
ner.
(Beifall bei
Ihnen gehört die Gesellschaf
gen und die Aufwendungen u
Bonus, hohe Abfindungen
ier muss im Rahmen des
justiert werden. Korrektu-
e ohne entsprechende Vor-
eit angehören. Genau dafür
enz und mehr Mitentschei-
ntümer oder der Anteilseig-
der FDP)
t. Sie zahlen die Vergütun-
nd brauchen mehr Rechte.
ternehmen leitet, hat Verantwortung für seine Mitarbei- des Staates begeben, weiterhin hohe Boni an ihre Mitar-
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Claudia Roth (Augsburg)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Der Antrag ist mit der gemäß Art. 77 Abs. 4 Satz 2 des
Grundgesetzes erforderlichen Mehrheit angenommen.
So weit die Unterbrechung dieses Tagesordnungs-
punktes. Jetzt fahren wir fort mit dem Kollegen Hartfrid
Wolff für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Freiheit
und Verantwortung zusammenzubringen, ist die wesent-
liche Herausforderung unserer Gesellschaft – auch in-
nerhalb der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Herr
Kollege Poß, Staatsdirigismus ist der falsche Weg. Er ist
ineffektiv und widerspricht der sozialen Marktwirt-
schaft.
(Joachim Stünker [SPD]: Oh!)
Es gilt eindeutig, Exzesse, wie sie in der Bankenkrise
sichtbar wurden, zukünftig zu verhindern. Es gilt aber
auch, an den Grundwerten der sozialen Marktwirtschaft
festzuhalten.
(Joachim Poß [SPD]: Machen wir ja!)
Die soziale Marktwirtschaft lebt von der Vertragsfreiheit
und der Verantwortungsübernahme für unsere Gesell-
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Nein
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
send. Wir brauchen diejenigen, die bereit sind, Verant-
wortung zu übernehmen. Ihnen darf diese Tätigkeit auch
nicht verbaut werden.
Einige der Ansatzpunkte in dem Gesetzentwurf gehen
in die richtige Richtung. Die CDU/CSU-SPD-Koalition
setzt aber zu sehr auf staatliche Eingriffsmechanismen.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Wie immer!)
Die FDP geht einen anderen Weg. Wir wollen den Ei-
gentümer stärken.
(Beifall bei der FDP)
Der Eigentümer oder der Anteilseigner eines Unterneh-
mens zahlt die Vorstandsvergütungen. Er ist auf eine ef-
fiziente Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat
und vor allem auf transparente Vergütungsstrukturen an-
gewiesen. Der Gesetzentwurf hierzu ist ernüchternd.
(Lachen des Abg. Joachim Stünker [SPD])
In der gesamten Diskussion muss klar getrennt wer-
den zwischen den Unternehmen, die in der letzten Zeit
Staatshilfen in Anspruch genommen haben, und den Un-
ternehmen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht
zuletzt durch ein gutes Management aus eigener Kraft
überstehen. Zu Recht unterliegen Unternehmen des Fi-
nanzsektors, die Stabilisierungsmaßnahmen des Staates
nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz in Anspruch
nehmen, besonderen Anforderungen. Es ist in der Öf-
25136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Nach Auffassung der FDP soll deshalb die Hauptver-
sammlung die Grundsätze der Vergütungsstruktur für die
Unternehmensführung und die Leitlinien für Manager-
gehälter bei börsennotierten Unternehmen zukünftig
selbst festsetzen können.
(Beifall bei der FDP)
Unverbindliche Beschlüsse, wie sie die Koalition vor-
sieht, helfen nicht weiter. Die Hauptversammlung muss
letztendlich mit einfacher Mehrheit auch über die Veröf-
fentlichung der Gehälter entscheiden können.
(Rainer Brüderle [FDP]: Richtig!)
Die Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds
müssen bereits nach geltendem Recht in einem angemes-
senen Verhältnis zu seinen Aufgaben und zur Lage der
Gesellschaft stehen. Die Koalition will durch ihren Ge-
setzentwurf nun noch zusätzlich festlegen, dass die übli-
che Vergütung nicht ohne besondere Gründe überschrit-
ten werden darf. Eine solche übliche Vergütung gibt es
nicht. Gilt hier, was in der angloamerikanischen Wirt-
schaft oder vielleicht sogar in der chinesischen Wirt-
schaft üblich ist? Müssen hier wieder viele Berater be-
auftragt werden, um die übliche Vergütung feststellen zu
können? Diese Vorgabe ist schlichtweg unbestimmt.
Klar ist: Es ist nicht die Aufgabe des Staates, zu be-
stimmen, welche Leistung einer Person für ein Unter-
nehmen wie viel wert ist. Wir begrüßen ausdrücklich,
dass in Zukunft der gesamte Aufsichtsrat Verantwortung
für die Vorstandsgehälter übernehmen muss. Gerade bei
Aktienoptions- und Bonimodellen sind in der Vergan-
genheit Fehler gemacht worden, die für die Unterneh-
men zum Teil zu unkalkulierbaren Risiken geführt ha-
ben. Vergütungsmodelle müssen daher stärker am
dauerhaften Erfolg des Unternehmens ausgerichtet wer-
den.
(Beifall bei der FDP)
Der Aufsichtsrat ist Anwalt der Eigentümer. Insofern
ist eine Stärkung der Aufsichtsräte richtig. Das Ver-
trauen in diese internen Kontrolleure muss wachsen. Die
Unabhängigkeit und Professionalität der Aufsichtsräte
ist dabei entscheidend. Sie müssen die Möglichkeit er-
halten, ihr Mandat wirksam ausüben zu können. Deshalb
befürwortet die FDP zum Beispiel eine klare Begren-
zung der Zahl der Aufsichtsratsmandate und für kapital-
marktorientierte Unternehmen auch eine klare Karenz-
zeit zwischen einer Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender
und einer späteren Tätigkeit im Aufsichtsrat. Interessen-
kollisionen dürfen nicht auftreten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Hier ist die Koalition schlicht zu weich.
Die Einschränkung, wonach die Karenzzeit für bishe-
rige Vorstandsmitglieder nicht gelten soll, wenn der Vor-
schlag von Aktionären gemacht wird, die mindestens
25 Prozent der Stimmrechte halten, dürfte die Regel zur
Ausnahme machen. Das Quorum ist so niedrig gewählt,
dass diese Regelung vermutlich ins Leere läuft.
(Dr. Max Stadler [FDP]: So ist es!)
Die Haftung der Vorstände von Kapitalgesellschaften
ist in Deutschland bereits unmissverständlich geregelt
und im internationalen Vergleich sehr weitgehend. Ent-
scheidend ist, dass eventuelle Ansprüche tatsächlich gel-
tend gemacht werden.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist das
Hauptproblem!)
Auch hierfür ist ein unabhängiger professioneller Auf-
sichtsrat erforderlich. Der vorgesehene Selbstbehalt bei
der Managerhaftung ist dabei eher ein wirkungsloses In-
strument, wenn es darum geht, die persönliche Haftung
zu erhöhen.
Mit dem Corporate Governance Kodex von 2001 ist
ein Weg gewählt worden, mit dem flexibel auf aktuelle
Entwicklungen reagiert werden kann. Mit der Entspre-
chenserklärung nach § 161 Aktiengesetz ist eine ver-
bindliche Form gefunden worden, Transparenz über die
Firmenpolitik zu schaffen. Dieses flexible Instrument
darf in Zukunft nicht entwertet werden. Leider haben Sie
aber den Weg dahin durch den Gesetzentwurf zum Teil
schon eingeschlagen.
Unter Abwägung all dieser Aspekte bleibt für die
FDP nur der Schluss, dass der Gesetzentwurf nicht ge-
eignet ist, die erkannten Probleme wirksam anzugehen.
In einigen Bereichen geht der Gesetzentwurf deutlich zu
weit, in anderen ist er etwas zu zaghaft. Die Stärkung der
Eigentümerrechte und der Unabhängigkeit, die Profes-
sionalisierung der Aufsichtsräte und die Anerkennung
des Corporate Governance Kodex werden im Koalitions-
entwurf vernachlässigt. Deshalb lehnt die FDP den Ge-
setzentwurf ab.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Gehb für die CDU/
CSU-Fraktion.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De-
batte zu diesem Thema kann man hochemotional aus
dem Bauch oder rational mit kühlem Kopf und klarem
Verstand führen.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Letzteres
ist viel besser, Herr Kollege!)
Leider wird sie von einigen nur geführt, um den Bauch
zu bedienen, und das insbesondere auf Parteitagen, um
sich dann genussvoll im Applaus des Parteivolks zu son-
nen.
Ich könnte jetzt auch von diesem Platz aus donnernd
die Zuschauer auf den Besucherrängen und vor dem
Fernsehgerät oder ganz allgemein die Bürger fragen:
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Ja! Bitte schön!)
Finden Sie es richtig, dass die Chefs von Eon oder
Porsche oder auch die Fußballspieler Ronaldo und
Ibrahimovic so hohe Gehälter bekommen? Finden Sie
das in Ordnung? Ist das gerecht?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25137
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Jürgen Gehb
Das findet sicherlich keiner gerecht. Nicht nur jeder
Normalverdiener, sondern jeder Normalsterbliche wird
das unglaublich, irrsinnig, aberwitzig, verrückt oder un-
anständig finden. Das haben wir alles schon gehört. Es
ist richtig: Das ist irrwitzig und aberwitzig. Ist es aber
die Aufgabe des Gesetzgebers, überall für die Mores
– für Sitte und Anstand – zu sorgen? Ich glaube, das ist
nicht seine Aufgabe.
Ich teile die Empörung und habe Verständnis dafür.
Nicht nur ich, sondern auch Industrieführer und Reprä-
sentanten des Handwerks haben dafür Verständnis. Aber
eine gesetzliche Begrenzung oder Festlegung von Mana-
gergehältern ist bisher nicht vorgesehen und soll auch
nicht vorgesehen werden.
Deshalb will ich das Refrainspielchen des Kanzler-
kandidaten der SPD beim letzten Parteitag
(Joachim Poß [SPD]: Was erzählen Sie denn
da?)
nach dem Muster „‚War der Kasper schon da?‘ – Das
Volk ruft: ‚Ja!‘“ in einem Punkt korrigieren. Steinmeier
fragt: „Wer hat sich die Begrenzung der Managergehäl-
ter ausgedacht?“ – Die SPD antwortet: „Die SPD!“
(Gabriele Frechen [SPD]: Genau!)
– Richtig. – Steinmeier fragt weiter: „Wer hat sie durch-
gesetzt?“ – Das Volk grölt wieder: „Die SPD!“ – Gott sei
Dank ist das nicht richtig.
Herr Poß, Sie haben heute selbst gesagt, dass Sie als
Gesetzgeber keine Festsetzung und keine Begrenzung
haben wollen. Sie wollen die Rahmenbedingungen und
die Gesichtspunkte, nach denen sich ein Aufsichtsrat zu
richten hat, ändern.
(Joachim Poß [SPD]: Ich habe nie etwas ande-
res gesagt!)
Die Spanier und der Präsident von Real Madrid, Herr
Pérez, wollen nicht, dass das spanische Parlament das
Gehalt von Ronaldo festsetzt.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Der ist auch
kein Manager! Der ist Fußballspieler!)
Auch wir wollen nicht, dass den Fußballspielern, Opern-
sängern oder Vorstandsmitgliedern von uns gesagt wird,
wie viel sie zu verdienen haben. Das können wir bei den
Beamten und den Beschäftigten des öffentlichen Diens-
tes machen, aber nicht in der freien Wirtschaft.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara
Hendricks [SPD]: Das haben wir auch nie ver-
langt!)
Allerdings – da gebe ich Ihnen recht – macht uns das,
was sich insbesondere durch die Finanzkrise gezeigt hat,
nicht blind vor der Notwendigkeit, das gegenwärtige Re-
gelwerk des Aktiengesetzes, § 87 Abs. 1 und Abs. 2
etwa, zu konkretisieren. In der Zeitung liest man dau-
ernd, dass die Haftung der Vorstände mit dem neuen Ge-
setz verschärft wird. Das halte ich für ein Märchen.
Meine Damen und Herren, wir haben de lege lata schon
die schärfste Haftung auf der ganzen Welt. In § 93 des
Aktiengesetzes steht: Die Vorstände haben die Sorgfalt
des gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. – Es
handelt sich also nicht um die übliche Sorgfalt in eige-
nen Angelegenheiten, die berühmte diligentia quam in
suis – es geht darum, nicht wie ein Hallodri zu Hause al-
les herumliegen zu lassen –; es handelt sich um eine
scharfe Haftung bei jeder Form des Verschuldens. Daran
ändern wir gar nichts.
Sie haben den Nagel auf dem Kopf getroffen, Herr
Kollege von der FDP. Die Schwachstelle ist im Grunde
genommen die Frage, wer die Haftung geltend macht.
Die Aufsichtsräte müssten sie geltend machen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es gibt das alte Sprichwort: Wo kein Kläger, da kein
Richter. – Es kommt also auch auf die Besetzung der
Aufsichtsräte an. Ich habe schon in der ersten Lesung
gesagt, dass es in diesem Kartell zum Teil inzestuöse
Merkmale gibt. Da sagt der eine: Beißt du mich nicht,
beiß ich dich nicht. – Das ist eindeutig eine der
Schwachstellen. An die sind wir natürlich nicht herange-
gangen.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ach?)
Das ist auch nicht so leicht; denn es gibt gesetzliche
und verfassungsrechtliche Begrenzungen. Alles andere
ist eine Konkretisierung der gegenwärtigen Gesetzes-
lage, die ich für richtig halte. Sie hebelt unsere Privat-
autonomie weiß Gott nicht aus.
Ich bin der Letzte, der sagt, dass ein Gesetz dann gut
ist, wenn es keinem gefällt. Hier muss man aber sagen:
Dem einen geht es zu weit, dem anderen geht es nicht
weit genug. Wahrscheinlich haben wir mit dem Mittel-
weg eine Lösung gefunden, die dem Problem immerhin
auf den Pelz rückt. Ich bin weit davon entfernt, zu glau-
ben, dass wir die Auswüchse, die wir zu beklagen haben,
mit diesem Gesetz auf null reduzieren. Wir können sie
aber minimieren.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich schützend
vor die 14 000 Aktiengesellschaften stellen, die nicht
alle Blutegel sind, die alle aussaugen; so habe ich das
neulich in einer Presseerklärung gelesen. Warum stehen
wir denn nach 60 Jahren so gut da? Erstens haben wir
fleißige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zweitens
haben wir überwiegend – mindestens zu 95 Prozent –
anständige Lenker und Denker in den Unternehmen, die
dazu beigetragen haben, dass Deutschland ein prosperie-
rendes Gemeinwesen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen sollten wir aufpassen, dass wir das Kind
nicht mit dem Bade ausschütten, unseren inneren Kom-
pass nicht verlieren und das Koordinatensystem nicht
restlos aus der Balance bringen. Ich finde, wir haben
eine Regelung mit einer Langzeitanreizwirkung getrof-
fen. Es ist nicht so, dass der Topmanager des
Jahres 2009 garantiert derjenige ist, dessen Unterneh-
men 2010 den Bach runtergeht – Stichwort: Strohfeuer –,
weil die Aktienoptionen und die hohen Buchgewinne
schnell realisiert wurden. Statt zwei Jahre sind es nun
vier Jahre. Das ist ein kleiner Dämpfer.
25138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Jürgen Gehb
Wir haben auch gesagt: Wenn die Leute rausgeflogen
sind und die Kurse steigen, werden nicht schon nach ei-
nem Jahr Boni ausgezahlt. – Denn jetzt gibt es eine Be-
messungsgrundlage von drei Jahren. Das alles kann man
doch nicht für schlecht halten. Das hat die Koalition her-
vorragend hinbekommen.
Herr Poß, wir wollten eben keine steuerliche Decke-
lung bei der Auszahlung von Managergehältern. Wir
wollten auch nicht sozusagen in einer Präambel zum Ak-
tiengesetz den eher schwer justiziablen Begriff „ein Un-
ternehmen zum Wohle der Allgemeinheit führen“ veran-
kern. Das mag sich alles gut anhören.
Aber das würde wiederum die Privatautonomie – wie
wir finden: auf verfassungsrechtlich bedenklicher Art
und Weise – einengen.
Deswegen sind wir zu einem anderen Ergebnis ge-
kommen. Die Arbeitsgruppe hat in einer tollen Beset-
zung besonders früh angefangen. Als sich die anderen
erst noch zum dritten Mal zu Hause umgedreht haben,
haben wir schon zusammengesessen und haben beraten,
und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung des Justizminis-
teriums und der Mitarbeiter dort, liebe Brigitte Zypries,
sowie unserer Leute, namentlich von Otto Bernhardt, der
sich als unser Finanzexperte schon in allen möglichen
Gremien mit den Managergehältern befasst hat, aber
auch von Herrn Poß und Herrn Stünker.
Ich finde, wir haben einen Gesetzentwurf auf den
Weg gebracht, der es verdient, heute mit großer Mehr-
heit angenommen zu werden, damit die Leute wissen:
Wir verschließen nicht die Augen vor Auswüchsen,
scheren aber auch nicht alle Manager über einen Kamm.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Kollegin Barbara Höll für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist wie immer: Zuerst schlagen Sie die
große Trommel, heraus kommt aber ein leises Pfeifen im
Wald. Der von der Großen Koalition eingebrachte Ent-
wurf eines Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstands-
vergütung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung,
bleibt aber insgesamt Flickwerk; das muss man einfach
so konstatieren. Jetzt, in der Krise, trifft es wieder ein-
mal die Beschäftigten am schwersten. Die Manager da-
gegen sind selbst jetzt recht erfolgreich bei der Verteidi-
gung ihrer absolut überhöhten Ansprüche.
Beispiel Arcandor: 53 000 Frauen und Männer stehen
vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, unter anderem weil
der Exvorstandsvorsitzende, Herr Middelhoff, bei
Karstadt als gleichzeitiger Miteigentümer der Immobi-
lien für unverschämt hohe Mieten gesorgt hat, um sich
daran zu bereichern, Mieten, die zum Tod jedes Unter-
nehmens führen müssen. „Was sind das für Zustände?“,
frage ich Sie.
Bleiben wir bei diesem Konzern. Das Manager Ma-
gazin vom 12. Juni berichtet, dass der aktuelle Arcan-
dor-Chef, Karl-Gerhard Eick, eine Gehaltsgarantie in
Höhe von 2 Millionen Euro pro Jahr für die nächsten
fünf Jahre hat. Insgesamt handelt es sich um über
10 Millionen Euro. Die bekommt er auch bei vorzeiti-
gem Ausscheiden.
(Joachim Poß [SPD]: Das alles soll zukünftig
nicht mehr möglich sein!)
Seine Vergütung ist vom Insolvenzverfahren nicht betrof-
fen, weil das Gehalt vom Großaktionär Sal. Oppenheim
garantiert wird. Da kann sich die Verkäuferin bei
Karstadt in Leipzig doch nur verarscht fühlen!
(Beifall bei der LINKEN)
Für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen bei Arcan-
dor gibt es so etwas nicht. Das Management hat vielen
Quelle-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern Ende letzten
Jahres den Abschluss eines freiwilligen Aufhebungsver-
trages nahegelegt. Gelockt wurden sie mit einer erhöh-
ten, 130-prozentigen Abfindung. Nach der Anmeldung
zur Insolvenz gelten die Abfindungen nun jedoch als In-
solvenzmasse und werden demzufolge nicht gezahlt.
Gleichzeitig müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter, die unterzeichnet haben, Angst haben, ob sie über-
haupt in den Insolvenzsozialplan des Konzerns kommen.
Schließlich haben sie die Aufhebungsverträge freiwillig
unterschrieben. Es kann ihnen passieren, dass sie nun
ohne alles dastehen: ohne Abfindung und ohne Einbezie-
hung in den Sozialplan. Herr Middelhoff und Herr Eick
haben ihren Hintern im Trockenen. Sie stört das nicht.
Aber ich frage Sie: Wo leben wir denn, dass das möglich
ist? Wie zum Hohn bezeichnet der Arcandor-Chef Eick
seinen Kontrakt noch als faire Vereinbarung.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:
Aus seiner Sicht mag das stimmen!)
Das ist nur ein Beispiel für die Selbstgerechtigkeit und
Dreistigkeit der Manager. Mehr Transparenz allein reicht
daher nicht aus, Managereinkünfte zu begrenzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist einfach ein Schwachpunkt, sowohl des Gesetz-
entwurfs als auch der Anträge von FDP und Grünen.
Wir begrüßen im Gesetzentwurf der Koalition, dass
die Managerhaftpflichtversicherungen einen Selbstbe-
halt vorsehen müssen. Aber diese Maßnahme kann nach
Ansicht der Sachverständigen nur greifen, wenn den
Managern gleichzeitig verboten wird, sich von diesem
Selbstbehalt durch eine Rückversicherung zu befreien.
Das wäre dann kein wirklicher Selbstbehalt. Das fehlt in
dem Koalitionsentwurf; das muss man einfach feststel-
len.
Nach Ihrem Gesetzentwurf – das wurde mehrfach ge-
sagt – sollen Manager ihre Boni in Form von Aktienop-
tionen nun frühestens nach vier Jahren zu Geld machen
können. Das ist, wenn auch halbherzig, immerhin besser
als die moralischen Appelle, die wir in letzter Zeit hören
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25139
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Barbara Höll
konnten, beispielsweise Anfang Februar von Finanzmi-
nister Steinbrück. Norbert Röttgen hat im vergangenen
November gesagt:
Zur moralischen Verantwortung gehört es deshalb
nun, diese kurzfristigen Bonussysteme abzuschaf-
fen.
Damals hat er das gesagt; jetzt haben Sie sich nicht dazu
durchringen können. Das ist die Realität.
Die Bezahlung der Manager mit Aktienoptionen ist
der Brandbeschleuniger für die Orientierung am kurz-
fristigen Profit.
(Joachim Poß [SPD]: Genau das wird doch ge-
ändert! Man kann es nicht verbieten! Man
kann es nur langfristig gestalten!)
Deshalb gehören diese Aktienoptionen schlicht und ein-
fach verboten. Dies hat Ihnen die Fraktion Die Linke be-
reits im Mai 2006, vor drei Jahren, vorgeschlagen, lange
bevor Ihnen überhaupt diese Gedanken kamen. Warum
verbieten Sie das nun nicht einfach?
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sie wissen es
doch selber besser! – Joachim Poß [SPD]:
Wissen Sie das wirklich nicht besser, oder täu-
schen Sie nur?)
Ein Schelm, der denkt, dass das Managerinteresse bei Ih-
nen höher im Kurs steht als das der Beschäftigten!
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Heute die Ge-
hälter, morgen die Preise und übermorgen die
Mieten – wie in der Ostzone!)
Sie haben es im Gesetzentwurf versäumt – Herr Gehb
hat sich eben dafür gelobt –, die Frage der Üblichkeit der
Managervergütung unmissverständlich an das Lohn- und
Gehaltsgefüge des Unternehmens zu binden. Das wäre
möglich gewesen.
(Joachim Poß [SPD]: Das kann der Aufsichts-
rat doch machen!)
Heute jubelt das Handelsblatt:
Von ersten unausgegorenen Plänen ist zum Glück
nicht viel übrig geblieben. Etwa von der Forderung,
für Managervergütungen per Gesetz Obergrenzen
festzulegen.
Warum denn nicht?
(Joachim Poß [SPD]: Das wollte doch keiner!)
Wir haben Ihnen das bereits im Oktober 2006 und im Ja-
nuar 2008 vorgeschlagen.
(Joachim Poß [SPD]: Das ist doch verfas-
sungswidrig!)
Wir haben Ihnen den Vorschlag unterbreitet, das Zwan-
zigfache des Arbeitsentgeltes eines Arbeitnehmers oder
einer Arbeitnehmerin der untersten Lohngruppe als
Maßstab zu nehmen. Ich glaube, das ist für alle normal
denkenden Menschen plausibel: Der Manager sollte
nicht mehr als das Zwanzigfache des durchschnittlichen
Arbeitsentgeltes der untersten Lohngruppe verdienen.
(Joachim Poß [SPD]: Das können die Auf-
sichtsräte doch machen! Die stärken wir ja ge-
rade!)
Wir sind froh, dass sich die Grünen wenigstens unse-
rer Forderung nach einer Begrenzung der steuerlichen
Abzugsfähigkeit von Abfindungen angeschlossen haben;
aber bei Ihnen in der Koalition hat auch das keine Mehr-
heit gefunden. Sie lehnen das ab.
Herr Röttgen hatte in einem Interview im November,
auf das ich schon verwiesen habe, einen Geistesblitz:
Ich lerne daraus, dass es zu kurz gesprungen ist,
wenn wir die Krise jetzt mit ein paar neuen Regeln
und Managerschelte aufarbeiten. Wenn wir dabei
stehen bleiben, kommt die nächste Krise bestimmt.
Recht hat er! Sie sind aber stehen geblieben; diesem
Vorwurf müssen Sie sich aussetzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir fordern endlich wirksame Schritte. Ein paar Beruhi-
gungstropfen sind einfach zu wenig.
Wir als Linke werden uns heute bei der Abstimmung
enthalten, um zu honorieren, dass Sie wenigstens nach-
gedacht haben und ansatzweise in die richtige Richtung
gegangen sind.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist hono-
rig!)
Was Sie hier vorlegen, ist aber absolut zu wenig. Wenn
wir vorankommen wollen, müssen Sie endlich unsere
Vorschläge aufgreifen. Haben Sie Mut, nicht nur immer
bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder bei
den Rentnern zu kürzen, sondern die Manager zur Ver-
antwortung zu ziehen!
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Thea Dückert für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich birgt dieses Thema der überhöhten
Managergehälter, -vergütungen und -abfindungen, zu-
mal in der Krise, eine hohe gesellschaftliche Spreng-
kraft, und zwar nicht nur, weil es sich um kein Einzel-
phänomen handelt, weil Manager neben Bankern
überhöhte Vergütungen erhalten. Vielmehr fällt dieses
Phänomen mit einem anderen zusammen – das wird vie-
len Menschen sichtbar –: Diese Manager mit ihren ho-
hen Gehältern sind häufig zugleich für eine völlig kurz-
fristig ausgelegte Unternehmenspolitik verantwortlich,
die heute, in der Krise, zu immer mehr Arbeitsplatzver-
lusten führt.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das stimmt!)
Der Manager steht aber dank seines hohen Gehalts im
Trockenen, erhält vielleicht noch eine Abfindung, wäh-
25140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B)
Dr. Thea Dückert
rend die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Re-
gen stehen. Um dieses Problem müssen wir uns küm-
mern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das wollen Sie ebenfalls. Auch Sie haben sich verbal
empört und viel Wut über diesen Zustand gezeigt. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von
der SPD, das scheint mir doch keine echte Empörung zu
sein; denn Ihr Gesetz ist vor dem Hintergrund der Pro-
blematik eine echte Enttäuschung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] –
Joachim Poß [SPD]: Was?)
– Ja, es ist wachsweich formuliert, und es hat ganz viele
Hintertüren. Sie haben sich auf einen Minimalkonsens
geeinigt, der aber – wenn man das genauer betrachtet, er-
kennt man das – nicht dazu führen wird, dass sich das
Verhalten der Manager an Nachhaltigkeit und Langfrist-
perspektiven orientiert. Schauen wir uns die Vorschläge
an: Sie schlagen vor – das wurde vorhin schon erwähnt –,
dass die Aktienoptionen statt nach zwei Jahren nun erst
nach vier Jahren eingelöst werden können. Das hat mit
Langfristorientierung nichts zu tun, gerade wenn man in
Krisenzyklen denkt. Sie haben zwar einen ganz netten
Ansatz und benennen das Problem richtig – das will ich
konstatieren –, aber Sie agieren nicht mutig genug.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist wichtig, dass wir etwas tun, weil wir sehen,
dass trotz freiwilliger Vereinbarungen und trotz der Cor-
porate-Governance-Diskussionen die Selbstregulierung
an vielen Stellen nicht greift. Wir müssen weitergehen,
aber auch das tun Sie nicht. Wir brauchen eine Gehalts-
struktur, bei der nur ein kleiner Teil des Gehalts variabel
ist, also an den Erfolg geknüpft ist. Wir brauchen eine
Gehaltsstruktur, bei der Erfolge und Misserfolge Ein-
fluss auf das Gehalt haben und Manager durch Malusse
zur Kasse gebeten werden, wenn Misserfolge erzielt
oder falsche Entscheidungen getroffen werden. So etwas
müssen wir in den Vergütungsstrukturen verankern. Wir
brauchen eine Balance zwischen dem Erfolg und dem
Misserfolg bzw. den Fehlern, die Manager zu verantwor-
ten haben.
Es gibt ein weiteres Problem. Es geht nicht nur da-
rum, dass wir mit den Strukturen richtige Anreize für die
Manager setzen, sondern auch darum, dass die Allge-
meinheit nicht über das Steuersystem – die überhöhten
Managervergütungen und Abfindungen können steuer-
lich geltend gemacht werden – zur Kasse gebeten wird.
Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler können durch
die Strukturen, die wir heute haben, für überhöhte Mana-
gervergütungen ins Obligo genommen werden. Das geht
nicht. Die Möglichkeit, Managergehälter als Be-
triebsausgaben abzusetzen, muss begrenzt werden. Wir
schlagen vor, eine Summe in Höhe von 500 000 Euro
jährlich festzulegen.
Ähnliches gilt auch für die steuerliche Absetzbarkeit
von Abfindungen. Es geht nicht nur um Vergütungen,
sondern es geht auch um den goldenen Handschlag.
(Joachim Poß [SPD]: Das ist unser Vorschlag
gewesen!)
– Herr Poß, das ist Ihr Vorschlag. Ich finde es schön,
dass Sie sich unserem Vorschlag anschließen.
(Joachim Poß [SPD]: Ihrem Vorschlag? Wir
haben 2007 unser Konzept erarbeitet, gnädige
Frau!)
Sie haben ein Gesetz vorgelegt, in dem das nicht vor-
kommt. Wir fordern das ein. Setzen Sie sich in der Ko-
alition durch, und beschließen Sie die notwendigen steu-
errechtlichen Änderungen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es geht aber auch darum – das wurde schon angespro-
chen –, dass der Manager selber mit seinem privaten
Einkommen haftbar gemacht wird, wenn er Schaden
verursacht, beispielsweise weil er falsche Informationen
gegeben oder Leute aufs Glatteis geführt hat. Auch in
solchen Fällen brauchen wir eine Selbstbeteiligung des
Managers an den Schadenersatzzahlungen. Das müssen
wir über die Versicherungsbeiträge und die Haftungsre-
gelung sicherstellen. Sie waren an dieser Stelle ein Stück
weit aktiv – das will ich gerne anerkennen –, aber Sie ha-
ben die neuen Regelungen zur Managerhaftpflichtversi-
cherung, die Sie vorschlagen, nur auf das Festgehalt be-
zogen. Durch diese Begrenzung eröffnen Sie wiederum
die Möglichkeit, dass die Manager diese Regelung um-
gehen und damit letzten Endes nicht mit ihrem privaten
Vermögen in die Haftung genommen werden.
Auf einen weiteren Punkt möchte ich zum Schluss
noch eingehen, der durchaus in die richtige Richtung
geht, nämlich die Bestimmung, dass der gesamte Auf-
sichtsrat über die Vorstandsverträge entscheiden muss.
Aber das reicht uns bei weitem nicht aus. Eigentlich
sollte die Aktionärsversammlung die Möglichkeit be-
kommen, einen finanziellen Rahmen für die Höhe und
die Ausgestaltung der Managergehälter vorzugeben;
denn wir müssen doch folgendes Problem berücksichti-
gen: Die Aufsichtsräte sind häufig mit Kollegen aus an-
deren Unternehmen besetzt, und insofern besteht hier
quasi systembedingt ein Eigeninteresse, mit einer Ge-
haltsspirale nach oben zu arbeiten. Deswegen wäre es
notwendig und richtig, dass die Aktionärsversammlung
hierbei die Grenzen zieht.
Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die ich jetzt
nicht mehr ausführen kann. Wir haben Ihnen aber einen
Antrag vorgelegt, in dem wir weitere Punkte zum Thema
Managergehälter aufgreifen. Ich hoffe, Sie werden sich
in weiteren Debatten dazu durchringen können, nicht nur
zu reden, sondern tatsächlich eine wirksame Regulie-
rung der Managergehälter vorzunehmen. Diese ist öko-
nomisch einfach notwendig. Zwar geht die Legislaturpe-
riode zu Ende, aber man muss auch in Zukunft weiter
daran arbeiten. Ich kann das dann nicht mehr tun, weil
ich nicht mehr kandidiere. Ich wünsche Ihnen aber noch
gute Verrichtung und viel Freude bei diesem Thema. Sie
(D)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25141
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Thea Dückert
haben da so viele Baustellen übrig gelassen, dass man
das in der nächsten Legislaturperiode mit Freude und mit
der Unterstützung von den Grünen dann weiter verfol-
gen kann.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
des Abg. Dr. Max Stadler [FDP])
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Bundesministerin Brigitte
Zypries.
(Beifall bei der SPD)
Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz:
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir zie-
hen mit diesem Gesetzentwurf eine wichtige Lehre aus
der Finanzmarktkrise; das ist schon gesagt worden. Wir
steuern um, weil wir erkannt haben, dass einer der we-
sentlichen Gründe für diese Finanzmarktkrise das Vergü-
tungssystem für Managerinnen – es gibt allerdings nur
wenige von ihnen – und Manager war. Das ist ein Be-
fund, der heute von allen geteilt wird, auch von allen
weltweit tätigen Instituten. Unser Gesetzentwurf sieht
nun vor, dass wir da hineingrätschen und sagen: Ganz so
wie bisher geht es nicht mehr.
Aber, liebe Thea Dückert, es kann nicht sein, dass wir
Sonderregelungen für Manager schaffen, indem wir fest-
legen, sie müssten in anderer Weise persönlich haften,
als es ansonsten in dieser Gesellschaft üblich ist, und alle
Last der Haftung bei den Vorständen abladen. Das kann
nicht funktionieren, denn wir müssen durchaus die Be-
reitschaft von Vorständen aufrechterhalten, verantwort-
lich unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Hin-
terher sieht sowieso immer alles anders aus und man
weiß alles besser als in dem Moment, in dem die Ent-
scheidung getroffen wurde. Insofern muss man es mei-
nes Erachtens sinnvoll regeln, und, ehrlich gesagt, meine
ich auch, dass wir dies hier geschafft haben. Dazu will
ich nun etwas sagen.
Zunächst noch einmal zum Grundsätzlichen: Es ist
richtig, dass Vorstandsvergütungen auch aus variablen
Bestandteilen bestehen. Wir haben uns aus gutem Grund
vor einigen Jahren von der Festvergütung verabschiedet,
weil wir meinten, es müssten etwas stärkere Leistungs-
anreize gesetzt werden können. Aber wir haben jetzt
festgestellt, dass dies eine Frage der Kriterien ist. Wenn
die Bemessungsgrundlage nur die letzten Quartalszahlen
oder ein Börsenkurs zu einem bestimmten Stichtag ist,
dann greift dies eben zu kurz. Das ist dann kein Anreiz
zur Leistung, sondern ein Stimulus, um Leistung zu si-
mulieren. Das verleitet dazu, leichtfertig Risiken einzu-
gehen, um kurzfristige Scheinerfolge zu erzielen. Der
langfristige Erfolg eines Unternehmens kommt bei sol-
chem Vorgehen zu kurz.
Dass der Befund, es habe eine Fehlentwicklung statt-
gefunden, von allen geteilt wird, habe ich eben schon
einmal gesagt. Es ist deshalb richtig, dass nicht nur in
Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern
– heute waren die Zeitungen voll von Informationen
über das, was in Amerika gemacht wird – überlegt wird,
was Politik machen muss, um Markt zu regeln. Schließ-
lich müssen wir aus der Krise die Erkenntnis ziehen: Der
Markt allein kann es nicht. Deshalb ist klar: Der Markt
braucht Regeln, wenn er funktionieren soll. Ohne Regeln
besteht sogar die Gefahr – so scheint es jetzt wenigstens –,
dass er sich selbst zerstört. Solche Regeln liegen nicht
nur im Interesse der Unternehmen, sondern auch im In-
teresse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
der Standortgemeinden. Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer sind darauf angewiesen, dass sie längerfristig
Arbeitsplätze haben. Die Kommunen in Deutschland
sind für ihre Haushaltsplanungen darauf angewiesen,
dass sie regelmäßige Gewerbesteuereinnahmen haben.
Deshalb ist das, was wir tun, für die Struktur dieser Ge-
sellschaft insgesamt wichtig.
Was tun wir für mehr Langfristigkeit?
Erstens. Wir legen im Gesetz fest, dass die Aufsichts-
räte die Vergütungsstruktur auf eine nachhaltige Unter-
nehmensentwicklung hin ausrichten müssen.
Zweitens bestimmen wir, dass die variablen Vergü-
tungsbestandteile eine mehrjährige Bemessungsgrund-
lage haben müssen.
Drittens verlängern wir bei den Aktienoptionen die
Haltefrist von zwei auf vier Jahre. Frau Dr. Dückert,
auch hier ist es so, dass man sich schon darüber im Kla-
ren sein muss, dass das ein Eingriff in Eigentum ist.
Nach der Kritik an der Verlängerung der Haltefrist auf
bloß vier Jahre wollte ich darauf nur kurz hinweisen.
Man muss versuchen, irgendwie eine sinnvolle Rege-
lung zu finden; denn das, was wir vorhaben, ist – ich
wiederhole – ein Eingriff in Eigentumsrechte. Man kann
nicht einfach sagen: Der Besitz von Aktienoptionen ist
zwar legal, aber die nächsten 20 Jahre dürft ihr als Ei-
gentümer damit nichts anfangen. Das kann nicht funktio-
nieren. Deswegen muss man – das meine ich wenigstens –
einen vernünftigen Mittelweg bei der Haltefrist finden.
Mehr Langfristigkeit bei der Berechnung der Boni hat
noch einen weiteren wichtigen Effekt: Die Vorstandsge-
hälter nehmen künftig an der wirtschaftlichen Entwick-
lung des Unternehmens teil, und zwar nicht nur am Er-
folg, sondern auch am Misserfolg. Es gibt also eine
Malusregelung; es ist nicht so, dass wir keine geschaffen
haben. Ich meine, eine solche Regelung ist wichtig; denn
jeder, der risikoreiche Entscheidungen fällt, muss wis-
sen, dass es im Zweifel auch ihn persönlich treffen kann,
wenn es schiefgeht. Wir senden damit das richtige Si-
gnal.
Aufgrund dieser Erkenntnis erweitern wir die Mög-
lichkeiten, Vorstandsbezüge zu kürzen. Wenn man in
Boomzeiten Millionengehälter vereinbart hat und ein
Unternehmen später in der Krise steckt, dann darf man
nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Opfer zumuten.
(Beifall bei der SPD)
25142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Bundesministerin Brigitte Zypries
Dann müssen künftig auch – das muss völlig klar sein –
Vorstandsgehälter gekürzt werden.
Von meinen Vorrednern wurde schon die Versiche-
rung für die Managerhaftung angesprochen. Der Gesetz-
entwurf schreibt ausdrücklich einen Selbstbehalt vor und
stellt auch damit sicher, dass Eigenverantwortung zu
übernehmen ist.
Nächster Punkt: Transparenz. Wir wollen, dass alle
Aufsichtsratsmitglieder die Verantwortung für die Be-
zahlung der Vorstände mittragen. Wir haben auch da-
rüber diskutiert, inwieweit über die Bezahlung der Vor-
stände auf einer Hauptversammlung entschieden werden
sollte. Aber wir haben da festgestellt: Die Regelung
muss in gewisser Weise auch praktikabel sein. Wenn
man extra eine Hauptversammlung einberufen muss, um
einen ausgeschiedenen Vorstand zu ersetzen, dann ist
das alles andere als praktikabel. Wir haben deshalb ge-
sagt: Es geht um Transparenz, und somit müssen die
Aufsichtsräte in toto aktiv werden und nicht mehr ein-
zelne Ausschüsse, die nur aus wenigen Personen beste-
hen. Das ist auf alle Fälle eine Maßnahme, die für die
Transparenz sorgt, die wir wollen. Bekanntlich sind die
Aufsichtsräte in Deutschland ja paritätisch besetzt, und
von daher ist hinreichende Transparenz gegeben.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Paritätisch, aber nicht paritä-
tisch mit Männern und Frauen!)
– Nein, das nicht. Wir nennen das, was ich meine: paritä-
tische Mitbestimmung in Deutschland.
Wir haben darüber hinaus jedoch vorgesehen – das ist
ein Schritt in die gewünschte Richtung –, dass die
Hauptversammlung künftig ein Votum über die Struktur
des Vergütungssystems abgeben kann, das der Aufsichts-
rat dann umsetzen kann. Ich glaube, das ist ein vernünfti-
ger Kompromiss.
Ein weiterer Punkt, der für eine gute und transparente
Unternehmensführung wichtig ist und der auch Ver-
trauen in die Unternehmen schaffen soll, ist die vorgese-
hene Karenzzeit für den Wechsel vom Vorstand in den
Aufsichtsrat. Das ist ein sehr umstrittenes Thema, vor al-
len Dingen für diejenigen, die es betrifft. Die Argumente
zu dieser Thematik sind schon lange ausgetauscht wor-
den; denn darüber diskutieren wir schon seit vielen Jah-
ren. Der Gesetzgeber hatte deshalb schlicht eine Abwä-
gung zu treffen. Es geht einerseits um die Erhaltung von
Wissen um Interna im Unternehmen – ein Grund, wes-
halb viele gesagt haben, dass es vernünftig ist, dass ein
Wechsel stattfinden kann –, andererseits geht es um die
Vermeidung von Interessenkonflikten, sprich: Die Kon-
trolleure im Aufsichtsrat können schlecht das kontrollie-
ren, was sie vorher verbockt haben.
Ich glaube, dass wir hier eine vernünftige Lösung ge-
funden haben. Sie ähnelt der Lösung zur Offenlegung
von Managergehältern. Wir haben vereinbart, dass wir
die Offenlegung im Grundsatz vorschreiben, aber wenn
sich ein bestimmtes Quorum der Hauptversammlung da-
gegen ausspricht, dann akzeptieren wir das; denn es gilt
der Grundsatz: Die Aktionäre sind die Eigentümer des
Unternehmens. Die Aktionäre müssen bestimmen kön-
nen, was passiert. Im Falle der Karenzzeit ist es genauso.
Im Grundsatz gibt es eine Abkühlungsperiode, aber
wenn sich Aktionäre mit Stimmrechten von mehr als
25 Prozent für einen Verzicht auf die Karenzzeit aus-
sprechen, weil sie ein Mitglied des Vorstands im Auf-
sichtsrat haben möchten, dann ist das möglich.
(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist aber eine Hintertür!)
Von daher bleibt die Verantwortung der Aktionäre, also
der Eigentümer des Unternehmens, erhalten. Das halte
ich persönlich für richtig, weil wir als Gesetzgeber nicht
den Eindruck erwekken dürfen, als würden wir allzu viel
regeln. Es gilt nämlich nach wie vor: Eigentümer eines
Unternehmens müssen Verantwortung übernehmen.
Das Gute an solchen Regelungen ist, dass sich viel-
leicht manche Aktionäre überlegen, sich um ihre Aktien-
gesellschaft zu kümmern, statt nur wie einige darauf aus
zu sein, einen schnellen und guten Schnitt mit der Aktie
zu machen. Was wir den Vorständen vorwerfen, gilt in
gewisser Weise auch für die Aktionäre, die bisher auch
zu wenig Verantwortung übernommen haben. Ich halte
es für keine schlechte Idee, das aneinander zu koppeln.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Otto Bernhardt (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für uns ist das Gesetz, das wir heute verabschie-
den wollen, auch ein kleiner Beitrag zur Aufarbeitung
der internationalen Finanzkrise.
(Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr]
[FDP])
Die Justizministerin hat richtigerweise darauf hingewie-
sen, dass alle Fachleute, die diese Krise analysiert haben,
zu dem Ergebnis gekommen sind, dass diese Krise durch
das Vergütungssystem von Managern zumindest ver-
stärkt worden ist.
Dass das Thema Managergehälter schon seit langer
Zeit diskutiert worden ist, erkennen Sie daran, dass
schon im Jahr 2000 eine hochrangige Kommission ein-
gesetzt wurde, die den Auftrag hatte, Maßstäbe für die-
sen Bereich festzulegen. Diese Kommission hat hervor-
ragende Arbeit geleistet. Sie hat viele Maßstäbe
entwickelt, die vom überwiegenden Teil der großen Ak-
tiengesellschaften befolgt werden.
Das Problem eines Kodexes ist natürlich, dass er frei-
willig ist. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass sich eine
Reihe von Firmen nicht daran gehalten hat. Vor allem
haben wir festgestellt – ich erinnere an die Aussage un-
serer Kanzlerin –, dass die Tatsache, dass einige Mana-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25143
(A) (C)
(B) (D)
Otto Bernhardt
ger ganz offensichtlich versagen, aber mit riesigen Sum-
men und hohen monatlichen Zahlungen sozusagen in
den Ruhestand gehen, den sozialen Frieden in Deutsch-
land gefährdet. Das zeigen die unangenehmen Einzel-
fälle, über die wir schon mehrfach diskutiert haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Vor diesem Hintergrund war es aus meiner Sicht rich-
tig, dass die Große Koalition im September des vergan-
genen Jahres eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, die
den Auftrag hatte, sich über Veränderungen Gedanken
zu machen.
(Joachim Stünker [SPD]: Gut, dass wir vorge-
arbeitet hatten!)
– Es ist richtig, dass die Sozialdemokraten schon vorge-
arbeitet und einen Vorschlag gemacht hatten. Wir haben
nachgezogen. Ich kann nur sagen: Was wir jetzt verab-
schieden, kann sich sicher sehen lassen. Um es in aller
Deutlichkeit zu sagen: Das unterstreicht die Handlungs-
fähigkeit der Großen Koalition.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Zurufe von der FDP: Oh!)
Mich stimmt besonders Folgendes nachdenklich:
Während der amerikanische Präsident gestern oder vor-
gestern sehr klar erklärt hat, viele Regelungen hätten
versagt und deshalb sei es zur Finanzkrise gekommen,
erweckt ein Teil der Wirtschaft in Deutschland – ich will
es relativieren: ein kleiner Teil der Wirtschaft – den Ein-
druck – dies kann ich anhand der mir zugesandten Briefe
feststellen –, dass wir überhaupt nichts zu verändern
brauchen, und zwar getreu dem Motto: Wir tauchen mal
zwei Jahre unter, und dann machen wir so weiter.
(Beifall bei der SPD)
Ich sage sehr deutlich: Das ist mit uns nicht zu machen.
Natürlich werden wir diese Krise überwinden. Aber
einige Hunderttausend Menschen sind im Zuge dieser
Krise schon arbeitslos geworden. Es werden weitere fol-
gen. Die Situation für die 1 Million Menschen, die in
Kurzarbeit ist, ist auch nicht so rosig; denn sie bringen
netto deutlich weniger nach Hause. Für die betroffenen
Familien ist das nicht so toll. Durch die Einbrüche auf
den Weltmärkten gehen uns Hunderte von Milliarden
verloren, die wir für viele andere vernünftige Dinge hät-
ten einsetzen können.
Ein „Weiter so!“ wird es mit uns nicht geben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Joachim Poß [SPD]: Mit uns schon lange
nicht! – Joachim Stünker [SPD]: Nur die FDP
macht weiter so!)
Wir werden in vielen Bereichen vieles verändern müs-
sen. Aber wir müssen auch aufpassen – ich glaube, den
Maßstab haben wir beachtet –, dass wir jetzt nicht etwa
der Versuchung erliegen, zu alten Systemen überzuge-
hen. Dazu gab es einen katastrophalen Vorschlag der
Linken.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Quatsch! –
Joachim Stünker [SPD]: Die FDP ist auch
nicht besser!)
Ich weiß, dass in der DDR die Gehälter festgelegt waren.
Aber wo ist man damit gelandet? Wenn wir so verfahren
würden, würden wir keine guten Manager mehr finden.
Deshalb werden wir diesen Weg nicht gehen. Zur Ehren-
rettung der Großen Koalition ist zu sagen: Auch unser
sozialdemokratischer Partner wollte ein solches Vorge-
hen nicht, zu Recht nicht. Die Festlegung der Gehälter
muss in der Verantwortung der Aufsichtsräte bleiben.
Es stellte sich die Frage – auch dazu will ich eine Be-
merkung machen –, ob man die steuerliche Abzugsfä-
higkeit der Gehälter begrenzt. Man kann diesen Weg ge-
hen. Für mich ist aber schon die Regelung, die
Aufsichtsratsvergütungen nur zur Hälfte absetzen zu
können, ein Sündenfall. Unser Koalitionspartner be-
trachtet dies als ein Signal in die richtige Richtung. Ich
sage nur: Wenn wir anfangen, die Gehälter auf 1 Million
Euro zu begrenzen, dann schließen sich die nächsten
Forderungen an: Der Dienstwagen darf nur noch 40 000
Euro
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Race to the
bottom!)
und das Büro nur noch 20 000 Euro kosten. Zum Schluss
darf man nicht einmal mehr mit einem wertvollen Füller,
sondern nur noch mit einem Filzstift unterschreiben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich als Betriebswirt halte das Vorgehen, zwischen guten
und schlechten Kosten zu unterscheiden, für falsch und
gefährlich. Ich bin der Meinung, diesen Weg sollten wir
nicht gehen. Aber wie gesagt: Man kann hier unter-
schiedlicher Meinung sein.
Besonders wertvoll ist aus meiner Sicht die Karenz-
zeit, die wir einführen werden. Ich gebe zu, Frau Minis-
terin, das ist der Punkt, zu dem ich die meisten Briefe
bekommen habe. Ich weiß, dass sich viele betroffen füh-
len, weil sie den Weg vom Vorstand in den Aufsichtsrat
gegangen sind. Ich glaube auch nicht, dass die von uns
eingeführte Grenze von 25 Prozent der Anteile, bei de-
ren Besitz die Karenzzeit ausgesetzt werden kann, dazu
führt, dass diese Bestimmung nicht mehr zieht. Wir ha-
ben dabei an Firmen gedacht, bei denen eine Familie
mehr als 25 Prozent der Anteile besitzt. Ich glaube nicht,
dass ein solcher Anteil bei den Publikumsaktiengesell-
schaften leicht erreicht werden kann. Ich bin der Mei-
nung, dass eine Karenzzeit von zwei Jahren die Regel
sein wird und der Übergang ohne Verzögerung in Zu-
kunft die Ausnahme bleibt. Ich sage an dieser Stelle,
auch wenn diese Position in der Wirtschaft umstritten
ist: Es war notwendig, diesen Schritt zu vollziehen,
nachdem wir schon viele Jahre darüber diskutiert haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich finde es gut, dass wir den Mut hatten, ihn jetzt zu ge-
hen.
25144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Otto Bernhardt
Ich stelle abschließend fest: Die Große Koalition be-
weist kurz vor der Bundestagswahl – es ist die vorletzte
Sitzungswoche –, dass sie bereit und in der Lage ist, ver-
nünftige Antworten auf schwierige Fragen zu finden. In
diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz heute eine große
Mehrheit findet.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Angemessenheit der Vorstandsvergü-
tung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13433,
den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/12278 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men von FDP und Grünen bei Stimmenthaltung der Lin-
ken angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Dazu liegen eine Reihe von
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei-
ten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Professionalität und Effizienz der Aufsichts-
räte deutscher Unternehmen verbessern“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13433, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/10885 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken
gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Exzesse bei Managergehältern
verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13425, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 16/12112 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
1) Anlage 7
der Grünen bei Stimmenthaltung der Linken angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Subventionen in der Bundesrepublik Deutsch-
land
– Drucksachen 16/8441, 16/10622 –
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Januar 2008 gab es den Fall Nokia. Abgesehen von eini-
gen außergewöhnlichen Handlungen – ich glaube, ir-
gendein Minister hat sein Handy an die Wand geworfen;
so war zumindest in der Zeitung zu lesen – gab es da-
mals viel Empörung über die Frage: Wie gehen wir ei-
gentlich in Deutschland mit Subventionen an Unterneh-
men um? Wir haben dann im März 2008 eine Große
Anfrage an die Bundesregierung gestellt und im Oktober
2008 die Antwort bekommen. In der heutigen Debatte
geht es um die Antwort auf unsere Anfrage, verbunden
mit einem Entschließungsantrag.
Uns hat interessiert: Nach welchen Kriterien werden
Subventionen vergeben? Wird überhaupt überprüft, wie
die Subventionen wirken? Gibt es eine Kosten-Nutzen-
Analyse? Angesichts der Summe, über die wir hier jähr-
lich verfügen, ist es durchaus interessant, einmal nachzu-
fragen, wie die Subventionen, die in Deutschland verge-
ben werden, eigentlich wirken.
Zudem lohnt ein Blick in Ihren Koalitionsvertrag. Da
heißt es nämlich:
Wir werden mutig sparen und Subventionen ab-
bauen. Das hat Vorrang.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh!)
Im Übrigen steht dort auch: Ohne Steuererhöhungen ist
eine Konsolidierung für unser Land nicht zu schaffen; so
viel am Rande mit Blick auf eine Debatte, die an anderer
Stelle geführt wird.
Jedenfalls ist festzustellen: Die Bundesregierung hat
für die Subventionsvergabe Kriterien beschlossen; aber
sie wendet sie überhaupt nicht an.
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25145
(A) (C)
(B) (D)
Kerstin Andreae
Die Selbstbindung der Regierung lautet nämlich:
Erster Punkt. Subventionen sollen nur dann ausge-
reicht werden, wenn sie am besten geeignet sind, die an-
gestrebten Wirkungen zu erzielen. Dies hat unter Kos-
ten-Nutzen-Analysen zu erfolgen. Wenn ich mir die
Antwort auf unsere Anfrage anschaue, dann muss ich
feststellen, dass eine solche Kosten-Nutzen-Analyse
nicht stattfindet. Das heißt, schon der erste Punkt dieser
Selbstbindung, nämlich die Subventionen auf ihre Wir-
kung hin zu prüfen, wird nicht umgesetzt. Glatte Fehlan-
zeige!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zweiter Punkt: Subventionen sollen vorrangig als Fi-
nanzhilfen geleistet werden und durch Einsparungen an
anderer Stelle finanziert werden. Auch hier wieder abso-
lute Fehlanzeige. Das Verhältnis zwischen Finanzhilfen
und Steuervergünstigungen oder Subventionen beträgt
nämlich ungefähr ein Drittel zu zwei Drittel.
Der dritte Punkt dieser Selbstbindung heißt: Neue Fi-
nanzhilfen sollen befristet und degressiv gestaltet wer-
den.
(Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!)
Das ist ein nobler Vorsatz. Aber selbst die Abwrackprä-
mie, die im Konjunkturpaket II beschlossen worden ist,
ist nicht degressiv gestaltet, sondern die Mittel dafür
wurden sogar noch erhöht.
(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Für
ein halbes Jahr kann man die doch nicht de-
gressiv machen!)
Das heißt, auch hier gehen Sie konträr zu den Kriterien
vor, die Sie sich selber gesetzt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
An andere Punkte, an das Dienstwagenprivileg, das Ehe-
gattensplitting und die Mineralölsteuerbefreiung für
Flugzeuge, gehen Sie gar nicht heran.
Vierter Punkt der Selbstbindung: Sowohl die Über-
prüfung der Ziele als auch eine Erfolgskontrolle von
Subventionen haben regelmäßig zu erfolgen. Das pas-
siert nicht. Es gibt keine wirtschaftliche Wirkungsana-
lyse. Das BMF hat dazu ein allgemeines Forschungspro-
jekt aufgelegt und angekündigt, diese Dinge anzugehen.
Wo bleiben die Ergebnisse? Wir haben von der Analyse
der Wirkung von Subventionen seitdem nichts mehr ge-
hört. Die Wirkung müssen wir uns aber einmal an-
schauen. Da werden jedes Jahr Milliarden ausgegeben,
und es wird nicht geprüft, wie sie wirken. Dies ist ein
Fehler, und dies werfen wir Ihnen vor.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
Ein weiterer Punkt dieser Selbstbindung – dann bin
ich fertig mit diesen Punkten; man könnte das weiterfüh-
ren; aber ich will Sie verschonen und nicht weiter deut-
lich machen, wo Sie Ihre Vorgaben nicht einhalten –: Es
soll stets geprüft werden, inwieweit Steuervergünstigun-
gen in Finanzhilfen umgewandelt werden. Es ist ja ein
richtiger Ansatz, zu fragen: Können wir Steuervergünsti-
gungen in Finanzhilfen umwandeln? Die Bewertung
führt jedoch zu dem Ergebnis: völlige Fehlanzeige. Im
Konjunkturpaket II sind Maßnahmen enthalten, die defi-
nitiv keine Finanzhilfen sind. Es sind vielmehr einmal
festgesetzte Positionen, die uns immer wieder verfolgen
werden. Beispiele sind die Einkommensteuersenkung,
die wir ablehnen, die steuerfinanzierte Absenkung der
Krankenversicherungsbeiträge und die Kfz-Steuerbefrei-
ung. Dies alles sind Punkte, bei denen es sich nicht um
Finanzhilfen, sondern um Subventionen und Steuerver-
günstigungen handelt. Hier handeln Sie Ihrem selbst auf-
gestellten Kriterium klar zuwider.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte noch auf drei Fragen eingehen, die wir in
unserer Anfrage gestellt haben. Wir haben Sie gefragt,
ob es Subventionen zur Standortsicherung von Großun-
ternehmen gab. Nein, ist die Antwort; diese gebe es
nicht.
(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Fand
ich auch merkwürdig!)
– Die SPD sagt, dass auch sie das merkwürdig findet. –
Angesichts der jüngsten Ereignisse ist dies durchaus in-
teressant.
Wir haben sinngemäß – nicht genau so, aber so ge-
meint – gefragt, ob sich Unternehmen, die Subventionen
für bestimmte Standorte erhalten haben, danach quasi
vom Acker gemacht haben. Die Antwort war: Diese gibt
es nicht. Das ist angesichts des Falles Nokia, der damals
schon bekannt war, ein interessanter Vorgang.
Es gibt im Übrigen – das ist für mich der wichtigste
Punkt – keine Datenerhebung darüber, wie viele der
Subventionen an kleine und mittlere Unternehmen ge-
hen. Das ist doch ein Punkt, den wir uns einmal an-
schauen müssen. Wir wissen, dass von den Subventio-
nen von EU-Seite nur 3 Prozent an die KMU fließen.
Der Rest geht an Großunternehmen, an Großkonzerne.
Es lohnt sich, sich dies einmal in Bezug auf Deutschland
anzuschauen. Was heißt dies eigentlich für unsere Sub-
ventionspolitik?
Wir haben Ihnen deshalb einen Entschließungsantrag
vorgelegt, in dem genau diese Punkte stehen, von denen
ich gesprochen habe. Wir wollen größtmögliche Trans-
parenz. Wir wollen so geringe Mitnahmeeffekte wie
möglich. Wir wollen keine bloßen Erhaltungssubventio-
nen. Wir wollen degressiv gestaltete Subventionen, und
wir wollen klare Kriterien für die Subventionsvergabe,
die dann auch eingehalten werden müssen. Dies steht in
unserem Entschließungsantrag und entspricht im Übri-
gen weitestgehend der Selbstbindung der Großen Koali-
tion, an die sie sich nicht hält. Jetzt haben Sie die Mög-
lichkeit, sich zumindest formal oder symbolisch daran
zu halten, indem Sie unserem Entschließungsantrag zu-
stimmen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
25146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Kollege Ole Schröder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich fand die Große Anfrage der Grünen interessant.
Ihre Kritik an den Subventionen ist richtig. Es ist schwer
zu evaluieren, was Subventionen bringen. Interessant
fand ich auch Ihre Schlussfolgerung. Auf der einen Seite
sagen Sie, dass Sie keine Steuervergünstigungen wollen
– die Strompreissubventionen im Bereich der alternativen
Energien sprechen Sie überhaupt nicht an; das sind für
Sie keine Subventionen, auch wenn die alternativen Ener-
gien natürlich unterstützt werden –, auf der anderen Seite
fordern Sie aber Steuervergünstigungen im Bereich der
Forschung. Diese Steuervergünstigungen wollen Sie bei
Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern kappen. Das
ist eine unglaubliche Bürokratie. Können Unternehmen mit
270 Mitarbeitern nicht vernünftig forschen? Was machen
Sie eigentlich, wenn solche Unternehmen im Bereich der
Gentechnologie und im Bereich der Kernenergie for-
schen?
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So was nennt man Projektförderung!)
Dann sehen Sie das hoffentlich auch positiv.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir gehen halt verantwortungsvoll mit
den Mitteln um!)
In Ihrem Entschließungsantrag geben Sie überhaupt
keine Antwort auf die von Ihnen richtig formulierten
Probleme der Subventionen.
Da wir uns in der schwersten Wirtschaftskrise der
Bundesrepublik Deutschland befinden, ist die Frage, wie
wir auf diese Krise reagieren, besonders wichtig. Ich
denke zum Beispiel an Beihilfen und vergünstigte Kredite.
Ich finde es sehr traurig, dass Sie in Ihrem Antrag nicht
einen einzigen Satz dazu geschrieben haben. Das ist ein
Armutszeugnis. Sie haben keine Antwort auf die Frage,
was Subventionen in der Krise bedeuten.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann müssen Sie den Antrag einmal
richtig lesen!)
Die ganze Bundesrepublik diskutiert darüber, alle Zeitun-
gen sind voll davon, aber Sie klammern diese wichtige
Frage in Ihrem Entschließungsantrag, der erst in dieser
Woche auf den Tisch gekommen ist, komplett aus.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein!)
Meines Erachtens ist es in einer solchen Krise Aufgabe
der sozialen Marktwirtschaft, Handlungsfähigkeit zu zei-
gen. Das bedeutet auch, dass es ihre Aufgabe ist, dafür zu
sorgen, dass Unternehmen mit Krediten versorgt werden.
Das heißt aber gerade nicht – damit komme ich zum Kern
der Problematik dieser schweren Wirtschaftskrise –, dass
wir all das, was wir in den letzten Jahren zur Begrenzung
der Subventionspolitik beschlossen haben – das sprechen
Sie zu Recht an –, einfach über den Haufen werfen. Gerade
in der jetzigen Phase dürfen wir uns nicht einfach hin-
stellen und sagen, dass der Staat dafür da ist, sämtliche
Unternehmen zu retten, wie die SPD es momentan
macht. Ich bitte Sie wirklich, damit aufzuhören. Auch in
Zeiten der Wirtschaftskrise ist es Aufgabe des Staates, die
allgemeinen Rahmenbedingungen zu setzen. Gerade in
der jetzigen Zeit ist es entscheidend, dass die eingeleiteten
Hilfsmaßnahmen nicht zu Marktverzerrungen führen
und einzelne Unternehmen nicht bevorzugt werden.
(Beifall der Abg. Anke Eymer [Lübeck]
[CDU/CSU])
Daher haben wir das Kredit- und Bürgschaftsprogramm
der Bundesregierung so ausgestaltet, dass die Kredite zu
Marktkonditionen vergeben werden. Die Hilfen stellen
somit keine Subvention im herkömmlichen Sinn dar. Der
Schirm dient dazu, im Kern gesunde Unternehmen, die
in normalen Zeiten wettbewerbsfähig sind,
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wadan-Werft!)
vernünftig mit Krediten zu versorgen. Wir zielen damit
genau dorthin, wo die Krise entstanden ist, auf die Fi-
nanzmärkte.
Durch das KfW-Sonderprogramm erreichen wir – das
steht zurzeit in der Diskussion –, dass die durch die kriti-
sche Eigenkapitalausstattung der Banken entstandene Ge-
fahr der Kreditklemme abgemildert wird. Die Konditionen,
zu denen die Unternehmen Kredite erhalten, richten sich,
um Marktverzerrungen zu verhindern, nach der Bonität der
Unternehmen. Besonders positiv ist, dass vor allen Din-
gen kleine und mittelständische Betriebe diese Kredite
annehmen. 98 Prozent entfallen auf kleine und mittel-
ständische Betriebe. Positiv ist auch, dass die Hälfte dieser
Kredite Investitionskredite sind. Das heißt, dass diese
Kredite dazu dienen, Arbeitsplätze zu erhalten bzw. zu
schaffen. Die andere Hälfte dient allerdings nur dazu,
Betriebsmittel abzusichern. Das zeigt, wie problematisch
diese Krise ist. Viele Banken haben die Kreditlinien der
Unternehmen einfach gekappt.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Vor allem die, die ihr mit dem Ret-
tungsschirm unterstützt!)
Meine Damen und Herren, Unternehmen, die aus
selbstverschuldeten Gründen in Schieflage geraten sind,
sollen nicht unter diesen Schirm flüchten können. Der
Steuerzahler muss vor einer Haftung für Fehler von Unter-
nehmensmanagern geschützt werden. Es ist daher richtig,
dass Unternehmen wie Arcandor, die aufgrund von Ma-
nagementfehlern Probleme bekommen haben, nicht erst
künstlich über Wasser gehalten werden,
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aha! Was sagt denn Herr Seehofer dazu? Haben
Sie mit dem schon mal darüber gesprochen?)
um sie dann womöglich nach der Bundestagswahl pleite-
gehen zu lassen. Es ist ganz klar, dass gerade im Fall
Arcandor erst einmal die Eigentümer, die ja solvent sind,
ihre Verantwortung übernehmen müssen und nicht der
Steuerzahler.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25147
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Ole Schröder
Ich bitte den Kanzlerkandidaten Steinmeier, zur Kenntnis
zu nehmen, dass ihm populistische Aussagen nach dem
Motto „Der Staat kann jedes Unternehmen retten“ im
Bundestagswahlkampf nichts nützen werden.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Über welches Thema spre-
chen Sie eigentlich gerade?)
Wichtig ist, dass wir die auf EU-Ebene entwickelten
Kriterien jetzt streng anwenden. Die europäische und die
supranationale Dimension haben Sie allerdings völlig
ausgeblendet, und das, obwohl solche Entscheidungen
international abgestimmt werden. Ich bin froh, dass es uns
gelungen ist, auf europäischer Ebene dafür zu sorgen,
dass die Beihilfen, die aufgrund der gegenwärtigen Krise
notwendig sind, nur nach ganz klaren Vorgaben vergeben
werden dürfen. Unternehmen, die bereits vor dem 1. Juli
letzten Jahres in Schwierigkeiten waren, und Unternehmen,
die Zugang zum Kapitalmarkt haben, dürfen keine Hilfen
bekommen.
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich auf Nokia
zu sprechen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist schön! Über dieses Thema re-
den wir heute schließlich!)
An der Standortverlagerung des Nokia-Werkes, die An-
lass Ihrer Großen Anfrage war, lässt sich exemplarisch
aufzeigen, warum wir Subventionen nur äußerst restrik-
tiv vergeben dürfen: weil es Mitnahmeeffekte gibt. Auch
wenn Nokia für seinen Abgang letztlich teuer bezahlt hat
– ein Großteil der Subventionen musste zurückgezahlt
werden –, wurde die Gefahr, die von solchen Mitnahme-
effekten ausgeht, deutlich; darauf haben Sie von den
Grünen hingewiesen.
Man muss aber nicht die Moralkeule gegen Nokia
schwingen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein! Natürlich nicht! Man muss auch
nicht sein Handy gegen die Wand werfen!)
Selbstverständlich orientieren sich Unternehmen an den
Vorgaben, die ihnen gemacht werden. Sie nehmen eine
ganz kühle Kalkulation vor. Das spielt im Übrigen auch
im Hinblick auf die Agrarsubventionen, über die mo-
mentan diskutiert wird, eine Rolle. Ich weiß nicht, ob es
uns weiterhilft, wenn wir im Internet nachlesen können,
wer in welchem Umfang Agrarsubventionen bekommt.
(Ulrike Flach [FDP]: Oh doch! – Kerstin
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Doch! Natürlich!)
Das hat lediglich Prangerwirkung.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh nein! Ganz im Gegenteil! Wir brau-
chen Transparenz!)
Wir sollten uns lieber einmal darüber unterhalten, wel-
che Agrarsubventionen überhaupt noch vernünftig und
notwendig sind.
Noch einmal: Es ist richtig, dass wir Unternehmen,
die im Kern gesund sind, in dieser schweren Krise stützen.
Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, Unternehmen, die
schon in normalen wirtschaftlichen Zeiten nicht wettbe-
werbsfähig waren, jetzt zu unterstützen und ihnen Sub-
ventionen zu zahlen.
Entscheidend ist, dass wir auch auf internationaler
Ebene alles unternehmen, um zu verhindern, dass es in
der jetzigen Krise zu einem Subventionswettlauf kommt.
Natürlich fürchten viele Staaten und Regionen, Arbeits-
plätze und Unternehmen zu verlieren. Schon vor der Krise
wurden in bestimmten Bereichen ungeheuer hohe Sub-
ventionen gezahlt. Ein Beispiel ist die Chipherstellung.
Das, was in diesem Bereich passiert ist, hatte mit Markt
nichts mehr zu tun. Insbesondere in asiatischen Staaten
wurden die Investitionen teilweise und manchmal sogar
vollständig vom Staat übernommen. Dies führte natürlich
zu einer unglaublichen Überschwemmung des Marktes
mit den entsprechenden Produkten und hatte letztlich zur
Folge, dass die gesamte Chipindustrie heute am staatlichen
Tropf hängt. Im Bereich es Schiffbaus erleben wir seit
Jahrzehnten eine ähnliche Situation. Wir müssen aufpassen,
dass das Gleiche nicht weltweit im Bereich der Automobil-
industrie geschieht.
(Ulrike Flach [FDP]: Dann hättet ihr die Hil-
fen anders strukturieren müssen!)
International entsteht hier ein ähnlicher Subventions-
wettlauf. Die Amerikaner pumpen jeden Monat Milliarden
Dollar in die Automobilindustrie. Ich bin der Bundes-
kanzlerin sehr dankbar, dass sie auf internationaler
Ebene versucht, diesen Subventionswettlauf zu stoppen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie haben Ihre Redezeit schon weit überzogen.
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Wenn es uns
nicht gelingt, diesen Subventionswettlauf zu stoppen, ist
es zumindest erforderlich, dass wir unsere Kernindustrie
mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln – natürlich
in begrenztem Umfang – stützen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie müssen zum Ende kommen, lieber Kollege. Sie
haben Ihre Redezeit sehr deutlich überschritten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Wir müssen dafür sorgen – lieber Präsident, das ist
der letzte Satz; ich habe wirklich übersehen, dass ich
über die Zeit bin –, dass wir Subventionen in normalen
Zeiten wie in Krisenzeiten nur in sehr begrenztem Umfang
zahlen.
Schönen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
25148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach für die FDP-
Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Ulrike Flach (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Schröder, Sie haben zu Recht davon gesprochen,
dass man einen Subventionsstopp propagieren sollte.
Dabei haben Sie aber völlig zu erwähnen vergessen, dass
wir uns nun schon im zweiten Jahr – ganz anders als in
den Vorjahren – auf einer Rekordhöhe der Subventionen
bewegen.
Diese Subventionen hängen auch nicht zwingend mit
der Krise zusammen, die Sie immer anführen. Das Jahr
2009 ist das Rekordjahr der Subventionen. Im Jahr 2008
betrugen die Finanzhilfen bereits 5,7 Milliarden Euro.
Inzwischen haben sie sich auf 11 Milliarden Euro ver-
doppelt. Allein 5 Milliarden Euro davon entfallen auf die
unselige Abwrackprämie.
Wie Sie mit der Abwrackprämie die Finanz- oder
Wirtschaftskrise bewältigen wollen, haben Sie uns nicht
erklären können. Ich glaube auch nicht, dass Ihnen das
gelingen wird.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Der Subventionsbericht nennt für 2008 Steuerver-
günstigungen in Höhe von 15,8 Milliarden Euro. Das ist
noch eine geschönte Version. Beim Kieler Institut für
Weltwirtschaft spricht man sogar von einer Höhe von
48,8 Milliarden Euro. Damit liegen wir auf einem deut-
lich höheren Niveau und zahlen einen viel höheren Preis.
Fakt ist, dass im Jahr 2009 weitere 1,1 Milliarden
Euro an Steuervergünstigungen dazukommen – zum
Beispiel durch den „wunderschön“ gegen die Weltwirt-
schaftskrise ersonnenen Kfz-Steuererlass für Neuwagen
oder die steuerliche Geltendmachung von Handwerker-
dienstleistungen.
Ich kann nicht erkennen, dass Sie auf dem Weg waren,
der Welt zu helfen. Herr Dr. Schröder, nach meiner Ein-
schätzung haben Sie nur gedacht, an dieser Stelle etwas
für Ihren Wahlkampf tun zu können.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich finde es auch sehr erstaunlich, dass vonseiten der
SPD immer noch unverfroren davon gesprochen wird, man
könne keine Steuererleichterungen vornehmen, obwohl
Sie gleichzeitig solche Geschenke in Milliardenhöhe
machen, lieber Herr Schultz.
(Beifall bei der FDP)
In diesem Jahr wird die Staatsquote mehr als 50 Pro-
zent erreichen. Bereits vor einem Jahr haben wir einen
Antrag zur Begrenzung von Subventionen und für mehr
Transparenz vorgelegt. Wir wollen den Subventions-
begriff des Kieler Instituts für Weltwirtschaft als Grund-
lage verwenden, Frau Andreae. Alle bestehenden Sub-
ventionen möchten wir zeitlich befristen und degressiv
gestalten. Außerdem wollen wir sie regelmäßig im Hin-
blick auf ihre Wirksamkeit evaluieren. Bis zu diesem
Punkt stimmen wir mit den Grünen völlig überein.
Die durch den Subventionsabbau frei werdenden Mittel
wollen wir allerdings ausschließlich zum Abbau der Neu-
verschuldung verwenden. Da beginnt der große Unter-
schied zu Ihrem Entschließungsantrag, Frau Andreae.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Alles andere hätte mich auch gewun-
dert!)
Der Entschließungsantrag der Grünen verfolgt eine
völlig andere Richtung. Ihnen geht es nicht um den Sub-
ventionsabbau und eine grundsätzliche Rückführung.
Bei Ihnen wird nur die Frage gestellt: Passt uns die poli-
tische Richtung der Subvention?
Darüber kann man natürlich trefflich streiten. Selbst-
verständlich gibt es Punkte, bei denen auch wir Ihnen
zustimmen könnten, beispielsweise steuerliche FuE-För-
derung, Venture-Capital und Steuergutschriften für for-
schende Unternehmen. Freilich gibt es auch Punkte, bei
denen wir völlig anderer Meinung sind, zum Beispiel bei
den ökologisch-sozialen Anreizen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Schade!)
Das kann bei dem Thema Subventionen aber nicht der
Leitgedanke sein. Subventionen sollten keinesfalls in gut
und böse unterteilt werden – nach dem Motto: Wenn
Arbeitsplätze im Umweltschutz erhalten werden, ist eine
Subvention gut; wenn Arbeitsplätze im Verteidigungs-
sektor erhalten werden, ist sie schlecht. – Genau dies
sollte die Subventionsdebatte nicht prägen. Wir haben
allerdings zum Beispiel verfolgen können, dass Sie die
Opel-Subventionen nicht gut fanden, weil damit nicht
das ökologisch richtige Auto gefördert werden sollte.
Der Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“
Subventionen können wir als Haushälter nicht zustimmen.
Schon allein das wäre Grund genug, Ihren Antrag abzu-
lehnen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber Sie enthalten sich?)
Wir beurteilen Subventionen grundsätzlich kritisch.
Wie ich eben schon gesagt habe, müssen sie transparent,
zeitlich befristet und degressiv gestaltet sein. Wenn Sie
die Bundesregierung kritisieren, Frau Andreae, bin ich
Ihrer Meinung. Die Bundesregierung hat es geschafft, all
ihre guten Leitgedanken, die sie sogar einmal schriftlich
festgelegt hat, in den vergangenen vier Jahren nicht zu
verfolgen. Das ist schon eine Leistung! Hätte sie es ge-
tan, wären wir, was die Höhe der Subventionen angeht,
wahrscheinlich auf einem deutlich besseren Niveau.
(Beifall des Abg. Dr. Max Stadler [FDP])
Auch bei der Transparenz bin ich Ihrer Meinung, Frau
Andreae. Wir erleben zurzeit eine Debatte zum Thema
Agrarsubventionen. Ich finde es geradezu skandalös,
dass sich der Freistaat Bayern plötzlich ausschließt und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25149
(A) (C)
(B) (D)
Ulrike Flach
meint, er müsse anders als alle anderen Länder seine
Subventionen nicht mehr darstellen. So muss dem deut-
schen Steuerzahler verborgen bleiben, was für tolle Sub-
ventionen es zum Beispiel im europäischen Bereich gibt.
Man möge nur einmal darüber nachdenken: 20 deutsche
Klöster erhalten im Augenblick EU-Gelder.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
LINKEN)
Das sind Subventionen in Deutschland! Die Hessische
Hausstiftung bekommt für die Verwaltung der Kunst-
sammlung der früheren Herrscherfamilien samt Weingut
Geld. Das sind Subventionen! Sie können uns nicht er-
zählen, dass es nicht möglich wäre, an dieser Stelle zu
sparen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
LINKEN)
Im Gegenteil, Herr Schröder, genau an dieser Stelle geht
es nicht um durch die Weltwirtschaft bedingte Schwie-
rigkeiten. Hier wird in der Hoffnung, Wähler zu ködern,
Geld aus dem Fenster geworfen. Das ist der falsche Weg.
Die FDP kann diesen Weg nicht mit Ihnen gehen.
Deswegen sind wir nicht nur gegen die Leitlinien der
Bundesregierung – die ja nicht einmal umgesetzt worden
sind –, sondern auch gegen die Stoßrichtung der Großen
Anfrage der Grünen. Politisch gewollte Subventionen
sind auch nicht unser Ding. Gar keine Subventionen,
Frau Andreae, das wäre am besten!
(Beifall bei der FDP – Kerstin Andreae
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hält auch
die FDP nicht durch!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Reinhard Schultz für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Diskussion führt teilweise in die Irre. Wenn wir mit dem
Haushalt Mittel für Fachprogramme, für bestimmte
Gruppen, für Maßnahmen, für Regionen beschließen,
dann sind das natürlich politische Entscheidungen; wir
wollen ja etwas Bestimmtes fördern. Deswegen sind
Subventionen, die die öffentliche Hand direkt gibt oder
die sie indirekt, über Steuervergünstigungen, gewährt,
grundsätzlich Ausdruck einer politischen Entscheidung.
Man kann sich darüber unterhalten, wie nachhaltig
bestimmte Subventionen sind – im ökologischen Sinne;
im Sinne, Arbeitsplätze zu fördern; im Sinne einer inno-
vativen, zukunftsorientierten Gesamtentwicklung – und
welche Subventionen auf den Prüfstand gehören, weil
sie Zeugnis längst überkommener Entwicklungen sind
und abgeschafft gehören. Es gibt Subventionen, die ihre
Berechtigung haben, es gibt aber auch Subventionen, de-
ren Zeit abgelaufen ist.
(Ulrike Flach [FDP]: Trotzdem gibt es sie
noch!)
Insofern ist die Stoßrichtung der Großen Anfrage der
Grünen, eine bessere Evaluierung, eine Erfolgskontrolle
vorzunehmen, korrekt und richtig.
Ein Teil der Programme wird stärker evaluiert als an-
dere Programme. Bei den Gemeinschaftsaufgaben wird
deutlich evaluiert, welche Investitionen damit getätigt
werden und welche Arbeitsplatzwirkungen – der Erhalt
bestehender Arbeitsplätze oder die Schaffung neuer Ar-
beitsplätze – damit verbunden sind. Bei anderen Pro-
grammen ist das nicht so. Das liegt daran, dass die Ver-
antwortung für die Programme breit gestreut ist und wir,
zumindest was Evaluierung und Transparenz der Sub-
ventionen bzw. Beihilfen angeht, keine zentrale Steue-
rung haben.
Die Zielrichtung der großen Subventionsblöcke, die
wir als Bund zu verantworten haben, ist in erster Linie,
im Bundesgebiet gleichwertige Lebensbedingungen her-
zustellen. Das ist ein grundgesetzlicher Auftrag. Er
drückt sich in Gemeinschaftsaufgaben aus, aber auch in
all dem, was mit dem Aufbau Ost verbunden ist. Das
wird man nicht grundsätzlich infrage stellen.
Trotzdem kann man im Einzelfall über die Zielgenau-
igkeit reden, und das haben wir auch getan. Man kann
bestimmte Subventionen auslaufen lassen und sie de-
gressiv gestalten, zum Beispiel die Investitionszulage,
die ja mit 2013 auf Endlichkeit angelegt ist.
Es gibt Subventionen, mit denen im weitesten Sinne
Innovationen, Modernisierung, Forschung und andere
Dinge gefördert werden. Bei diesen Subventionen gibt
es eine gewisse Evaluierung. Es stellt sich allerdings die
Frage: Lösen diese Subventionen wirklich eine breite In-
novationswelle aus, auch bei kleineren Einrichtungen,
oder sind es geübte Subventionsempfänger, die einen
Großteil des Kuchens einsacken? Das ist auch mir nicht
immer klar.
Frau Andreae, Sie haben danach gefragt, wie das mit
der Innovationsförderung für kleinere und mittlere Un-
ternehmen läuft. Dafür gibt es eigene Programme. Da
wissen wir, dass die Förderung nur bei denen ankommt.
Wir wissen auch, dass Deutschland im OECD-Vergleich
an dritter Stelle steht, was die Innovations- und For-
schungstätigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen
angeht. Aber das muss nicht bedeuten, dass die Pro-
gramme bei diesen Unternehmen auch ankommen, weil
viele von ihnen auch außerhalb der Programme Innova-
tionsanstrengungen unternehmen, Erfindungen machen
und neue Produkte auf den Markt bringen. Insofern
müsste man das zusammenführen.
Wir wollen durch Subventionen natürlich Verhaltens-
änderungen auf den Weg bringen. Im gesamten Bereich,
der zum Teil auch durch die KfW-Programme repräsen-
tiert wird – die energetische Gebäudesanierung usw. –,
soll über Markanreizprogramme sozusagen ein neuer
Mainstream im Denken und Investitionsverhalten von
Menschen bewirkt werden. Das wird auch erreicht. Auch
dort gibt es eine ganz gute Evaluation, was damit eigent-
lich gemacht wird, wie viele Gebäude tatsächlich ener-
getisch saniert werden und was am Ende dabei raus-
kommt. Hier ist das, denke ich, gut und relativ leicht
25150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Reinhard Schultz (Everswinkel)
nachzuvollziehen – in anderen Bereichen allerdings we-
niger.
Was ich bei Ihrem Ansatz – da bin ich durchaus in der
Nähe der Kollegin Flach, obwohl ich weiß, dass Subven-
tionsentscheidungen politische Entscheidungen sind –
kritisieren würde, ist, dass er zumindest verbal – es gibt
da eine entsprechende Stelle – ausschließlich in Richtung
der kleinen ökologischen Netzwerke zielt. Die kleinen
ökologischen Netzwerke sind natürlich Ihre wesentli-
chen Zielgruppen. In Ihrer – oder in unserer gemeinsa-
men – Regierungszeit haben Sie es auch hinbekommen,
dass die kleinen ökologischen Netzwerke ordentlich et-
was abbekommen. Aber das kann nicht die einzige Sicht-
weise, das kann nicht die einzige Zielgruppe sein; das
fände ich nicht in Ordnung. Überhaupt sollten Subventi-
onen nicht unbedingt zielgruppenorientiert sein, sondern
sollten durch Ziele bestimmt sein.
Wir haben zum Beispiel im Bereich der grünen Tech-
nologien – das weist ja der GreenTech-Atlas aus dem
Gabriel-Ministerium sehr gut nach – sehr viel zusätzlich
an Boden wettgemacht. Wir sind auch im weltweiten
Vergleich absolut vorne – und zwar im Wesentlichen
aufgrund unserer Förderpolitik, entweder direkt – etwa
bei der Technologieförderung – oder indirekt dadurch,
dass wir einen Referenzmarkt in Deutschland für mo-
derne Umwelttechniken, ressourcensparende Techniken
und anderes geschaffen haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich denke, auch insofern hat eine Evaluierung stattge-
funden – in diesem Fall durch das Umweltministerium –,
die man gut vorzeigen kann.
Ihre Große Anfrage hat einige ganz interessante Ne-
benaspekte, die ich doch einmal in den Blick nehmen
möchte. Sie sagen zu Recht, degressiv und transparent
ausgestaltete Subventionen stärkten und förderten, rich-
tig angewendet, neue technologische Entwicklungen. Sie
sagen dann, ein gelungenes Beispiel dafür sei die Umla-
gefinanzierung der Energiewende durch das Einspeise-
gesetz im Bereich der erneuerbaren Energien. Ich finde,
das ist völlig richtig, hat aber auch einen Nebeneffekt:
Sie geben zum ersten Mal – ich sehe das seit langem so –
deutlich zu, dass das zwar keine Mittel sind, die direkt
aus dem öffentlichen Haushalt finanziert werden, dass
das aber trotzdem ein indirektes Subventionsprogramm
ist. Keine Frage: Es wirkt gut, aber es ist ein Subven-
tionsprogramm.
Ich denke, man muss den Subventionsbegriff etwas
weiter fassen. Er umfasst nicht nur die Haushaltsfinan-
zierung, direkt oder indirekt, sondern auch die durch den
Gesetzgeber initiierten Preisrelationen, die eine be-
stimmte Entwicklung, die ein bestimmtes Produkt be-
günstigen – in diesem Falle die erneuerbaren Energien –
und andere dafür belasten. So etwas ist wirksam, aber es
ist ohne Frage ein klassischer Subventionsmechanismus –
nur eben nicht über Haushaltsmittel.
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Insofern zeigt sich hier auch ein Beitrag zur ehrlichen
Selbsterkenntnis.
Ein andere interessanter Beitrag ergibt sich durch die
Antwort der Bundesregierung. Sie sagen ja ständig, was
alles angeblich subventioniert wird, unter anderem zum
Beispiel Braunkohle. Das ist ein landläufiges Vorurteil:
Weil man von der Steinkohle weiß, dass sie in der Ver-
gangenheit und bis heute aus strukturpolitischen Grün-
den, nämlich um Strukturbrüche zu vermeiden, subven-
tioniert worden ist, glauben viele, Braunkohle würde
auch subventioniert. Braunkohle ist der einzige in
Deutschland zu gewinnende Primärenergieträger, der
subventionsfrei zur Verfügung gestellt werden kann. Das
muss man einmal deutlich so sagen. Dann kommt aber
natürlich der Feinschmecker unter uns und sagt, die Um-
weltfolgen seien dabei nicht vernünftig eingepreist.
Doch auch insofern sind wir einen Schritt weiter, weil
wir durch den Emissionshandel eine Einpreisung der
Klimafolgen und damit auch eine Begrenzung des
Braunkohleeinsatzes, soweit er klimawirksam wird, ha-
ben. Dennoch: Der Braunkohleeinsatz ist nicht subven-
tioniert. Ich finde, das ist ganz wichtig.
Ein letztes Wort zu dem schönen Thema Transparenz:
Ich finde es ausgesprochen erhellend, Herr Schröder und
Frau Flach, nachlesen zu können, wer die meisten Agrar-
subventionen erhält, soweit es um Subventionsempfän-
ger in Deutschland geht.
(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Ich habe es mir nicht so dramatisch vorgestellt, wer was
bekommt. An der Spitze steht Südzucker. Ob das zwin-
gend so sein muss, bleibt dahingestellt. Man kann über
alles reden. Aber wenn es eine solche Liste der Subven-
tionsempfänger gibt, kann man auch danach fragen, wie
die Programme wirken. Das gebe ich als Anregung an
den nächsten Deutschen Bundestag und die nächste
deutsche Bundesregierung weiter.
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Das ist doch
der entscheidende Schritt, daraus die Schluss-
folgerung zu ziehen!)
Ich neige deutlich zu der Empfehlung, die Empfänger
von staatlichen Subventionen – soweit es sich um direkte
Finanzbeihilfen handelt – durch die Bank weg auf einer
Internetplattform zu veröffentlichen. Warum eigentlich
nicht?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
In den USA ist das gang und gäbe. Es fällt einem da-
durch kein Zacken aus der Krone. Für jemanden, der
sich dafür schämt, dass er Staatsknete angenommen hat,
und sich nicht öffentlich dazu bekennen will, gilt: Es
gibt keinen Anschluss- und Nutzungszwang für Subven-
tionen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn er etwas Sinnvolles macht, dann kann er auch
dazu stehen. Kein Mensch hat etwas dagegen.
Ich finde es nicht gut, dass manche Presseorgane über
Kollegen im Bundestag, die Bauern sind, veröffentli-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25151
(A) (C)
(B) (D)
Reinhard Schultz (Everswinkel)
chen, welche speziellen Agrarbeihilfen sie bekommen
haben. Sie haben das Recht dazu, das für ihren Bauern-
hof in Anspruch zu nehmen. Ob das auch für den Erleb-
nisferienhof gilt, ist eine andere Frage. Aber grundsätz-
lich haben sie Anspruch darauf.
Ich finde es gut, dass das transparent gemacht wird.
Mehr Transparenz und Evaluierung würden dem Deut-
schen Bundestag gut zu Gesicht stehen. Ich wäre auf je-
den Fall dafür.
Danke.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Herbert Schui für die Fraktion Die Linke das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Andreae, Sie haben bereits einige Blöcke aus meiner
kurzen Rede vorweggenommen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ohne Wissen!)
Das macht nichts. Ich stimme Ihnen jedenfalls zu, was
Ihre Kritik an der Bundesregierung angeht.
So kann ich mich auf einige grundsätzliche Überle-
gungen zur Subventionspraxis konzentrieren. Wenn die
Freimarktler und die Jubelmarktler recht hätten, dann
müsste es keine Subventionen mehr geben. Wir hätten
dynamische Unternehmer in Hülle und Fülle, die jede er-
denkliche Innovation mit ausreichender Schubkraft auf
den Weg bringen würden. Der Markt würde darüber ent-
scheiden, was überdauern soll. Wir bräuchten also keine
Erhaltungssubventionen. Dann wäre auch der Struktur-
wandel wie eigentlich alles ohne Subventionen möglich.
Tatsächlich brauchen wir aber offensichtlich Subven-
tionen, und zwar deshalb, weil der Markt in vielen Berei-
chen versagt und nicht das zuwege bringt, was wir gerne
hätten.
(Ulrike Flach [FDP]: Als Anreiz, Herr Schui!)
– Gut, als Anreiz. Der Markt bietet die Anreize nicht,
sonst müsste man nicht über Subventionen nachdenken.
Die Bundesregierung definiert Leitlinien und formu-
liert als Selbstbindung: „Die Subventionspolitik der
Bundesregierung orientiert sich an wachstums-, vertei-
lungs-, wettbewerbspolitischen und umweltpolitischen
Wirkungen.“ Das ist allgemein richtig, aber es ist derma-
ßen umfassend, dass man nicht viel damit anfangen
kann. Man kann es auch nicht überprüfen. Eine Erfolgs-
kontrolle ist so gut wie gar nicht möglich.
Damit Subventionen klarer und deswegen auch kon-
trollierbar werden, dürfen sie sich niemals an der Stärke
der Lobby und der Auswirkung von Lobbyarbeit auf
Wahlergebnisse orientieren. Ich glaube, dieses Moment
bei den Subventionen sollte man nicht übersehen.
Wesentlich ist zunächst, dass Subventionen haupt-
sächlich als Bestandteil von Industriepolitik begriffen
werden. Man sollte in der Lage sein, sich auf den Begriff
der Industriepolitik in diesem Rahmen zu einigen. Sub-
ventionen sollen die Richtung der Produktion bestim-
men, das heißt, wie und was produziert werden soll und
was gegebenenfalls erhalten werden soll. Das schließt
selbstverständlich die Umweltförderung mit ein. Aber
die Frage, die durch Subventionen gelöst werden soll,
wird offensichtlich nicht von der Kapitalrentabilität als
einem Motor für ökonomische Dynamik beantwortet.
Wie können die Erfolge der Subventionen kontrolliert
werden? Es gibt die üblichen, bekannten Verfahren. Auf
eines möchte ich aber vor allen Dingen aufmerksam ma-
chen: Unser Subventionsbegriff ist insofern falsch ge-
fasst, als er tatsächlich mehr beinhaltet als nur die lau-
fenden Übertragungen und die Vermögensübertragungen
an die Unternehmen. Er umfasst auch die gesamte
Summe der nicht gezahlten Steuern.
Es darf keine Anreize durch nicht gezahlte Steuern
geben; das ist falsch. Das muss durch laufende Übertra-
gungen und Vermögensübertragungen geschehen. Es
muss klar festgelegt werden, wie man die Wirkung der
Übertragungen überprüfen will. Sonst ist nicht klar, was
mit dem Steuerverzicht im Einzelnen erreicht worden
ist.
Die Kontrolle sollte so eingehend sein, wie wir sie
von den laufenden Übertragungen an ALG-II-Bezieher
kennen. Nachdem klar definiert worden ist, weswegen
die Subventionen überhaupt vergeben werden, sollte sich
die Subventionspraxis durch eine ähnlich intensive Kon-
trolle wie bei den ALG-II-Empfängern auszeichnen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/13388. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Gegenstimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Frak-
tion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Kinderpornographie in Kommunikationsnet-
zen
– Drucksache 16/12850 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
25152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
zur Bekämpfung der Kinderpornographie in
Kommunikationsnetzen
– Drucksachen 16/13125, 16/13385 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
– Drucksache 16/13411 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martina Krogmann
Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD, über den wir später namentlich abstimmen,
liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Wir beschließen heute das Gesetz zur Bekämp-
fung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen.
Ziel dieses Gesetzes ist es, durch eine Sperrung den Zu-
gang zu Seiten mit kinderpornografischen Inhalten vor
allem für Zufallsnutzer zu erschweren. Das gilt insbe-
sondere für Nutzer, die durch Spammails oder durch
Links auf solche Seiten gelangen. Dieses Gesetz ist ein
weiterer wichtiger Schritt in unserer Gesamtstrategie zur
Bekämpfung der Kinderpornografie.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zu diesem Gesetz hat es in den vergangenen Monaten
extrem kontroverse und hochemotionale Debatten gege-
ben. Lassen Sie mich deshalb am Anfang dieser Debatte
hier im Deutschen Bundestag zwei Dinge deutlich sa-
gen. Ich weiß, dass ich für Sie alle spreche, wenn ich
sage, dass Kinderpornografie, also die Verbreitung von
Bildern erniedrigter, gequälter und vergewaltigter Kin-
der, ein widerliches und abscheuliches Verbrechen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin Krogmann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk?
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Gerne, Frau Schewe-Gerigk.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Frau Krogmann, Sie sprechen hier über ein ganz
wichtiges Thema. Es hat in den letzten Wochen viele
Debatten darüber gegeben. Können Sie sich erklären,
wieso weder die Ministerin noch ein Staatssekretär oder
eine Staatssekretärin anwesend sind? Wie bewerten Sie
das?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und der LINKEN)
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Kollegin Schewe-Gerigk, das Ge-
setz fällt in den Verantwortungsbereich des Bundeswirt-
schaftsministeriums. Der zuständige Staatssekretär
Schauerte ist anwesend.
(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der versteht
was von Pornografie! – Gegenruf des Abg.
Manfred Grund [CDU/CSU]: Das war eine
freche Bemerkung! Sie müssen sich entschul-
digen!)
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde Ihre Reak-
tion bedauerlich. Ich habe bereits gesagt, dass die De-
batte in den letzten Monaten hochemotional geführt wor-
den ist. Deshalb finde ich es wichtig, die Debatte über
dieses Thema zu versachlichen. Ich will ausdrücklich ei-
nen Punkt ansprechen, der mir vor allem in der ersten
Debatte zu diesem Thema aufgefallen ist. Es ist mir
wichtig, klarzustellen, dass wir aufhören müssen, denje-
nigen, die heute gegen den Gesetzentwurf stimmen wer-
den, zu unterstellen, dass sie deswegen gegen die Be-
kämpfung der Kinderpornografie seien. Das ist absurd.
(Beifall bei der FDP)
Mit dem Gesetz betreten wir in Deutschland Neuland.
Erstmals wird eine Sperrinfrastruktur für Seiten im Inter-
net errichtet, um das Betrachten von Bildern mit kin-
derpornografischen Inhalten – das steht in Deutschland
unter Strafe – zu verhindern. In dieser kontroversen De-
batte geht es nicht nur um die Bekämpfung der Kin-
derpornografie, sondern auch um eine grundsätzliche
Frage. Es geht um die Freiheit im Internet und die not-
wendigen Grenzen der Freiheit im Internet. Völlig klar
und eigentlich selbstverständlich ist, dass das Internet
natürlich kein rechtsfreier Raum ist und auch nicht sein
darf.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Die Zeiten, in denen das Internet nur von einer klei-
nen Gruppe technisch versierter Eliten genutzt wurde,
sind längst vorbei. Das Internet ist zu einem globalen
Massenmedium geworden mit riesigen neuen Chancen
für jeden Einzelnen in der Kommunikation, durch die
Bildung von globalen Netzwerken sowie durch einen zu-
vor noch nie gekannten Zugang zu Wissen und Informa-
tion und anderen Kulturen. Das Netz hat die Prozesse in
unserer Wirtschaft verändert und in bestimmten Berei-
chen unser gesellschaftliches Zusammenleben revolutio-
niert. Obwohl das Internet längst zu einem alltäglichen
Massenmedium geworden ist, haben wir es versäumt,
eine grundsätzliche Debatte zu führen: Welche Regeln
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25153
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Martina Krogmann
sollen im Netz gelten? Was darf der Staat im Internet?
Was soll und muss der Staat dürfen, und wo sind die
Grenzen? Kann man überhaupt die Gesetze aus der rea-
len Welt eins zu eins auf das Netz übertragen, oder ist
das wegen der grenzenlosen und absolut dezentralen
Struktur gar nicht durchsetzbar? Aber was ist durchsetz-
bar, und was ist verhältnismäßig?
Ich habe auf diese Fragen keine abschließenden Ant-
worten. Ich glaube aber, dass wir es versäumt haben,
diese notwendige Debatte zu führen, und dass dieses
Versäumnis ein Grund dafür ist, dass es nun im Zusam-
menhang mit diesem Gesetz – wie die Zeit schreibt – zu
einem Kulturkampf kommt, einem Aufeinanderprallen
von unterschiedlichen Welten, großen gesellschaftlichen
Gruppen, die das Internet täglich nutzen, aber auch von
Menschen in der Internetcommunity, die im Internet ge-
wissermaßen fast leben und atmen. Dies wird auch an
zwei Zahlen deutlich. Gestern hat eine Allensbach-Um-
frage ergeben, dass 91 Prozent der Bevölkerung Inter-
netsperren zur Bekämpfung der Kinderpornografie, wie
wir sie nun vorsehen, befürworten.
(Jörg Tauss [SPD]: Das waren Suggestivfra-
gen!)
Gleichzeitig gibt es eine Onlinepetition gegen Internet-
sperren, die innerhalb weniger Wochen 135 000 Unter-
zeichner gefunden hat.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Das ist die bisher größte Onlinepetition in der Ge-
schichte unseres Landes. Der vorliegende Gesetzentwurf
berührt genau dieses Spannungsfeld.
Ich bin überzeugt, dass wir die Pflicht haben, alle an-
gemessenen und rechtsstaatlichen Mittel einzusetzen,
um Kinderpornografie im Internet zu bekämpfen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
In der Anhörung im Wirtschaftsausschuss wurde das
grundsätzliche Ziel, die Maßnahme des Access Blo-
cking, also der Sperrung von Seiten mit kinderpornogra-
fischem Inhalt, als sinnvolle Maßnahme zur Prävention
anerkannt. In anderen Punkten hat es erhebliche Kritik
gegeben. Wir haben diese Kritikpunkte zum großen Teil
aufgenommen, Herr Dörmann, sowohl einige Kritik-
punkte aus der Onlinepetition als auch viele Kritik-
punkte, die in der Anhörung offensichtlich waren.
(Martin Dörmann [SPD]: So ist es!)
Einen grundsätzlichen Punkt haben wir aber nicht aufge-
nommen, und zwar aus gutem Grund. Dabei geht es um
den grundsätzlichen Vorwurf der Zensur. Im Zusammen-
hang mit der Sperrung von kinderpornografischen Seiten
von Zensur zu sprechen, finde ich unerträglich.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Wenn es um kinderpornografische Inhalte im Netz geht,
kann sich niemand – aber auch wirklich niemand – auf
die Freiheit des Internets oder auf die Informationsfrei-
heit berufen. Es gibt kein Recht darauf, das Quälen und
die Vergewaltigung von Vierjährigen oder gar von Säug-
lingen im Internet betrachten zu können. Das hat mit In-
formationsfreiheit nichts, aber auch gar nichts zu tun.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Dennoch – das will ich deutlich sagen – kann ich die
Befürchtungen derer verstehen, die sagen: Wenn die
Sperrinfrastruktur erst einmal da ist, dann ist der Damm
bei der Sperrung weiterer unliebsamer Inhalte im Inter-
net gebrochen. Diese Befürchtungen sind nicht grundlos.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Eben!)
So hat das Landgericht Hamburg bereits angedeutet,
dass eine Sperrinfrastruktur im Prinzip auch gegen an-
dere rechtswidrige Inhalte zu verwenden wäre.
(Jörg Tauss [SPD]: Aha!)
Vereinzelt kommen Forderungen nach Sperrungen zum
Schutz vor Glücksspiel, der Urheberrechte und vor soge-
nannten Killerspielen auf. Ich will hier klar sagen: Diese
Forderungen teile ich ausdrücklich nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
FDP: Heute nicht, aber morgen!)
Es wäre grundfalsch, unmöglich und völlig unverhält-
nismäßig, sämtliche rechtswidrigen Inhalte im Netz
staatlicherseits zu kontrollieren, zu sperren oder gar zu
entfernen. Deshalb haben wir in der Großen Koalition
richtigerweise beschlossen, ein Spezialgesetz zu verab-
schieden und deutlich zu machen, dass sich das Access
Blocking allein auf Seiten bezieht, die kinderpornografi-
sche Inhalte haben. Das ist richtig so.
Neben dieser Klarstellung haben wir weitere, große
Korrekturen am Gesetzentwurf vorgenommen. Ich will
drei Punkte nennen.
Erstens. Im ursprünglichen Entwurf war vom Bundes-
justizministerium vorgesehen, dass die am Stoppserver
anfallenden Daten ohne konkreten Tatverdacht gegen
eine bestimmte Person in Echtzeit ausgeleitet und zur
Strafverfolgung genutzt werden. Dies hätte dazu geführt,
dass automatisch jeder, also auch jeder Zufallsnutzer, der
über einen Link oder eine Spammail auf eine Seite mit
kinderpornografischem Inhalt geleitet worden wäre, un-
ter Generalverdacht gestellt worden wäre. Abgesehen
davon, dass diese Maßnahme unverhältnismäßig wäre,
hätte sie negative Folgewirkungen wie die Stigmatisie-
rung der Personen. Zudem hätte sie – Professor Sieber
hat in der Anhörung darauf hingewiesen – negative Aus-
wirkungen auf das Nutzerverhalten im Internet.
Deshalb haben wir in der Großen Koalition beschlos-
sen, dieses Vorhaben zu streichen. Wir haben beschlos-
sen, dass Verkehrs- und Nutzerdaten, die beim Stoppser-
ver anfallen, nicht für die Strafverfolgung genutzt
werden dürfen. Das ist richtig so.
(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/
CSU])
Der zweite Punkt betrifft die Sperrlisten, die das BKA
erstellt. Es ist richtig, dass wir hier ein Gremium beim
25154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Martina Krogmann
Bundesbeauftragten für den Datenschutz einrichten wol-
len, um eine gewisse Transparenz herzustellen. Der Bun-
desbeauftragte für den Datenschutz und die Informa-
tionsfreiheit ist genau der richtige Mann und auch die
richtige Stelle, um diese Kontrolle vorzunehmen.
(Gisela Piltz [FDP]: Das kann man nur sagen,
wenn man davon keine Ahnung hat! –
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben ihn nicht einmal vorher be-
fragt!)
Herr Schaar, dessen Arbeit ich ansonsten sehr schätze
– das will ich ausdrücklich sagen –, hat nun einen Brief
an die Vorsitzenden von Wirtschafts-, Rechts- und In-
nenausschuss geschickt, in dem es heißt, diese Aufgabe
sei mit seinem Amt nicht vereinbar.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was blieb ihm denn übrig? Sie haben
ihn noch nicht einmal gefragt!)
Das halte ich für einen ziemlich unglaublichen Vorgang.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin Krogmann.
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Ich komme gleich zum Ende.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Sie reden aber bereits auf Kosten Ihrer Kollegin Noll.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ich verzeihe dir
alles! Nicht schlimm!)
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Michaela verzeiht mir alles. – Ich würde gern diesen
Gedanken zu Ende bringen.
Wir führen dieses Gremium doch ein, gerade um die
Informationsfreiheit zu sichern, damit Seiten, die nicht
pornografischen Inhaltes sind, nicht fälschlicherweise
gesperrt werden. Ich halte das Verhalten von Herrn
Schaar wirklich für abenteuerlich.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Ihre Regelung ist
abenteuerlich!)
Als letzten Punkt möchte ich anmerken, dass wir das
Gesetz richtigerweise auf drei Jahre befristet haben.
Nach zwei Jahren wird eine Evaluierung vorgenommen.
Zudem betreten wir hier Neuland. Deshalb ist es richtig,
das Gesetz zu befristen. Ich wünsche mir, dass wir diese
drei Jahre nutzen, um die notwendige, grundsätzliche
Debatte zu führen: Was sind die notwendigen Freiheiten
im Internet? Was darf der Staat tun, um diese Freiheiten
zu beschränken?
Ich wünsche mir, dass sich die Internetcommunity
nicht verweigert, sondern konstruktive Vorschläge ein-
bringt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Max Stadler (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir Freien Demokraten unterstützen diejenigen
Maßnahmen, die wirklich gegen Kinderpornografie hel-
fen.
(Beifall bei der FDP)
Das Gesetz der Großen Koalition erfüllt diesen Zweck
nicht. Deswegen lehnen wir es ab.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit dem Gesetz, das CDU/CSU und SPD heute vorle-
gen, wird die Kinderpornografie um kein Jota zurückge-
drängt.
(Martin Dörmann [SPD]: Das ist eine Behaup-
tung!)
Die von Ihnen vorgesehenen Zugangssperren im Internet
sind in Sekundenschnelle zu umgehen und deswegen
kein taugliches Mittel. Es führt kein Weg daran vorbei,
sich der weitaus mühsameren Aufgabe zu unterziehen,
die Täter zu verfolgen und zu bestrafen
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Seiten mit kinderpornografischen Inhalten zu lö-
schen, statt nur den Zugang zu erschweren.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch kein
Widerspruch!)
Diese wirklich wirksamen Maßnahmen sind auch reali-
sierbar. Dazu muss man sich allerdings, weil sich die
meisten Anbieter im Ausland befinden, die Mühe ma-
chen, eine wirkungsvolle internationale Zusammenarbeit
mit den betreffenden Staaten zu organisieren oder zu in-
tensivieren. Kinderpornografie ist ein abscheuliches Ver-
brechen. Dagegen muss man aber wirklich wirksame
Maßnahmen ergreifen. Sie begnügen sich hier mit
Scheinaktivitäten.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die von Ihnen vorgeschlagenen Zugangssperren sind
aber nicht nur nutzlos, sondern sie berühren auch sen-
sible Fragen des Rechtsstaats. Deswegen möchte man
meinen, dass gerade ein solches Gesetzgebungsvorhaben
in einer Form durchgeführt wird, die über jeden Zweifel
erhaben ist. Das Gegenteil ist leider der Fall. Frau Kolle-
gin Krogmann hat ihren Beitrag damit begonnen, dass
sie behauptet hat, es würde jetzt gleich das Gesetz zur
Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunika-
tionsnetzen beschlossen.
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das Ge-
setz heißt auch so!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25155
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Max Stadler
Richtig ist: Ein solches Gesetz war hier in erster Lesung
beraten worden. Sie aber haben das geändert. Wir bera-
ten heute über ein gänzlich neues, anderes Gesetz, das
auch einen anderen Namen hat. Es heißt Zugangser-
schwerungsgesetz. Das wird heute erstmals hier im Ple-
num beraten, obwohl der normale Ablauf wäre, dass es
eine Plenardebatte gibt, dann Ausschussberatungen und
dann die zweite und dritte Lesung.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD] – Dr. Ole Schröder [CDU/
CSU]: Man kann doch im Gesetzgebungsver-
fahren den Namen des Gesetzes ändern!)
– Nein, Sie haben das ursprüngliche Gesetz, das noch auf
der Tagesordnung steht – die ist insofern irreführend –, er-
setzt und ein neues eingebracht, ohne den normalen
Ablauf einzuhalten. Ich sage Ihnen Folgendes, lieber
Herr Kollege Schröder: Wir Juristen wissen, dass das
Bundesverfassungsgericht seit der Elfes-Entscheidung
– 6. Band, Seite 32 – auch das formelle Zustandekom-
men eines Gesetzes auf Verfassungsbeschwerde hin
prüft. Dass hier Verfassungsbeschwerden eingelegt wer-
den, liegt auf der Hand. Dann wird Ihr Verfahren in
Karlsruhe überprüft werden. Das sage ich Ihnen jetzt
schon voraus.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ole
Schröder [CDU/CSU]: Können Sie gerne ma-
chen!)
Es kommt aber noch schlimmer: Sie als Bund haben
gar keine Gesetzgebungskompetenz.
(Zuruf von der FDP: So ist es!)
Wir beraten hier eine Materie, die eindeutig zum Polizei-
recht gehört.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des
Abg. Jörg Tauss [SPD])
Polizeirecht ist Ländersache. Man kann nicht deswegen,
weil es um das hehre Ziel geht, Kinderpornografie zu be-
kämpfen, einfach die grundgesetzlichen Kompetenzre-
gelungen übergehen. Auch dieses wird mit Sicherheit
vom Verfassungsgericht überprüft werden.
Sie haben in der Tat in dem neuen Gesetz, das wir
heute eigentlich in erster Lesung beraten – Sie nennen
das fälschlich zweite und dritte Lesung –, tatsächlich ei-
nige Kritikpunkte von uns aus der Lesung zu dem dama-
ligen Gesetz aufgegriffen. Beispielsweise haben Sie jetzt
vorgesehen, dass die Daten nicht mehr für Strafverfol-
gungszwecke verwendet werden.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das haben wir
von vornherein gefordert!)
Das ist ein Fortschritt, damit nicht der, der zufällig in so
eine Sperre gerät, der Strafverfolgung ausgesetzt wird.
Nur ist Ihnen die Formulierung missglückt. Es wird
nämlich keineswegs verboten, dass die Daten übermittelt
werden, es wird keineswegs verboten, dass sie für andere
Zwecke gespeichert werden. Kollege Wiefelspütz von
der SPD hat gestern im Innenausschuss zu Recht gesagt:
Wer sich nichts hat zuschulden kommen lassen, dessen
Daten gehören überhaupt nicht gespeichert. – Aber lei-
der stimmen Sie von der SPD anders ab, als Sie sich kri-
tisch dazu verhalten.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Stimmt doch gar
nicht!)
Ich nenne noch einen Punkt, weil Frau Krogmann
darauf großen Wert gelegt hat. Wir haben kritisiert, dass
eine Polizeibehörde Sperren für Inhalte im Internet vor-
sehen soll, nämlich das Bundeskriminalamt. Das ist
wirklich systemfremd, weil es eigentlich eine richterli-
che Aufgabe wäre. Nun haben Sie die Kritik zum Teil
aufgegriffen, indem ein Expertengremium noch einmal
darüber schaut, allerdings nur stichprobenartig. Ist das
wirklich eine rechtsstaatliche Kontrollfunktion, wenn
nur Stichproben – wie im Gesetz steht, mindestens ein-
mal im Quartal – durchgeführt werden?
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Jeder-
zeit, steht im Gesetz!)
Aber Sie haben dabei einen entscheidenden Fehler
begangen; ich will ihn Ihnen nennen: Dieses Experten-
gremium richten Sie beim Bundesdatenschutzbeauftrag-
ten ein, aber dort gehört es nicht hin.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD])
Damit wird der Bundesdatenschutzbeauftragte Beteilig-
ter einer polizeilichen Maßnahme. Das ist völlig aufga-
benfremd für ihn, und deswegen hat Herr Schaar sich zu
Recht dagegen gewehrt.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD])
Meine Damen und Herren, die größte Sorge, die auch
in der Community geäußert wird – Sie haben gesagt,
dass Sie dafür Verständnis haben –, lautet: Dies ist ein
Einstieg in die Internetzensur. Sie versichern zwar, es sei
nur dieser Bereich, in den Sie auf diese Weise eingreifen
wollen, und es sei nicht daran gedacht, dies auf weitere
Bereiche auszudehnen. Genau das hören wir bei jedem
Ihrer Eingriffsgesetze, und bei jedem dieser Ihrer Ge-
setze kommt ein halbes Jahr oder ein Jahr später die De-
batte über die Ausweitung. Das war so bei der Verwen-
dung der Mautdaten, das war so bei den heimlichen
Onlinedurchsuchungen. Immer finden sich dann jemand
und ein Anlass, dass dies ausgeweitet werden muss. Ich
sage Ihnen: Sie haben heute die gute Absicht, es dabei zu
belassen, aber die Ausweitungsforderungen kommen so
sicher wie das Amen in der Kirche.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD] – Zuruf von der FDP: Die
sind doch schon da!)
Wenn Sie vielleicht sagen, dies seien Kassandrarufe
der Liberalen, dann darf ich Sie darauf hinweisen:
Kassandra hat bedauerlicherweise recht behalten.
25156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Stadler!
Dr. Max Stadler (FDP):
Deshalb komme ich zu folgendem Schlusssatz, Frau
Präsidentin: Das einzig Gute, was man über Ihr Gesetz
sagen kann, ist, dass es offensichtlich gut gemeint sein
könnte; aber das Zugangserschwerungsgesetz erreicht
seinen Zweck nicht und enthält Risiken und Nebenwir-
kungen, vor denen man nur dringend warnen kann.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kolle-
gen Martin Dörmann.
(Beifall bei der SPD)
Martin Dörmann (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Stadler, ich werde gleich auf alle Ihre Kri-
tikpunkte eingehen. Sie werden, wenn Sie ehrlich sind,
erkennen: Sie sind sämtlich zu widerlegen.
Zunächst aber Folgendes: Ich glaube, wir alle wollen
einen effektiven Schutz von Kindern und Jugendlichen
vor sexueller Ausbeutung und Gewalt. Die SPD-Frak-
tion hat dazu kürzlich ein umfassendes Konzept mit kon-
kreten Maßnahmen vorgelegt. So wollen wir, dass die
Strafverfolgungsbehörden dauerhaft personell und tech-
nisch gut ausgestattet sind. Wir wollen, dass die interna-
tionale Zusammenarbeit – das ist dringend notwendig –
deutlich verbessert wird.
(Beifall bei der SPD)
In den vergangenen Jahren haben wir zudem bereits
das Herstellen, die Verbreitung und den Besitz von Kin-
derpornografie lückenlos unter Strafe gestellt. Heute
geht es um einen wichtigen Teilaspekt des Problems,
nämlich um die Verbreitung von kinderpornografischen
Inhalten im Internet. Dort können rechtswidrige Inhalte
besonders schnell, anonym und ohne soziale Kontrolle
verbreitet und konsumiert werden.
Wir sind uns auch da alle einig: Das Internet ist kein
rechtsfreier Raum. Fraglich ist doch letztlich nur, mit
welchen Maßnahmen die Verbreitung kinderpornografi-
scher Inhalte im Internet angemessen, rechtsstaatlich
sauber und möglichst effektiv verhindert oder zumindest
erschwert werden kann. Genau darum geht es den Koali-
tionsfraktionen in ihrem Gesetzentwurf.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Mit dem Gesetz wird der Zugang zu kinderpornogra-
fischen Inhalten erschwert. Uns ist genauso bewusst wie
Ihnen, dass es versierte Nutzer durchaus schaffen, diese
vorgesehenen Sperrungen technisch zu umgehen. Das
wird vermutlich aber nur ein Teil von ihnen tun, sodass
wir trotzdem einen positiven Effekt haben werden. Es
kommt zudem darauf an, die Hemmschwelle für die
Nutzer signifikant zu erhöhen.
In diesem Zusammenhang weise ich beispielsweise
auf die entsprechenden Ausführungen der Expertin Frau
Dr. Kuhnen in unserer Anhörung hin. Die Medienexper-
tin hat in ihrem Buch Kinderpornografie im Internet be-
merkenswert differenziert das Verhalten von Menschen
geschildert, die eine gewisse pädophile Neigung haben
und über den Konsum von Kinderpornografie im Inter-
net gerade den Einstieg suchen. Zumindest einen Teil
dieser Menschen können wir durchaus noch erreichen;
den Versuch ist es, denke ich, allemal wert.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
Die SPD-Bundestagsfraktion hat aber auch stets deut-
lich gemacht, dass wir am Ende einem Gesetz nur zu-
stimmen werden, das rechtsstaatlichen Grundsätzen
wirklich genügt. Genau das ist uns jetzt gelungen: Mit
den zahlreichen Änderungen greifen wir alle aus unserer
Sicht begründeten Kritikpunkte aus der Bundestagsan-
hörung auf, übrigens auch die des Bundesrates. Herr
Kollege Dr. Stadler, der Bundesrat hat gerade nicht mo-
niert, dass der Bund keine Gesetzgebungskompetenz
habe.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das haben aber meh-
rere Sachverständige so gesehen!)
Wir haben ein wichtiges Argument aus der Internet-
community aufgenommen. Es ist richtig und notwendig,
dass das BKA zunächst alle zulässigen Maßnahmen zur
Löschung kinderpornografischer Seiten ergreift; denn
Löschen ist viel wirkungsvoller als Sperren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Genau dieses Prinzip „Löschen vor Sperren“ ist nun ge-
setzlich verankert.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: So ist es!)
Natürlich muss man berücksichtigen, dass das BKA
in Deutschland als hoheitliche Behörde anders agieren
kann als im Ausland. Wir erwarten aber – das meine ich
ganz ernst –, dass das BKA alles, was sinnvoll, möglich
und zulässig ist, konsequent umsetzt. Erst dann soll das
Sperren erlaubt sein.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Im Zusammenhang mit der BKA-Liste greifen wir so-
gar ein Anliegen der E-Petition auf, der sich bekanntlich
inzwischen mehr als 130 000 Menschen angeschlossen
haben. Dort wird nämlich – lesen Sie es nach – als wich-
tigster Kritikpunkt ausdrücklich die bislang fehlende
Kontrolle und Transparenz der BKA-Liste genannt. Ge-
nau dies nehmen wir auf, indem wir nun ein unabhängi-
ges Gremium aus fünf Experten schaffen, deren Mitglie-
der jederzeit diese Liste kontrollieren und korrigieren
können; ich betone: jederzeit, jeden Tag.
(Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Otto
[Frankfurt] [FDP]: Stichprobenartig!)
Wir haben uns übrigens, Herr Kollege Dr. Stadler,
schon genau überlegt, wer ein solches Gremium am bes-
ten berufen sollte. Es geht ja darum, zu verhindern, dass
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25157
(A) (C)
(B) (D)
Martin Dörmann
Seiten ungerechtfertigt auf die Liste gelangen, weil sie
einen anderen Inhalt als Kinderpornografie haben. Es
geht also um Informationsfreiheit.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Sie haben doch nicht
einmal mit Herrn Schaar gesprochen vorher!)
Gleichzeitig geht es um den Schutz sensibler Daten;
denn die Liste darf ja nicht öffentlich werden, damit Tä-
ter eben nicht im Internet nur zuzugreifen brauchen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Dörmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Montag?
Martin Dörmann (SPD):
Gerne.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Dörmann, ich habe eine Frage an Sie,
nachdem ich Ihr letztes illustres Argument gehört habe.
Sie haben gerade gesagt, dass der Bundesdatenschutzbe-
auftragte mit einer bestimmten Aufgabe betraut werden
solle, und diesen Arbeitsauftrag auch inhaltlich benannt.
Sie haben gesagt, es gehe um die Frage, zu entscheiden,
ob ein Foto, ein Bild, ein Film oder eine Videosequenz
kinderpornografischen Inhalt hat oder nicht. Stimmen
Sie mir zu, dass dies eine strafrechtliche Fragestellung
ist, die eine strafrechtlich relevante Antwort verlangt?
Entweder es ist eine Darstellung, die eine Straftat des
Kindermissbrauchs und der Kinderpornografie abbildet,
oder es ist keine solche Darstellung. Ich frage Sie: Wel-
che Kompetenz hat der Bundesdatenschutzbeauftragte,
um eine solche Entscheidung zu treffen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD])
Martin Dörmann (SPD):
Herr Kollege Montag, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu, dass es um eine strafrechtlich relevante Prüfung geht.
Gerade deshalb haben wir vorgesehen, dass das Gremium
– nur das Gremium trifft die Entscheidung, nicht der Da-
tenschutzbeauftragte – mehrheitlich aus Mitgliedern be-
steht, die die Befähigung zum Richteramt haben. Wenn
Sie so wollen, gibt es an dieser Stelle eine quasirichterli-
che Kontrolle. Sie müssen nämlich danach differenzie-
ren, wer dieses Gremium beruft und wer entscheidet. Wir
sagen: Die Berufung obliegt dem Datenschutzbeauftrag-
ten. Entscheiden darüber, ob die Voraussetzungen für eine
Sperre vorliegen, wird aber nicht der Beauftragte, son-
dern dieses Gremium.
Sie wissen ganz genau, dass der Beauftragte auch an
vielen anderen Stellen Überwachungsfunktionen hat.
Wenn es um Bereiche des Polizeirechts oder um andere
Rechtsgebiete geht – er ist für alle Behörden zuständig –,
wird er nicht persönlich die Kompetenz haben, sondern
er wird sich des Personals bedienen, das die entspre-
chende Fachkompetenz hat. Deshalb teile ich Ihre Be-
denken nicht. Ich will eines hinzufügen: Es ist nicht so,
dass der Bundesdatenschutzbeauftragte bestimmt, wie
seine Aufgaben normiert sind, sondern das ist Sache des
Gesetzgebers.
(Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD])
Aus diesen Gründen wiederhole ich: Es gibt keine
bessere Stelle für die Berufung eines solchen Gremiums
als den Beauftragten des Bundes für Datenschutz und In-
formationsfreiheit. Er ist qua Amt unabhängig und nur
dem Gesetz unterworfen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Martin Dörmann (SPD):
Dem Kollegen Tauss möchte ich keine Zwischenfrage
gestatten. Ich möchte lieber fortfahren. Zwischenfragen
anderer Mitglieder dieses Hauses gestatte ich gerne, aber
nicht die des Kollegen Tauss.
Auf der Homepage des Datenschutzbeauftragten kann
übrigens jeder nachlesen, was zu seinen Aufgaben ge-
hört, nämlich unter anderem die Kontrolle und Beratung
von Behörden und Stellen des Bundes – das BKA ist
eine solche Stelle – sowie der Einsatz für die Beachtung
des Datenschutzes und der Informationsfreiheit. Genau
darum geht es. Ich bin mir sicher: Hätten wir eine andere
Stelle gewählt, beispielsweise das Bundesinnenministe-
rium, hätten alle kritisch gefragt: Warum habt ihr nicht
auf den Datenschutzbeauftragten zurückgegriffen? – So
kann es also auch nicht gehen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Apropos Daten: Wir haben im Gesetzentwurf den
größtmöglichen Schutz vorgesehen. Personenbezogene
Daten werden bei den Providern nicht gespeichert. Zu-
dem dürfen Verkehrs- und Nutzerdaten, die bei der
Umleitung auf die Stoppmeldung anfallen, nicht zum
Zwecke der Strafverfolgung genutzt werden, Herr Kol-
lege Dr. Stadler; denn das Gesetz dient ausschließlich
der Prävention.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das ist zu wenig!)
Eine weitere Befürchtung war, dass das Sperren auch
anderen Zwecken dienen soll. Wir haben aber gleich
mehrere Sicherungen eingebaut. Wir schließen gesetz-
lich aus, dass die neu geschaffene Infrastruktur zur
Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche genutzt wer-
den kann.
Zudem ist es der SPD gelungen, eine spezialgesetzli-
che Regelung durchzusetzen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Statt einer Anpassung des allgemeinen Telemediengeset-
zes schaffen wir ein eigenständiges Gesetz. Es bleibt
aber, Herr Kollege Stadler, beim Artikelgesetz. Als Jurist
wissen Sie, was ein Artikelgesetz ist: In mehreren Arti-
keln werden mehrere Gesetze angesprochen. Ich erin-
nere an einen Artikel in diesem Gesetz, der erhalten
bleibt. Ich erinnere mich an Debatten, in denen Liberale
moniert haben, dass wir die Änderungen im Telemedien-
gesetz regeln. Nun gilt das Spezialgesetz. Sie müssen
25158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Martin Dörmann
sich schon entscheiden, welche Argumente Sie gelten
lassen wollen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Zugleich befristen wir das Gesetz bis zum
31. Dezember 2012. Danach wird es automatisch auslau-
fen. Nun ist trotzdem die zentrale Befürchtung der Inter-
netcommunity, dass eine Infrastruktur aufgebaut wird,
die später beliebig auf andere Inhalte als Kinderporno-
grafie ausgedehnt werden kann. Diese Sorge ist ange-
sichts einiger Äußerungen, die wir in den letzten Wo-
chen gehört haben, grundsätzlich nachvollziehbar. Aber
ich habe soeben dargelegt: Eindeutiger als wir kann man
gar nicht regeln, dass eine Ausweitung auf andere In-
halte und Ansprüche ausgeschlossen ist. Das regeln wir
gesetzlich.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dafür sind wir
da!)
Ich komme auf einen wichtigen Punkt zu sprechen,
der in der öffentlichen Debatte zurzeit kaum diskutiert
wird, der aber ganz entscheidend ist: Es ist eine Tatsa-
che, dass die Infrastruktur auch ohne Gesetz bereits im
Aufbau ist. Seit dem Frühjahr dieses Jahres gibt es Ver-
träge zwischen dem BKA und den wichtigsten Providern
in Deutschland, die sich zur Einrichtung einer Sperre
verpflichtet haben.
Ich habe das immer für den falschen Weg gehalten.
Deshalb haben wir folgende Situation: Auch ohne Ge-
setz wird es diese Infrastruktur geben, da die Provider
die Verträge pünktlich umsetzen und einhalten werden.
Wenn es aber das Gesetz nicht gibt, dann gäbe es alle da-
tenschutzrechtlichen und verfahrensrechtlichen Siche-
rungen, die wir eingebaut haben, nicht. Das kann nie-
mand ernsthaft wollen, auch die Liberalen nicht.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen ge-
recht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung kin-
derpornografischer Inhalte im Internet und dem Einsatz
für ein freies Internet als Ort der Kommunikation und In-
formation. Ich finde, mit diesem Gesetzentwurf ist uns
das gelungen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass es
hier im Hause eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz
gibt. Denn es dient sowohl der Bekämpfung von Krimi-
nalität als auch der Verteidung von Freiheitsrechten.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Tauss.
Jörg Tauss (SPD):
Herr Kollege Dörmann, nachdem Sie leider nicht be-
reit waren, eine Frage von mir zuzulassen, möchte ich
jetzt darauf hinweisen, dass ich es für eine große Re-
spektlosigkeit gegenüber dem Bundesbeauftragten für
den Datenschutz halte, ihm eine Aufgabe im Rahmen ei-
nes Gesetzes zuzuweisen, das er – das können Sie nach-
lesen – ablehnt.
Im Übrigen sind dem Bundesbeauftragten für den Da-
tenschutz in den letzten Jahren durch die Große Koali-
tion keine zusätzlichen Stellen bewilligt worden. Auch
das ist eine große Respektlosigkeit. Dass man heute sagt,
eine mittlere Behörde habe Weisungen entgegenzuneh-
men, ist Teil dieser Respektlosigkeit und des losen Um-
gangs mit dem Datenschutz in Deutschland.
Darüber hinaus sprechen Sie davon, dass endlich Ver-
träge legalisiert würden. Ich sage Ihnen: Das sind Ver-
träge, die durch Nötigung von Firmen zustande kamen,
denen man gesagt hat: Wenn ihr nicht bereit seid, zu un-
terschreiben, werden wir euch öffentlich durch die
Presse schmieren. – Ich halte es rechtsstaatlich für un-
möglich, einen derartigen Vorgang der Nötigung hinter-
her gesetzlich abzusichern. Das sage ich in aller Klar-
heit. Ich bedaure sehr, dass die Koalition diesen Weg
beschritten hat.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Dörmann.
Martin Dörmann (SPD):
Herr Kollege Tauss, auf die beiden von Ihnen ange-
sprochenen Punkte will ich Ihnen folgende Antwort ge-
ben.
Erstens. Ich erwarte auch Respekt vor dem Gesetzge-
ber. Denn es ist der Gesetzgeber, der die Aufgaben des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Infor-
mationsfreiheit bestimmt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Aus meiner Sicht gehört es gerade zu seinen Aufgaben,
Behörden des Bundes zu kontrollieren. Ich habe das be-
reits ausgeführt.
Zu Ihrem zweiten Punkt. Wir haben nicht vor, irgend-
welche Verträge zu legalisieren. Das ist überhaupt nicht
unsere Motivation. Aber Tatsache ist doch, dass es diese
Verträge gibt. Wir müssen diese Realität zur Kenntnis
nehmen. Ich glaube, es wäre unverantwortlich, wenn wir
an dieser Stelle abwarten würden, bis vielleicht nach län-
gerer Zeit das Bundesverfassungsgericht darüber geur-
teilt hat, ob diese Verträge rechtmäßig sind oder nicht.
Auch ich habe an der Rechtmäßigkeit Zweifel. Aber uns
obliegt es, die Internetnutzerinnen und -nutzer an dieser
Stelle zu schützen.
Ich habe in meinem Redebeitrag schon ausgeführt,
dass wir alle Kritikpunkte, die sich aus der Anhörung er-
geben haben und die den Schutz der Bürgerinnen und
Bürger betreffen, aufgenommen haben. Ich würde mir
wünschen, dass in der öffentlichen Debatte diese Punkte
angemessen berücksichtigt würden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25159
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich,
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zugangserschwerungsgesetz: So müsste es eigentlich
heißen. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken brau-
che ich mich nicht mehr zu äußern; sie sind vom Kolle-
gen Stadler zutreffend beschrieben worden.
Eine neue Verpackung ändert nicht unbedingt den In-
halt. Das Gesetz hat nur einen neuen Namen. Dass es
sich um ein Spezialgesetz handelt, ändert nichts an der
Tatsache, dass es ausgeweitet werden kann oder dass
weitere Spezialgesetze folgen könnten.
Angeblich soll Löschung vor Sperrung erfolgen. Je-
doch ist dies weitestgehend in das Ermessen des Bundes-
kriminalamtes gestellt. Es heißt nämlich dazu: wenn
nicht in angemessener Zeit erfolgversprechend eine Lö-
schung erfolgen kann. Oder: Die Betreiber sollen in der
Regel nur benachrichtigt werden, wenn der Aufwand zu-
mutbar ist. Das sind alles Formulierungen, die vom BKA
auszulegen und zu definieren sind.
Eine rechtsstaatliche Kontrolle der Sperrlisten findet
nicht statt. Das ist schon angesprochen worden. Die
quartalsmäßige Stichprobenprüfung durch ein Gremium
von fünf Personen, von denen drei Volljuristen sein müs-
sen bzw. die Befähigung zum Richteramt haben müssen
– das ist hier vom Kollegen Dörmann betont worden –,
soll uns eine richterliche Kontrolle vorgaukeln. Mit
Rechtsstaat hat dies alles wenig zu tun. Es ist pure Au-
genwischerei.
(Beifall bei der LINKEN)
Angesiedelt werden soll dieses Gremium beim Bun-
desbeauftragten für den Datenschutz, wobei dieser selbst
sagt, dass dieses Gesetz mit Datenschutz nichts zu tun
hat. Noch vor zwei Tagen hat er dafür plädiert, die Ver-
abschiedung dieses Gesetzes zu vertagen. So viel dazu.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben eine demokratische Verfassung. Demokra-
tische Verfassungen werden nun einmal nicht unter der
Prämisse gemacht, dass Menschen im Zweifel immer
das Richtige tun. Deswegen dürfen Polizisten keine Ver-
brecher verurteilen. Deswegen unterliegen Geheim-
dienste der parlamentarischen Kontrolle. Deswegen dür-
fen Polizeibehörden nicht darüber entscheiden, was
publiziert werden darf und was nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich denke, die Regierung und die Koalition haben, je-
denfalls in weiten Teilen, ein Problem mit dem Verständ-
nis des Internet. So wie wir mit dem Telefon groß ge-
worden sind, so sind die nachfolgenden Generationen
mit dem Internet groß geworden. Frau Zypries fragte
neulich: Was sind noch mal Browser? – Ich möchte es
für die Regierung und die Koalition einmal auf eine ver-
ständliche Ebene bringen; auch im Ausschuss habe ich
es schon versucht. Man stelle sich ein Gesetz mit folgen-
dem Inhalt vor: Ein Buch, ja jedwedes Druckwerk – Pros-
pekt, Flugblatt –, muss vor Erscheinen dem BKA vorge-
legt werden, welches dann entscheidet, ob es erscheint
oder nicht. Wenn es nicht erscheint, kommt es auf ge-
heime Sperrlisten. Was für ein Aufschrei ginge da durch
die Republik! Ich denke, er wäre lauter als jetzt, wo
135 000 Petitionen gegen das vorliegende Gesetz einge-
gangen sind.
Ich fasse zusammen: Es fehlt die Zuständigkeit des
Bundes. Es fehlt eine rechtsstaatliche Kontrolle. Es fehlt
die Verhältnismäßigkeit. Es fehlt die Verfassungsmäßig-
keit. Es fehlt der Schutz der Opfer. Stattdessen werden
möglicherweise Täter gewarnt. Alles in allem wird das
Gesetz das Tor zur Internetzensur öffnen. Für den angeb-
lichen Zweck, für den es ursprünglich vorgesehen war
– Kampf gegen Kinderpornografie im Internet –, ist es
jedoch völlig ungeeignet.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jörg
Tauss [SPD])
Seit November 2008 weiß unsere Familienministerin,
was Kinderpornografie bedeutet. Seitdem ist sie nicht in
der Lage, etwas gegen diese Abscheulichkeiten zu tun,
von der Zeit davor einmal ganz zu schweigen. Im Übri-
gen sind die von ihr angeführten Behauptungen zur Ver-
breitung im Internet – Geschäft mit Kinderpornografie
usw. – nicht belegbar, weder vom Bundeskriminalamt
noch von ihrem eigenen Haus, dem Familienministe-
rium, selbst. Auch die taz berichtet am 15. Juni 2009
darüber. Es sollten die Ursachen abgestellt werden, statt
in einem hyperaktiven Aktionismus zu versuchen, Sym-
ptome zu behandeln.
Es geht: Im Rheinischen Merkur vom heutigen Tag
steht, wie man ohne Sperrung eine Löschung erreichen
kann. Auf privater Ebene sind Betreiber von Servern an-
geschrieben worden, von denen solche Seiten auf Listen
aus den skandinavischen Ländern aufgetaucht sind, und
binnen zwölf Stunden sind 60 Seiten abgeschaltet wor-
den. Es geht also. Aber zum Beispiel die Regierung oder
die Polizei haben Befindlichkeiten, direkt Kontakt mit
irgendwelchen Betreibern aufzunehmen, aus Höflichkeit
anderen Polizeistellen im Ausland gegenüber. Ich denke,
daran sollte man einmal arbeiten.
(Beifall bei der LINKEN)
Kinderpornografie, sexueller Missbrauch von Kin-
dern, eines der schlimmsten Verbrechen, gilt es zu be-
kämpfen, auf allen Ebenen und mit allen zur Verfügung
stehenden rechtsstaatlichen Mitteln. Dieses Gesetz ist
ein Placebo. Es entfaltet in diesem Kampf keine Wir-
kung, greift aber in Bürger- und Freiheitsrechte ein,
schafft die Struktur für Internetzensur – das hat auch
Frau Krogmann dargelegt – und kann deshalb nur abge-
lehnt werden.
Wenn der Kollege Bosbach – ich sehe ihn im Moment
nicht – immer wieder behauptet, angeblich niemanden
zu kennen, der eine weitergehende Zensur verfolgt, dann
braucht er sich nur in seiner eigenen Fraktion und bei der
SPD umzuschauen; da wird er schnell fündig.
25160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Jörn Wunderlich
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jörg
Tauss [SPD])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-
ben es während der gesamten Debatte über dieses Gesetz
gesagt und auch an den Anfang unseres Entschließungs-
antrages gestellt: Der sexuelle Missbrauch von Kindern
durch Erwachsene und seine Verwertung durch die Her-
stellung von Kinderpornografie ist ohne jede Frage eine
der widerwärtigsten Formen von Kriminalität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
Die Opfer erleiden physische und psychische Schäden,
unter denen sie in der Regel ihr Leben lang zu leiden ha-
ben.
Weil dies alles so unerträglich ist, haben wir Grünen
seit Jahr und Tag den Kampf gegen Kinderpornografie
geführt. Wir haben vor mehr als 20 Jahren im Rahmen
der „PorNo“-Kampagne von Emma entsprechende Hefte
aus einschlägigen Läden geholt und die Strafverfol-
gungsbehörden sozusagen zum Jagen getragen. Deswe-
gen sage ich ganz bewusst, auch wegen einiger Unter-
töne, die in den letzten Tagen zu hören waren: Wir als
Grüne brauchen uns in der Frage der Ächtung und der
Bekämpfung von Kinderpornografie vor niemandem
hier im Saal zu verstecken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Bevor wir hier über Sperren – das ist nur ein Vorhang
vor dem geschehenen Verbrechen – reden, das Vordring-
liche zur Erinnerung: Wir brauchen eine Verstärkung der
Prävention, die Verhinderung von Missbrauch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
KEN)
Wir brauchen die Beschlagnahme, Vernichtung und Lö-
schung von kinderpornografischem Material. Wir brau-
chen die Strafverfolgung der Täter und eine intensive
Hilfe für die Opfer. Das ist das Entscheidende.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord-
neten der CDU/CSU und der LINKEN)
Nur in dieser Abstufung reden wir auch über Sperren.
Wir haben vor zwei Tagen, Herr Kollege Dörmann,
formell und materiell einen völlig neuen Gesetzentwurf
vorgelegt bekommen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Weil wir ihn ge-
ändert haben, ja! – Ulrike Flach [FDP]: So ist
es!)
Ich gebe zu: Er ist an entscheidenden Stellen verbessert
worden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aber wenn Sie einem Gesetzentwurf von zumindest sie-
ben Giftzähnen zwei ziehen, dann können Sie doch nicht
erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es
sind alle sieben gezogen worden!)
Sie können vor allen Dingen nicht erwarten, dass wir
diesem Schweinsgalopp, der nur in der Gesichtswahrung
der Familienministerin begründet ist, in den letzten
Stunden unsere Weihe, unsere Legitimation erteilen. Wir
denken nicht daran.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
KEN)
Was bleibt als Mangel? Es gibt erkennbar keine Zu-
ständigkeit des Bundes. Es geht doch hier nicht um das
Recht der Wirtschaft. Es sei dem Herrn Schauerte ge-
gönnt, dass er einmal nicht bei Debatten über Bad
Banks, Arcandor und Opel zuhören muss, sondern nun
auch bei Debatten über Kinderpornografie zuhören darf.
Mehr Aktivitäten sind ja gar nicht zu sehen. Nach dem
Inkrafttreten dieses Gesetzentwurfes hat er nichts mehr
damit zu tun. Er ist kein Verordnungsgeber. Dies ist ein
schierer Missbrauch. Das, was Sie von der Bundesregie-
rung immer im Hinblick auf die EU beklagen, indem Sie
sagen, es gehe oft um Strafverfolgung und nicht um den
Binnenmarkt, machen Sie hier in einem extremen Fall.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg.
Jörg Tauss [SPD])
Ein reines Polizeigesetz wird unter der Flagge „Wirt-
schaftsrecht“ durchgesetzt.
Natürlich gibt es keine Zuständigkeit für das BKA.
Wir haben dem BKA nach dreijährigem Ringen über
eine Verfassungsänderung die Möglichkeit der Präven-
tivkompetenz beim länderübergreifenden internationalen
Terrorismus gegeben. Dies betrifft nur einen Punkt; an-
sonsten hat es diese nicht. Das alles wird hier unter der
Hand gleich mitbeschlossen.
Wir haben in der ersten Lesung gefragt – das ist ein
weiterer Mangel –: Gibt es keine Richter mehr in
Deutschland? Nun schreiben Sie, bei Streitigkeiten sei
der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Das stehe in der
Verfassung. Man kann auch Überflüssiges, wenn es denn
richtig ist, in ein Gesetz schreiben. Nur, das löst das Pro-
blem nicht. Sie wollen offenbar in Form von Verwal-
tungsakten vorgehen. Das ist schon ein Fortschritt im
Vergleich zur Ministerin, die hier eine Vertragsgestal-
tung vorsehen wollte. Nur, dann müssen Sie konsequent
sein: Dann müsste es auch die Möglichkeit der Anhö-
rung und des Widerspruchsverfahrens geben. Dann
müssten Sie Verwaltungsverfahren gelten lassen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25161
(A) (C)
(B) (D)
Wolfgang Wieland
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das tun Sie aber nicht.
Sie haben noch nicht einmal den Datenschutzbeauf-
tragten angehört; so anhörungsfreundlich sind Sie. Er hat
das Ganze aus der Zeitung erfahren. Er weiß seit zwei
Tagen von seinem Glück, genauer gesagt: von seinem
Unglück; denn als unabhängiger Beauftragter für Daten-
schutz und Informationsfreiheit – darauf legt er Wert –
soll er Teil eines kontinuierlich, ständig arbeitenden
Kontrollinstrumentariums werden, um gerade diese In-
formationsfreiheit einzuschränken. Das ist ein Miss-
brauch seiner Stellung, und er wehrt sich zu Recht dage-
gen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
KEN und des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Warum brauchen Sie fünf Menschen für ein Experten-
gremium beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz
und die Informationsfreiheit? Warum brauchen Sie einen
zwangsverpflichteten Datenschutzbeauftragten? Ein
Richter würde ausreichen – aber davor drücken Sie sich –,
der das Ganze anordnet, wie es auch sonst im Polizeirecht
üblich ist, wenn in die Rechtssphäre der Bürger relevant
und nicht zufällig eingegriffen wird. Warum gehen Sie
diesen Schritt nicht? Das müssen Sie uns erklären
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
und sollten hier nicht gegen Peter Schaar herumpolemi-
sieren.
Frau Präsidentin, abschließend ist festzustellen: Auch
für uns ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Das ha-
ben wir immer gesagt. Strafverfolgung muss dort statt-
finden. Gerade weil die Stimmen schon laut werden
– von Thomas Strobl aus CDU/CSU-Fraktion und von
Herrn Wiefelspütz aus der SPD-Fraktion, der sich mal
wieder einmal so und einmal so äußert –, die sagen, dass
sie mehr wollen, dass es natürlich Gesetzesänderungen
geben wird,
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das stimmt doch
gar nicht!)
dass es ein Trommelfeuer an Gesetzesänderungen geben
wird, sagen wir:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Wieland.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aber
auch nicht zum bürgerrechtsfreien Raum verkommen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Michaela Noll, CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michaela Noll (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte jetzt ungefähr eine halbe Stunde
Zeit, das Sammelsurium aus Reden, in denen von einem
Trommelfeuer die Rede war, und Reden, in denen vom
Land der Propheten gesprochen wurde, zu genießen.
Ich komme zunächst zum Land der Propheten. Kol-
lege Dr. Stadler, ich muss Sie leider ansprechen: Können
Sie hellsehen? Warum nehmen Sie das Ergebnis der
Evaluierung vorweg? Wenn Sie schon jetzt sagen kön-
nen, dass die Maßnahmen, die wir beschließen, nichts
bringen, dann sind Sie uns weit voraus.
Nächster Punkt: Sie haben die internationale Zusam-
menarbeit angesprochen. An dieser Stelle erlaube ich
mir den Hinweis, dass im Mai 2009 infolge einer BKA-
Initiative eine Regionalkonferenz stattgefunden hat, auf
der man noch einmal gesagt hat, dass man die internatio-
nale Zusammenarbeit verbessern will.
Nächster Stichpunkt: Verfassungsklage. Gott sei
Dank war auch ich bei der Anhörung und habe den ent-
sprechenden Fragestellern folgen können. Die Antwor-
ten waren zum Teil sehr unterschiedlich. Sie, Kollege
Stadler, befinden sich zwar auf der Schiene der jungen
Dame, die die Initiative zur Onlinepetition ergriffen hat,
aber das heißt noch lange nicht, dass das richtig ist.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
Das Gleiche gilt für die Gefahr, die Sie am Horizont
aufziehen sehen, dass wir eine Sperrinfrastruktur auf-
bauen wollen. Entschuldigung, dazu kann ich nur sagen:
Ein kleiner Blick in das Spezialgesetz genügt. Darin
steht ausdrücklich, dass sich das Gesetz nur auf Kin-
derpornografie bezieht. Eine andere Intention verfolgen
wir nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Hier wurde permanent der Vorwurf in den Raum ge-
stellt, der Bundesdatenschutzbeauftragte sei vorher nicht
informiert worden. Welche Funktion hat er denn? Er soll
doch nur das Gremium bestellen. Das Gremium ent-
scheidet letztendlich.
Warum sprechen wir hier permanent über Risiken und
Nebenwirkungen? Warum sprechen wir nicht einfach
einmal über die Chancen, die dieses Gesetz bietet?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/
CSU]: Kinderschutz!)
Warum meinen Sie, hier sagen zu können, dass das, was
all die anderen Länder machen, falsch ist? Schweden,
Norwegen und andere Länder haben ein solches Gesetz
schon seit 2004. Dort wurde die Diskussion nicht in der
Art geführt wie bei uns. Über 130 000 Leute haben die
Onlinepetition unterschrieben. Ich frage mich, warum
wir uns bei einem Thema verweigern, das so brisant ist,
25162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Michaela Noll
bei dem es darum geht, Kinder im Internet besser zu
schützen. Wir können doch noch gar nicht beurteilen, ob
die Maßnahme tatsächlich hilft. Warum versuchen wir
nicht, in einem befristeten Zeitraum festzustellen, ob die
Maßnahme etwas bringt? Ich kann das Gezeter an die-
sem Punkt nicht verstehen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Kollege Dörmann, ich war sehr froh darüber, dass Sie
eben einen kleinen Hinweis auf Frau Kuhnen gegeben
haben, die in unserer Anhörung war. Ich kann jedem
Zweifler und jedem Kritiker nur raten, das Buch Kin-
derpornographie und Internet zu lesen. Darin hat sie
explizit gesagt, wie wichtig es ist, den Zugriff zu verhin-
dern. Sie hat sich mit den Tätern und den Täterprofilen
beschäftigt. Keiner von uns stellt sich hier hin und sagt,
dass man die Sperre nicht umgehen kann. Das ist in an-
deren Ländern genauso. Trotzdem hat man dort gesagt,
dass man sie weiterhin nutzt und das Gesetz nicht blo-
ckiert. Warum ist in Deutschland die Akzeptanz für ein
so wichtiges Gesetz so gering? Das kann ich als Fami-
lienpolitikerin nicht ansatzweise nachvollziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Peter Struck [SPD])
Wir haben gerade in dieser Legislaturperiode unheim-
lich viel für den Schutz von Kindern in Deutschland ge-
macht. Wir haben die frühen Hilfen in Gang gebracht,
und wir haben familiengerichtliche Eingriffsmöglichkei-
ten geschaffen. Wir vertun hier eine Chance. Ich sage Ih-
nen eines: Die Menschen draußen werden das nicht ver-
stehen.
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
[CDU/CSU] – Johannes Singhammer [CDU/
CSU]: So ist es! Darum machen wir das!)
Frau Kollegin Krogmann war Gott sei Dank so nett,
auf die Allensbach-Studie zu verweisen. 91 Prozent der
Menschen über 16 Jahren, die zu diesem Thema befragt
worden sind, halten das Gesetz für wichtig. Es gibt nur
9 Prozent Gegner. Das ist die sogenannten Onlinecom-
munity. Die gibt es, aber sie stellen nicht die Masse der
Menschen dar; und sie zweifeln lediglich daran, dass die
Maßnahme wirksam ist. Deswegen sagen wir: Wir be-
fristen das Ganze und schauen uns die Maßnahmen an.
Können Sie heute schon sagen, wie sich das Internet in
drei Jahren weiterentwickelt haben wird? Ich maße mir
dieses Urteil nicht an.
Ich hätte mich gefreut, wenn aus diesem Plenum
heute das Votum gekommen wäre, dass wir etwas für ei-
nen besseren Schutz für Kinder im Internet tun. Diese
Chance haben die Kritiker vertan.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Renate Gradistanac, SPD.
(Beifall bei der SPD)
Renate Gradistanac (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute betreten wir Neuland. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion hat sich mit ihrer Forderung nach einem
Spezialgesetz durchgesetzt. Darüber bin ich sehr froh. In
meiner letzten Rede habe ich gefordert – Herr Stadler, si-
cherlich erinnern Sie sich –,
(Dr. Max Stadler [FDP]: Ja!)
dass wir nicht nur das Telemediengesetz ergänzen, son-
dern auch ein eigenes Gesetz beschließen. Indem wir so
vorgehen, machen wir deutlich – das ist mir wichtig –:
Was die Regierungen nach uns machen, liegt in deren
Verantwortung. Wir zumindest wollen nicht, dass es zu
einer Ausweitung der Anwendung dieses Gesetzes auf
andere Inhalte kommt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Eines sollten wir hervorheben: Wir haben die Ergeb-
nisse der beiden Anhörungen sorgfältig ausgewertet und
die meisten Forderungen der kritischen Experten aufge-
nommen. Uns zeichnet aus, dass wir vor allem kritische
Expertinnen und Experten zu den Anhörungen eingela-
den haben.
Eine Forderung, die wir aufgenommen haben – ich
hätte nicht gedacht, dass uns dies gelingt –, lautete: Lö-
schen vor Sperren! Schließlich sollte es uns in erster Li-
nie darum gehen, kinderpornografische Seiten aus dem
Internet zu entfernen, und nicht nur darum, den Zugang
zu ihnen zu erschweren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP)
Eine andere Forderung lautete: Keine Weitergabe von
Daten durch die Internetwirtschaft! Damit wollen wir
den Missbrauch von Daten verhindern. Wichtig ist mir
darüber hinaus, dass wir die Kontrolle der BKA-Liste
gewährleisten.
Meine Damen und Herren, da es sich um einen sen-
siblen Bereich handelt, haben wir dieses Gesetz bewusst
befristet. Schon nach zwei Jahren erwarte ich, erwarten
viele von uns eine sorgfältige Evaluation.
Ich möchte daran erinnern, dass wir die Verträge der
Zugangsanbieter mit dem BKA, die auf vertraglicher
Grundlage in die Grundrechte ihrer Kunden eingreifen,
auf eine rechtsstaatliche Grundlage stellen. Das haben
übrigens auch die Vertreter der Internetwirtschaft in der
Anhörung gefordert bzw. erbeten. Ich halte diesen
Schritt allein aus verfassungsrechtlicher Sicht für gebo-
ten.
Als Kinder- und Jugendpolitikerin habe ich an zwei
Weltkongressen gegen kommerzielle sexuelle Ausbeu-
tung von Kindern und Jugendlichen teilgenommen. Der
Schutz der Kinder umfasst übrigens alle Menschen bis
zum Alter von 18 Jahren. Hier haben wir also noch eine
Zukunftsaufgabe vor uns.
In Yokohama haben wir im Jahr 2001 erstmals die
Bedeutung der Verbreitung von Kinderpornografie im
Internet thematisiert. In der Globalen Verpflichtung von
Yokohama hat die damalige rot-grüne Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25163
(A) (C)
(B) (D)
Renate Gradistanac
zugesagt, geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der
Kinderpornografie im Internet zu ergreifen. An diese Zu-
sage haben wir uns gehalten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Unter Rot-Grün wurde der erste Nationale Aktions-
plan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Gewalt und Ausbeutung aufgelegt. Wir haben
bestehende Handlungsdefizite beseitigt und unter ande-
rem das Strafrecht verschärft. Darüber sind wir heute
froh.
Beim Dritten Weltkongress gegen kommerzielle se-
xuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Rio
im November 2008 und bereits im Vorfeld haben wir
darauf hingewiesen, dass wir uns insbesondere den
neuen Medien und dem Internet zuwenden werden. Herr
Staatssekretär, damals habe ich gefordert: Zeigen Sie uns
einmal den vorhandenen Instrumentenkasten! – Schließ-
lich ging es, ähnlich wie bei der Bekämpfung der gegen-
wärtigen Finanzkrise, darum, geeignete Instrumente zur
Hand zu haben, damit wir uns inhaltlich kompetent auf-
stellen können. All das spiegelt sich übrigens im Pakt
von Rio und in seinem Abschlussdokument wider. Es
lohnt sich, das nachzulesen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz, um das es
heute geht, verstehe ich als ein Präventionsgesetz, das
auf den Zugang zu kinderpornografischen Inhalten im
Internet beschränkt ist. Herr Staatssekretär, ich freue
mich, dass Sie hier sind. Allerdings würden wir uns alle
noch mehr freuen, wenn auch die Ministerin hier wäre.
Es ist schade, dass sie an dieser Diskussion nicht teil-
nimmt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des
Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
Ich erwarte, dass Frau Ministerin nach diesem Schritt
jetzt ein Gesamtkonzept vorlegt; denn dieser Schritt al-
leine ist für uns von der SPD nicht ausreichend und nicht
zielführend genug.
(Beifall bei der SPD)
Wir brauchen ein konsequentes Gesamtkonzept und
keine einmaligen Signale oder symbolischen Schnell-
schüsse, die sie ja gut kann.
Zumindest wir von der SPD haben unsere Hausaufga-
ben gemacht. Wir haben einen umfassenden Zehn-Punkte-
Plan beschlossen.
Außerdem fordern wir einen weiteren Aktionsplan,
der Prävention und Opferschutz stärkt, Maßnahmen ge-
gen Kinderhandel und Kinderprostitution intensiviert,
Medienkompetenz verbessert, Zielvorgaben für die Tou-
rismuswirtschaft – die immer noch glaubt, an dieser
Stelle nichts tun zu müssen – setzt usw.; die personelle
und die technische Ausstattung sind heute schon genannt
worden. Hier sind auch die Länder gefordert. Wir wollen
eine bessere internationale Zusammenarbeit und Vernet-
zung. Außerdem möchten wir – das wird jetzt meine
SPD freuen – mit dem Aktionsplan auch die Kinder-
rechte im Grundgesetz verankern. Nur wenn sie in die
Verfassung aufgenommen werden, wird ein Gesamtkon-
zept daraus.
(Beifall bei der SPD)
Nachdem wir die Verträge mit der Internetwirtschaft
abgeschlossen haben und heute in zweiter und dritter Le-
sung ein Spezialgesetz beschließen, erwarte ich von Ih-
nen, Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, dass Sie in der
nächsten und damit letzten Sitzungswoche einen Ak-
tionsplan vorlegen –
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin.
Renate Gradistanac (SPD):
– das ist der letzte Satz –, der auch ausreichend finan-
ziell unterlegt wird. Nur Pläne reichen nicht. Frau Minis-
terin – Sie werden ja sicher meine Rede nachlesen –, erst
dann haben wir wirklich etwas für den Schutz unserer
Kinder getan.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderporno-
graphie in Kommunikationsnetzen.
Zu dieser Abstimmung liegen mir eine Unmenge von
persönlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäft-
sordnung vor.1) Herr Kollege Tauss möchte seine Erklä-
rung persönlich vortragen. Ich werde dies am Ende der
Abstimmung zulassen.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13411, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12850
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Auf Verlangen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen stimmen wir über den Gesetz-
entwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
1) Anlagen 9 bis 15
25164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Sind noch Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimme nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in
Kommunikationsnetzen. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13411, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, Drucksachen 16/13125 und
16/13385, für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Jetzt gebe ich das Wort zu einer persönlichen Erklä-
rung dem Kollegen Jörg Tauss.
Jörg Tauss (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich stimme gegen dieses Gesetz – zwischenzeitlich muss
man sagen: Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt –,
weil es mit dem eigentlichen Titel nichts zu tun hat. Das
Ziel, die Bekämpfung der Kinderpornografie, war – ent-
gegen allen Unterstellungen und juristischen Ermittlun-
gen, die gegen mich laufen – 15 Jahre lang meine An-
triebsfeder, mich intensiv mit dem Internet zu
beschäftigen.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, nicht weil ich
das Ziel nicht vorbehaltlos unterstützen würde, sondern
weil es in der Tat so ist – Frau Kollegin Krogmann, ich
habe Ihre Einwände an dieser Stelle nicht verstanden –,
dass mit diesem Gesetz erstmals nach 1949 im freien
Teil Deutschlands Überwachungsstrukturen geschaffen
werden.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, weil es Kin-
derpornografie nicht verhindert. Das ist eine der großen
Legenden, die von der Ministerin – ich finde es schade,
dass sie nicht da ist – leider aufgebaut worden sind. Sie
hat bei allen Anfragen, die es gab – beispielsweise von
der FDP-Fraktion –, gesagt, es lägen ihr keine Erkennt-
nisse vor. Ich finde: Wenn man keine Erkenntnisse hat,
sollte man an der Debatte teilnehmen; das wäre das Min-
deste, was man verlangen kann.
(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Das „Stopp!“-Signal, das erscheinen soll, wenn man
auf eine indizierte Seite geht, ermöglicht es Tätern bzw.
Verbreitern erst, festzustellen, ob sie geoutet sind und die
Adresse wechseln müssen. Der Bund Deutscher Krimi-
nalbeamter hat zu Recht festgestellt: Durch dieses Ge-
setz wird die Suche nach Tätern erschwert. Das heißt,
genau das, was Sie eigentlich wollen, Frau Kollegin Noll
– eine Zielsetzung, die wir alle haben –, wird dadurch
verhindert.
1) Ergebnis Seite 25165 C
Ich bin sehr betrübt darüber, dass man nur eine ein-
zige Sachverständige zitiert hat. Alle anderen Sachver-
ständigen wie Professor Sieber vom renommierten Max-
Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht haben auf die erheblichen rechtlichen und
technischen Probleme verwiesen. Er war es, Frau Kolle-
gin Krogmann, der den Dialog, den Sie einfordern, erst
angeregt hat. In der Tat: Man hätte einen Dialog führen
müssen, bevor man zu einem solchen Gesetz kommt.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, weil es die
Gewaltenteilung aufhebt. Zum ersten Mal ist es so, dass
die Exekutive selbst kontrolliert. Die Stelle beim Bun-
desdatenschutzbeauftragten ist – dazu habe ich schon et-
was gesagt – nicht geeignet, die entstehenden Probleme
zu lösen.
Es geht hier ganz offensichtlich nur darum, am BKA-
Gesetz vorbei Kompetenzen und Stellen für das BKA zu
schaffen. Wenn ich bedenke, wie viele Gesetze dieser
Koalition in den letzten Jahren vor dem Bundesverfas-
sungsgericht gescheitert sind, muss ich sagen: Ich hätte
mir gewünscht, dass man nicht einfach sagt: „Verfas-
sungsrechtlich ist alles prima“, sondern dies gründlich
prüft.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, weil damit,
wie gesagt, Überwachungsstrukturen geschaffen wer-
den. Das Wall Street Journal hat gestern – zu Unrecht,
wie ich meine; aber immerhin; es zeigt, dass darüber in-
ternational debattiert wird – Deutschland in einem
Atemzug mit China und Iran genannt. Das halte ich für
außerordentlich problematisch. Doch wer sich darüber
aufregt, der möge in das Gesetz schauen. Es ist so, dass
die Provider jetzt gezwungen sind, mit der Polizei über
die technische Richtlinie zu verhandeln. Wenn man
weiß, wie die Verträge den Providern abgenötigt worden
sind – in einer Form, über die ich vorhin ebenfalls schon
geredet habe –, kann man, glaube ich, deutlich machen,
wie die Problematik ist: Hier wird missbrauchbare Tech-
nik bereitgestellt – missbrauchbare Technik, die von al-
len Diktaturen dieser Welt dankbar entgegengenommen
werden kann. Das ist verantwortungslos.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, weil die
Technik in den geschlossenen Zirkeln von Kinderporno-
grafen nicht funktioniert, aber in vielen Teilen der Welt
in der Lage ist, Demokratie und Freiheit herauszufiltern.
Ich habe dagegen gestimmt, weil jetzt nachträglich Ver-
träge, die auf eine Art und Weise zustande gekommen
sind, wie ich es zum Ausdruck gebracht habe, mit einem
Gesetz legitimiert werden sollen.
Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt, weil es gegen
den Rat und die Warnungen fast aller Sachverständigen
– zumindest der großen Mehrheit der Sachverständigen –
zustande gekommen ist. Es gibt die Petition der 134 000,
über die heute Abend wohl kalt wie Hundeschnauze hin-
weggegangen wird. Die Stimmen dieser 134 000 und
vieler anderer junger Menschen, die heute angesichts
dieses Projekts resigniert zurückbleiben, will ich – wohl
als einer der wenigen Abgeordneten der Großen Koali-
tion – nicht mit Füßen treten. Ich habe gegen das Gesetz
gestimmt. Ich resigniere nicht vor ministerieller Inkom-
petenz. Kämpft bitte ebenfalls weiter gegen Zensurinfra-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25165
(A) (C)
(B) (D)
Jörg Tauss
enthalten: 18 Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Ja Maria Eichhorn Jürgen Herrmann Dr. Norbert Lammert
struktur! Nie kämpft es sich
Recht! Deswegen habe ich da
Löschen statt Sperren w
heute passiert, ist eine Fehl
Grünen, denen ich auch für d
lichen Abstimmung danke, n
nicht mehr darum, dass da
Raum sei; hier geht es nur no
zunehmend und mit immer m
den in den letzten Jahren ve
künftig zu erwarten, wie die
zeigen – zu einem bürgerre
werden soll.
Ich habe meiner Fraktion g
bar, dass ich – –
Vizepräsidentin Dr. h. c
Herr Kollege Tauss, die fü
liche Erklärung sind zu Ende
Jörg Tauss (SPD):
Ja, die Zeit ist rum. Es wa
in diesem Parlament. Das h
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 535;
davon
ja: 389
nein: 128
schlecht für Freiheit und
gegen gestimmt.
äre die Devise. Das, was
entwicklung. Ich kann den
ie Beantragung der nament-
ur zustimmen: Hier geht es
s Internet ein rechtsfreier
ch darum, dass das Internet
ehr Maßnahmen – sie wur-
rschärft, und sie sind auch
Zitate von Strobl und Co.
chtsfreien Raum gemacht
esagt, ich bin relativ dank-
. Susanne Kastner:
nf Minuten für Ihre persön-
.
r meine letzte Anmerkung
at sicherlich viele gefreut.
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Umgekehrt möchte ich, Frau
allerdings sagen: Es hat an ei
macht. Wir haben viel bewirk
und Forschung. Denen, mit d
arbeitet habe, kann ich nur s
Bereichen erfolgreich.
Aber dieses Gesetz halte
fällt mir mein Abschied aus
durchaus auch leicht. Trotzd
Gute!
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordnet
CSU, der FDP un
Vizepräsidentin Dr. h. c
Ich gebe das von den Sch
führern ermittelte Ergebnis d
mung über den Entwurf eine
der Kinderpornographie in K
kannt. Abgegebene Stimme
stimmt 389, mit Nein haben g
18. Der Gesetzentwurf ist ang
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Präsidentin, an dieser Stelle
nigen Stellen auch Spaß ge-
t für Bildung, Wissenschaft
enen ich gut zusammenge-
agen: Wir waren in diesen
ich für betrüblich. Insofern
dem Deutschen Bundestag
em Ihnen persönlich alles
en der SPD, der CDU/
d der LINKEN)
. Susanne Kastner:
riftführerinnen und Schrift-
er namentlichen Abstim-
s Gesetzes zur Bekämpfung
ommunikationsnetzen be-
n 535. Mit Ja haben ge-
estimmt 128, Enthaltungen
enommen.
Dr. Rolf Koschorrek
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
25166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Silvia Schmidt (Eisleben)
Renate Schmidt (Nürnberg)
Heinz Schmitt (Landau)
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25167
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Karl Addicks Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Gert Winkelmeier
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Wir setzen die Abstimm
ßungsanträgen fort. Wer stim
antrag der Fraktion der FDP a
Wer stimmt dagegen? – Enth
ßungsantrag ist mit den Stim
genstimmen der Opposition a
Wer stimmt für den Ents
tion Die Linke auf Drucksach
dagegen? – Enthaltungen? –
ist mit den Stimmen der Ko
Bündnis 90/Die Grünen und F
Fraktion Die Linke abgelehnt
Wer stimmt für den Ents
tion Bündnis 90/Die Grünen a
Wer stimmt dagegen? – Enth
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
ungen mit den Entschlie-
mt für den Entschließungs-
uf Drucksache 16/13469? –
altungen? – Der Entschlie-
men der Koalition bei Ge-
bgelehnt.
chließungsantrag der Frak-
e 16/13471? – Wer stimmt
Der Entschließungsantrag
alition bei Enthaltung von
DP gegen die Stimmen der
.
chließungsantrag der Frak-
uf Drucksache 16/13470? –
altungen? – Der Entschlie-
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
ßungsantrag ist mit den Stim
genstimmen der Opposition a
Ich rufe die Tagesordnung
a) Beratung der Großen
Birgit Homburger, Elk
weiterer Abgeordneter
Die Bundeswehr –
Streitkraft?
– Drucksachen 16/996
b) Beratung der Beschlu
richts des Verteidigu
schuss)
SPD
Ulrich Kasparick
Ottmar Schreiner
Wolfgang Spanier
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Hans Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Kerstin Müller (Köln)
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Dr. Harald Terpe
men der Koalition bei Ge-
bgelehnt.
spunkte 10 a bis 10 c:
Anfrage der Abgeordneten
e Hoff, Dr. Rainer Stinner,
und der Fraktion der FDP
Eine aufgabenorientierte
2, 16/12681 –
ssempfehlung und des Be-
ngsausschusses (12. Aus-
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster) Dr. Rainer Stinner Alexander Ulrich Enthalten
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Nein
CDU/CSU
Jochen Borchert
SPD
Steffen Reiche (Cottbus)
Jörg Tauss
Dr. Wolfgang Wodarg
FDP
Jens Ackermann
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Monika Knoche
Jan Korte
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
25168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstel-
len – Wehrpflicht aussetzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Kai Gehring, Alexander Bonde, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wehrpflicht überwinden – Freiwilligen-
armee aufbauen
– Drucksachen 16/393, 16/6393, 16/7432 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Birgit Homburger
Paul Schäfer (Köln)
Winfried Nachtwei
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Elke
Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Attraktivität des Soldatenberufes steigern
– Drucksachen 16/2836, 16/5352 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)
Rolf Kramer
Birgit Homburger
Paul Schäfer (Köln)
Winfried Nachtwei
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Birgit Homburger, FDP.
(Beifall bei der FDP)
Birgit Homburger (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Deutsche BundeswehrVerband hat im April 2007
eine vielbeachtete Umfrage durchgeführt, in der
74 Prozent der Berufssoldaten mitteilten, sie würden ih-
nen Nahestehenden den Dienst in der Bundeswehr nicht
empfehlen. Diese Umfrage wurde vom Verteidigungsmi-
nister abgetan. Sie hätte vielmehr als Stimmungsbaro-
meter ernst genommen werden müssen. Denn die Situa-
tion hat sich seither noch verschärft. Das zeigen die
Berichte des Wehrbeauftragten und auch schlicht die
Fakten, beispielsweise die Abnahme der Bewerberzah-
len um 15 Prozent in allen Laufbahnen im Jahr 2007
oder massive Kündigungen von Berufssoldaten, insbe-
sondere von Ärzten und Piloten.
Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion in einer
Großen Anfrage die Möglichkeit genutzt, die Situation
der Bundeswehr insgesamt gegenüber der Bundesregie-
rung nochmals zu thematisieren. Es gibt zwei Bereiche,
in denen wir deutlich machen wollen, dass es dringenden
Veränderungs- und Verbesserungsbedarf gibt. Das sind
zum einen Veränderungen in der Struktur der Bundes-
wehr und zum anderen die Steigerung der Attraktivität
der Streitkräfte.
Die Ursachen für die Situation liegen im Missma-
nagement des Verteidigungsministeriums. Seit über ei-
nem Jahrzehnt wird in der Bundeswehr herumgedoktert:
Strukturreform, Reform der Reform und Transformation.
Eins geht nahtlos ins andere über. Trotz grundlegender
Änderung der sicherheitspolitischen Lage ist das Han-
deln des Verteidigungsministeriums noch immer von al-
tem Denken geprägt.
So wird krampfhaft an allen Führungsebenen festge-
halten. Seit Mitte der 90er-Jahre hat sich der Umfang der
Bundeswehr halbiert, aber die Zahl der Ämter, Kom-
mandos und Behörden vermehrt. Die Zahl der Haus-
haltsstellen in der Besoldungsordnung B – also die Zahl
höherdotierter Oberster und Generale – ist nahezu unver-
ändert, so die Antwort der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage.
Nach wie vor wird die Bundeswehr also mit einer
Führungsstruktur geführt, die vom Kalten Krieg her-
rührt. Deshalb ist das Fazit, dass wir – beginnend beim
BMVg – dringend eine schlankere Führungsstruktur be-
nötigen. Nur so ist mehr Effizienz zu erzielen.
(Beifall bei der FDP)
Eine Folge falscher Strukturen ist unter anderem ein
Beförderungsstau insbesondere bei Portepeeunteroffizie-
ren. Das führt zu Frustration insbesondere bei dienstälte-
ren Feldwebeldienstgraden. Das hat auch der Wehrbe-
auftragte immer wieder thematisiert. Daraus resultiert
eines von vielen Attraktivitätsproblemen. Die Bundesre-
gierung verschließt die Augen vor dem Problem, wenn
sie auf unsere Große Anfrage antwortet, sie könne kei-
nen Motivationsverlust durch Beförderungsstau erken-
nen. Meine Damen und Herren von der Bundesregie-
rung, Sie sollten sich dringend noch einmal mit diesem
Thema auseinandersetzen.
(Beifall bei der FDP)
Die falsche Struktur zeigt sich auch an einem krampf-
haften Festhalten der Bundesregierung an der Wehrpflicht.
Wir haben eine völlig veränderte sicherheitspolitische Situ-
ation. Die Wehrpflicht ist zur Aufrechterhaltung der äu-
ßeren Sicherheit nicht mehr notwendig. Derzeit leisten
weniger als 17 Prozent der zur Verfügung stehenden jun-
gen Männer Wehrdienst, und ungefähr 60 Prozent aller
tauglichen jungen Männer leisten weder Wehr- noch Zi-
vildienst. Hier kann von Gerechtigkeit – und zwar weder
Wehr- noch Dienstgerechtigkeit – keine Rede mehr sein.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN und der Abg. Renate Schmidt [Nürn-
berg] [SPD])
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25169
(A) (C)
(B) (D)
Birgit Homburger
Deshalb ist es nötig, dass die Struktur der Bundes-
wehr den aktuellen Notwendigkeiten angepasst wird,
dass es auch für die jungen Männer, die von der Dienst-
pflicht betroffen sind, eine größere Gerechtigkeit gibt
und – das sage ich ausdrücklich – dass durch die Ausset-
zung der Wehrpflicht an anderer Stelle für die Bundes-
wehr dringend benötigte Mittel freigesetzt werden. Des-
halb fordert die FDP an dieser Stelle ausdrücklich die
Aussetzung der Wehrpflicht und die Schaffung einer
neuen Struktur für die Bundeswehr.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Attraktivität der Streitkräfte hängt aber auch von
weiteren Punkten ab, zum Beispiel von den Weiterbil-
dungsmöglichkeiten, der Versetzungshäufigkeit, der Be-
förderungssituation, der Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, die hier schon einmal ein großes Thema war, der
Material- und Ausstattungslage und der ausufernden Bü-
rokratie.
Zur materiellen Ausstattungslage möchte ich an die-
ser Stelle nur sagen: Im Einsatz ist sie zwar immer wie-
der verbessert worden; sie ist aber bei weitem noch nicht
optimal. Nicht nur im Einsatz, sondern auch in der Aus-
bildung fehlt es an Ausstattung. Deshalb sagen wir: Wir
müssen weg von einer falschen Schwerpunktsetzung im
Verteidigungshaushalt – zum Beispiel zugunsten von
Großprojekten wie MEADS oder der dritten Tranche des
Eurofighters –, hin zu einer besseren Ausstattung der
Bundeswehr, insbesondere im Einsatz.
(Beifall bei der FDP)
Zuviel Bürokratie im Einsatz – bis hin zur Mülltren-
nung – wurde immer wieder thematisiert. Im Bericht des
Bundesministeriums der Verteidigung zum Sachstand
der Inneren Führung wurde gerade wieder deutlich, dass
Vorgesetzte wiederholt über enorme administrative Be-
lastungen in verschiedenen Verwendungen geklagt ha-
ben, die bis zu 80 Prozent der Dienstzeit beanspruchen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Bundesregierung, ich habe den Eindruck, dass die Not-
wendigkeit des Bürokratieabbaus in der Bundeswehr mit
am höchsten ist. Wir fordern eine Steigerung der Attrak-
tivität durch eine echte, auftragsgerechte Personalstruk-
turreform, ein neues Laufbahnrecht, eine Anhebung der
Einstiegsbesoldung und ein eigenes Besoldungsrecht für
Soldatinnen und Soldaten.
Sie von der Großen Koalition und auch der Bundes-
verteidigungsminister hatten im Übrigen versprochen,
die Einführung eines eigenen Besoldungsrechts zu prü-
fen. Passiert ist nichts, außer dass Sie den Antrag der
FDP zu einer eigenen Besoldungsstruktur abgelehnt ha-
ben. Wir sehen die Notwendigkeit einer Reduzierung der
Versetzungshäufigkeit auf das dienstlich unabdingbare
Maß, von besseren Teilzeitarbeitsmöglichkeiten und
besseren Kinderbetreuungsangeboten.
Ich komme zum Schluss. Die Soldatinnen und Solda-
ten der Bundeswehr leisten einen hervorragenden
Dienst. Wir erwarten, dass das nicht nur in Sonntagsre-
den gewürdigt wird, sondern dass die Rahmenbedingun-
gen im täglichen Dienst konkret verbessert werden. Das
erhöht die Berufszufriedenheit und die Attraktivität und
ist außerdem eine Investition in die Zukunft der Bundes-
wehr.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Bundesverteidigungsminister,
Dr. Franz Josef Jung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Homburger, Sie haben hier eine Lage beschrieben, die
mit der Wirklichkeit der Bundeswehr wahrlich nicht
übereinstimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte Ihnen eines deutlich sagen: Ich finde, dass
unsere Bundeswehr den Transformationsprozess von ei-
ner reinen Verteidigungsarmee über eine Armee der Ein-
heit zu einer Armee im Einsatz für den Frieden in einer
hervorragenden Art und Weise bewerkstelligt hat. Bitte
bedenken Sie, dass wir – aus meiner Sicht – insofern am
meisten herausgefordert waren, als es einmal zwei Ar-
meen waren, die gegeneinander ausgebildet und aufge-
rüstet waren und entsprechend strukturiert worden sind.
Diese zwei Armeen wurden in einer beispielhaften Art
und Weise zu einer Armee der Einheit und sind jetzt im
Einsatz für den Frieden tätig. Deshalb geht die von Ihnen
geübte Kritik wirklich an der Sache vorbei. Unsere Sol-
datinnen und Soldaten leisten einen hervorragenden Ein-
satz. Dafür haben Sie unseren Dank und auch unsere Un-
terstützung verdient.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Bedenken Sie bitte, dass aktuell rund 7 000 Soldatin-
nen und Soldaten im Einsatz in den verschiedensten
Operationsgebieten sind. Dazu zählen Afghanistan, der
Kosovo, Bosnien-Herzegowina, UNIFIL im Libanon,
Dschibuti, der Sudan, Darfur und der Einsatz vor der
Küste Somalias. Sie sollen nicht nur die Bandbreite se-
hen, sondern auch die Aufgaben berücksichtigen. Ge-
rade eben haben wir im Rahmen der NATO und des
neuen strategischeen Konzepts deutlich gemacht, dass
wir natürlich weiterhin eine Aufgabe in der Schutzfunk-
tion nach Art. 5 des NATO-Vertrages haben. Ab Septem-
ber machen wir beispielsweise das Air Policing für die
baltischen Staaten.
Wir haben eine Aufgabe im Hinblick auf den Stabili-
tätstransfer und die neuen Bedrohungslagen. Sie dürfen
nicht verkennen, dass es durch den internationalen Ter-
rorismus neue Bedrohungslagen gibt. Dies ist auch
durch Krisensituationen, Staatszerfall und Massenver-
nichtungswaffen bedingt. Es ist also richtig, die Gefahr
an der Quelle zu beseitigen; das liegt auch im Interesse
25170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Ich
finde, unsere Soldatinnen und Soldaten bewerkstelligen
diesen Auftrag wirklich ganz hervorragend. Deshalb ist
die Kritik, die Sie in diesem Zusammenhang vorgetra-
gen haben, meines Erachtens sehr deutlich zurückwei-
sen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Bundeswehr genießt mit 89 Prozent hohe Aner-
kennung in Deutschland. Wir brauchen aber mehr Unter-
stützung im Hinblick auf unsere Auslandseinsätze. Des-
halb werbe ich dafür, dass wir der Bevölkerung noch
mehr deutlich machen, dass es etwas mit der Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger zu tun hat, wenn unsere
Soldatinnen und Soldaten beispielsweise in Afghanistan
oder im Kosovo ihren Einsatz leisten. Dies hat eine Ver-
änderung der Bedrohungslage nach sich gezogen. Die
Risiken dort zu beseitigen, wo sie entstehen, ist im Inte-
resse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger von
entscheidender Bedeutung. Deshalb sollten wir alle An-
strengungen unternehmen, dass der wichtige Beitrag,
den unsere Soldaten für die Sicherheit unserer Bürgerin-
nen und Bürger leisten, noch mehr Unterstützung von-
seiten der Bevölkerung erfährt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie haben die Struktur der Bundeswehr angesprochen.
Ich bin ein entschiedener Verfechter der Struktur der
Wehrpflichtarmee, nicht nur weil sie sich in 50 Jahren
Bundeswehr hervorragend bewährt hat. Ich sage Ihnen
eines: Die Themen Armee in der Demokratie, Staatsbür-
ger in Uniform und die Innere Führung haben damit et-
was zu tun. Die strukturelle Entwicklung einer Wehr-
pflichtarmee vollzieht sich anders. Ich sage Ihnen, wie
unsere Soldatinnen und Soldaten auftreten. Überall, wo-
hin ich komme, höre ich, dass sie das Ansehen der Bun-
desrepublik Deutschland aufwerten. Sie treten sensibel
auf und gewinnen Vertrauen auch und gerade in der Be-
völkerung. Daran wird deutlich, dass eine Struktur mit
beispielsweise 60 000 Wehrpflichtigen, von denen sich
25 000 freiwillig weiterverpflichten, eine andere Ent-
wicklung bedeutet. 40 Prozent unserer Berufs- und Zeit-
soldaten sind Wehrpflichtige. Ich bin deshalb entschie-
den der Meinung, dass wir klug beraten sind, auch in
Zukunft an der Struktur der Wehrpflichtarmee festzuhal-
ten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Übrigens bestärkt mich Ihr Ehrenvorsitzender in dieser
Frage. Ich höre auf seinen Rat.
Ich füge hinzu: Natürlich geht es auch um Einberu-
fungsgerechtigkeit. Aber die Zahlen, die Sie vorgetragen
haben, sind völlig abwegig. Ich habe entschieden, dass
6 500 Wehrpflichtige mehr einberufen werden. Insge-
samt werden 80 Prozent der zur Erfüllung der Wehr-
pflicht tauglichen Jugendlichen einberufen.
(Birgit Homburger [FDP]: Wie viele sind von
einem Jahrgang überhaupt tauglich?)
Das sind die konkreten Zahlen. Ich denke, dass wir inso-
fern für Einberufungsgerechtigkeit sorgen.
(Birgit Homburger [FDP]: Man kann sich das
auch schönrechnen!)
Wenn ich mir die Entwicklung in der Legislatur-
periode anschaue, dann finde ich, dass wir einen erhebli-
chen Beitrag dazu geleistet haben, die Bundeswehr mo-
dern und leistungsstark fortzuentwickeln. Ich habe Ihnen
die Einsätze, die hinzugekommen sind, bereits genannt.
Die Bandbreite reicht vom Kongo, UNIFIL über Pirate-
rieeinsätze bis hin zu Einsätzen in Afghanistan. Sie dür-
fen aber auch nicht vergessen, dass wir die Strategie ver-
ändert haben. Wir, die Bundesregierung, haben zum
ersten Mal seit 1994 ein Weißbuch zur Sicherheit
Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr be-
schlossen. Dort haben wir die Strategie der vernetzten
Sicherheit niedergelegt. Diese Strategie ist nach meiner
felsenfesten Überzeugung das Grundprinzip, auf dem
der Erfolg gerade in Stabilisierungseinsätzen beruht. Wir
haben das in der NATO entsprechend umgesetzt; darüber
herrscht Einigkeit. Wir haben einen Einsatzführungsstab
geschaffen, an dem nicht nur das Bundesverteidigungs-
ministerium, sondern auch das Auswärtige Amt, das In-
nenministerium und das Entwicklungshilfeministerium
beteiligt sind. Damit setzen wir die Strategie der vernetz-
ten Sicherheit auch praktisch um.
Sie haben das Thema der geschützten Fahrzeuge an-
gesprochen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin
noch heute dankbar, dass ich vor zwei Jahren die Ent-
scheidung getroffen habe, dass die Bundeswehr nur noch
geschützte Fahrzeuge in Afghanistan einsetzt. Dies hat
Leben unserer Soldatinnen und Soldaten gerettet. Mitt-
lerweile sind über 700 geschützte Fahrzeuge in Afgha-
nistan im Einsatz, sodass unsere Bundeswehr handlungs-
fähig ist, auch wenn es um die Schutzfunktion geht. Dies
sollte vonseiten des Parlamentes auf angemessene Art
und Weise gewürdigt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will noch den Fürsorgegedanken ansprechen. Da
meine Redezeit nicht mehr zulässt, kann ich nur ein paar
kurze Schlagworte nennen. Es geht hier um Themen wie
das Einsatzweiterverwendungsgesetz, die Verbesserung
des Rechtsschutzes und die Erhöhung des Auslandsver-
wendungszuschlags.
Sie haben die Besoldungsstruktur angesprochen. Zum
ersten Mal seit langem haben die Soldaten wieder mehr
bekommen; wir konnten den Tarifvertrag umsetzen. Wir
haben die Angleichung der Besoldung in Ost und West
durchgesetzt. Wir haben jetzt die Kasernensanierung
West auf den Weg gebracht. Von der Wehrsolderhöhung
bis zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und
Dienst haben wir eine Menge in Angriff genommen.
Frau Homburger, das sind konkrete Zuwendungen für
unsere Soldatinnen und Soldaten, die sie dankbar zur
Kenntnis genommen haben. Ich finde, das sollte auch bei
Ihnen angemessene Würdigung finden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Rainer Arnold [SPD])
Lassen Sie mich auf einen Punkt hinweisen. Die Sol-
daten leisten ihren Einsatz mit Risiko für Leib und Le-
ben. Deshalb ist es richtig gewesen, dass der Bundesprä-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25171
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
sident unserem Antrag zugestimmt hat und wir das
Ehrenkreuz für Tapferkeit kreieren konnten. Anfang Juli
werden wir die erste Verleihung vornehmen können. An-
gesichts des schwierigen Einsatzes, den unsere Soldatin-
nen und Soldaten im Interesse unserer Sicherheit leisten,
halte ich es für einen wichtigen Schritt, diejenigen, die
mit Risiko für Leib und Leben Mut und Tapferkeit be-
weisen, auszuzeichnen, sodass sie die Anerkennung der
Öffentlichkeit und damit letztlich auch unsere Anerken-
nung finden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Weil es dazugehört, füge ich hinzu: Ich bin schon der
Meinung, dass wir denjenigen, die seit Bestehen der
Bundeswehr im Einsatz für Frieden und Freiheit gefallen
sind oder für unsere Sicherheit ihr Leben verloren haben,
ein ehrendes und würdiges Andenken bewahren sollten.
Deshalb bin ich froh, dass wir noch in dieser Legislatur-
periode das Ehrenmal einweihen können, und zwar an
dem Platz, der für die Bundeswehr steht, nämlich am
Bendlerblock.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn man die Gesamtentwicklung betrachtet, kann
man sagen: Es gibt nichts, was nicht weiter verbessert
werden könnte – wir sind täglich darum bemüht, Verbes-
serungen auf den Weg zu bringen –; aber durch die
Grundstruktur der Bundeswehr ist gewährleistet, dass
unsere Soldaten gut ausgebildet, gut ausgerüstet und her-
vorragend motiviert sind. Unsere Soldaten leisten einen
sehr guten Beitrag zur Gewährleistung von Frieden,
Recht und Freiheit in unserem Vaterland.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer, Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natür-
lich muss sich der Bundestag damit beschäftigen, in wel-
chem Zustand sich die Bundeswehr befindet, die ja nach
unser aller Verständnis als Parlamentsarmee definiert ist.
Das reicht vom Umgang mit Untergebenen über die ärzt-
liche Versorgung bis zur Bereitstellung geeigneter
Schlafsäcke.
In dieser Woche haben wir eines gelernt. Wir müssen
uns über eines am wenigsten Sorgen machen: die Be-
waffnung der Truppe.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!)
Kurz vor Toresschluss wurden Beschaffungsvorhaben
im Umfang von über 7 Milliarden Euro bewilligt.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sollen un-
sere Soldaten ungeschützt bleiben?)
Da ging es um neue Schützenpanzer, kampfwertgestei-
gerte Fregatten und um den Eurofighter, der jetzt als
Jagdbomber beschafft werden soll. Den Jagdbomber
brauchen wir nun wirklich nicht. Man muss sich das ein-
mal vorstellen: 7 Milliarden Euro. Die öffentliche Hand
ist nicht nur klamm, sondern rekordverschuldet, aber
trotzdem schütten wir das Füllhorn über die Rüstungs-
wirtschaft aus.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nein! Wir
schützen unsere Soldaten!)
An anderer Stelle eingesetzt, könnte man mit diesem
Geld viel mehr Arbeitsplätze schaffen und viel mehr
Wachstum generieren. Wenn das Geld in die Bildung
und die ökologische Erneuerung der Wirtschaft fließen
würde, wäre das eine Investition in die Zukunft. Statt-
dessen investiert man in überkommene Zerstörungsin-
strumente.
(Beifall bei der LINKEN)
Wie gesagt, wir als Parlament müssen uns sehr kon-
kret mit den Arbeits- und Lebensbedingungen und der
inneren Verfassung der Soldatinnen und Soldaten be-
schäftigen. Das haben sie allemal verdient. Die Grund-
frage aber ist immer: Zu welchem Zweck soll überhaupt
militärische Gewalt eingesetzt werden? Wie lautet der
Auftrag der Truppe? Art. 87 a des Grundgesetzes sieht
vor, dass der Bund Streitkräfte zum Zwecke der Verteidi-
gung aufstellt. Von diesem Punkt haben wir uns weit ent-
fernt, wenn man sich das Weißbuch und die heutige Rea-
lität ansieht. Der Verweis auf die Landesverteidigung
und die Bündnisverpflichtungen ist doch nur noch eine
Rechtfertigungsformel gegenüber der Bevölkerung und
dem Bundesverfassungsgericht. Die Bundeswehr wird
als Armee im Einsatz definiert. Ihr Einsatzgebiet ist geo-
grafisch unbegrenzt, das heißt global. Die Streitkräfte
sollen ganz überwiegend im Rahmen der NATO und der
EU eingesetzt werden, und sie sollen ein ganzes Spek-
trum von Aufgaben abdecken, von der Terrorbekämp-
fung bis zur militärischen Sicherung der Energie- und
Rohstoffversorgung.
Dieser Auftrag muss im Lichte der Erfahrungen der
letzten Jahre grundlegend auf den Prüfstand. Wenn die
angestrebten Ziele nicht oder nur begrenzt erreicht wer-
den – man könnte dazu einiges sagen, zum Beispiel über
den Kongo und das Kosovo – oder zu der Verschlechte-
rung von Sicherheitslagen führen wie die Militärinter-
vention in Afghanistan – dort haben wir heute eine Ver-
schlechterung der Sicherheitslage; wir sind vom Frieden
weiter denn je entfernt –, dann muss über andere Mög-
lichkeiten der Konfliktbewältigung nachgedacht und ge-
sprochen werden. Dann muss darüber gesprochen wer-
den, dass „zivil“ endlich Vorfahrt haben muss.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Linke ist erstens für eine Bundeswehr, die sich an
der Landesverteidigung im Bündnisrahmen orientiert,
und die findet nicht am Hindukusch statt. Wir sind zwei-
tens dafür, dass sich die Außen- und Sicherheitspolitik
25172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Paul Schäfer (Köln)
der Bundesrepublik strikt am Völkerrecht ausrichtet.
Das heißt, eine deutsche Beteiligung an völkerrechts-
widrigen Militäreinsätzen scheidet a priori aus. Drittens
findet der Einsatz der Streitkräfte im Rahmen der Res-
sourcensicherung – Stichwort: Öl – nicht unsere Zustim-
mung, weil das nur darauf hinausläuft, die privilegierte
Position der reichen Industrienationen zu stärken, und
damit zu mehr Unfrieden in der Welt führt. Viertens
kommt für uns überhaupt nicht infrage, dass die Bundes-
wehr zu polizeilichen Zwecken im Inneren eingesetzt
wird. Hier gibt es ein kategorisches Nein.
(Beifall bei der LINKEN – Winfried Nachtwei
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen
UN-geführte Missionen infrage?)
Fünftens kann der Umfang der Streitkräfte reduziert
werden, da wir für absehbare Zeit nicht militärisch be-
droht sind. Sechstens können wir das sture Festhalten an
der Wehrpflicht nicht mehr gebrauchen. Wenn nur noch
15 Prozent eines Altersjahrgangs dienen und ein Fünftel
im Rahmen des sogenannten Ersatzdienstes tätig ist,
dann hat das mit Wehrgerechtigkeit nichts mehr zu tun.
Diese Wehrpflicht muss fallen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Kurzum: Landesverteidigung, Abrüstung und der ab-
solute Vorrang ziviler Konfliktbewältigung – dass muss
die Sicherheits- und Außenpolitik der Bundesrepublik
Deutschland bestimmen. Friedenspolitik mit friedlichen
Mitteln – das ist die Grundauffassung der Linken.
Danke.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hedi Wegener,
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Hedi Wegener (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Es liegen drei Beratungsvorlagen
vor, die man eigentlich in einer großen Frage zusammen-
fassen kann: Ist unsere Bundeswehr so aufgestellt, dass
sie ihre gegenwärtigen und künftigen Aufgaben erfüllen
kann? In allen Debatten – wir haben in der letzten Zeit
häufiger über Fragen der Bundeswehr diskutiert – hieß
es immer: Die Rahmenbedingungen unterliegen einem
rasanten Wandel. – Früher war die Aufgabe der Bundes-
wehr relativ klar umrissen. Herr Minister Jung hat es
gerade noch einmal gesagt. Es ging um die territoriale
Landesverteidigung gemeinsam mit unseren Bündnis-
partnern. Nun haben wir eine Armee im Einsatz. Damals
hat sich die Bundesrepublik entschieden, die Wehrpflicht
einzuführen. 1957 wurden die ersten Wehrpflichtigen
eingezogen.
Jetzt liegen uns wieder einmal zwei Anträge der FDP
und ein Antrag der Grünen vor. Sie haben recht, wenn
Sie sagen, dass sich inzwischen vieles anders darstellt.
Aber es kann auch niemand voraussehen, wie sich die
Sicherheitslage weiterentwickeln wird. Unserer Ansicht
nach ist die Wehrpflicht ein Bestandteil unserer Sicher-
heitsvorsorge.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Georg
Schirmbeck [CDU/CSU])
Natürlich sehen auch wir Veränderungen bei der Ein-
berufung. Deshalb hat die SPD das Modell einer subsi-
diären Wehrpflicht entwickelt. Wir wollen die Vorteile
der allgemeinen Wehrpflicht mit der Chance auf eine
vollständige Bedarfsdeckung der Bundeswehr durch
freiwillige Wehrdienstleistende verbinden. Das bedeutet
vom Prinzip die Erfassung aller Wehrpflichtigen, aber
die Einberufung all derer, die vorher erklärt haben, dass
sie ihren Dienst freiwillig tun wollen. So werden die We-
senselemente der Wehrpflicht mit Elementen der Frei-
willigkeit verbunden. Natürlich muss es auch positive
Anreize geben, wie zum Beispiel einen Bonus auf War-
tesemester, die Erweiterung der Berufsförderungsan-
sprüche oder Ähnliches.
Ein Abschaffen der Wehrpflicht löst weder die Pro-
bleme – ich erinnere an die Folgen in Frankreich oder
Spanien, wo die Armee deutlich teurer geworden ist, die
Sollzahlen aber dennoch nicht erreicht wurden –, noch
wird es unserem Grundgedanken des Bürgers in Uni-
form gerecht; denn die Wehrpflicht stellt unseres Erach-
tens auch eine Klammer zwischen der Gesellschaft und
der Bundeswehr dar.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Von der Umwandlung in eine Berufsarmee jedenfalls
wird die Bundeswehr nicht profitieren. Sie würde nur
kleiner, nicht professioneller, aber in jedem Fall teurer.
Meine Herren und Damen, ich hatte es bereits ange-
sprochen: Die Ausgangslage hat sich in den letzten
20 Jahren geändert. Die Bundeswehr ist eine Armee im
Einsatz geworden. Aber auch unsere Gesellschaft hat
sich verändert. Deswegen hat der damalige Verteidi-
gungsminister Struck einen Transformationsprozess ein-
geleitet, und es gibt ja auch Fortschritte, wie das BMVg
selber festgestellt hat.
Die Veränderungen erfordern aber vor allen Dingen
Anpassungen im Bereich der Inneren Führung. Deshalb
hatten wir, das Parlament, einen Unterausschuss einge-
richtet, der die Änderungen begleitet; das BMVg hat uns
in den letzten Tagen einen entsprechenden Bericht vor-
gelegt. Heute hatte ich, wie Sie wahrscheinlich auch, den
Bericht der Hessischen Stiftung Friedens- und Konflikt-
forschung in der Post, der sich streckenweise sehr kri-
tisch mit uns Abgeordneten, mit unserer Funktion und
unserem Verhalten, mit der Reaktion des BMVg und der
Schönrederei auseinandersetzt. Sein Titel lautet: „Innere
Führung und Auslandseinsätze: Was wird aus dem Mar-
kenzeichen der Bundeswehr?“. Es lohnt sich, sich ein-
mal mit den Argumenten auseinanderzusetzen; denn bei
der Bundeswehr gibt es ebenso wie bei uns Abgeordne-
ten eine Kluft zwischen Eigenwahrnehmung und Fremd-
wahrnehmung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25173
(A) (C)
(B) (D)
Hedi Wegener
Dennoch hat sich viel geändert, die politische Bildung
zum Beispiel. Immer wieder hören wir Kritik von den
Soldaten, sie seien nicht genug auf den Auslandseinsatz
vorbereitet, der im Übrigen, Herr Schäfer, immer durch
eine entsprechende gesetzliche Grundlage abgesichert
ist. Ich bin sehr erfreut, dass eine Verbesserung in der
politischen Bildung stattgefunden hat, zum Beispiel eine
thematisch-inhaltliche Vorbereitung generell, aber auch
einsatzspezifisch. Allerdings gibt es auch da wieder eine
Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, wenn nämlich
die politische Bildung den Diensterfordernissen laufend
zum Opfer fällt.
Gleichzeitig ergeben sich Herausforderungen beim
Sanitätsdienst; das haben wir in der letzten Zeit immer
wieder betont. Wenn in den nächsten Jahren 60 Prozent
der Sanitätsoffiziere Frauen sein werden, dann bekommt
die Bundeswehr ein Problem, wenn Elternzeit oder
Schwangerschaft ein Kriterium sind, nicht in den Einsatz
geschickt werden zu können.
Planbarkeit der einzelnen Verwendungen spielt bei
der Entscheidung für den Beruf des Soldaten eine immer
größere Rolle. Sollte es der Bundeswehr nicht gelingen,
flexiblere Modelle zu entwickeln, beispielsweise Perso-
nalpools oder Jobsharing, sehe ich massive Probleme auf
uns zukommen. Wenn zwischen den Einsätzen kaum
nennenswerte Pausen liegen oder Versetzungen mit Orts-
wechseln alle zwei Jahre anliegen, bedeutet dies ein Pro-
blem für die Familien. Dem Generalinspekteur stimme
ich zu, wenn er sagt, dass den Soldaten klar sein muss,
dass heutzutage Auslandseinsätze zu ihrem Beruf gehö-
ren. Aber – dies betone ich noch einmal – Planbarkeit für
die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien muss
gegeben sein.
Die Zeitungen zitierten gestern Herrn Schneiderhan
mit den Worten, die Soldaten jammerten auf hohem Ni-
veau. Dem stimme ich in manchen Dingen zu, zum Bei-
spiel dann, wenn es um die Zurverfügungstellung von
Sonnenbrillen geht. Wenn es jedoch um passende
Schutzwesten geht, haben die Soldaten natürlich recht.
Aber der Generalinspekteur hat noch etwas Wichtiges
gesagt: Kommunikation ist eine Schlüsselkompetenz.
Dazu kann man nur sagen: Ja, das ist richtig. Dies gilt
für die Bundeswehr intern, aber auch für die Zusammen-
arbeit mit uns im Verteidigungsausschuss. Wir müssen
leider immer wieder feststellen, dass es zum Teil eine
große Diskrepanz zwischen dem gibt, was uns im Aus-
schuss präsentiert wird, und dem, was wir in der Realität
im direkten Gespräch mit der Truppe erfahren. Das
Stichwort Sanitätsdienst habe ich bereits genannt.
Der Sanitätsdienst ist weltweit mit seinen Fähigkeiten
anerkannt. Dort wird von der Bundeswehr eine unge-
heure Leistung vollbracht. Aber gerade dort gibt es
Schwierigkeiten; das ist wirklich noch milde ausge-
drückt. In der Truppe selber wird von zum Teil unhaltba-
ren Zuständen gesprochen. Wir haben in der letzten Zeit
an dieser Stelle schon darüber gesprochen. Meine Bitte
an die Kolleginnen und Kollegen, die dem nächsten
Bundestag angehören werden – ich werde es nämlich
nicht mehr –: Seid wachsam, lasst nicht locker! Die Sol-
daten verlassen sich nämlich darauf, dass wir uns für sie
einsetzen und ihre Situation verbessern.
Dennoch: Die Bundeswehr hat es in bemerkenswert
kurzer Zeit geschafft, eine Armee im Einsatz zu werden,
deren Können und Fähigkeiten international anerkannt
sind. Die Frage, ob unsere Bundeswehr ihren gegenwär-
tigen Aufgaben gewachsen ist, beantworte ich eindeutig
mit Ja. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass der
Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen ist.
Ich selber bin von der Truppe immer gut informiert wor-
den, ich fühlte mich im Ausland immer sicher und hatte
nie einen Grund zu meckern. Dafür danke ich ausdrück-
lich.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man dort so ver-
fährt wie bei den Handwerkern: Geht nicht, gibt’s nicht.
Aber dabei wird auch manches schöngeredet. Dem
Generalinspekteur habe ich einmal gesagt, die Bundes-
wehr mache aus Mist auch noch Gold. Sie will immer al-
les möglich machen; zumindest die Führung will dies.
Die Gespräche mit den Soldaten geben dann manchmal
ein anderes Bild, wie Sie alle selbst wissen.
Die Soldatinnen und Soldaten können sicher sein,
dass die SPD-Bundestagsfraktion ihre Anliegen auch in
der nächsten Legislaturperiode intensiv vertreten wird.
Manchmal braucht die Führung der Bundeswehr näm-
lich einen kleinen Anstoß, um bestimmte Dinge in Be-
wegung zu bringen. Meine Herren, seien Sie versichert,
dass der Verteidigungsausschuss Ihnen in der nächsten
Legislaturperiode weiterhin die Anstöße geben wird –
ohne mich.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, Ihre Rede war ein Beispiel dafür, wie man
erfolgreich aneinander vorbeireden kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
Dass unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslands-
einsätzen zur Eindämmung von Gewalt und zur Verhü-
tung von Krieg im Namen der Vereinten Nationen Aus-
gezeichnetes leisten, ist zumindest hier bei diesen vier
Fraktionen unstrittig. Darum geht es nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
In meinen vier Minuten nur zu einzelnen Stichpunk-
ten. Zunächst zur Wehrpflicht: Die heutige Restwehr-
25174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Winfried Nachtwei
pflicht, von der man ja sprechen muss, ist sicherheits-
politisch in der Tat nicht mehr notwendig und deshalb
als Grundrechtseingriff auch nicht mehr legitimierbar.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie des Abg. Paul Schäfer
[Köln] [DIE LINKE])
Die Bundesregierung antwortet auf die Große Anfrage
der FDP zu diesem Punkt bezeichnenderweise, dass von
einem Jahrgang, 430 000 junge Männer, im Jahre 2007
68 000 als Grundwehrdienstleistende eingezogen wur-
den. Dies zeigt sehr deutlich, wie „nötig“ die Bundes-
wehr die Grundwehrdienstleistenden hat. Es zeigt auch
etwas anderes: dass die Wehrgerechtigkeit wirklich am
Boden liegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
Wir alle stellen fest – das erleben auch die Jugendoffi-
ziere –, dass sie den jungen Leuten, die betroffen sind,
die Wehrpflicht nicht mehr plausibel machen können.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt ja
nicht!)
Ich glaube, dass es in Kürze auch dem Bundesverfas-
sungsgericht nicht mehr plausibel zu machen ist. Es
wäre eigentlich ein Gebot der Politik, nicht immer erst
auf Karlsruhe zu warten, sondern selbst vernünftige
Alternativen zu entwickeln. Vernünftige Alternativen
liegen auf dem Tisch, nämlich die Einführung eines frei-
willigen flexiblen Kurzdienstes, der jungen Männern
und Frauen offensteht und 12 bis 24 Monate dauert. Wir
haben dazu Vorschläge gemacht, die FDP ebenfalls.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
Mein nächster Punkt betrifft die Aufgaben der Bun-
deswehr. Hier haben wir es mit einem grundsätzlichen
Problem zu tun. Ich glaube, es gibt keinen Bereich staat-
lichen Handelns, der in seiner Aufgabenbestimmung so
wenig rechtlich normiert ist. Das Grundgesetz nennt die
Verteidigung, die Wahrung der kollektiven Sicherheit
und das Verbot der Vorbereitung von Angriffskriegen.
Das ist es aber auch schon. Ich glaube, dass wir mehr
Auftragsklarheit brauchen. Der BundeswehrVerband hat
bereits die Einführung eines Bundeswehraufgabengeset-
zes vorgeschlagen. Ich glaube, das sollte vom Bundestag
ernsthaft erwogen werden.
(Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Nun zum Stand der Transformation. Die Antworten
der Bundesregierung auf die Große Anfrage bestanden
aus den üblichen Plattitüden, die auch heute wieder,
wenn auch mit mehr Worten, vom Minister vorgetragen
wurden: Es gibt zwar einige Probleme, aber wir sind auf
dem richtigen Weg. – Wenn man allerdings die Realität
betrachtet, dann stellt man fest, dass es etwas anders aus-
sieht. Wie wäre es sonst zu erklären, dass es etliche Jahre
nach Beginn der Transformation Soldatinnen und Solda-
ten mit Spezialfähigkeiten gibt, welche so oft in den Ein-
satz müssen, dass es weit über das erträgliche Maß hi-
nausgeht?
Ein Zweites. Seit einiger Zeit bleibt meine Frage auch
im Ausschuss unbeantwortet, wie weit die derzeitige
Bundeswehr von der nationalen Zielvorgabe entfernt ist,
bis zu 14 000 Soldaten in bis zu fünf parallele Stabilisie-
rungseinsätze in verschiedenen Einsatzräumen zu schi-
cken. Man kann sich das heutzutage nicht vorstellen, wo
Größenordnungen von 7 000 bis 8 000 Soldaten die
Grenze der Belastbarkeit darstellen.
Schließlich: Wie soll eine solche nationale Vorgabe
Sinn machen, wenn es bei den für Stabilisierungseinsätze
immer wichtigeren polizeilichen und zivilen Kräften
keine Zielvorgaben gibt? Herr Minister, der viel be-
schworene Comprehensive Approach – was die Ausge-
wogenheit der Kräfte bzw. die Fähigkeiten angeht – hinkt
in seiner Fundierung den Vorgaben hinterher, wie es stär-
ker nicht geht.
Diese Punkte stellen eine Lücke im Transformations-
prozess dar. Aber der Transformationsprozess betrifft
nicht nur die Bundeswehr, sondern die gesamte Sicher-
heitspolitik.
Ich muss schließen, verweise aber auf die Fortsetzung
dieser Debatte zu dem Thema „zivile Krisenprävention
und Friedensförderung“.
Bis gleich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses auf Drucksache 16/7432. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/393 mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit
der Bundeswehr herstellen – Wehrpflicht aussetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der Frak-
tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6393 mit
dem Titel „Wehrpflicht überwinden – Freiwilligenarmee
aufbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-
genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen sowie bei Enthaltung der FDP angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „At-
traktivität des Soldatenberufs steigern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25175
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
sache 16/5352, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/2836 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Linken, der SPD und der CDU/CSU bei Enthal-
tung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen
der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
und Integration
Erster Integrationsindikatorenbericht
– Drucksache 16/13300 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Rednerinnen und Redner haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden von
Dr. Lale Akgün, SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Sevim
Dağdelen, Die Linke, Josef Philip Winkler, Bündnis 90/
Die Grünen, und der Staatsministerin Dr. Maria
Böhmer.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/13300 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll,
Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Befreiung von IHK-Beiträgen für Kleinst- und
Kleinbetriebe bis zu 30 000 Euro Gewerbeer-
trag und grundlegende Reform der Industrie-
und Handelskammern
– Drucksachen 16/6357, 16/12883 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Andreas Lämmel, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD,
Paul Friedhoff, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, und
Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.2)
1) Anlage 26
2) Anlage 27
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/12883, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6357 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Vierten Gesetzes zur Änderung des
Sprengstoffgesetzes
– Drucksache 16/12597 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Max
Stadler, Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
– Drucksache 16/12663 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)
– Drucksache 16/13423 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Bodo
Ramelow und der Fraktion DIE LINKE
Keine Schusswaffen in Privathaushalten –
Änderung des Waffenrechts
– zu dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar
von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abrüstung in Privatwohnungen – Maßnah-
men gegen Waffenmissbrauch
– Drucksachen 16/12395, 16/12477, 16/13423 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
25176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Montag haben sich einige Mitglieder des Innenaus-
schusses mit Angehörigen der Opfer von Winnenden
hier in Berlin getroffen. Wir haben über den schreckli-
chen Amoklauf gesprochen und darüber, wie es dazu
kommen konnte. Wir waren uns einig: Dass der Vater
des Täters in unverantwortlicher Weise seine Waffe und
Munition offen im Haus hat herumliegen lassen, war das
letzte Glied einer Kette von katastrophalen Fehlentwick-
lungen, die aus einem 17-jährigen Schüler einen Mörder
von 15 unschuldigen Menschen gemacht hat. Deshalb
bleibt richtig: Nicht allein die Verbesserung des Waffen-
rechts kann Amokläufe verhindern. Wir brauchen zu-
sätzlich eine Kultur des Hinsehens, des Sich-Kümmerns.
Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit und weniger
Gleichgültigkeit. Jetzt sind alle in unserer Gesellschaft
gefordert, und eben nicht nur wir Innenpolitiker.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Es ist aber auch wahr, dass die Sachverständigen, die
wir im Rahmen einer öffentlichen Anhörung am Montag
gehört haben, uns sagen: Alle Analysen von Tatabläufen
zeigen, dass die Verfügbarkeit von Waffen auf den Tat-
plan große Auswirkungen hat. Deshalb zielt die Ände-
rung des Waffenrechts, über die wir unter diesem Tages-
ordnungspunkt diskutieren, vor allem auf die Einhaltung
der Vorschriften über die Aufbewahrung. Wir wollen,
dass die seit 2003 bestehende Pflicht, Waffen ordnungs-
gemäß in einem Waffenschrank aufzubewahren, einge-
halten wird. Wir machen damit deutlich: Waffen einfach
in der Wohnung herumliegen zu lassen, sodass die kon-
krete Gefahr besteht, dass Kinder sie an sich nehmen, ist
kein Kavaliersdelikt, sondern das ist gefährlich. Deswe-
gen wird ein solches Verhalten künftig härter bestraft.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ob es tatsächlich einmal zu einer Verurteilung wegen
des vorsätzlichen Verstoßes gegen Aufbewahrungsvor-
schriften kommt, ist dabei gar nicht so entscheidend.
Dass es jetzt einen solchen Straftatbestand gibt, dass
man dann für fünf Jahre den Waffen- oder Jagdschein los
ist, wird abschreckend wirken. Dies wird dazu führen,
dass Waffenschränke nicht nur gekauft, sondern tatsäch-
lich benutzt werden. Dagegen kann kein rechtschaffener
Jäger oder Schütze etwas haben.
Ich lege Wert auf die Feststellung, dass wir mit dieser
Gesetzesänderung im Kern keine Verschärfung des Waf-
fenrechts vornehmen; vielmehr verbessern wir die Kon-
trollmöglichkeiten der Behörden, also den Gesetzesvoll-
zug. Mit unserer Gesetzesänderung wahren wir Maß und
Mitte. Wir sorgen für mehr Sicherheit, ohne dadurch Jä-
ger und Schützen unter einen Generalverdacht zu stellen.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Na ja!)
Aber wenn uns viele Experten und Praktiker des Waffen-
rechts berichten, seit Winnenden sei der Absatz an Waf-
fenschränken sprunghaft angestiegen – von Waffen-
schränken, die jeder legale Waffenbesitzer seit 2003 in
seiner Wohnung haben müsste –, dann können wir doch
nicht achselzuckend zur Tagesordnung übergehen.
Deshalb statuieren wir jetzt die Pflicht des Waffenbe-
sitzers, den zuständigen Behörden die Überprüfung zu
gestatten, ob die Möglichkeit einer sicheren Aufbewah-
rung vorhanden ist oder nicht. Schon aus arbeitsökono-
mischen Gründen werden die Ordnungsbehörden in aller
Regel ihre Besuche anmelden. Die Nachschau bezieht
sich nur auf den Raum, in dem die Aufbewahrung statt-
findet. Und selbst dann, wenn wiederholt und gröblich
gegen die Gestattungspflicht verstoßen wurde, darf die
Behörde nicht etwa zwangsweise in die Wohnung ein-
dringen, wie manche in den letzten Tagen und Wochen
verbreitet haben. Sie kann lediglich wegen Zweifeln an
der Zuverlässigkeit ein waffenrechtliches Widerrufsver-
fahren einleiten und am Ende die Waffen einziehen.
Wir achten das Grundrecht der Waffenbesitzer auf
Unverletzlichkeit ihrer Wohnung. Ich sage das im Hin-
blick auf viele Briefe, die mich dazu erreicht haben.
Aber jeder verantwortungsvolle Waffenbesitzer muss
doch einsehen, dass es irgendwann einmal der Behörde
möglich sein muss, zu überprüfen, ob im Haushalt ein
Waffenschrank überhaupt vorhanden ist. Dass das der
Behörde bisher nicht möglich war, hat ganz offensicht-
lich dazu geführt, dass gegen Aufbewahrungsvorschrif-
ten verstoßen wurde.
Ich erinnere an ein Wort aus der Anhörung: Die Ver-
fügbarkeit von Waffen hat große Auswirkungen auf den
Tatplan.
Ja, wir achten das Grundrecht der Waffenbesitzer auf
Unverletzlichkeit der Wohnung. Aber die 15 Opfer von
Winnenden hatten ein Recht auf Leben, das nicht ge-
wahrt worden ist. Das müssen wir uns in dieser Debatte
und muss sich jeder bewusst machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Die Innenminister der Länder verweisen im Übrigen
darauf, dass wir ohnehin eine eher akademische Debatte
führen. In der Praxis sei nämlich kein Fall bekannt, in
dem die bisher freiwillige Nachschau durch die Waffen-
behörde vom Waffenbesitzer verweigert worden wäre.
Es hat in der Debatte der vergangenen Woche Aus-
wüchse gegeben, die ich hier ansprechen will, weil man
sich als Politiker nicht alles gefallen lassen darf. Die Ak-
tion „Sportwaffen sind Mordwaffen“ hat uns vorgewor-
fen, durch unser angeblich zu lasches Waffenrecht er-
leichterten wir das Morden und seien mitschuldig.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Unver-
schämt!)
Andererseits hat man uns in der Zeitschrift Wild und
Hund wegen des angeblich zu scharfen Waffenrechts als
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25177
(A) (C)
(B) (D)
Reinhard Grindel
– ich zitiere – „Verfassungsschänder“ bezeichnet. Beides
ist unverschämt, und beides weise ich zurück.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vor allem ist beides angesichts des sensiblen Hinter-
grunds der Waffenrechtsänderung in Sprache und Form
völlig unerträglich, um das ganz klar zu betonen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich will aufgrund der vielen Gespräche, die ich in den
letzten Tagen und Wochen auch und gerade in meinem
Wahlkreis geführt habe, sagen: Mancher Vorsitzende ei-
nes Schützenvereins und mancher Leiter eines Hege-
rings ist in Bezug auf die Situation, in der wir uns befin-
den, viel verständnisvoller und viel einsichtiger
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt!)
als Bundes- oder Landesvorsitzende von Schützen- und
Jägerverbänden. Auch das sollten wir in diesem Hohen
Haus ruhig einmal betonen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mit der Änderung des Waffengesetzes eröffnen wir
den zuständigen Ordnungsbehörden das Ermessen, auch
nach drei Jahren das waffenrechtliche Bedürfnis zu über-
prüfen. Schematische Lösungen hätten hier nur zu einer
Überlastung gerade der Beamten geführt, die in Zukunft
mehr kontrollieren sollen.
2012 – und nicht erst, wie die EU es gefordert hat,
2014 – werden wir ein computergestütztes Waffenregis-
ter haben, in dem die Erkenntnisse von 570 Waffenbe-
hörden zusammengefasst werden. Auch das bringt einen
Sicherheitsgewinn, ebenso wie die neuerliche Amnestie
für Besitzer illegaler Waffen, die bis zum 31. Dezember
2009 begrenzt sein wird.
Manche sagen, angesichts der vielen illegalen Waffen
bringe das nicht viel. Ich sage dagegen: Jede illegale
Waffe, die wir mit der Amnestie aus dem Verkehr zie-
hen, bedeutet ein Stück mehr Sicherheit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Hartfrid Wolff [Rems-Murr]
[FDP]: Das ist richtig!)
Die Forderung nach Abschaffung des Sportschießens
mit Großkalibern und nach einer zentralen Lagerung von
Waffen machen wir uns nicht zu eigen, weil dies nur zu
Scheinsicherheit führt.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Völlig rich-
tig!)
Die furchtbaren Morde von Eislingen wenige Wochen
nach Winnenden sind dafür ein Beleg. Die Tat wurde mit
einer Kleinkaliberwaffe ausgeführt, die zuvor aus dem
örtlichen Schützenhaus gestohlen worden war.
Da die häusliche Aufbewahrung von Waffen mit
Großkalibern bei Jägern zwingend ist, wäre es in der Tat
ein Generalverdacht, wenn man Schützen das nicht ge-
statten würde. Außerdem bekämen wir – das ist ein Ar-
gument, das meiner Meinung nach viel stärker betont
werden muss – auf einen Schlag Zehntausende weiterer
illegaler Großkaliberwaffen, was die Sicherheit gefähr-
det und nicht schützt.
Wir haben uns in der Großen Koalition deshalb darauf
verständigt, dass wir lediglich die Altersgrenze für das
Schießen mit Großkaliberwaffen von 14 auf 18 Jahre er-
höhen, also in den Bereich der deliktsrelevanten Alters-
gruppe. Eine zentrale Aufbewahrung von Waffen wäre
nicht nur eine Einladung an Straftäter. Es stellt sich viel-
mehr auch die Frage der praktischen Durchführbarkeit.
Waffen werden herausgegeben; Schützen und Jäger dür-
fen in ganz Europa schießen. Was soll denn unternom-
men werden, wenn eine Waffe abends nicht wieder da
ist?
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich zeige Ihnen gerne Möglich-
keiten auf!)
Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Gedanken.
Wir müssen als Innenpolitiker auch die Kraft aufbringen,
zu sagen: In Sachen Waffenrecht ist jetzt alles getan. Wir
sehen keinen weiteren Verbesserungsbedarf. Wir sehen
nicht, welche weiteren Änderungen in dieses Gesetz ein-
gebracht werden könnten, die zu einem zusätzlichen Si-
cherheitsgewinn führen würden. Sonst müssten wir das
heute beschließen und im Gesetz verankern.
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das müssten wir!)
Die Generalprävention stößt jetzt an ihre Grenzen. Wir
brauchen nun auch einmal eine Phase, in der das Gesetz
wirken kann und wir die Ergebnisse evaluieren.
Die Angehörigen der Opfer von Winnenden haben
recht: Die Kette der Fehlentwicklungen und des Versa-
gens vor einem Amoklauf hat viele Glieder. Es ist begrü-
ßenswert, dass das Aktionsbündnis der Angehörigen
jetzt mit einer Stiftung dazu beitragen will, dass wir an
ganzheitlichen Lösungsansätzen arbeiten.
Aber die Mahnung von Winnenden bleibt: Jeder muss
sich seiner Verantwortung stellen. Wir als Große Koali-
tion tun das mit dem neuen Waffenrecht. Die Änderun-
gen sind geeignet, erforderlich und zumutbar. Kurzum:
Wir achten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dass
wir angesichts einer so schrecklichen Tat als Politiker
nicht tatenlos bleiben dürfen, daran gibt es für mich kei-
nen Zweifel.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das scho-
ckierende Verbrechen von Winnenden und Wendlingen
hat, wie einige Jahre zuvor der Amoklauf in Erfurt, bei
der Regierungskoalition den bekannten Reflex ausge-
löst: Es wird kurzfristig am Waffenrecht herumgedoktert
und damit der Bevölkerung vermeintliche Aktivität
25178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
nachgewiesen, und für die Sicherheit der Menschen ist
fast nichts erreicht. Nicht zuerst die Waffe ist das Pro-
blem, sondern der Mensch, der sie einsetzt. Insofern
muss die gesellschaftspolitische Frage der Gewalt- und
Kriminalprävention vor die Frage waffenrechtlicher Ver-
schärfungen gestellt werden.
(Beifall bei der FDP)
Es ist bezeichnend, dass die Koalition in ihrem eige-
nen Entschließungsantrag kein einziges Wort zu Fragen
der Gewaltprävention findet. Es fehlt trotz aller Beteue-
rungen von Herrn Grindel offensichtlich die Einsicht,
dass vor allem gesellschaftliche Fragen beantwortet wer-
den müssen. Schulsozialarbeit, Elternprojekte, Konflikt-
beratung für Eltern, Lehrer und Schüler sind Beispiele.
Es muss früher und sensibler wahrgenommen werden,
wenn Kinder, Schüler oder Freunde sich absondern oder
Probleme mit sich herumtragen. Eltern und Lehrer müs-
sen schnellere und bessere Unterstützungsangebote er-
halten.
(Beifall bei der FDP)
Als eine der wenigen Präventivmaßnahmen weisen
CDU/CSU und SPD in ihrem Entschließungsantrag da-
rauf hin, dass nach ihrer Meinung unter anderem Paint-
ball menschenverachtend und letztlich verbotswürdig
sei. Das ist schwach und unseriös. Boxen und Fechten
sind olympisch. Paintball sei nun menschenverachtend?
Dies ist eine Logik, die ich nicht verstehe.
Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens; das ist rich-
tig. Wir brauchen eine stärkere Übernahme von Verant-
wortung untereinander und keine Symbolpolitik der Ko-
alition. Die Auseinandersetzung mit den wirklichen
Ursachen haben CDU/CSU und SPD gemieden. Eine
Evaluierung der bisherigen Verschärfungen fand nicht
statt. Stattdessen spielt man mit dem Generalverdacht
gegen Sportschützen, Waffensammler und Jäger. Aus
Sicht der FDP ist das nicht gerechtfertigt und kann eine
Diskussion um die wirklichen Ursachen gewalttätigen
Handelns nicht ersetzen.
Die FDP hält stringente Regeln im deutschen Waffen-
recht für wichtig. Nach Auskunft der Bundesregierung
stammen allerdings nur 2 bis 3 Prozent aller im Zusam-
menhang mit Schusswaffenkriminalität eingesetzten
Waffen aus dem vom Waffenrecht erfassten legalen Be-
sitz. Es gilt, die Zahl der illegalen Waffen massiv zu sen-
ken. Deshalb fordert die FDP in ihrem Entschließungs-
antrag, den illegalen Schusswaffenbesitz einzudämmen,
indem eine Abgabe illegaler Waffen bis zum Stichtag
straffrei gestellt wird.
(Beifall bei der FDP)
Die Forderung nach einem zentralen Waffenregister
basiert auf der Rechtslage der EU und macht Sinn. Aller-
dings sollten wir ehrlich sein und zugeben, dass das
Waffenregister keine der erschreckenden Taten in den
vergangenen Monaten verhindert hätte.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Es ist aber
trotzdem notwendig!)
Der entscheidende waffenrechtliche Ansatz zur Erhö-
hung der öffentlichen Sicherheit ist aus Sicht der FDP
die Beseitigung der Vollzugsdefizite. Hierzu vermissen
wir wirksame Konzepte.
(Beifall bei der FDP)
Das hat auch die Sachverständigenanhörung ergeben.
Wir brauchen regelmäßige Kontrollen der Aufbewah-
rung von Waffen. Das bedarf aber einer personell und
gegebenenfalls auch materiell besser ausgestatteten zu-
ständigen Behörde.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das ist auch
ein Generalverdacht!)
Es ist ein Erfolg liberaler Politik, dass der von der
Union angedachte Eingriff in Grundrechte abgemildert
wurde. Gleichwohl wird an den anlasslosen, unangemel-
deten Kontrollen festgehalten. Dies ist aus Sicht der FDP
nicht hinnehmbar. Wie bei der Vorratsdatenspeicherung
oder bei der Erhebung von Mautdaten zur Strafverfol-
gung wird hier ein Generalverdacht festgeschrieben, der
rechtsstaatlich kritisch zu sehen ist.
Hinsichtlich der zusätzlichen biometrischen Siche-
rungssysteme, die nun per Rechtsverordnung eingeführt
werden können, sind viele Fragen, nicht nur zur Wirk-
samkeit, nach wie vor offen. Jedenfalls kann ich in wei-
teren Sperrsystemen keinen zusätzlichen Sicherheitsge-
winn erkennen, wenn die bislang vorgeschriebenen
Sicherheitsmaßnahmen eingehalten werden. Was nützt
der biometrisch gesicherte Waffenschrank, wenn die
Waffe, wie in Winnenden, gar nicht darin aufbewahrt
wird?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Michael
Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Deshalb
Kontrolle! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]:
Deshalb machen wir einen Straftatbestand!)
Wenn die Vorschriften nicht eingehalten werden, was
nützt dann eine zusätzliche, kostenträchtige Vorschrift?
Die Anträge der Linken und der Grünen sind aus mei-
ner Sicht indiskutabel und zielen am Problem vorbei.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aha!)
Auch das ist in der Sachverständigenanhörung klar he-
rausgestellt worden. Die zentrale Lagerung von Waffen
schafft zusätzliche Sicherheitsrisiken. Das Verbot von
Waffen in Privatbesitz fördert die Illegalität.
Das Hauptanliegen der FDP ist, wirklich etwas gegen
zukünftige Amokläufe, die hoffentlich nicht stattfinden
werden, zu unternehmen,
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Gesagt ha-
ben Sie nichts!)
auch wenn wir eine hundertprozentige Sicherheit leider
nicht garantieren können. Das Waffenrecht ist zur Verhin-
derung von Amokläufen kaum geeignet; das hat die Ver-
gangenheit deutlich gezeigt. Gewaltprävention und -for-
schung müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen
einen nachhaltigen Sicherheitsgewinn und keinen waf-
fenrechtlichen Aktionismus.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25179
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Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(Beifall bei der FDP – Silke Stokar von
Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frei-
heit für Waffenbesitzer! Bravo!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von
der SPD-Fraktion.
Gabriele Fograscher (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ginge es nur um das Sprengstoffrecht, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, dann hätten wir unsere Reden
auch zu Protokoll geben können. Aber wir haben Rege-
lungen zum Waffenrecht an das Sprengstoffrecht ange-
hängt, weil es sonst nicht möglich gewesen wäre, diese
noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.
Der schreckliche Amoklauf von Winnenden im März
dieses Jahres hat uns veranlasst, das geltende Waffen-
recht nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Dabei war
und ist uns bewusst, dass Gesetze allein keine hundert-
prozentige Sicherheit schaffen können. Die Änderungen
können aber dazu beitragen – davon bin ich überzeugt –,
die Verfügbarkeit von Waffen für potenzielle Täter zu
verringern. Jede Waffe weniger im Umlauf ist, vor allen
Dingen, wenn sie illegal besessen wird, ein Sicherheits-
gewinn. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die im Ge-
setzentwurf vorgesehene Amnestieregelung. Ich erwarte
aber auch, dass die Bundesländer und der Bundesinnen-
minister diese Regelung, der sie in einer Arbeitsgruppe
zugestimmt haben, öffentlichkeitswirksam vertreten und
publik machen, damit bis Ende des Jahres möglichst
viele Waffen aus dem Verkehr gezogen werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Mit der heutigen Neuregelung wird auch eine lang-
jährige Forderung der Polizei erfüllt: Bis 2012 wird ein
nationales Waffenregister errichtet. Polizistinnen und
Polizisten können geeignete Maßnahmen zur Eigensi-
cherung ergreifen, wenn sie über Informationen verfü-
gen, ob sie am Einsatzort mit legalen Waffen rechnen
müssen.
Jedes Gesetz wird nur dann ernst genommen und ein-
gehalten, wenn es kontrolliert wird bzw. wenn mit Kon-
trollen zu rechnen ist. Hier gibt es ein Vollzugsdefizit.
Waffen sind gefährliche Gegenstände. Wer mit Waffen
umgehen, sie besitzen oder aufbewahren will, der muss
es sich im Interesse der öffentlichen Sicherheit gefallen
lassen, dass seine Zuverlässigkeit, sein verantwortungs-
voller Umgang und die gesetzlichen Auflagen zur Auf-
bewahrung überprüft und kontrolliert werden.
Ich halte es für richtig, verdachtsunabhängige Kon-
trollen zu ermöglichen. Sportschützen und Jäger sollen
dadurch nicht unter Generalverdacht gestellt werden.
Vielmehr sollte es auch im Interesse aller gesetzestreuen
Waffenbesitzer sein, dass schwarze Schafe, die sich allzu
sorglos verhalten, gefunden werden. Diejenigen, die sich
an das Waffengesetz halten, haben nichts zu befürchten.
Der Vollzug der waffenrechtlichen Bestimmungen
muss von den Bundesländern organisiert und sicherge-
stellt werden. Die Gewährung öffentlicher Sicherheit
liegt in der Verantwortung aller staatlichen Ebenen, und
sie muss ernst genommen werden. Die Länder müssen
das dafür notwendige Personal bereitstellen.
Wir erhöhen die Altersgrenze für das Schießen mit
großkalibrigen Waffen von 14 auf 18 Jahre. Die SPD-
Bundestagsfraktion – das möchte ich betonen – hätte
sich sogar vorstellen können, ein Verbot dieser Waffen
für den Schießsport auszusprechen.
(Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz
[SPD])
Sie werden nämlich aus gutem Grund auch im olympi-
schen Schießsport nicht verwendet.
Ich begrüße die Neuregelung, dass die Waffenbehörde
künftig nicht nur, wie bisher, nach Ablauf von drei Jah-
ren nach Erteilung der ersten waffenrechtlichen Erlaub-
nis, sondern auch darüber hinaus das Fortbestehen des
waffenrechtlichen Bedürfnisses von Waffenbesitzern
überprüfen kann. Diese Regelung kann dazu führen, dass
Waffenberechtigungen öfter als bisher aberkannt wer-
den. Auch dies kann einen Sicherheitsgewinn darstellen.
Dem Bundesinnenministerium wird in Zukunft er-
möglicht, im Wege von Rechtsverordnungen moderne
technische Systeme der Absicherung von Waffen und
Waffenschränken zu verlangen. Dies betrifft insbeson-
dere biometrische Sicherungssysteme. Bessere Siche-
rung bringt mehr Sicherheit. Wir haben die Erfahrung
gemacht, dass die Entwicklung moderner Sicherungs-
systeme beschleunigt wird, wenn der Gesetzgeber, wie
er es bei den Erbwaffen getan hat, die entsprechenden
Normen setzt.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Stimmt!)
Es gibt bereits gute Ansätze für neue Sicherungssys-
teme. Bevor sie eingeführt werden können, müssen sie
allerdings noch Marktreife erlangen.
Nach dem Amoklauf von Winnenden wurden immer
wieder die Forderungen erhoben, Waffen und Munition
in Privatbesitz gänzlich zu verbieten und zentral zu la-
gern. Diese radikale Lösung birgt meiner Meinung nach
neue Sicherheitsrisiken. Die Ansammlung einer großen
Zahl von Waffen und von viel Munition an einem Ort ist
trotz bester Sicherung ein Anreiz für Straftäter, an
Schusswaffen zu kommen; das gilt nicht nur für Amok-
läufer.
Es mag regionale Unterschiede geben. Die meisten
Schützenheime befinden sich allerdings außerhalb von
Ortschaften, vor allem im ländlichen Bereich. Dort ist
eine Sicherung und Überwachung durch Ordnungsbe-
hörden nahezu unmöglich. Der Einbruch zweier Männer
in ein Schützenhaus in Eislingen, aus dem sie Waffen
entwendet und danach ein Familiendrama angerichtet
haben, hat dies deutlich gemacht; dieser Fall ist vorhin
schon angesprochen worden.
In diesem Zusammenhang möchte ich den Sachver-
ständigen Hofius zitieren, der in der Anhörung ausge-
führt hat:
25180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Gabriele Fograscher
Insgesamt überwiegt das Risiko für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung bei einer zentralen Aufbe-
wahrung legaler Schusswaffen gegenüber der ge-
setzmäßigen Verwahrung in Privathaushalten aus
meiner Sicht sehr deutlich.
So äußerte sich der Experte.
Ich halte die jetzt gefundenen Lösungen für notwen-
dig und geeignet, die öffentliche Sicherheit zu erhöhen.
Mit ist aber klar, dass auch dadurch kein 100-prozentiger
Schutz vor Amokläufen zu gewährleisten ist.
Motive und Ursachen solcher Taten sind sehr vielsei-
tig. Der Griff zur Waffe ist nur das letzte Glied in einer
langen Kette. Die tieferen Ursachen liegen sicherlich
woanders. Fehlende Anerkennung in Familie und sozia-
lem Umfeld, Kränkungen, Mobbing, Gewalterfahrungen
in der Schule, psychische Fehlentwicklungen, die sich in
Rachefantasien und Abkapselung von der Außenwelt
steigern, die exzessive Nutzung von Computerspielen
und das Zurückziehen in eine eigene virtuelle Welt sind
solche Ursachen. Dagegen helfen keine Gesetze. Hier
muss sich eine Kultur des Hinsehens, ein System der
Hilfe und Beratung entwickeln, um ein Abdriften von
jungen Menschen, vor allem von jungen Männern, zu
verhindern.
Dies ist eine Aufgabe, die nicht nur die Innenpolitiker
des Bundestages beschäftigen muss und die nicht mit
diesen waffenrechtlichen Änderungen abgeschlossen ist.
Änderungen im Waffenrecht sind nur ein kleiner Mosaik-
stein bei der Verhinderung oder Erschwerung von Amok-
läufen. Sie sind aber ein Anfang und ein Schritt in die
richtige Richtung.
Danke sehr.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Amoklauf von Winnenden hat deutlich gemacht, dass
gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Wir alle ha-
ben die Verantwortung, alles dafür zu tun, dass sich sol-
che Tragödien nicht wiederholen.
Das ist auch die Messlatte, die die Fraktion Die Linke
an den Gesetzentwurf der Bundesregierung legt. Was die
Bundesregierung hier vorgelegt hat, bleibt aber weit un-
terhalb dessen, was notwendig ist; denn sie hat dem
Druck der Lobbys nachgegeben.
Amokläufer verwenden Waffen, auf die sie direkt und
unkompliziert zugreifen können. Seien es Amokläufe
oder auch Massaker in Familien – die Waffen sind nicht
gestohlen, sondern gehören den Tätern oder ihren meist
männlichen Verwandten. Deshalb setzt die Fraktion Die
Linke an diesem Punkt an und fordert: Schusswaffen
raus aus den Privathaushalten.
(Beifall bei der LINKEN)
Damit entfällt nämlich eine unmittelbare Voraussetzung
für Amokläufe. Das haben übrigens auch die Angehöri-
gen in ihrem Forderungspaket aufgeführt, Herr Wolff.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der Fall in
Eislingen spricht aber genau dagegen, Frau
Jelpke!)
Die Bundesregierung will es dagegen bei der alten
Regelung belassen. Sie kündigt mehr Kontrollen an, um
die sichere Lagerung von Waffen zu Hause zu prüfen.
Hier stellt sich aber zunächst die Frage, woher die
Kontrolleure eigentlich kommen sollen. Angesichts der
3 bis 5 Millionen Menschen, denen der Waffenbesitz er-
laubt ist, handelt es sich doch um eine Mammutaufgabe.
Die Sachverständigen in der Anhörung am Montag hiel-
ten selbst Stichproben angesichts der Personalnot für
nicht durchführbar. Vor diesem Hintergrund ist diese An-
kündigung ein Papiertiger und hat keine praktischen Fol-
gen.
Außerdem stellt sich die Frage, welche Befugnisse
die Kontrolleure eigentlich haben sollen und ob die Un-
verletzlichkeit der Wohnung im Gesetz tatsächlich klar
geregelt ist. Es gilt doch, Folgendes zu bedenken: Wenn
ein Waffenbesitzer die Kontrolleure nicht freiwillig in
seine Wohnung lassen will, aber in diesem Fall um sei-
nen Waffenschein fürchten muss, ist es mit der Freiwil-
ligkeit nicht weit her.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wofür sind
Sie denn?)
Meine Damen und Herren, die Koalitionspläne ent-
halten durchaus Zustimmenswertes, etwa die Einführung
des längst überfälligen Waffenregisters. Insgesamt wer-
den Sie aber dem Anspruch, Amokläufen wirklich vor-
zubeugen, in keiner Weise gerecht. Deswegen lehnen
wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung ab.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie für oder
gegen Kontrolle?)
Im Übrigen vermissen wir den Blick über das Waffen-
recht hinaus. Wir müssen auch die Frage stellen, was in
unserer Gesellschaft schief läuft, wenn junge Männer zu
psychopathischen Mördern werden. Welche Rolle spie-
len Leistungsdruck in der Schule und im Arbeitsleben
sowie falsche Erziehungsverläufe? Wo können psycho-
logische Hilfestellungen verbessert und die Hemm-
schwellen zu ihrer Nutzung gesenkt werden? Auf diese
Fragen werden mit diesem Gesetz keine Antworten ge-
geben. Wer sie nicht stellt, betreibt aber nur Symptom-
politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Es geht überhaupt nicht darum, Sportschützen unter
Generalverdacht zu stellen. Das möchte ich hier ganz be-
sonders betonen. Wir appellieren sogar an Schützenver-
bände und Sportvereine, konstruktiv an besseren Vor-
schlägen mitzuwirken, als sie uns die Regierung heute
anbietet, um die Wiederholung solcher Amokläufe nach
Möglichkeit auszuschließen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25181
(A) (C)
(B) (D)
Ulla Jelpke
Dem dient unser Antrag. Ich sage es noch einmal:
Schusswaffen raus aus Privathaushalten.
(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wohin denn?
Ins Waffenlager?)
Die Waffen raus aus den Wohnungen, sie an sicheren Or-
ten unterbringen – wir haben lange darüber diskutiert –
und damit den Zugriff für Unbefugte massiv erschwe-
ren! Wir wissen natürlich auch, dass wir auf diese Weise
Amokläufen und Massakern nicht gänzlich den Weg ab-
schneiden. Auf jeden Fall würde man damit aber dafür
sorgen, dass Waffen nicht mehr so leicht zugänglich
sind.
Ich möchte noch einmal sagen: Gerade die Angehöri-
gen haben sehr deutlich erklärt, dass Familienangehörige
– vor allem Söhne, männliche Täter – genau wissen, wie
sie an den Waffenschrank kommen, auch wenn diese in
ein paar Jahren vielleicht biometrisch gesichterte Schlös-
ser oder Ähnliches haben. Ich kann nicht einsehen, wa-
rum jemand im Haushalt Waffen haben sollte. Raus da-
mit!
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
von Bündnis 90/Die Grünen.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute erneut über eine Verschärfung des Waffenrechts,
weil wir nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymna-
sium in Erfurt eine unzulängliche Verschärfung des Waf-
fenrechts beschlossen haben. Seit Erfurt – das ist die
Realität – haben wir nicht weniger gefährliche Schuss-
waffen in Privathaushalten, sondern mehr.
Jetzt nach Winnenden höre ich von der Großen Koali-
tion, von Herrn Grindel, dass sie das Waffenrecht gar
nicht verschärfen will. Meine Antwort ist: Genau das
machen Sie auch nicht. Auch nach dem tragischen Er-
eignis von Winnenden ist die Antwort der Großen Koali-
tion an die Angehörigen – mit denen wir alle uns in ei-
nem sehr bewegenden Gespräch unterhalten haben –:
Wir verschärfen das Waffenrecht nicht. – Ich verstehe,
dass die Waffenlobby Ihnen erneut Beifall zollt.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie sollten
einmal die Briefe lesen, die wir erhalten! Mit
Beifall ist es da nicht weit her!)
In Winnenden – ich möchte hier nur ein Beispiel
schildern – musste eine junge Referendarin sterben, weil
ein Projektil die geschlossene Holztür des Klassenraums
von 8 Zentimetern Dicke durchschlug, ihren Körper
durchdrang und erst 8 Meter weiter im Metallrahmen ei-
ner anderen Tür stecken blieb.
Die Frage, die wir uns heute stellen sollten – wir
Grüne stellen diese Frage –, ist: Wollen wir, dass Waffen
wie die 9-Millimeter-Beretta, die Waffe des Täters von
Winnenden, weiter als Sportwaffe zugelassen sind? Ich
sage, Nein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir können die Entscheidung, was noch Sportschießen
ist und wo ein unverhältnismäßiges Risiko für die öffent-
liche Sicherheit beginnt, nicht länger den Schützenverei-
nen und den Sportverordnungen überlassen. Meine For-
derung ist ganz klar, dass wir im Waffengesetz definieren,
was Sportwaffen sind und wo ein unverhältnismäßiges
Risiko für die Bevölkerung beginnt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, mit Ih-
rer Antwort – 150 Seiten Anträge – reduzieren Sie den
Bestand der Waffen in Privathaushalten um keine ein-
zige Waffe. Was Sie hier mit viel Gedöns machen, ist
nichts anderes, als dass Sie ein bisschen weiße Salbe um
die Waffenschränke schmieren; aber Sie räumen die
Waffenschränke nicht aus.
Wir wollen, dass großkalibrige Kurzwaffen nicht län-
ger als Sportwaffen zugelassen werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Eines ist in der Anhörung nämlich ganz deutlich gewor-
den: Erst die einfache Verfügbarkeit großkalibriger Kurz-
waffen ermöglichst es den potenziellen Tätern – derzeit
haben über 20 labile Jugendliche in Deutschland die Fan-
tasie, einen neuen Amoklauf zu starten –, den Tatgedan-
ken in die Realität umzusetzen.
Ich sage nach Winnenden: Auf tödliche Sportwaffen
können wir verzichten. Wir sind aber nicht bereit, auf die
Sicherheit unserer Kinder an den Schulen zu verzichten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Herrn
Grindel machen. Die zentrale Forderung des „Aktions-
bündnisses Amoklauf Winnenden“ haben Sie hier ver-
schwiegen. Sie lautet: Weg mit diesen tödlichen Waffen
aus dem Sport!
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich
doch gesagt!)
Sie haben hier auch die Initiative, die wir als Experten
geladen haben, falsch benannt; denn diese Initiative
heißt: „Keine Mordwaffen als Sportwaffen!“ Damit ist
gemeint, dass tödliche Waffen im Sport nichts zu suchen
haben. Ich halte es für richtig, dass wir über diese Forde-
rung ernsthaft diskutieren.
Eines ist an Ihnen völlig vorbeigegangen: Wir haben
eine völlig neue Dimension der gesellschaftlichen De-
batte über das Waffenrecht. Eltern, Lehrer und Schüler
sind heute die Experten. Sie sagen: Wir wollen, dass die
Schule ein angstfreier Raum bleibt, wir wollen nicht län-
ger mit dem Risiko leben, das von einer kleinen Minder-
heit – nicht einmal 5 Prozent der Sportschützen schießen
mit diesen Waffen – ausgeht.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was ist mit den
Jägern? Das Problem ist das Gleiche!)
25182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Sie erreichen mit Ihrem Gesetzentwurf nicht einmal
ansatzweise eine Reduzierung der Anzahl von Waffen.
Ich finde das erbärmlich und verantwortungslos.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Sprengstoffgesetzes. Es liegen mehrere Erklärungen
zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor,
die wir zu Protokoll nehmen.1)
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/13423, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 16/12597 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/13423 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Sie müssen schon die Hand he-
ben.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie sind zu leise,
Herr Präsident! Oder wir sind zu laut!)
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Was war bei den Lin-
ken?
(Ute Kumpf [SPD]: Sie sind dagegen!)
Darf ich einmal die Fraktion der Linken fragen, ob sie
ablehnt?
(Zuruf von der LINKEN: Entschließungsan-
trag der FDP?)
– Es geht um die Entschließung der Koalition.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Herr Präsi-
dent, wir möchten, dass festgehalten wird, dass
1) Anlage 44
die Linke nicht mit uns gestimmt hat! Darauf
legen wir schon Wert! – Volker Schneider
[Saarbrücken] [DIE LINKE]: Wir lehnen ab!)
– Sie lehnen ab.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Dann ist die
Welt wieder in Ordnung!)
Die Beschlussempfehlung ist also mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13472? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-
trag ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13473? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Änderung des Waffengesetzes. Der Innen-
ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13423, den Gesetzentwurf der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12663 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Ent-
haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Innenausschusses auf Drucksache 16/13423
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/12395 mit dem Titel
„Keine Schusswaffen in Privathaushalten – Änderung
des Waffenrechts“. Wer stimmt für die Beschlussemp-
fehlung des Innenausschusses? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12477 mit
dem Titel „Abrüstung in Privatwohnungen – Maßnah-
men gegen Waffenmissbrauch“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25183
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivile Krisenprävention und Friedensförde-
rung brauchen einen neuen Schub
– Drucksache 16/13392 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bedeutung und der Vorrang ziviler Krisenprävention
sind eigentlich unstrittig. Gewaltkonflikte zu verhüten
und zu überwinden, gebietet sich aus dem Friedensauf-
trag des Grundgesetzes und der Charta der Vereinten Na-
tionen.
Die Erfahrungen der 90er-Jahre auf dem Balkan, in
Afrika und in anderen Krisenregionen haben uns damals
sehr deutlich gezeigt, dass die Mittel der Diplomatie und
des traditionellen Peacekeepings nicht ausreichen, um
diese Krisen bewältigen zu können. 1998/99 wurde mit
dem Start der rot-grünen Koalition einiges auf den Weg
gebracht. Zehn Jahre danach ist es jetzt an der Zeit, eine
Zwischenbilanz zu ziehen.
Es wurden in der Tat etliche Einrichtungen und neue
Instrumente geschaffen, die zum Teil weltweit ihresglei-
chen suchen. Ich nenne als Beispiele nur das Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze in Berlin, den Zivilen
Friedensdienst, die Deutsche Stiftung Friedensfor-
schung, die krisenpräventive Ausrichtung der Entwick-
lungszusammenarbeit, die polizeilichen Ausbildungs-
stätten für Auslandseinsätze und die im Jahr 2004 im
Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung
und Friedenskonsolidierung“ der Bundesregierung zu-
sammengefassten Maßnahmen.
Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, an dieser Stelle
all den Friedenspraktikerinnen und Friedenspraktikern
zu danken, die seitdem in Krisenregionen Vorzügliches
geleistet haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Beispielhaft dafür möchte ich den Direktor und Spiritus
Rector des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze,
Dr. Winrich Kühne, nennen, der jetzt leider in Pension
geht. Ich möchte diesem deutschen Mister Peacekee-
ping, wie ich ihn einmal nenne, unseren Antrag widmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es schmälert die Leistungen dieser Friedenspraktike-
rinnen und Friedenspraktiker bis auf die Ebene des Aus-
wärtigen Amtes in keiner Weise, wenn ich nach dem
halbvollen Glas jetzt auf das halbleere Glas zu sprechen
komme. Bei multinationalen Krisenengagements und
Friedensmissionen zeigt sich immer deutlicher und
dringlicher, wie rückständig die zivilen und polizeilichen
Fähigkeiten sind. Ich erlebe als Mitglied des Verteidi-
gungsausschusses besonders deutlich, dass die Bundes-
wehr bei der Transformation bzw. der Weiterentwick-
lung ihrer Fähigkeiten viel schneller ist, als wir es im
gesamten zivilen Sektor sind, und das bei sehr unter-
schiedlichen Ausgangsbasen.
Ich möchte ein Beispiel nennen: Es macht äußerste
Mühe, für den viel gerühmten Provincial Development
Fund in Nordostafghanistan die gewünschten 1 bis
2 Millionen Euro zu erhalten. Gleichzeitig wurden ges-
tern im Rahmen der großen Abstimmungen in den ent-
sprechenden Ausschüssen Rüstungsprojekte für mehr als
6 Milliarden Euro beschlossen. Das zeigt, dass die Rela-
tionen offensichtlich nicht stimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn man sich die Aktivitäten anderer Länder auf
diesem Gebiet ansieht, muss man leider feststellen, dass
die Bundesrepublik ihre Vorreiterrolle verloren hat. Das
Politikfeld der zivilen Krisenprävention und der Frie-
densförderung braucht also einen neuen Schub. Von un-
seren zahlreichen Vorschlägen möchte ich daher einige
wichtige benennen.
Der erste Punkt betrifft die konzeptionelle Ebene. In
der Sicherheitspolitik ist es üblich, Risiko- und Bedro-
hungsanalysen anzufertigen. Wo aber sind die Chancen-
analysen? Wenn wir den Frieden fördern wollen, brau-
chen wir Kenntnis von den entsprechenden Chancen und
der Friedenspotenziale, die gefördert werden sollen,
brauchen wir deren Identifizierung.
Eine weitere Ebene ist die Kohärenz; das wissen alle,
die mit Krisenengagements zu tun haben. Es geht also
um das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure.
Unseres Erachtens ist es an dieser Stelle dringend not-
wendig, gemeinsame ressortübergreifende Strukturen
bei der Frühwarnung, der Planung und der Führung sol-
cher Einsätze einzurichten. Hilfreich sind auch gemein-
same Finanzierungsinstrumente.
Der Ressortkreis „Zivile Krisenprävention“ muss
mehr Steuerungskompetenz bekommen. Schließlich geht
es darum, die verschiedenen Fähigkeiten im Bereich der
zivilen Krisenprävention endlich systematisch zu stär-
ken. Was ist dabei hilfreich? Hilfreich wäre ein Mittel,
das auch die Europäische Union eingesetzt hat, nämlich
schlichtweg die Definition von zivilen Planzielen. Wie
viele Polizeiberater brauchen wir? Wie viele Rechts-
staatsexperten brauchen wir? Diese kann man schließ-
lich nicht von jetzt auf gleich irgendwoher zaubern.
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Die zivile Kri-
senprävention ist in der Öffentlichkeit sehr schwer ver-
käuflich. Sie ist kompliziert, sie ist langwierig, und sie
ist prozessorientiert. Wenn sie erfolgreich ist und das
Haus nicht brennt, ist sie nicht beweisbar und nicht
25184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Winfried Nachtwei
sichtbar. Das ist ein Handicap sondergleichen. Man darf
sich damit aber nicht abfinden. Im Gegenteil: Man muss
sich Gedanken über eine entsprechende Kommunika-
tionsstrategie machen. Es gibt gute Beispiele wie „Peace
Counts“ oder andere Dinge, die von der Bundesregie-
rung in der Vergangenheit unterstützt wurden. Wichtig
ist eine Kommunikationsstrategie mit entsprechender
Unterfütterung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Seit 1994 versuche ich, vor allem zusammen mit Uta
Zapf aus der SPD, mich für dieses Politikfeld stark zu
machen und für die Umsetzung zu arbeiten. Ich vermute
fast, dass unser Antrag heute nicht bei allen Zustimmung
findet, auch wenn es inhaltlich bilateral so manchen
Konsens gibt. Umso mehr möchte ich Ihnen den Antrag
für die nächste Legislaturperiode ans Herz legen. Er soll
als Material für die nächsten Koalitionsverhandlungen –
zwischen wem auch immer – dienen und berücksichtigt
werden.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Niels Annen [SPD] – Niels
Annen [SPD]: Ich kümmere mich dann da-
rum!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Holger Haibach (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Worten
des Kollegen Nachtwei fällt es schwer, konfrontativ auf-
zutreten. Das hatte ich aber ohnehin nicht vor. Denn ich
finde, dass das, was in Bezug auf die Zielsetzung im An-
trag steht, zum großen Teil richtig ist. Auch über Par-
teigrenzen hinweg gibt es da durchaus einen Konsens.
Es ist allerdings fraglich, ob ich alle Bewertungen des
Antrags wirklich teilen kann; das ist der Punkt, an dem
sich die Geister scheiden. Dies betrifft insbesondere die
Bewertungen im Hinblick auf die Frage, wo wir heute
stehen und wo wir vor acht bzw. zehn Jahren gestanden
haben, sowie die Bewertungen im Hinblick auf die
Frage, was der Anteil der früheren und was der Anteil
der jetzigen Bundesregierung und der sie tragenden
Mehrheitskoalition ist. In Bezug auf diese Punkte liegen
unsere Beurteilungen sicherlich auseinander. Das ist
aber eine Frage der Perspektive. Ich denke, im Ziel sind
wir uns einig.
In einem Punkt haben Sie vollkommen recht: Eines
der größten Probleme ist, als Erfolg etwas darzustellen,
was nicht geschehen ist. Das ist im Menschenrechtsaus-
schuss nichts anderes als in einer Debatte über zivile
Krisenprävention. Wie will man beweisen, dass eine hu-
manitäre Katastrophe nicht eingetreten ist? Wie will man
nachweisen, dass ein Konflikt durch gute Präventionsar-
beit nicht zu einem Krieg geworden ist? All diese Fragen
drängen sich einem auf, wenn man sich mit dieser durch-
aus nicht einfachen Materie befasst.
Es ist richtig: Deutschland hat, wie ich finde, ein
ziemlich vorbildliches Instrumentarium mit dem ZIF,
dem ZFD, dem Ressortkreis und vielen anderen wichti-
gen Organisationen. Es gibt vor allem eine reiche Szene
an Nichtregierungsorganisationen, die sich in Deutsch-
land dieses Themas annehmen. Dafür können wir dank-
bar sein; denn es ist eigentlich das, was uns in diesem
Bereich weiterhilft. Wie wir wissen, würden wir ohne
das Engagement der Nichtregierungsorganisationen kei-
nen Erfolg haben.
Ich will deutlich machen, dass einiges in der Regie-
rungszeit der Großen Koalition – auch durch das Enga-
gement der sie tragenden Fraktionen – vorangebracht
worden ist. Wir haben im letzten Jahr unter anderem da-
für gesorgt, dass der Etat für die zivile Krisenprävention
von 12 Millionen auf 60 Millionen Euro verfünffacht
wurde.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das war gut!)
Das ist kein kleiner Beitrag. Ich finde, das darf man in
dieser Debatte durchaus werbend sagen, weil es sich um
gelebte Umsetzung politischer Zielsetzung handelt. Das
ist der eine Punkt.
Der andere Punkt ist: Wir haben mit dem sogenannten
Sekundierungsgesetz ein Stück weit Rechtssicherheit für
diejenigen geschaffen, die für uns zivile Friedensarbeit
und Präventionsarbeit in zum Teil sehr schwierigen Aus-
landsmissionen leisten. Dieses Gesetz sorgt dafür, dass
diejenigen, die im Ausland für uns tätig sind, sicher sein
können, dass zumindest die Erfüllung der Grundbedürf-
nisse gewährleistet ist, was Versicherungsfragen, zum
Beispiel betreffend die Sozial- und Arbeitslosenversi-
cherung, angeht. Darauf können wir durchaus stolz sein,
und damit können wir zufrieden sein.
Natürlich gibt es immer viel zu tun und Raum für Ver-
besserungen. Ich bin mir aber nicht ganz so sicher, ob
Sie den einen oder anderen Punkt, den Sie in Ihrem An-
trag beschreiben, ausgerechnet der Großen Koalition an-
lasten können. Sie klagen zum Beispiel darüber, dass es
Verbesserungsmöglichkeiten im Rahmen der interminis-
teriellen Zusammenarbeit gibt. Die Auseinandersetzun-
gen über die Zuständigkeiten zwischen BMZ und Aus-
wärtigem Amt sind vermutlich so alt wie die beiden
Ministerien. Das heißt nicht, dass man nichts tun sollte.
Aber ich glaube, dass gerade durch die Schaffung des
Ressortkreises ein Schritt in die richtige Richtung ge-
macht worden ist.
Es liegt letzten Endes auch ein bisschen an uns Abge-
ordneten. Wenn ich mir anschaue, zu welcher Zeit und
mit welcher Präsenz hier im Deutschen Bundestag über
Auslandseinsätze und die erste Aufsetzung des Plans zur
zivilen Krisenprävention diskutiert wurde, dann muss
ich feststellen: Das sagt etwas darüber aus, wie wir – ich
meine nicht die Anwesenden; ich setze voraus, dass
diese sich dafür interessieren – mit der ganzen Sache
umgehen. Wir sollten bei unseren Kolleginnen und Kol-
legen für die Sache werbend eintreten; denn sie ist zu
wichtig, als darüber zu einer relativ ungünstigen Zeit
und vor einem relativ kleinen Publikum zu diskutieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25185
(A) (C)
(B) (D)
Holger Haibach
Ich versuche, ein Resümee der Arbeit zu ziehen, die
in den vier Jahren geleistet worden ist, in denen ich für
die CDU/CSU in diesem Bereich tätig war. Wir sind
auch in dieser Legislaturperiode ein gutes Stück voran-
gekommen. Es hat Verbesserungen in monetärer Hin-
sicht, aber auch beim Schutz derjenigen gegeben, die für
uns in Auslandseinsätzen und zivilen Friedensmissionen
tätig sind. Natürlich gibt es noch viel zu tun; denn zivile
Krisenprävention beleuchtet auch andere Politikberei-
che. Wenn zum Beispiel Staatsminister Erler kürzlich in
einem Zeitungsinterview sagt, es sei schon ein Problem,
dass wir mit den Kleinwaffenexporten nicht so zurande
kämen, wie wir das eigentlich sollten, dann zeigt das,
dass auch die Bundesregierung der Meinung ist, dass wir
einen kompletten Blick auf die Dinge brauchen. Es geht
nicht nur darum, Pläne zu machen, diejenigen zu unter-
stützen, die in Auslandseinsätzen tätig sind, Auslands-
einsätze der Bundeswehr bzw. Einsätze Deutschlands so
zu gestalten, dass sie kohärente Ansätze bieten, sondern
auch darum, dass wir unsere Aufgaben in anderen Berei-
chen wie beim Rüstungsexport verantwortlich wahrneh-
men. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir uns mit
den Resultaten nicht zu verstecken brauchen.
Ich will erwähnen, dass Herr Nachtwei in seinem An-
trag unter anderem die Rolle der USA in einem be-
stimmten Bereich der zivilen Krisenprävention lobend
hervorhebt. Ich hätte nicht geglaubt, dass es einmal dazu
kommt; aber es zeigt vielleicht, dass an dieser Stelle an-
dere von uns gelernt haben.
(Uta Zapf [SPD]: Das ist auch nicht so dolle!
Bei der CDU/CSU hat es auch lange gedau-
ert!)
„Vernetzte Sicherheit“ ist ein Begriff, der einmal bei uns
seinen Anfang genommen hat. Wenn ich mir das Enga-
gement der Bundeswehr und der gesamten deutschen
Community in Afghanistan anschaue, komme ich zu
dem Schluss, dass wir anderen Partnern, die an diesem
Einsatz beteiligt gewesen sind, durchaus wichtige Im-
pulse gegeben haben.
Insgesamt sind einige Erfolge vorzuweisen. In diesem
Bereich gibt es immer viel zu tun. Ich würde mir mehr
Aufmerksamkeit wünschen. Eine Kommunikationsstra-
tegie ist hier sicherlich der richtige Weg. Weil ich weiß,
dass wir alle heute Abend noch etwas vorhaben – ich
weiß, dass das ein wichtiges Thema ist –, möchte ich Ih-
nen die zwei Minuten Redezeit, die ich noch habe,
schenken und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend
und weiterhin eine gute Beratung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus von
der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Hellmut Königshaus (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, dass es im Bereich der Krisenprävention – da hat
Herr Haibach recht – auch im Hinblick auf die Zielset-
zung eine große Übereinstimmung gibt. Frau Zapf, Herr
Haibach, Winfried Nachtwei und ich, gelegentlich auch
die Linken
(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Gele-
gentlich?)
– ich kann mich nicht erinnern, wann das war; aber mög-
licherweise sind auch die Linken gelegentlich im Beirat
anwesend –, sind an dem Thema ziemlich nah dran.
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Bring den Schäfer
nicht in Schwierigkeiten!)
Nach einem Blick auf die Regierungsbank zeigt sich
– wenn ich das einmal sagen darf –: Das gilt nicht für
das BMZ. Das ist bedauerlich.
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das passt ins Bild!)
Wir hatten schon einmal Anlass, darüber zu klagen. Ich
glaube, gerade im Bereich der Entwicklungsbemühun-
gen ist eine Verzahnung notwendig; andernfalls können
wir hier nicht über echte Krisenprävention reden.
Im Ansatz ist der von den Grünen eingebrachte An-
trag auch von unserer Seite ausdrücklich zu begrüßen;
denn Krisenprävention ist eigentlich ein urliberales
Thema, das die FDP schon seit ewigen Zeiten verfolgt,
(Uta Zapf [SPD]: Deswegen habt ihr vor ein
paar Jahren noch dagegen angestunken!)
auch schon zu Zeiten der liberalen Außenminister Walter
Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Be-
reits damals wurde dieses Thema als Teil der Außenpoli-
tik insgesamt behandelt, ohne dass man ein großes Pla-
kat vor sich hergetragen hätte.
Das Thema ist für unsere Außen- und Sicherheitspoli-
tik zentral und wichtig; denn der Aufbau stabiler Zivil-
gesellschaften, die Förderung von Frieden in der Welt
und die Prävention von internationalen Krisen sind Vo-
raussetzung dafür, dass wir friedlich zusammenleben
können. Deshalb habe ich mich, als ich zu Beginn der
Legislaturperiode zum ersten Mal mit diesem Thema be-
fasst wurde, sehr darüber gefreut, dass ich mit Winfried
Nachwei auf einen Menschen stieß, der in diesem Be-
reich ein überzeugender und tatsächlich weitsichtiger
Fürsprecher war, natürlich – ich will da niemanden zu-
rücksetzen – neben anderen. Ich spreche Winfried
Nachtwei als Antragsteller gesondert an, weil er heute,
wie wir wissen, wohl zum letzten Mal zu diesem Thema
gesprochen hat.
Ich hätte mich deshalb sehr darüber gefreut, wenn wir
zu diesem Anlass seinem Antrag hätten zustimmen kön-
nen. Das können wir leider nicht, jedenfalls nicht unein-
geschränkt. Ich will das begründen. In weiten Teilen
kann man dem Antrag folgen. Mit den konkreten Forde-
rungen haben wir wenig Probleme. Schon der erste Teil
zeigt aber, dass offenbar auch andere Auffassungen in
die Bearbeitung eingeflossen sind, denen wir leider nicht
folgen können; wir wollen es auch nicht. Teilweise kom-
men hier idealistische, pazifistische Vorbehalte zum
Ausdruck, die für sich genommen ihre Begründung ha-
25186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Hellmut Königshaus
ben, aber im Zusammenhang mit Krisenprävention in
dieser Absolutheit sicherlich falsch sind.
Nehmen Sie nur die dort enthaltene Behauptung – ich
zitiere einmal –:
Mit Rüstungsexporten in Krisenregionen wie In-
dien, Pakistan und Staaten des Nahen Ostens unter-
stützt die Bundesregierung die Gewaltspirale und
das Wettrüsten.
Allein die Formulierung „unterstützt die Bundesre-
gierung“ sagt beinahe aus, die Bundesregierung heize
vorsätzlich die Gewaltspirale an. Das ist doch eine Über-
zeichnung. Diese Formulierung könnte auch den Ein-
druck erwecken, es kämen irgendwelche antiisraelischen
Einstellungen zum Ausdruck. Das ist ja die zentrale
Frage im Nahen Osten.
Wir alle wissen auch, dass diese Behauptung eben
nicht stimmt, dass manchmal militärische Mittel not-
wendig und Teil oder sogar Voraussetzung der Krisen-
prävention sein können. In Afghanistan oder Pakistan ist
das ganz offenkundig. Dort können wir auf den Einsatz
militärischer Mittel nicht verzichten. Wir können doch
den Terroristen dort nicht freie Hand lassen. Es steht
auch außer Frage, dass ohne diese konkreten militäri-
schen Maßnahmen in Kombination mit zivilen Aufbau-
arbeiten eine funktionierende Zivilgesellschaft gar nicht
aufgebaut werden könnte.
Natürlich ist der Einsatz von Militär allein nicht die
Lösung. Wir brauchen zivile Aufbaumaßnahmen. Das ist
vollkommen klar. Dies wurde – da haben Sie recht – von
der Bundesregierung nicht mit dem notwendigen Nach-
druck verfolgt.
(Uta Zapf [SPD]: Das ist gar nicht wahr!)
Ich habe eben schon angesprochen, welches Ministerium
für diesen zivilen Teil zuständig wäre und gerade in die-
sem Bereich wenig Engagement zeigt, was sich allein
schon an der Präsenz hier im Saal zeigt.
Sie haben recht: Militäreinsätze sind teurer als friedli-
cher Aufbau. Das stimmt, das ist eine Erkenntnis, die
auch wir schon lange haben und auf deren Grundlage li-
berale Außenpolitik schon immer verfolgt wurde. Aber
manchmal muss man beides einsetzen. Das wollen wir.
Die Welt ist eben nicht nur gut oder nur schlecht, sie ist
oftmals beides. Auf beides muss man entsprechend re-
agieren.
Den Forderungen des Antrags, die wir mit großer
Sympathie sehen, könnten wir zustimmen. Aber zur Ab-
stimmung steht ein Antrag, in dem auch all diese ande-
ren Komponenten enthalten sind. Deshalb werden wir
uns bei der Abstimmung über den Antrag enthalten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried
Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-
Fraktion.
Uta Zapf (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Winni Nachtwei, ich gehe nicht so sanft mit dir
um, wie es die Kollegen vor mir getan haben. Erster
Punkt: Du hast uns diesen Antrag für die nächste Legis-
laturperiode ans Herz gelegt. Wenn es dir und den Grü-
nen wirklich ernst gewesen wäre und es nicht um Wahl-
kampf gegangen wäre, dann hättet ihr zwei Monate
vorher versucht, einen interfraktionellen Antrag unter
Einschluss der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der
Linken vorzulegen; vielleicht hätten die Linken dann
mitgestimmt.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist eine Unterstellung!)
Ich will etwas zu Herrn Königshaus sagen. Mein his-
torisches Gedächtnis sagt mir etwas anderes als das, was
Sie eben über die FDP gesagt haben. Als wir, Winni
Nachtwei und ich, 1998 das erste rot-grüne Konzept in
den Bundestag eingebracht haben, hat der Kollege Irmer
für die FDP gesprochen und Hohn und Spott über uns
ausgeschüttet. Ich habe ihn gerade getroffen.
(Ute Kumpf [SPD]: Er schüttet immer noch!)
Er ist, ohne dass ich gesagt habe, dass wir heute über
dieses Thema diskutieren, genau auf diesen Punkt ge-
kommen. Ich denke, da hat ein Lernprozess stattgefun-
den.
Auch bei der CDU/CSU war das Konzept nicht so
rasch akzeptiert. Der Erste, der von der CDU/CSU in ei-
nem sicherheitspolitischen Konzept den Begriff der zivi-
len Krisenprävention verwendet hat, war Christian
Schmidt. Seitdem hat sich ein politischer Prozess entwi-
ckelt, der zu guten Ergebnissen in der bundesrepublika-
nischen Außenpolitik geführt hat.
Deshalb empfinde ich, lieber Winni, den ersten Satz
in diesem Antrag als Provokation. Ich bin sehr wütend
gewesen, als ich ihn gelesen habe; denn du warst die
ganzen vier Jahre ganz nahe dabei, und du weißt genau,
was gelaufen und was nicht gelaufen ist und was wir
auch gegen große Widerstände haben durchsetzen kön-
nen. Ich finde, du bist ungerecht gegenüber denen vom
Auswärtigen Amt und von den anderen Ressorts, die
sich in dem Ressortkreis bemüht haben, eine wirklich
kohärente Politik zu gestalten, so schwer das ist.
Du führst zum Beispiel an, dass man ressortübergrei-
fende Instrumente und Institutionen einführen soll, zum
Beispiel Frühwarn- und Planungsstrukturen. Ich möchte
daran erinnern, dass wir gar keine nationalen Allein-
gänge machen. Wenn wir an zivilen Friedenseinsätzen
oder an gemischten Einsätzen teilnehmen, dann ge-
schieht das in der Regel auf der Ebene der EU, der
OSZE oder der UNO. Hierfür eine Planungseinheit vor-
zusehen, wo auch immer sie angesiedelt wird, beim Res-
sortkreis oder im Himmel, ist völliger Unsinn.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Kanadier machen es zum Beispiel
in Afghanistan!)
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Uta Zapf
Es macht auch keinen Sinn, Planziele für die Bundes-
republik zu erstellen, denn es geht ja darum, in solche
Missionen Leute zu entsenden, die erstens qualifiziert
genug sind, zweitens abrufbar sind und drittens auch vor
Ort gebraucht werden. Wenn man heute festlegte, einen
Pool von 2 000 Rechtsanwälten vorzuhalten, um sie in
Rechtsstaatlichkeitsmissionen zu entsenden, dann wäre
dies meines Erachtens Verschwendung von Ressourcen.
Wir haben aber in der Tat enorme Fortschritte in der
Ausbildung von Experten gemacht, wie du genau weißt
– du hast ja gestern bei deiner Rede zum siebten Geburts-
tag von ZIF und zum Abschied von Winrich Kühne ein
entsprechendes Buch sehr gelobt –, die schnell einsetzbar
sind und die auch eingesetzt werden.
Ich kann auch einmal die Zahlen nennen. Wir haben
2003 angefangen, diesen Pool zu bilden. Ende 2003 waren
400 Experten mit unterschiedlichsten Fachrichtungen in
diesem Pool. Heute sind es 1 239 Experten. Dazu kommen
die Ausbildungen, die für Polizisten gemacht worden
sind, und die internationale Ausbildung, die wir auch für
andere Organisationen durchführen. Hinzu kommt der
Aufbau des Kofi-Annan-Centers in Afrika, in dem Wahl-
beobachter ausgebildet werden und zum Beispiel auch
entsprechende Trainings angeboten werden.
Meines Erachtens ist das, was die Bundesregierung in
dieser Zeit – auch nach 2005, als die Grünen nicht mehr
in der Regierung waren – auf den Weg gebracht hat,
enorm.
Die Aufstockung des Haushalts ist bereits erwähnt
worden. Ich bin stolz darauf, weil ich mich erinnere, dass
wir unter Rot-Grün aber wirklich jedes Jahr um jeden
Pfennig und um jede Million kämpfen mussten.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Richtig!)
So wurden nach dem Jugoslawienkrieg – das war ja ein
guter Anlass – entsprechende Mittel in den Haushalt
eingestellt, aber im nächsten Jahr waren sie wieder ver-
schwunden; da gab es dafür keinen Pfennig mehr. Dann
haben wir als Parlamentarier gemeinsam dafür gekämpft,
dass sie restituiert wurden. Das waren damals 20 Millionen
DM, also 10 Millionen Euro. Wir verzeichneten dann einen
relativ geringen Zuwachs, aber von 2006 auf 2009 gab
es nicht nur eine Verdopplung, sondern eine Steigerung
von 10,9 Millionen Euro auf über 100 Millionen Euro.
Ich meine, das ist ganz beachtlich.
Außerdem gibt es auch noch andere Mittel im Haus-
halt, die nicht beim Auswärtigen Amt, sondern beim
BMZ veranschlagt sind und dafür verwendet werden
können. Zudem gibt es Gelder im Haushalt des BMI. Ich
halte daher die Kritik, die hier angeführt wurde, für unge-
recht, und die Unterlassungen, die angeprangert werden,
sind schlicht nicht wahr.
Natürlich hat Herr Haibach recht: Es gibt immer noch
Verbesserungsmöglichkeiten. Aber wir arbeiten wirklich
intensiv daran. Gerade gab es eine Sitzung des Aufsichts-
rats des ZIF, dem wir angehören. Bei dieser Gelegenheit
haben wir unter anderem zur Kenntnis nehmen können,
dass das von dir monierte Defizit zwar nicht ganz abgestellt
wurde, aber dass jetzt wesentlich mehr Mittel zur Verfü-
gung stehen, um eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit zu
betreiben.
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss
ich Ihnen Folgendes sagen: Wir sind doch dafür verant-
wortlich, diese Politik weiterzutragen. Wir sind doch
verantwortlich, wenn es um Afghanistan geht, nicht nur
über Soldaten und eventuelle Zwischenfälle zu sprechen,
sondern auch einmal darzulegen, welch weites Spektrum
wir an Projekten zum Wiederaufbau verfolgen. Da geht
es nicht nur um ein halb leeres oder halb volles Glas; das
ist in der Regel ein gemischtes Bild, und zwar auch auf
der militärischen Seite. Niemand weiß das besser als du,
Winni, der sich in diesem Bereich ja besonders häufig
tummelt.
Schließlich ist es verdammt befremdlich, wenn gesagt
wird, die Soldaten müssten als Lückenbüßer und Leid-
tragende dieser Politik der Unterlassungen herhalten. Es
steht im ersten Absatz des Antrags, dass sie länger in
Auslandseinsätzen bleiben müssten. Wenn ich es richtig in
Erinnerung habe, ist es so, dass wir die Auslandseinsätze
verkürzt statt verlängert haben. Außerdem sagen ganz
viele, es sei ein erheblicher Fehler, dass unsere Leute
nach vier oder sechs Monaten schon wieder wechseln
müssten, weil sie im Umfeld gar nicht das notwendige
Vertrauen bilden könnten.
Ich wundere mich, dass es plötzlich eine Härte für die
armen Soldaten und Soldatinnen sein soll, wenn sie auch
zivile Aufgaben übernehmen müssen. Ich meine, wir hät-
ten ganz bewusst die PRTs mit zivilen Aufgaben betraut
und dies auch einmütig im Bundestag so verabschiedet.
Ich sage noch ein Letztes: Ja, militärische Operationen
sind teuer. Aber wer im Gegenzug für die Gewährung
von 10 Millionen Euro an Präventionsmitteln einem mil-
liardenschweren Militärprojekt zustimmt, der sollte lieber
nicht den Mund so voll nehmen, lieber Winni.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wenn sich alle anderen in der
SPD wegducken!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie
schön, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir zu vor-
gerückter Stunde nicht nur einen Bundeswehreinsatz
mandatieren, sondern auch über zivile Konfliktbearbeitung
reden. Aus dem Alltag kennen wir ja den sinnvollen
Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Ich finde,
dieser ist auch unbedingt in der Außenpolitik zu beachten.
Wenn dann doch geheilt werden muss, gilt allemal: Eine
schonende Behandlung ist in aller Regel besser, als mit
Brachialgewalt vorzugehen, schon allein deshalb, weil man
dadurch die Nebenwirkungen – hier sollte ich vielleicht
besser von Kollateralschäden reden – geringer halten kann.
(Beifall bei der LINKEN)
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Paul Schäfer (Köln)
Schließlich ist darauf zu achten, dass bei den Arznei-
mitteln auch das drin ist, was außen draufsteht. Spätestens
seitdem im Zweiten Bericht der Bundesregierung über
die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention,
Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ European
Battle-Groups, also schnelle Eingreiftruppen, als Instru-
mente der Krisenprävention angeführt werden, weiß
man, dass man es mit einer Mogelpackung zu tun hat,
wenn die Bundesregierung von ziviler Krisenprävention
redet.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieses Beispiel zeigt, dass wir schon sehr genau gucken
müssen, womit wir es zu tun haben, wenn heute von ver-
netzter Sicherheit und zivil-militärischer Zusammenarbeit
die Rede ist. Letztlich geht es um die Frage, ob wir es
nicht vielleicht auch mit einer vergifteten Rezeptur zu
tun haben.
Das Zivil-Militärische ist ja so bahnbrechend neu
nicht. Die amerikanischen Militärs haben schon längst
gelernt, dass sie bei Interventionen in innerstaatliche
Konflikte – darum handelt es sich ja auch heute zumeist –
mit militärischen Mitteln nicht weit kommen. Es steht
schon in Handbüchern der US-Army zur Aufstandsbe-
kämpfung aus den 50er-Jahren, dass der wirtschaftliche
Aufbau entscheidend ist, dass es entscheidend ist, mög-
lichst schnell eine vernünftige Regierung zu etablieren,
und dass man die Herzen und Köpfe der Menschen ge-
winnen muss. Aber was ist im wirklichen Leben daraus
geworden? Das kann man an Vietnam studieren, am Irak
und konnte man auch lange Zeit in Afghanistan studieren.
Deshalb ist Vorsicht geboten bei solchen Rezepten – diese
muss man genau abklopfen –, die von militärisch geführter
Außenpolitik vereinnahmt werden, um damit weiterzu-
kommen. Damit muss man sich kritisch auseinanderset-
zen. Die Grünen tun dies nicht oder zu wenig; und das
merkt man dem Antrag an.
Wer sich wirklich schlaumachen will und sich über
Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung als eine
Alternative und nicht als Anhängsel des Militärischen
Gedanken machen will, dem empfehle ich die aktuelle,
gerade erschienene Studie Erfolgreich gewaltfrei von
Christine Schweitzer, die für das Institut für Auslandsbe-
ziehungen erarbeitet worden ist. Dort sind eine Menge
Vorschläge enthalten, die durch praktische Politik um-
gesetzt werden könnten.
Ich möchte nur drei Elemente nennen: Erstens. Es ist
entscheidend, in Konflikte einzugreifen, bevor sie gewalt-
trächtig werden. Das heißt, wir müssen uns über Frühwarn-
systeme Gedanken machen und uns vor allem auf die zivil-
gesellschaftlichen, lokalen Akteure vor Ort stützen.
Zweitens. Es darf nicht zu einer Arbeitsteilung der Art
kommen, dass sich auf staatlicher Ebene um die militäri-
schen Mittel gekümmert wird, während die zivilgesell-
schaftlichen Akteure für die zivilen Mittel zuständig sind.
Der absolute Vorrang des Zivilen muss für alle Akteure
gelten, weil nur so eine Zivilisierung von Konflikten zu
erreichen ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Drittens. Die Konfliktbearbeitung muss entscheidend
durch die staatlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure
vor Ort erfolgen. Frieden ist nur zu erreichen, wenn er
von der jeweiligen Bevölkerung mitgetragen wird. Das ist
gleichbedeutend mit einer Absage an alle paternalistischen,
bevormundenden Konzepte des sogenannten Nation-
Building, das von außen und mit militärischer Hilfe voran-
getrieben wird. Das funktioniert nicht,
(Beifall bei der LINKEN)
bzw. der Preis dafür ist, wie man am Beispiel Irak sehen
kann, zu hoch.
Der Antrag der Grünen – leider haben wir sehr wenig
Zeit, ihn zu diskutieren – enthält in der Tat vieles, was an
Regierungshandeln in den nächsten vier Jahren umge-
setzt werden müsste. Uns fehlt die Trennschärfe zu dem,
was ich als vergiftete Rezeptur bezeichnet habe. Es fehlt
eine klare Distanz zum militärischen Interventionismus
der NATO und der EU. Deshalb werden wir dem Antrag
in der vorliegenden Fassung nicht zustimmen können.
Wir werden uns enthalten, um zu dokumentieren, dass er
eine Menge enthält, was unterstützt und aufgegriffen
werden muss, wenn wir den fälligen Paradigmenwechsel
in der Außenpolitik erreichen wollen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN – Winfried Nachtwei
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Paradig-
menwechsel ist von euch noch nichts Kon-
struktives gekommen!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13392
mit dem Titel „Zivile Krisenprävention und Friedensför-
derung brauchen einen neuen Schub“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung
der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
Anpassung des Einsatzgebietes für die Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
der EU-geführten Operation Atalanta zur Be-
kämpfung der Piraterie vor der Küste Soma-
lias
– Drucksachen 16/13187, 16/13393 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25189
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschluss-
empfehlungen werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Niels Annen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Niels Annen (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Die somalischen Piraten haben ihre Aktivitäten aus-
gedehnt. Sie sind aufgrund der erfolgreichen Operation
„Atalanta“ in den Süden und den Südosten ausgewichen.
Sie haben in den letzten Wochen und Monaten vermehrt in
den Hoheitsgewässern der Seychellen agiert. Die Regie-
rung der Seychellen hat deshalb die Europäische Union
um Unterstützung bei der Bekämpfung der Piraterie ge-
beten. Im Hinblick auf unser bisheriges Engagement im
Golf von Aden halte ich es deshalb für folgerichtig, den
Seychellen im Kampf gegen die Piraterie zur Seite zu
stehen. Ich bitte Sie deshalb, meiner Fraktion zu folgen
und dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die zentrale Bedeutung sicherer Seerouten für die
Exportnation Deutschland steht außer Frage. Deutsche
Reeder betreiben die drittgrößte Handelsflotte der Welt.
Deutschland ist – das belegen international verifizierte
Zahlen – am stärksten von der Piraterie am Horn von
Afrika betroffen. Umso wichtiger ist es, dass wir dafür
sorgen, dass die deutsche Wirtschaft, aber vor allem die
Weltwirtschaft insgesamt vor weiterem Schaden durch die
Unsicherheit in dieser strategisch wichtigen Region ge-
schützt wird. Man könnte einwenden, dass nur 0,01 Pro-
zent des internationalen Handelsverkehrs direkt von der
Piraterie betroffen sei. Das stimmt. Aber die Folgekosten
sind auch ein Aspekt, über den wir hier miteinander dis-
kutieren müssen. Diese Kosten ergeben sich aufgrund
der Aufstockung des Personalbedarfs, der Umleitung
über andere Seewege, der erhöhten Vorsichtsmaßnah-
men sowie aufgrund der entsprechend verteuerten Versi-
cherungen. Sie wissen vielleicht, dass durch die Piraterie
in der Region vor Somalias Küste die Versicherungsprä-
mien für die Schifffahrt bereits um das Dreifache ange-
stiegen sind.
Außer Frage steht auch die Notwendigkeit – das ist
vielleicht der wichtigste Punkt –, die somalische Bevöl-
kerung mit Hilfsgütern zu versorgen. 3 Millionen Men-
schen in Somalia sind abhängig von Lebensmittelhilfen
internationaler Hilfsorganisationen. 1 Million Flücht-
linge haben keinen Zugang zu Hilfsgütern, da ihnen der
Zugriff von Milizen in diesem vom Bürgerkrieg geplag-
ten Land verwehrt wird. Dürren und Überflutungen ha-
ben ihr Übriges zu dieser Situation beigetragen. So
wächst die extreme Armut in Somalia weiter.
Vor diesem Hintergrund ist es ein Erfolg, dass seit
dem Beginn dieser Operation alle Schiffe, die Hilfsgüter
für das Welternährungsprogramm transportiert haben,
Somalia erreichen konnten. Über 1 Million notleidende
Menschen wurde auf diese Weise mit Nahrungsmitteln
versorgt. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei den Sol-
datinnen und Soldaten, die dazu beigetragen haben, dass
das möglich wurde.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Seit Beginn der Operation „Atalanta“ ist die Zahl der
erfolgreichen Piratenangriffe auf Handelsschiffe in der
Region zurückgegangen. Viele Angriffe sind sicherlich,
auch wenn man das empirisch nicht belegen kann, allein
durch die Präsenz unserer Marine verhindert worden.
Die Überwachung der Handelsschifffahrt sowie die re-
gelmäßigen Gruppenpassagen, durchgeführt mithilfe des
Maritime Security Center, haben ebenfalls zur Erhöhung
der Sicherheit der Seeschifffahrt beigetragen.
Ich sage an dieser Stelle aber auch ganz klar: Auch
bei den Reedern und Kapitänen muss zum Teil ein Um-
denken stattfinden. Sie müssen wissen: Wer geschützt
sein will, muss auch bereit sein, sich schützen zu lassen.
Noch immer sind weniger als die Hälfte aller Schiffe, die
den Golf von Aden passieren, beim MSC registriert.
Aufgrund der Analysen der Entführungsfälle, die uns
zum Teil vorliegen, lässt sich eindeutig feststellen, dass
ein Großteil dieser Entführungen hätte verhindert wer-
den können, wenn eine entsprechende Meldung beim
MSC eingegangen wäre.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich kann daher an dieser Stelle nur an die Verantwortli-
chen appellieren, sich mit den entsprechenden Institutio-
nen in Verbindung zu setzen.
Meine Damen und Herren, über viele Detailfragen
muss sicherlich in Zukunft noch diskutiert werden. Für
meine Fraktion steht aber fest, dass die Piraterie nur be-
siegt werden kann, wenn die Anrainerstaaten ihrer Ver-
antwortung nachkommen und wenn wir vor allem end-
lich dafür sorgen, dass es eine Staatlichkeit in Somalia
gibt. Wir müssen eine Entwicklungsperspektive für die-
ses Land schaffen. Allen Kritikern sage ich – einige re-
den ja noch –: Es geht mir nicht darum, den Eindruck zu
erwecken, wir könnten mit den leider notwendigen mili-
tärischen Instrumenten, die wir jetzt anwenden, einen
Ersatz für die Staatlichkeit und für die innere Entwick-
lung Somalias bieten. Wir sind uns ja alle dessen be-
wusst, dass wir im Moment an den Symptomen herum-
doktern.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: So ist es!)
Somalia ist ein tragisches Beispiel dafür, wie drama-
tisch sich eine wichtige Region in der Welt entwickeln
kann, wenn man viel zu lange wegschaut.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir schauen immer noch weg!)
25190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Niels Annen
Unsere Präsenz sollte ein Zeichen dafür sein, dass wir
Verantwortung übernehmen und die Entwicklung im In-
teresse der Menschen in Somalia weiter fördern wollen.
Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für die
Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von
der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stimmen heute nicht über ein neues Mandat ab, sondern
schlicht über die Ausweitung des Operationsgebietes.
Pünktlich zum heutigen Tage hat das internationale
Schifffahrtsbüro in Kuala Lumpur mitgeteilt, dass in den
letzten zwei Wochen acht Piratenangriffe vor der Küste
von Oman, im Arabischen Meer und im südlichen Roten
Meer zu verzeichnen waren. Es hat festgestellt, dass die
Piraten ihr Einsatzgebiet weiter ausgedehnt haben. Was
sagt uns das? Es sagt uns, dass die heute zu beschlie-
ßende Ausweitung des Mandatsgebiets nicht falsch ist,
aber voraussichtlich auch nicht reichen wird.
(Beifall bei der FDP)
Der Kollege Stinner hat bereits in der ersten Lesung
deutlich gemacht: Wenn die Piraterie nicht endlich aktiv
bekämpft wird, dann wird man alle sechs Monate das
Operationsgebiet ausweiten müssen. Nach dem, was wir
heute mitgeteilt bekommen haben, Herr Minister, habe
ich den Eindruck, Sie können gleich morgen mit der Vor-
bereitung des Erweiterungsmandats beginnen.
Die Grundprobleme – das zeigt sich an dem, was wir
heute hier zu beschließen haben – bleiben ungelöst. Ein
Grundproblem ist, dass das Operationsgebiet mit den
vorhandenen Schiffen schon heute nicht abzudecken ist.
Experten sagen uns ganz klar: Allein für die Kontrolle
des Golfs von Aden bräuchte man 60 Schiffe und für das
Seegebiet rund um Somalia 150 Schiffe. Die zentrale
Frage, wie die Sicherheit bei Ausweitung des Opera-
tionsgebiets gesteigert werden soll, wenn nicht gleich-
zeitig die Zahl der Militärschiffe erhöht wird, beantwor-
ten Sie nicht. Es besteht die Befürchtung, dass das Ganze
eine reine Placeboaktion ist, die der Beruhigung der Öf-
fentlichkeit dienen soll, eine Vertuschung der Tatsache,
dass mit dieser Mission eine Eindämmung der Piraterie
im Augenblick nicht erreicht werden kann.
(Beifall bei der FDP)
Wir brauchen endlich eine Umsetzung des robusten
Mandats und eine Beendigung der Verunsicherung der
Soldatinnen und Soldaten durch die Bundesregierung.
Der ständige Hinweis, dass der Hauptzweck der Mission
nicht etwa die Festnahme von Piraten sei, sondern die Be-
gleitung von Schiffen, hat in der Vergangenheit – das wis-
sen wir von den Soldatinnen und Soldaten vor Ort – zu er-
heblicher Verunsicherung geführt. Deswegen sagen wir
Ihnen noch einmal ganz klar: Wir sind froh, dass wir hier
ein robustes Mandat haben, dass wir Einsatzregeln haben,
die international mithalten können, die sogar besser sind
als die von manchem anderen europäischen Land, das
sich ebenfalls an der Mission „Atalanta“ beteiligt. Aber
diese Einsatzregeln müssen jetzt auch angewendet wer-
den dürfen. Es muss eine aktive Pirateriebekämpfung
stattfinden: eine Bekämpfung der Mutterschiffe, eine Be-
schlagnahme von Schiffen und eine Festsetzung von Pi-
raten. Das ist mindestens genauso wichtig wie die Beglei-
tung von Schiffen.
(Beifall bei der FDP)
Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass es einer
besseren Koordinierung bedarf und dass der Schönheits-
wettbewerb, wer besser die Piraterie bekämpfen kann,
den sich die Nationen im Augenblick liefern, beendet
werden muss. Im Augenblick sind in diesem Seegebiet
43 Schiffe aus 21 Nationen in vier verschiedenen Mis-
sionen vor Ort und weitere 13 Schiffe unter nationalem
Kommando. Was das an Koordinierungsaufwand bedeu-
tet, können wir uns hier wahrscheinlich nicht wirklich
vorstellen. Deswegen sage ich ganz deutlich: Die Ko-
ordinierung muss verbessert werden, zum Beispiel durch
die Bündelung der Kommandos, mittelfristig allerdings
am besten durch eine gemeinsame Gesamtoperation.
(Beifall bei der FDP)
Ein weiterer Kritikpunkt aus unserer Sicht ist das Zu-
ständigkeitshickhack. Deswegen müssen wir dafür sor-
gen, dass kein Staatssekretärsausschuss mehr benötigt
wird und klare Regeln dafür geschaffen werden, wie mit
festgesetzten Piraten umgegangen werden soll. Wir er-
warten verstärkte Anstrengungen der Bundesregierung,
auf internationaler Ebene zu einer Lösung zu kommen,
beispielsweise in der Form, dass der Internationale Straf-
gerichtshof die Zuständigkeit für die Piraterieverfolgung
zugewiesen bekommt.
Die politische Flankierung in der Region – das ist
vom Vorredner völlig zu Recht angesprochen worden –
ist auch für uns ein ganz wichtiger Schwerpunkt. Wir er-
warten, dass politische Initiativen zur Stabilisierung der
Region ergriffen werden und dass man eben nicht nur
militärisch versucht, dieses Problems Herr zu werden.
(Beifall bei der FDP)
Mein letzter Punkt ist eine Forderung, die ich an die
Reedereien richte. Wir wissen aufgrund der Erfahrungen
in den vergangenen Wochen – der Verteidigungsminister
hat es in der ersten Lesung hier auch noch einmal deut-
lich gemacht –, dass es nach wie vor Reedereien gibt, die
sich nicht gesicherten Konvois anschließen. Wer so han-
delt, trägt nicht nur Verantwortung dafür, dass die eigene
Besatzung gefährdet wird, sondern auch dafür, dass sich
die Piraterie durch Lösegeldzahlungen weiter finanzie-
ren kann. Auch die Reeder müssen also ihre Verantwor-
tung wahrnehmen.
(Beifall bei der FDP)
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfrak-
tion stimmt dem Mandatsantrag der Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25191
(A) (C)
(B) (D)
Birgit Homburger
zur Ausweitung des Operationsgebiets zu, weil wir nicht
wollen, dass die deutsche Marine bzw. die Soldatinnen
und Soldaten, die vor Ort sind und im Übrigen einen her-
vorragenden Job machen, den Piraten hinterherwinken
müssen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich sage aber auch: Effektiv ist das jetzige Vorgehen
nicht.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
heute zu entscheiden, ob das „Atalanta“-Mandat erwei-
tert wird. Worum geht es? Durch den Golf von Aden und
die angrenzenden Seegebiete führt eine der wichtigsten
Schifffahrtsstraßen der Welt. Die Zahl der Piratenan-
griffe ist drastisch gestiegen. 2008 gab es 111 Überfälle
und 42 Entführungen. Bis Mai dieses Jahres gab es
schon 114 Überfälle und 29 Entführungen. Wegen der
Piratenangriffe drohte die Nutzung dieser Schifffahrts-
straße in Gefahr zu geraten, zum einen wegen der hohen
Gefahr für Leib und Leben der Seeleute – ich möchte da-
ran erinnern, dass im Mai mehr als 200 Menschen in der
Gewalt der Piraten waren –, zum anderen rein ökono-
misch wegen der drohenden Verluste aufgrund der hohen
Lösegelder und der stark gestiegenen Versicherungsprä-
mien.
Wir alle sind uns einig: Es gibt vor Ort keine regio-
nale Ordnungsmacht, die der Piraterie ein Ende bereiten
könnte – weder in Somalia noch im Jemen. Somalia
existiert als Staat nur auf dem Papier. Das ist Gewalt
ohne Staat, wie Annette Weber von der SWP kürzlich
gesagt hat.
Die Linkspartei ist gegen diesen internationalen Ein-
satz, wie sie überhaupt gegen die Übernahme internatio-
naler Verantwortung durch die Bundesrepublik ist.
(Dr. Norman Paech [DIE LINKE]: Das auf
keinen Fall!)
Herr Paech, Sie haben sich, als es um die eigentliche
Mandatierung ging, in einem Antrag dazu verstiegen, für
die schlechte Sicherheitslage und die Radikalisierung
der Konfliktparteien die internationale Gemeinschaft
verantwortlich zu machen. Es kommt noch schlimmer:
Sie haben in diesem Antrag gesagt, hinter „Atalanta“
stecke in Wahrheit die sinistre Absicht, die Seesicherheit
zu militarisieren. Das entspricht in etwa dem Niveau Ih-
res Parteivorsitzenden: Dieser hat ja im Europawahl-
kampf gesagt, die europäische Integration diene in
Wahrheit dazu, Europa zu militarisieren.
(Dr. Norman Paech [DIE LINKE]: Da hat er
nicht ganz unrecht!)
Die Aussagen dieses Antrages liegen auf dem Niveau
dieses Geschwafels von Herrn Bisky.
Hätten wir den internationalen Marineeinsatz dort un-
ten nicht und könnten die Piraten ungestört ihr verbre-
cherisches Handwerk ausüben, dann käme kein Schiff
des Welternährungsprogramms mehr nach Somalia, und
vielen Menschen würde der Hungertod drohen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Dann käme der Verkehr im Suezkanal zum Erliegen, aus
dessen Betrieb Ägypten wichtige Einnahmen für den
Staatshaushalt erzielt. Dann könnten schließlich Schwel-
lenländer, wie zum Beispiel Indien, ihre Güter nicht
mehr nach Europa liefern. Es würden also alle diejeni-
gen getroffen werden, die ohnehin schon benachteiligt
sind und zum Teil in Not und Elend leben. Herr Paech,
die Politik Ihrer Partei ist schlichtweg unverantwortlich,
und wegen dieser unverantwortlichen Politik sind Sie
notorisch regierungsunfähig.
Jeder weiß, das Problem ist nicht militärisch zu lösen.
Wir brauchen einen politischen Ansatz. Wir brauchen
den Aufbau einer Staatlichkeit in Somalia, die Sicherheit
schafft und der Bevölkerung ein eigenes Auskommen er-
möglicht. Wer aber die Forderung aufstellt, man solle die
Piratenbekämpfung einstellen und stattdessen Somalia
aufbauen, hat entweder keine Ahnung von den Verhält-
nissen oder will die Öffentlichkeit mit populistischen
Sprüchen in die Irre führen. Somalia ist ein Gebilde, in
dem Warlords und bewaffnete Clanmilizen Macht aus-
üben und in dem es zu allem Übel noch Dschihad-
Kämpfer gibt, die für zahlreiche Mordtaten verantwort-
lich sind, unter anderem an Journalisten und zivilen Auf-
bauhelfern in Somalia. Die Warlords und Clanführer
sind nichts anderes als Geschäftsleute und Berufskrimi-
nelle in Personalunion. Was wollen Sie dagegen ma-
chen? Gut zureden oder die Caritas nach Somalia schi-
cken? Was denen blüht, können Sie jeden Tag in der
Zeitung lesen, Herr Trittin. Ich erinnere an die schreckli-
chen Vorkommnisse und Morde im Jemen.
Es zeugt von naivem Kinderglauben, wenn man sagt,
dass, wenn man die illegale Fischerei beseitige, die ei-
gentliche Ursache der Piraterie behoben sei. Die Pirate-
rie ist in Somalia inzwischen zu einer höchst lukrativen
Industrie mit Millionengewinnen geworden. Die Piraten
stammen nach unserer Kenntnis primär aus dem Clan
des früheren Präsidenten Jussuf, der sich im Moment mit
Entführungen dumm und dämlich verdient. Das hat
nichts, aber auch gar nichts mit illegaler Fischerei zu tun.
Ich glaube nicht, dass bei uns irgendein Verantwortli-
cher auf den Gedanken käme, in Somalia militärisch ein-
zugreifen. Auch sonst ist niemand sichtbar, der das tun
könnte, schon gar nicht die Afrikanische Union. Die
Amerikaner verspüren nach ihrem blutigen Abenteuer in
Somalia mit Sicherheit auch keine Neigung, sich dort
militärisch zu engagieren. Es führt also kein Weg an der
Marinemission zur Piratenbekämpfung vorbei. Im Ge-
25192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Karl-Georg Wellmann
genteil: Die Piratenbekämpfung ist die Voraussetzung
für die Konsolidierung Somalias.
Ich finde, die Bundesmarine hat diesen Auftrag bisher
ebenso professionell wie angemessen ausgeführt. Den
Soldaten auf den Schiffen gilt unser ausdrücklicher
Dank dafür.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD sowie der Abg. Birgit Homburger
[FDP] und des Abg. Winfried Nachtwei
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Frau Kollegin Homburger, der FDP ist das viel zu we-
nig. Herr Stinner, ich habe Ihre Rede noch einmal gele-
sen. Sie wollen viel schneidiger vorgehen, insbesondere
schneidig an die Mutterschiffe, nach dem Motto: Erst
einmal versenken, und dann schauen wir, ob diejenigen,
die da schwimmen, Piraten sind. Ich finde das angemes-
sene und behutsame Vorgehen unserer Bundesmarine in
Ordnung. Das wollen wir weiterhin sehen. Weil die Pira-
ten – Herr Annen hat recht – ihre Angriffstaktik verän-
dert haben, muss das Mandat an diese Veränderungen
angepasst werden. Meine Fraktion wird deshalb dem
Antrag der Bundesregierung zustimmen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Rainer Stinner.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Sehr verehrter Herr Kollege Wellmann, ich möchte
nochmals darstellen, dass ich persönlich mich zwar für
ein stärkeres Vorgehen gegen Mutterschiffe einsetze, das
Wort „versenken“ von mir aber noch nicht ein einziges
Mal benutzt worden ist. Das Wort „versenken“ ist im
Deutschen Bundestag zum ersten Mal von Ihrem sehr
geehrten Herrn Bundesminister Jung in der Antwort auf
eine Zwischenfrage von mir gebraucht worden. „Bis
zum Versenken“ hat er hier gesagt. Von mir ist das Wort
„versenken“ noch nie benutzt worden.
Sehr geehrter Herr Wellmann, ich bin aber in der Tat
der Meinung, dass wir das Problem der Ausweitung un-
ter anderem deswegen haben, weil wir Mutterschiffe
nicht angreifen und weil die Piraten ihren Radius von
Mutterschiffen aus erheblich ausweiten können. Wenn
wir Mutterschiffe außer Kraft gesetzt hätten – das ist
mein Terminus –, dann hätten wir das heutige Mandat
wahrscheinlich gar nicht erst gebraucht.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Holger
Haibach [CDU/CSU]: Was bedeutet denn „au-
ßer Kraft setzen“ auf See?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Kollege Wellmann, bitte.
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU):
Kollege Stinner, Sie haben es gerade wiederholt: Mut-
terschiffe angreifen. Sie haben Bundesminister Jung
neulich vorgeworfen, dass er nicht hinter den Mutter-
schiffen her ist. Ich bin dafür, dass wir angemessen und
behutsam vorgehen, weil die indische Marine ein Schiff
versenkt hat und es dabei Tote und Verletzte gab.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Er hat „versenken“
gesagt!)
Ich wollte Ihnen nur vorhalten, dass Sie sagen: Immer
feste drauf und ran an die Sache. Ich finde das Vorgehen
der Marine besser als Ihre Vorschläge.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Dr. Rainer Stinner [FDP]: „Versen-
ken“ kommt vom Herrn Minister!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Norman Paech von der
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Um gleich zu Beginn keinen Zweifel aufkommen
zu lassen: Die Sicherheit des Schiffsverkehrs auf allen
Meeren muss garantiert werden, und es darf keinen
Raum für Piraterie geben.
(Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU])
Die völkerrechtlichen Grundlagen dafür sind ganz ein-
deutig.
Nach deutschem Recht ist das aber Sache der Polizei,
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
und die Verfassung verbietet es, dass diese Aufgabe der
Bundeswehr übertragen wird.
(Beifall bei der LINKEN – Birgit Homburger
[FDP]: Aber nicht vor Somalia!)
Deswegen hat die Linke von Anfang an den Einsatz der
Bundesmarine vor Somalia abgelehnt. Dabei bleiben wir
auch jetzt.
Es gibt aber auch gravierende politische Einwände
gegen die unkoordinierte Ansammlung von Schiffen aus
aller Herren Länder im Indischen Ozean, um die Pirate-
rie zu bekämpfen. Diese Einwände sind auch nicht durch
eine bessere Koordinierung zu beseitigen. Im Wesentli-
chen wird, wie Herr Annen gesagt hat, nur an Sympto-
men kuriert. Im Grunde – hier bin ich mit Frau
Homburger völlig einer Meinung – ist das auch nicht
das, was dort gebraucht wird.
Ich gebe Ihnen recht: Das sichere Geleit der Schiffe
des Welternährungsprogramms und der sichere Konvoi
manch anderer Frachter sind Erfolge.
(Gabriele Groneberg [SPD]: Na also!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25193
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Norman Paech
Das sind aber auch die einzigen Erfolge der gesamten
Operation. Die Piraten sind viel erfolgreicher. Sie konn-
ten nicht nur die Zahl ihrer Angriffe und ihre Erfolgsrate
erhöhen, sondern auch ihr Einsatzgebiet enorm erwei-
tern. Die UNO spricht von einem Anstieg um über
600 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahres-
zeitraum. Jetzt wollen Sie mit dem neuen Mandat das
Operationsgebiet der Fregatten ausweiten. Glauben Sie
eigentlich, dass Sie die Piraten auf 5 Millionen Quadrat-
kilometern besser bekämpfen können als auf 3,5 Millio-
nen Quadratkilometern, obwohl Sie sie nicht einmal auf
den bisherigen 3,5 Millionen Quadratkilometern in den
Griff bekommen haben?
(Beifall bei der LINKEN)
Ich gebe zu bedenken: Mit jedem neuen Mandat wei-
tet sich der Konflikt aus; Frau Homburger hat die wei-
tere Perspektive bereits aufgezeigt. Zuletzt – auch das
hat sie deutlich gemacht – haben die Piraten bei Oman,
weit von der somalischen Küste entfernt, zugeschlagen.
Es besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert und
sich die Konflikte immer weiter ausdehnen.
Ich will Ihnen sagen, worum es eigentlich geht. Vor
den Seychellen gibt es reiche Thunfischbestände, die das
Ziel internationaler Fischfangflotten sind. Diese Flotten
sollen geschützt werden. Frankreich, Spanien, Südkorea
und andere Länder betreiben dort in großem Maßstab
Fischfang. Die US-Investmentfirma Lehman Brothers
war dort an einer der größten Fischfabriken der Welt be-
teiligt. All das können Sie auf der Homepage des Aus-
wärtigen Amtes nachlesen.
Bereits im März dieses Jahres haben spanische
Fischer den militärischen Schutz ihrer Fangflotte ange-
fordert, während Spanien und Korea vom somalischen
Parlament gerade der illegalen Fischerei beschuldigt
werden. Es ist doch zynisch: Die Geberkonferenz für So-
malia hat 213 Millionen Euro für den Aufbau von Si-
cherheitsstrukturen zugesagt. Gleichzeitig verliert So-
malia nach Angaben der UNO jährlich 300 Millionen
US-Dollar durch die illegale Fischerei, die immer noch
anhält. Was macht die EU dagegen? Sie sendet „Ata-
lanta“.
Eine unserer dringendsten Forderungen lautet: Stop-
pen Sie die illegale Fischerei vor der Küste Ostafrikas
(Beifall bei der LINKEN)
und das illegale Mülldumping gleich mit! Denn beides
zerstört die Lebensgrundlagen der Küstenbevölkerung
und treibt sie geradezu in die Piraterie. Schaffen Sie für
die Jugend Somalias legale Einnahmequellen, und stär-
ken Sie die regionale Fischerei! Nur so lässt sich das
Übel der Piraterie an seiner Wurzel bekämpfen.
Darüber hinaus fordern wir nach wie vor den Aufbau
einer UN-geführten Küstenwache der Anrainerstaaten,
die von der Bundesrepublik ausgerüstet werden und an
der sich die Bundespolizei beteiligen kann. Das geht
zwar nicht so schnell wie die Entsendung von Fregatten,
ist aber viel sinnvoller, wenn es darum geht, den Zugang
der Piraten zum Meer zu unterbinden.
Zum Schluss. Somalia braucht Stabilität und eine
nachhaltige Entwicklung. Dazu gehören eigene Sicher-
heitsstrukturen und ein eigener Küstenschutz. Statt dort
Konvoi zu fahren, sollten vordringlich diese Strukturen
aufgebaut werden. Das Abkommen von Djibouti vom
Januar dieses Jahres, mit dem sich neun Staaten der Re-
gion zu konkreten gemeinsamen Schritten bei der Be-
kämpfung der Piraterie verpflichtet haben, ist dabei ein
wichtiger Schritt. Jetzt muss es umgesetzt werden. Hier-
für sollte die Bundesregierung Geld zur Verfügung stel-
len und Unterstützung leisten.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Paech, Ihre Erzählung kommt mir ein biss-
chen wie die einer berühmten Figur von Herrn Moers
vor. Sie heißt Käpt’n Blaubär.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Wenn Käpt’n Blaubär erzählen würde, dass man die Pi-
raten vor der Küste Somalias mit einer Hafenbarkasse
der Hamburger Hafenpolizei bekämpfen könnte,
(Zuruf von der SPD: Das hört sich nach Hein
Blöd an!)
würde ihm das nicht einmal Hein Blöd abnehmen.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, bei der
SPD und der FDP)
Damit komme ich auch zu den ernsten Punkten bei
diesem Thema.
Erste Bemerkung: Manche Ihrer Einschätzungen, was
die illegale Fischerei und das Mülldumping an dieser
Stelle angeht, teile ich ja. Das ist alles richtig. Wenn Sie
glauben, die Schiffe beispielsweise des World Food Pro-
grammes, auf deren Lieferungen Zehntausende von So-
malis angewiesen sind, könnten darauf warten, dass die
Anrainerstaaten irgendwann gemeinsam eine entspre-
chende Küstenwache aufgebaut haben, irren Sie sich
aber. Sie können nicht warten. Es ist unsere Pflicht, diese
Menschen schlicht und ergreifend nicht verhungern zu
lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
Zuruf von der LINKEN: Das hat er doch auch
gesagt!)
Das, was Sie sagen, muss man natürlich auch machen.
Da stimme ich Ihnen zu. Das ist aber kein Argument,
sich gegen das auszusprechen, was hier getan wird, näm-
lich mit dafür zu sorgen – das ist einer der Erfolge der
Bundesmarine –, dass diese Schiffe wieder durchkom-
25194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Jürgen Trittin
men. Das kann man doch nicht einfach ignorieren und
erklären: Wir warten jetzt einmal ab. Anschließend
bauen wir eine schicke kleine Küstenwache auf. Am
Ende klappt das dann. – So geht es nicht. Damit verhält
man sich den Menschen gegenüber nicht verantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Zweite Bemerkung: Sie alle, die gesagt haben, die Ur-
sache des Problems liege an Land, haben recht. Sie liegt
in der Tat in einer zerfallenen Gesellschaft, in zerfallener
Staatlichkeit. Sie alle, die sagen, man werde dieses Pro-
blem auch an Land nicht militärisch lösen können, haben
ebenfalls recht. Als im Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen einmal diese Frage aufkam und es den dringen-
den Wunsch gab, eine Peacekeeping-Mission nach So-
malia zu schicken, haben sich der Chef des Departments
of Peacekeeping Operations und der UN-Generalsekre-
tär mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, und zwar
mit dem ganz einfachen Argument: There is no peace to
keep. – Das ist das Problem, das wir dort haben.
Deswegen muss man sich diesem Problem seriöser
nähern. Zum einen ist es notwendig, diesen Einsatz zur
See zur Bekämpfung und Eindämmung der Piraterie
durchzuführen. Zum anderen müssen die europäische
und die deutsche Außenpolitik darangehen, den Stellver-
treterkrieg, den Eritrea und Äthiopien in Somalia führen,
zu beenden. Man darf also kein Gegeneinander auf-
bauen; denn beides ist erforderlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dritte Bemerkung: Wenn man Pirateriebekämpfung
durchführt, muss man dies kohärent und rechtsstaatlich
machen. Mit meiner Vorstellung einer Wertegemein-
schaft, wie sie die Europäische Union darstellt, ist es
nicht zu vereinbaren, wenn der Piraterie Verdächtige von
einigen Teilnehmerstaaten von „Atalanta“ einfach im Je-
men am Strand wieder ausgesetzt werden und von ande-
ren mal eben in Frankreich vor Gericht gestellt werden,
während Dritte händeringend andere Gerichtshöfe su-
chen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich
bei der nächsten Verabschiedung einer gemeinsamen
Aktion der Europäischen Union dafür einsetzt, dass es
ein einheitliches rechtsstaatliches Verfahren für diejeni-
gen gibt, die bei der Piraterie aufgegriffen und der Bege-
hung von Straftaten und Verstößen gegen das Seerechts-
übereinkommen verdächtigt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das liegt noch weit unterhalb dessen, was wir Ihnen
in unserem Entschließungsantrag vorschlagen, in dem
wir Sie auffordern, sich für einen internationalen Seege-
richtshof einzusetzen. Ich nehme durchaus zur Kenntnis,
dass die Bundesregierung – übrigens interessanterweise
zusammen mit Russland – an dieser Stelle in Richtung
UN-Sicherheitsrat aktiv geworden ist.
Ich denke, unterhalb dieser Schwelle müssen Sie si-
cherstellen, dass es ein einheitliches Verfahren der EU
gibt.
Vierte Bemerkung. Kohärenz heißt auch, dass dieses
– ich weiß nicht, ob ich das richtig gehört habe – Schau-
laufen, das dort stattfindet, aufhören muss. Wir haben ein
größeres Gebiet zu sichern. Um es zu sichern, brauchen
wir mehr Schiffe; denn wenn die Piraten ausweichen,
muss man darauf reagieren. Deswegen sind wir ja für die
Erweiterung des Mandats. Aber was soll das Nebeneinan-
der von OEF, von zwei NATO-Missionen und „Atalanta“?
Im Ausschuss kam aus der Regierung der Hinweis, was
da stattfindet, sei ein unschöner Schönheitswettbewerb;
aber das sei halt die NATO. Wenn das so ist, warum lassen
Sie das denn zu? Ist es nicht mehr so, dass NATO-Missio-
nen einstimmig beschlossen werden müssen?
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Und wenn Sie sagen: „Aus bündnispolitischen Gründen
wollen wir in der NATO nicht den Veto-Hans spielen“,
frage ich Sie: Warum beteiligen Sie sich dann an dieser
NATO-Mission inklusive der Albernheit, dass, sobald
ein NATO-Schiff das Operationsgebiet von „Atalanta“
betritt, die NATO-Flagge eingeholt und stattdessen die
blau-gelbe Flagge gehisst wird?
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das ist absurd. Das ist keine Kohärenz. Ich erwarte von
Ihnen, dass Sie diese Missionen endlich vereinheitlichen,
unter dem Dach der EU, damit Schluss ist mit diesem
unschönen Schönheitswettbewerb.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Rolf Kramer von der SPD-
Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Rolf Kramer (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beschließen heute eine geografische Auswei-
tung des „Atalanta“-Mandates. Die Inhalte des Mandates
bleiben bestehen. Die Erweiterung der geografischen
Zuständigkeit wird im Dezember dieses Jahres parallel
mit dem „Atalanta“-Mandat auslaufen.
Frau Kollegin Homburger, Sie haben gesagt, dass dieses
Mandat zur Bekämpfung der Piraterie nur ein Placebo
sei und keinen Erfolg habe. Gleichzeitig haben Sie betont,
dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen
hervorragenden Job machen. Dann kann die Arbeit doch
gar nicht so erfolglos sein.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25195
(A) (C)
(B) (D)
Rolf Kramer
(Birgit Homburger [FDP]: Das schließt sich
nicht aus! Das eine sind die Soldaten, das an-
dere ist die Regierung!)
Seit das Mandat besteht, haben immerhin 150 000 Tonnen
Hilfsgüter des Welternährungsprogramms ihren Weg nach
Somalia gefunden. Ich finde, das ist ein Erfolg. Bisher
ist kein Schiff, das sich den Konvois angeschlossen hat,
gekapert worden. Auch das ist ein Erfolg.
Es gibt allerdings – das kann man nicht bestreiten –
große Probleme bei der Bekämpfung der Piraterie am
Horn von Afrika. Bisher sind in diesem Jahr schon mehr
Schiffe als im ganzen Jahr 2008 überfallen bzw. gekapert
worden. Zwei Schiffe deutscher Reedereien befinden sich
noch in der Hand von Piraten. Mehr als 150 Handels-
schiffe sind aber sicher durch den Golf von Aden geführt
worden.
Herr Paech, Ihre Ausführungen kann man ja zum Teil
nachvollziehen. Ich finde aber, dass angesichts der
Schlussfolgerungen, die Sie ziehen, dem in wenigen
Stunden anbrechenden Morgengrauen eine ganz neue
Bedeutung beizumessen ist. Es ist schon ausgeführt wor-
den: Die Lebensbedingungen in Somalia müssen besser
werden. Sie sagen, dass der Einsatz der Bundesmarine
im Rahmen des Mandats „Atalanta“ ein großer Erfolg
ist. Dem kann man nur zustimmen. Warum Sie dennoch
die Schlussfolgerung ziehen, dass man den Einsatz stoppen
müsse, kann ich nicht nachvollziehen. Sie sagen, dass
die Bekämpfung von Piraterie eine Polizeiaufgabe ist.
Das stimmt natürlich. Wir haben den Einsatz der Bundes-
wehr aber verfassungsfest gemacht, und wir befinden
uns auf dem Boden der Resolution der Vereinten Nationen.
Das ist aus unserer Sicht ein sehr hohes Gut.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich finde, es ist eine Binsenweisheit, aber es muss immer
wieder gesagt werden: Die Bekämpfung der Piraterie ist
nicht allein durch militärische Maßnahmen möglich. Wir
müssen in Somalia und in dieser ganzen Region auch auf
der Landseite zu besseren Zuständen kommen.
Ich meine aber auch, dass es ein Umdenken bei den
Reedereien und Kapitänen geben muss; denn ein ganz
erheblicher Anteil der Schiffe, die diese Route befahren,
meldet sich überhaupt nicht an, nimmt nicht an Konvois
teil, und es ist sogar passiert, dass Kreuzfahrtschiffe dort
Urlaubsfahrten mit ihren Passagieren veranstaltet haben.
Ich finde, dies muss unmittelbar und unverzüglich gestoppt
werden;
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
denn es ist absurd, dort einen Abenteuerurlaub im Rahmen
einer Pauschalreise durchzuführen.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ulrich
Adam ^[CDU/CSU])
Erlauben Sie mir noch einen weiteren Hinweis: Das
Mandat für die Operation „Atalanta“ beinhaltet die bislang
weitestgehenden Einsatzregeln für einen Einsatz der
deutschen Marine. Deutschland hat dabei keine nationa-
len Einschränkungen der von der Europäischen Union
vorgeschlagenen Regelungen vorgenommen. Deutsche
Kommandanten können im Rahmen der delegierten
Befugnisse mit umfangreichen Gewaltmitteln gegen der
Piraterie verdächtige Personen und deren Fahrzeuge vor-
gehen. Sie können die Fahrzeuge bei einem hinreichen-
den Verdacht anhalten, durchsuchen und gegebenenfalls
beschlagnahmen.
Diese Regeln haben sich bewährt und bedürfen keiner
verfassungsrechtlichen Infragestellung bei uns. Dies
würde die Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet
nur verunsichern – und das wollen wir doch alle nicht. In
diesem Punkt sind weitere Diskussionen über die Verfas-
sungsmäßigkeit nur kontraproduktiv.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen, dass es
unser aller Aufgabe ist, dass Somalia aus dem Rand-
bereich unserer Betrachtung in den Fokus rückt, damit
wir in diesem Bereich in Zukunft mit weniger Militär
mehr Frieden gestalten können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Ulrich Adam von der CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ulrich Adam (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Am 19. Dezember 2008 hat der Deutsche
Bundestag der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an der EU-Mission „Atalanta“ zur Bekämpfung
der Piraterie vor der Küste Somalias zugestimmt.
In seiner Rede zur ersten Lesung des heute zu behan-
delnden Antrages hat Verteidigungsminister Dr. Jung
bereits angesprochen, dass die Operation „Atalanta“
insgesamt sehr erfolgreich ist. Seit Anfang dieses Jahres
haben vor der Küste von Somalia zwar weiterhin Angriffe
stattgefunden, aber wie in einem Bericht der Westeuropäi-
schen Union zu lesen ist, ist die Zahl der erfolgreichen
Überfälle im Vergleich zum Vorjahr nur rund ein Zehntel
so groß. Dabei spielt die stärkere Präsenz der Patrouillen-
schiffe aus verschiedenen Staaten natürlich eine sehr ent-
scheidende Rolle.
An dieser Stelle möchte ich einen herzlichen Dank
und eine Anerkennung für den Einsatz unserer Soldatinnen
und Soldaten am Horn von Afrika aussprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
ten der SPD und der FDP und des Abg. Winfried
Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dass wir im Kampf gegen die Piraterie weiterhin
ernsthaft vorgehen müssen, wird insbesondere am Beispiel
des deutschen Containerfrachters „Hansa Stavanger“
deutlich. Der deutsche Frachter und seine Besatzung be-
finden sich nun schon seit fast elf Wochen in der Gewalt
von Piraten. Was dies für die betroffenen Unternehmen,
aber insbesondere für die entführte Besatzung und deren
Angehörige bedeutet, bedarf keiner erneuten Ausführun-
25196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Ulrich Adam
gen. Bereits in meiner Rede zur Notwendigkeit einer
deutschen Beteiligung an der Operation „Atalanta“ bin
ich auf diese Problematik eingegangen.
Das Piratenproblem besteht weiterhin und bedarf zu
seiner Lösung erstens einer Anpassung des Operations-
gebietes von „Atalanta“ – das wollen wir heute für die
deutschen Streitkräfte beschließen –, zweitens eines län-
geren Einsatzes – die Außenminister der 27 EU-Staaten
haben hierzu am Montag dieser Woche Verabredungen
getroffen – und drittens weiterer aufeinander abge-
stimmter Maßnahmen und Strategien.
Als Mitglied der Europäischen Versammlung für Sicher-
heit und Verteidigung der WEU habe ich mich mit meinen
Kollegen mit der Rolle der Europäischen Union im
Kampf gegen die Piraterie auseinandergesetzt. In der
Sitzung vom 1. bis 5. Juni 2009 in Paris haben wir unter
Federführung des Berichterstatters, unseres Kollegen
Kurt Bodewig, einen Bericht zur Rolle der EU bei der
Bekämpfung der Seeräuberei vorgelegt. Zu Beginn meiner
Rede hatte ich den WEU-Bericht kurz erwähnt.
Der Bericht wurde einstimmig verabschiedet. Darin
werden den EU-Mitgliedstaaten verschiedene Maßnahmen
und Strategien empfohlen, die für einen effektiven, aber
auch nachhaltigen Kampf gegen die Piraterie zu ergreifen
sind. Ich nenne einige dieser Maßnahmen: Es geht um
eine bessere Koordinierung aller beteiligten Seestreit-
kräfte. Zudem muss das Kommunikationsnetz mit teil-
nehmenden Drittländern verbessert werden. Die Zahl der
Sicherheitsteams – sogenannter Onboard Protection
Teams – an Bord durchfahrender ziviler Schiffe sollte er-
heblich erhöht werden. Die Verstärkung der Luftraum-
überwachung zur See sowie zusätzliche Flugzeuge sind
wünschenswert. Kenia sollte bei der strafrechtlichen Ver-
folgung und Verurteilung der Piraten unterstützt werden.
Weiterhin sollte darüber nachgedacht werden, ob es in
Zukunft nicht besser wäre, die Einsätze zu See mit Aktivi-
täten zu Lande zu ergänzen bzw. zu begleiten.
Im Oktober dieses Jahres wird es in Griechenland ein
Seminar der EU/WEU zur Seesicherheit geben. Hier
wird von Fachleuten und Politikern der Istzustand beraten
und analysiert. Weitere Vorschläge zum Umgang mit der
Sicherheit auf See sind dann zu erwarten.
Sehr geehrter Herr Präsident, soweit man die Ereig-
nisse vorausschauen kann, ist meine heutige Rede meine
letzte Rede im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.
Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Die Erinnerung
ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben
werden kann.“
Für mich wird es nach 19 Jahren Deutscher Bundes-
tag viele Erinnerungen geben, für die ich dankbar bin.
Ich danke meinen Parteifreunden und Wählern, dass ich
19 Jahre hier an der Gestaltung der deutschen Einheit
mitarbeiten durfte. Ich danke meiner Frau Christiane und
meiner Familie, dass sie mich getragen haben. Ich danke
meinen Mitarbeitern für die Unterstützung und vertrau-
ensvolle Zusammenarbeit. Ich danke meinen Eltern.
Mein Vater hat mir weit vor der Wende immer wieder
gesagt: „Du erlebst noch die deutsche Einheit.“
Ich danke für die kollegiale Zusammenarbeit und die
Solidarität, die ich in den 19 Jahren hier erleben durfte,
insbesondere in meiner Fraktion und im Verteidigungs-
ausschuss. Um im Militärischen zu bleiben: Ich melde
mich damit ab. Ich wünsche allen, die ihre Arbeit im
Parlament fortsetzen, viel Kraft, Erfolg, Gesundheit und
Gottes Segen.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Groneberg
von der SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Gabriele Groneberg (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle auf die Hin-
tergründe der Mission „Atalanta“ hinweisen. Auch wenn
es schwerfällt: Ich bitte Sie, für ein paar Minuten zuzu-
hören.
Eine wichtige Aufgabe der Mission „Atalanta“ ist es
– das ist heute mehrfach genannt worden –, für die Si-
cherheit der Schiffe des Welternährungsprogramms zu
sorgen. Wenn es in diesem Zusammenhang eine erfreuli-
che Nachricht gibt, dann ist es die, dass 30 Frachtschiffe
des UN-Welternährungsprogramms mit 200 000 Tonnen
Hilfsgütern sicher in die Häfen der Küste geleitet werden
konnten.
Herr Paech, ich empfinde es als zynisch, wenn man
dies als einzigen Erfolg ansieht; das möchte ich an dieser
Stelle einmal sagen. Ich denke, dass es noch andere Er-
folge gibt. Dies ist aber ein großer Erfolg, der vor allen
Dingen für die Menschen, die auf Nahrungsmittelhilfe
angewiesen sind, lebensnotwendig ist.
(Beifall bei der SPD)
Damit ist aber leider noch nicht sichergestellt, dass
die dringend benötigten Lebensmittel auch bei der not-
leidenden Bevölkerung ankommen. Warum ist das so?
Es liegt daran, dass die Überführung der Nahrungsmittel
in das Landesinnere Somalias sich äußerst schwierig ge-
staltet. Die Konvois des Welternährungsprogramms ha-
ben mit Belästigungen zu rechnen. Es wird Wegezoll
eingefordert, sie werden überfallen und einfach nicht in
Ruhe gelassen.
Die anarchischen Zustände, die im Land herrschen,
bringen es mit sich, dass kriminelle Gruppierungen die
Gelegenheit immer wieder nutzen, um die Konvois zu
attackieren und zu überfallen. An dieser prekären Si-
cherheitslage hat auch die neue Übergangsregierung bis
jetzt noch nichts ändern können. Dennoch haben wir An-
lass zur Hoffnung. Denn die neue Übergangsregierung
bemüht sich glaubhaft darum, alle Konfliktparteien, ins-
besondere die religiösen Gruppierungen, in einen politi-
schen Dialog einzubeziehen.
Abgesehen von Teilen Mogadischus verfügt die Über-
gangsregierung allerdings über keine effektive Gewalt
über ihr Territorium. Erst Anfang Mai dieses Jahres ha-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25197
(A) (C)
(B) (D)
Gabriele Groneberg
ben radikalislamische Milizen eine erneute Offensive
gegen die gegenwärtige Übergangsregierung gestartet.
Das ist das eigentliche Problem, vor dem wir stehen.
Bis jetzt gehören Gewalt, Entführungen und Mord
zum Alltag der Somalis. 1,3 Millionen Menschen sind
Binnenflüchtlinge. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung
sind auf Nahrungsmittelhilfen und auf humanitäre Hilfe
angewiesen. Wir stellen durch diese Mission unter ande-
rem sicher, dass Nahrungsmittel zu den Menschen gelan-
gen.
Die Zustände in den Flüchtlingslagern sind katastro-
phal. Somalia ist mittlerweile eines der Schwerpunktlän-
der deutscher humanitärer Hilfe. Es ist aufgrund der Si-
cherheitslage aber schwierig, Projekte tatsächlich zu
Ende zu führen. Das BMZ hat im letzten Jahr 3 Millionen
Euro für Projekte zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr
sind Mittel in Höhe von 4,2 Millionen Euro eingeplant.
Nichtsdestotrotz verändern wir die Strukturen da-
durch nicht; das ist uns sehr wohl bewusst. Die Struktu-
ren im Land werden sich erst verändern, wenn der Wie-
deraufbau tatsächlich beginnt. Der Wiederaufbau kann
aber nur gelingen, wenn es eine Regierung gibt, die in
der Lage ist, staatliche Gewalt gegen Kriminelle auszu-
üben. Dabei haben wir die Übergangsregierung zu unter-
stützen.
Erst wenn die politischen Akteure vor Ort das Heft
des Handelns wieder in der Hand haben und erst wenn
die Voraussetzungen für die Umsetzung eines verlässli-
chen Friedensabkommens geschaffen werden, können
wir an eine bilaterale Entwicklungszusammenarbeit den-
ken. Dies kann die Grundlage dafür schaffen, den krimi-
nellen Handlungen – unter anderem auch der Piraterie –
den Boden zu entziehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Herr Paech, es gibt nicht nur das Fischereiproblem.
Es gibt auch andere Dinge, die eine große Rolle spielen.
Leider habe ich jetzt nicht mehr die Zeit, auf diesen
Punkt einzugehen; ansonsten würde ich das gern tun.
Somalia ist trotz der Debatte um die Piraterie kein
Land, das die Nachrichten beherrscht. Wir haben dafür
zu sorgen, dass die Not leidende Bevölkerung in Soma-
lia nicht vergessen wird. Wir müssen das Unsrige tun.
Was wir zurzeit machen können, ist, für die Sicherheit
der Konvois der Nahrungsmittelhilfe zu sorgen, damit
diese zur Bevölkerung gelangen kann. Dauerhafte Hilfe,
die wir leisten wollen, ist von einer Stabilisierung der
Binnenstruktur des Landes und einer handlungsfähigen
Regierung abhängig.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung auf Anpassung des Einsatzge-
bietes für die Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Atalanta“
zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/13393, den Antrag der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/13187 anzunehmen. Über diese
Beschlussempfehlung stimmen wir nun namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be-
setzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht
der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1)
Wir fahren mit der Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge von Bündnis 90/Die Grünen fort. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache
16/13474? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dafür ge-
stimmt, die Koalitionsfraktionen haben dagegen ge-
stimmt, FDP und die Linke haben sich enthalten.
Jetzt kommen wir zum Entschließungsantrag auf
Drucksache 16/13475. Wer stimmt dafür? – Dagegen? –
Enthaltungen? – In diesem Fall hat die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen dafür gestimmt, die Koalitionsfrak-
tionen und die Fraktion Die Linke haben dagegen ge-
stimmt, die FDP-Fraktion hat sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Seniorinnen und Senioren in Deutschland
– Drucksachen 16/8301, 16/10155 –
Hierzu war eine halbe Stunde Debatte vorgesehen.
Die Rednerinnen und Redner haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben, und zwar Johannes Singhammer, Angelika
Graf, Wolfgang Spanier, Sibylle Laurischk, Elke Reinke,
Britta Haßelmann und der Parlamentarische Staatssekretär
Hermann Kues.2)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 3. September 2008 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich Dänemark über eine Feste
Fehmarnbeltquerung
– Drucksache 16/12069 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(15. Ausschuss)
– Drucksache 16/13261 –
1) Ergebnis siehe Seite 25198 D
2) Anlage 28
25198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Anna Lührmann gibt.
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Eine halbe Stunde Aussprache ist vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich gebe als Erstem Wolfgang Tiefensee für die Bun-
desregierung das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Europa wächst zusammen. Dabei spielt die Er-
tüchtigung der Infrastruktur eine entscheidende Rolle.
Wir verhandeln heute über einen Sachverhalt, der für das
Zusammenwachsen Europas, insbesondere in der Nord-
Süd-Relation, von eminenter Bedeutung ist. 19 Kilome-
ter Belt sollen mit einem Brückenschlag, der Festen Feh-
marnbelt-Querung, überwunden werden. Damit können
wir Skandinavien enger an Mitteleuropa anbinden; wir
können die Rolle der Schiene in dieser Relation stärken.
Es ist uns gelungen, in den letzten Monaten und Jah-
ren auf der Basis des Koalitionsvertrages umfangreiche
Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark zu füh-
ren. Wir haben die Zeit seit 2006 genutzt, um gründlich
abzuwägen, wie es bei diesem Projekt um das Verhältnis
von Risiken und Nutzen bestellt ist. Im Fazit können wir
heute eine weitere Etappe beginnen, die Planung weiter
vorantreiben, mit dem Ziel, diesen Brückenschlag, diese
Verbindung im Jahr 2018 zu realisieren.
Die Eckpunkte des Vertrages sind Ihnen bekannt; im
Wesentlichen sind es die folgenden: Das Königreich Dä-
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 527;
davon
ja: 475
nein: 42
enthalten: 10
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Ministerkollegen! Von Umweltministern!)
So haben wir die vergangene Zeit genutzt, vor Ort, aber
nicht nur dort, allen, die gefragt haben, Auskunft zu ge-
ben und umfangreich über die Fragen der Sicherheit, der
Kosten und insbesondere der Umweltbelastung zu disku-
tieren. Sie wissen, dass das Königreich Dänemark als
Auftraggeber im Wesentlichen die Planung vorantreibt.
Wegen der Öresund-Querung und der Querung des Gro-
ßen Belts verfügt Dänemark über einen reichen Erfah-
rungsschatz, sodass ich davon ausgehe, dass die Que-
rung plangemäß, auf höchstem Niveau und unter
Beachtung der höchsten Umwelt- und Sicherheitsstan-
dards errichtet werden wird. Setzen wir dieses Projekt
gemeinsam in Gang! Es soll Europa näher zusammen-
bringen. Wir brauchen diese Infrastruktur. Machen Sie
den Weg dafür frei!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich komme zum vorherigen Tagesordnungspunkt, zu
dem Antrag auf Anpassung des Einsatzgebietes für die
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
EU-geführten Operation „Atalanta“ zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias – das sind die Druck-
sachen 16/13187 und 16/13393 –, zurück und gebe Ih-
nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
bekannt: Abgegeben wurden 527 Stimmen. Mit Ja haben
gestimmt 475 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt
42, 10 haben sich enthalten. Damit ist die Beschlussemp-
fehlung angenommen.
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Auch von Ihren
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick
– Bericht des Haushalts
gemäß § 96 der Gesch
– Drucksache 16/1326
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholo
Carsten Schneider (Er
Dr. Claudia Winterste
Roland Claus
Döring
ausschusses (8. Ausschuss)
äftsordnung
8 –
mäus Kalb
furt)
in
nemark und die Bundesrepub
gen sich darauf, dass dieses P
trieben wird. Das Königre
Planung, den Bau, den Betrie
Brücke ab dem Pfeiler auf
Deutschland ist allein für di
deutschem Gebiet zuständig.
ein sehr gutes Ergebnis erreic
(Beifall bei der SPD
Ich bin mir bewusst, dass
lik Deutschland verständi-
rojekt gemeinsam vorange-
ich Dänemark trägt die
b und die Finanzierung der
deutschem Hoheitsgebiet.
e Hinterlandanbindung auf
Ich denke, damit haben wir
ht.
und der CDU/CSU)
es an dem Vorhaben Kritik
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25199
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
(Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
25200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Silvia Schmidt (Eisleben)
Renate Schmidt (Nürnberg)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Uta Zapf
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Erwin Lotter
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck (Bremen)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Nein
SPD
Dr. Wolfgang Wodarg
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Dr. Barbara Höll
Dr. Hakki Keskin
Jan Korte
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
SPD
Gregor Amann
Petra Hinz (Essen)
Detlef Müller (Chemnitz)
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Rainer Tabillion
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Irmingard Schewe-Gerigk
Josef Philip Winkler
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25201
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich komme zu unserer Debatte zurück und erteile dem
Kollegen Patrick Döring für die FDP-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der FDP)
Patrick Döring (FDP):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen – ich
bin sehr dankbar dafür, dass wir sie heute bei fast noch
größerer Präsenz als bei manch verkehrspolitischer De-
batte am Nachmittag führen können –, wird aufzeigen,
dass heute ein richtiger Schritt getan wird, wenn die
Mehrheit des Hauses – daran wird auch die FDP-Frak-
tion mitwirken – mit diesem Gesetzentwurf den Staats-
vertrag ratifiziert. Neben der späten Stunde und der ho-
hen Präsenz gibt es noch eine dritte Neuigkeit: Ich habe
diesmal nichts an der Rede des Bundesverkehrsministers
zu kritisieren. Das ist bislang selten genug vorgekom-
men.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
SPD)
Zunächst aber möchte ich Ihnen mit Erlaubnis der
Frau Präsidentin folgende Sätze vorlesen. Ich bedanke
mich ausdrücklich beim Kollegen Koppelin, dass er mir
das soeben noch aus seinem umfangreichen Archiv zur
Verfügung gestellt hat. Es handelt sich um eine Ausfüh-
rung vom 13. Dezember 1999. Ich zitiere: die Verkehrs-
verbindungen nach Skandinavien, sowohl die festen Ver-
bindungen wie die Fähren und Schifffahrtslinien, haben
für Schleswig-Holstein strategische Bedeutung. Die
feste Querung des Fehmarnbeltes kann zur Bewältigung
der zukünftigen Verkehrsaufkommen beitragen. Die im
Auftrag der dänischen und deutschen Regierung erstell-
ten Gutachten besagen, die feste Querung ist unter den
angenommen Prämissen technisch machbar, verkehrlich
sinnvoll und hat einen gemeinschaftlichen Nutzen.“ – Das
ist kein Zitat aus einer der Reden von Jürgen Koppelin
zu diesem Thema, das ist ein Zitat aus der Presseinfor-
mation des Landesverbands der schleswig-holsteini-
schen SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, Schleswig-
Holstein; denn seinerzeit hatte das schleswig-holsteini-
sche Landeskabinett, das der Kollege Steenblock mit ge-
nießen und dem er angehören durfte, diese gemeinsame
Stellungnahme auf den Weg gebracht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Weil die Rednerreihenfolge, geschätzter Herr Kollege,
so ist, wie sie ist, muss ich das alles vor der Rede, die Sie
vortragen werden, sagen, damit Sie erklären können,
was sich an dieser Einschätzung geändert hat.
Gelegentlich wird in der Debatte über die Frage,
wann die feste Querung umgesetzt wird, der Eindruck
erweckt, dass mit dem heutigen Beschluss schon morgen
die Bagger rollen. Dem ist, wie wir alle wissen, nicht so.
Ich bin dem Bundesverkehrsminister dankbar, dass er et-
was klargestellt hat, was auch für die FDP-Fraktion in
dieser Frage entscheidend ist: Mit der Entscheidung
heute ist der Weg frei für ein geordnetes Planfeststel-
lungsverfahren, für umfangreiche Umweltverträglich-
keitsprüfungen, für eine intensive Bürgerbeteiligung so-
wie für politisches Handeln der Landesregierung, der
Bundesregierung und der Mehrheit im 17. Deutschen
Bundestag, um die Schienen- und Straßenverbindung im
Anschluss an die feste Querung dann auch so zu planen,
dass sie verkehrlich sinnvoll ist und die Umweltbelange
berücksichtigt und dass wir dabei mit den Bundesmitteln
optimal umgehen. All dies werden wir tun können, und
ich sage für die FDP-Fraktion: Auch daran werden wir
uns sehr konstruktiv beteiligen. Gemeinsam werden wir
dies schaffen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Weil ich weiß, dass gelegentlich die Berichte des
Bundesrechnungshofs von der einen oder anderen Seite
des Hauses mehr oder weniger berücksichtigt werden,
erlaube ich mir an dieser Stelle folgenden Hinweis:
Wenn in einem Bericht des Bundesrechnungshofs fast
ausschließlich mit Spekulationen und Annahmen gear-
beitet wird,
(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Machen Sie ja
auch!)
um ein Projekt so zu rechnen, wie es einem vielleicht ge-
fällt, dann muss die Politik am Ende – Herr Heilmann,
das ist dann vielleicht der Unterschied – die Kraft haben,
die Argumente auch eines Bundesrechnungshofs ganz
sachlich zu bewerten. Ich bleibe dabei: Die Risiken für
zukünftige Bundeshaushalte sind in der Bewertung über-
schätzt. Ich bleibe ferner dabei: Dieses Haus hat in der
17. und vielleicht auch noch in der 18. Wahlperiode alle
Chancen, bei der Realisierung dieser Hinterlandanbin-
dung optimal mit Steuergeldern umzugehen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
Aus einem allerdings, geschätzter Herr Minister
Tiefensee, kann ich die Bundesregierung und auch alle
zukünftigen Bundesregierungen nicht entlassen: Mit der
Ratifizierung, die heute auch mit der Unterstützung der
FDP-Fraktion für dieses Gesetz erfolgt, muss die kon-
zeptionelle Arbeit an der zugesagten Hinterlandanbin-
dung beginnen. Wir müssen dann für die nächste Wahl-
periode schnellstmöglich die offenen Fragen, die die
Region, aber auch den optimalen Einsatz von Steuermit-
teln betreffen, lösen.
(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin
[FDP])
Das erwarten wir dann allerdings auch für den 17. Deut-
schen Bundestag. Ich hoffe, dass mit diesem Startschuss
das Projekt weiter gut vorankommen wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Gero Storjohann spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
25202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Gero Storjohann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach fast 20 Jahren Planung, nach Gutachten, nach um-
fangreichen Verhandlungen, Herr Minister Tiefensee,
und schließlich nach der Bereitschaft unserer dänischen
Nachbarn, den Bau einer festen Querung über den Feh-
marnbelt letztlich alleine zu gewährleisten, können wir
heute diesem so wichtigen und erfolgversprechenden
Projekt endlich und endgültig grünes Licht geben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Patrick Döring [FDP])
Der Bau der Festen Fehmarnbelt-Querung ist ein sicht-
bares Zeichen für die Überwindung des Trennenden und
Ausdruck der gemeinsamen europäischen Verantwor-
tung für gute Nachbarschaft, für ein friedliches Mitei-
nander und letztendlich für Wachstum und Wohlstand
für alle.
Die deutliche Mehrzahl aller Studien kommt klar zu
einem positiven Ergebnis. Auch in der Anhörung im
Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages am
6. Mai hat sich die Mehrzahl der anwesenden Experten
nochmals deutlich für das Projekt ausgesprochen.
Exemplarisch gehe ich nun auf drei Bereiche ein: auf
den ökonomischen Nutzen des Projekts, auf die nachge-
wiesene Umweltverträglichkeit und auf Aspekte der Ver-
kehrssicherheit, insbesondere des Schiffsverkehrs.
Die feste Querung wird die Metropolregionen Ham-
burg und Öresund enger zusammenrücken lassen. Die
Öresund-Region ist eine überaus erfolgreiche Wirt-
schaftsregion. Etwa ein Viertel des dänischen und
schwedischen Bruttoinlandsprodukts wird hier erwirt-
schaftet. Im Bereich Wissenschaft und Forschung gehört
sie zu den führenden Zentren Europas. Dieser Erfolg
liegt nicht zuletzt an der Öresund-Brücke. Mit der Festen
Fehmarnbelt-Querung können wir nun die leistungs-
starke Öresund-Region mit der ebenso starken Metropol-
region vernetzen. Das beinhaltet enorme Chancen für
mehr Innovation, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze für
die Region selbst, also auch für mein Heimatland
Schleswig-Holstein, und darüber hinaus für ganz Nord-
europa.
Umso erfreulicher ist, dass für die Kosten der Que-
rung der dänische Staat hauptverantwortlich ist. Däne-
mark will die Finanzierung über ein Staatsgarantiemo-
dell und über EU-Zuschüsse absichern und dann
gemeinsam mit privaten Investoren Planung, Bau, Fi-
nanzierung und Betrieb im Rahmen eines PPP-Projektes
übernehmen. Die EU fördert den Bau als wichtiges Ver-
kehrsinfrastrukturprojekt von gesamteuropäischer Be-
deutung. Bereits bevor der Bundestag die Ratifizierung
vollzogen hatte, sind aus dem EU-Programm TEN
335 Millionen Euro bewilligt worden. Auch für die
TEN-Perioden ab 2014 sind Zuschüsse in Aussicht ge-
stellt. Wir, Deutschland, tragen die Kosten für die Hin-
terlandanbindungen auf eigenem Gebiet. Das sind Ver-
bindungen, für die der Bund sowieso mittelfristig
aufkommen müsste.
Wenn gelegentlich behauptet wird, der Bundesrech-
nungshof habe sich im Zusammenhang mit dieser Hin-
terlandanbindung gegen den Bau einer Festen Fehmarn-
belt-Querung ausgesprochen, so ist das schlicht falsch;
vielmehr hat der Bundesrechnungshof auf noch offene
Fragen hingewiesen, die uns als Fachpolitikern selbst-
verständlich bekannt sind. Umfang und Ausgestaltung
der Hinterlandanbindung können noch gar nicht ab-
schließend beurteilt werden. Das muss erst abgestimmt
werden, gerade mit den Menschen und Kommunen vor
Ort. Darum können auch die Kosten der Hinterlandan-
bindung noch nicht exakt beziffert werden. Sobald sich
diese Vorhaben konkretisieren – wir möchten gerne eine
neue Schienenanbindung haben –, werden dem Deut-
schen Bundestag umgehend die Kosten der Hinter-
landanbindung mitgeteilt werden. Dafür steht der Rech-
nungsprüfungsausschuss mit seinem Beschluss in dieser
Woche ein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Darüber hinaus führt die feste Querung über den Feh-
marnbelt zu effizienteren Verkehrsströmen – das ist nur
zu begrüßen – und damit auch zu einer Abnahme von
Schadstoffemissionen. Damit hat diese Querung nach-
haltige Vorteile für Klima und Umwelt. Die Strecke
Hamburg–Kopenhagen wird um 140 Kilometer ver-
kürzt.
Wir reden immer von der notwendigen Verlagerung
des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene. Der-
zeit kann kein einziger Güterzug auf der Vogelfluglinie
verkehren, da die Verladeeinrichtungen bei Rödby abge-
baut worden sind. Nach Fertigstellung einer festen Que-
rung wird dies nicht nur prinzipiell möglich sein; viel-
mehr wird die Weg- und Zeitersparnis den Güterverkehr
auf der Schiene förmlich explodieren lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jeder, der bislang eine Stärkung des Schienengüter-
transportes gefordert hat – da war der Kollege
Steenblock aus Schleswig-Holstein immer vorneweg –,
muss eigentlich ein glühender Anhänger einer Festen
Fehmarnbelt-Querung sein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Gar nicht! Die brauchen nur
eine Güterabfertigung!)
Auch die Sicherheit des Schiffsverkehrs ist ständiger
Bestandteil von Untersuchungen. Unter Beteiligung
deutscher und dänischer Behörden wurde für eine Brü-
ckenvariante bereits eine fundierte Risikoabschätzung
nach den Richtlinien der IMO erarbeitet. Die so gewon-
nenen Ergebnisse werden seit März 2009 mithilfe einer
Simulation überprüft und ergänzt. Ein ähnliches Verfah-
ren hinsichtlich einer Tunnellösung ist in Arbeit. All die
gewonnenen Erkenntnisse werden bei der Umsetzung
des Projekts berücksichtigt werden.
Außerdem weise ich ausdrücklich auf die Relationen
zu anderen Wasserstraßen hin: Der Nord-Ostsee-Kanal
ist 160 Meter breit. Mit 42 000 Schiffspassagen und
105 Millionen Tonnen Ladung gehört er zu den weltwei-
ten Spitzenreitern unter den künstlichen Wasserstraßen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25203
(A) (C)
(B) (D)
Gero Storjohann
Mit heutigen Brückenkonstruktionen können zwischen
den Pfeilern Durchfahrten erreicht werden, die ein Viel-
faches der Breite des Nord-Ostsee-Kanals aufweisen.
Wir können also feststellen: Das Projekt zum Bau der
Festen Fehmarnbelt-Querung musste sich in vielen Stu-
dien und Modellrechnungen bewähren, und es hat sich
bewährt. Dennoch gehen die Untersuchungen weiter. Es
wird ergebnisoffen geprüft, ob eher der Bau eines Tun-
nels oder einer Brücke geeignet ist und in welcher Form
das jeweils konzipiert werden könnte. Eine endgültige
Entscheidung ist, bedingt durch die hohen und genauen
Prüfanforderungen – das weiß jeder im Saal –, erst im
Jahr 2012 vorgesehen.
Nun geht es darum, den Staatsvertrag zwischen
Deutschland und Dänemark durch ein klares Votum des
Deutschen Bundestages rechtskräftig zu machen und da-
mit auch für die weiteren Prüfverfahren Planungssicher-
heit herzustellen. Kurz: Wir werden heute das wichtigste
europäische Verkehrsinfrastrukturprojekt der letzten
Jahrzehnte auf ein stabiles Fundament stellen.
Die Feste Fehmarnbelt-Querung schließt die bisher
fehlende Verbindung zwischen Mittel- und Nordeuropa.
Die Metropolregion Hamburg und die erfolgreiche
Öresund-Region werden zusammenwachsen, und zwar
in der bewusst doppelten Bedeutung: Sie kommen sich
näher, und sie entwickeln sich gemeinsam weiter.
Die Idee eines zusammenwachsenden Europas, von
wegfallenden Grenzlinien, von einem gemeinsamen
Binnenmarkt und vom freien Verkehr von Personen,
Gütern und Dienstleistungen, ist unser Ziel. Hier wird
Europa konkret gestaltet; denn es wächst zusammen,
was zusammen gehört.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Lutz Heilmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Brückenschlag in die Provinz“ – so lautet die Über-
schrift eines Spiegel-Artikels von dieser Woche. Alle Ar-
gumente pro und kontra Feste Fehmarnbelt-Querung
sind dort aufgeführt. Bei vernünftiger Abwägung müss-
ten auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, CDU/CSU und auch von der FDP, zu dem Ent-
schluss kommen, diese Entscheidung heute nicht zu tref-
fen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Vernunft müsste Ihnen sagen: Keine Ratifizierung
des Staatsvertrages. Aber diese Vernunft werden Sie
heute nicht walten lassen. Sie werden, wie von Anfang
an offensichtlich gedacht, in einer Nacht-und-Nebel-Ak-
tion die Ratifizierung durch den Bundestag peitschen.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der
SPD – Patrick Döring [FDP]: Ich sehe keinen
Nebel außer dem in Ihrem Hirn!)
Sie stellen einen Blankoscheck ins Ungewisse aus;
denn Sie wissen bis heute nicht, was das Projekt insge-
samt kosten wird. Das hat der Bundesrechnungshof ein-
deutig festgestellt: Dieser Staatsvertrag enthält so viele
Unwägbarkeiten, dass der Bundesrechnungshof nicht
empfiehlt, ihn jetzt zu ratifizieren. Nehmen Sie diese
Warnung, wenn Sie schon nicht auf uns hören, ernst.
Aber was machen Sie? Augen zu und durch!
(Patrick Döring [FDP]: Die bisher gesprochen
haben, hatten die Augen offen!)
Dafür dürfen notfalls unsere Kinder und Enkelkinder
zahlen.
Nachhaltige Politik sieht anders aus. Anstelle von
Einsicht steht bei Ihnen die Suche nach Argumenten für
diese monströse Brücke. In den Lübecker Nachrichten
finden Sie heute dazu eine kleine Auswahl. Dort werden
Ausflugsfahrten zur Brücke in Aussicht gestellt. Super!
Früher gab es Butterfahrten auf der Ostsee, nun gibt es
Butterfahrten zur Brücke.
(Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Ihr durftet
doch gar nicht auf die Ostsee fahren! Die war
doch gesperrt! Erzähl doch nicht so einen
Quatsch!)
Wissen Sie: Mir sind Touristen, die ein oder zwei Wo-
chen Dauerurlaub auf Fehmarn machen und die Natur
und die Insel Fehmarn genießen, tausendmal lieber als
sogenannte Butterfahrten.
Sie versprechen einen grenzüberschreitenden Arbeits-
markt. Super! Durch die Fehmarnbelt-Querung kommen
für Arbeiterinnen und Arbeiter Hunderte Kilometer Ar-
beitsweg hinzu, und das in Zeiten des Klimawandels.
Danke schön für die Reduzierung des Schadstoffaussto-
ßes!
(Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Bitte sehr!)
Sie versprechen neue Gewerbegebiete. Super! Wie
sieht es mit Ihrem Ziel aus, den Flächenverbrauch von
derzeit 100 Hektar pro Tag auf 30 Hektar zu reduzieren?
Was ist denn Ihre Nachhaltigkeitsstrategie wert, wenn
sie nur dazu dient, dass die Kanzlerin auf Umweltkonfe-
renzen schöne Reden halten kann? So sieht Ihre prakti-
sche Politik aus.
Sie wollen das Miteinander von Dänen und Deut-
schen stärken. Super! Die Tatsache, dass die Leute min-
destens 60 Euro hinlegen müssen, um zusammenzukom-
men, zeigt mir, für wen die Brücke gebaut wird.
(Heidi Wright [SPD]: Schwimmen ist
billiger!)
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Zustimmung zur
Festen Fehmarnbelt-Querung ist für mich Sozialraub,
Naturraub und Wirtschaftsraub.
(Beifall bei der LINKEN)
25204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Lutz Heilmann
Sie nehmen den Menschen Arbeit, Perspektiven und
eine lebenswerte Umwelt. Sie stürzen eine der ärmsten
Regionen Schleswig-Holsteins in noch größere Armut.
Wollen Sie das wirklich verantworten? Ich nicht. Des-
halb meine Aufforderung an Sie: Blasen Sie das Projekt
ab!
Die Milliarden können woanders besser verwandt
werden. Ich nenne beispielsweise die Verbesserung des
Fährverkehrs durch neue, schnellere und umweltverträg-
lichere Fähren. Auch die Zugverbindung nach Puttgar-
den muss verbessert werden. Da stimme ich Ihnen, Herr
Kollege Storjohann, zu. Aber dazu ist es wichtig, dafür
zu sorgen, dass sich die Menschen keine Sorgen machen
müssen. Herr Kollege Döring, ich weiß nicht, ob Sie Ihre
Position mit der Timmendorfer FDP abgestimmt haben.
Sie hat nämlich angekündigt, dass sie keine Plakate zum
Bundestagswahlkampf aufhängt, wenn das so weiter-
geht.
(Zurufe von der SPD: Oh!)
Es gibt noch weitere Strecken in Schleswig-Holstein,
die durchaus einen Ausbau vertragen würden. Ich nenne
zum Beispiel die Strecke Kiel–Lübeck. Eine Entfernung
von 80 Kilometern wird in anderthalb Stunden zurück-
gelegt. Der ICE von Berlin nach Hamburg braucht für
284 Kilometer ungefähr die gleiche Zeit.
Zum Schluss noch einmal an Sie die Aufforderung:
Seien Sie vernünftig! Lassen Sie Vernunft walten! Las-
sen Sie die Finger von dieser Brücke! Für die Entwick-
lung Fehmarns und Ostholsteins brauchen wir Intelli-
genz und keinen Beton.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat das Wort der Kollege Rainder Steenblock.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist toll, dass meiner Biografie so viel Wertschätzung
entgegengebracht wird. Kollege Döring, ich kann die Sa-
che gerne aufklären. Das Problem ist sicherlich, dass Sie
wahrscheinlich noch im Kindergarten waren, als die
FDP das letzte Mal in der Regierung war.
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Ich will Ihnen persönlich gar nicht vorwerfen, dass Sie
nicht wissen, wie Koalitionen gemacht werden und dass
Regierungspolitik etwas anders aussieht als Parteipoli-
tik.
(Patrick Döring [FDP]: Sagen Sie das den
Menschen vor Ort! Es ist die Partei und nicht
der Minister!)
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Kollege
Döring.
Trotz all Ihrer Bemühungen haben Sie kein einziges
Zitat von mir gefunden, das Ihre Behauptung untermau-
ert. Ich habe als Minister reichlich Ärger bekommen, als
ich sowohl gegen die A 20 als auch gegen die Fehmarn-
belt-Querung demonstriert habe. Das hat im Kabinett zu
erheblichen Problemen geführt. Ich habe mir in meinem
persönlichen Kampf gegen diese Projekte nichts vorzu-
werfen. Ich finde, das sollten Sie bei all Ihren Angriffen
auch honorieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Manchmal war mir diese Debatte ein wenig zu lustig.
Die Fehmarnbelt-Querung ist das größte Verkehrsprojekt
Nordeuropas, eines der größten Europas überhaupt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht um 8 Milliarden Euro. Man darf also nicht wie
kleine Kinder Brücken bauen und ein bisschen Verkehr
spielen. Denn für die Milliarden von Steuergeldern sind
wir verantwortlich. Dieses Geld stecken Sie in ein einzi-
ges Projekt. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieses Pro-
jekts ist so schlecht wie bei keinem anderen Verkehrs-
projekt im Bundesverkehrswegeplan.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das macht das Königreich Dänemark!)
Das Problem ist, dass Sie ein Projekt durchsetzen wol-
len, das von allen Wissenschaftlern, die das Kosten-Nut-
zen-Verhältnis untersucht haben, infrage gestellt wird.
Es ist unverantwortlich, dass Sie so viel Geld verbren-
nen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Wenn Sie sagen, dass das Risiko aufgrund geschickter
Verhandlungen auf die Dänen abgewälzt wurde – die
Dänen tragen jetzt ein Risiko in Höhe von 8 Milliarden
Euro –, dann zeigt das, dass Sie diesem Projekt nicht
trauen. Sie wollen die bundesrepublikanischen Steuer-
zahler mit 2 Milliarden Euro für eine Hinterlandanbin-
dung belasten, obwohl Sie diesem Projekt nicht trauen.
(Patrick Döring [FDP]: Das sind Mond-
zahlen!)
Was ist das für eine Verantwortung, die Sie da überneh-
men?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das können Sie, lieber Herr Kollege Börnsen, vor Ihren
Wählern und den Steuerzahlern nicht verantworten. Die-
ses Projekt ist grottenschlecht, was die verkehrliche Nut-
zung angeht.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Überhaupt nicht! Eine geniale Entscheidung
ist das!)
Das Ganze hat auch eine ökologische Dimension. Sie
wissen genau, wie das auf der Ostsee aussieht.
(Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP] meldet
sich zu einer Zwischenfrage)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25205
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Steenblock – –
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein. – Der Kollege Storjohann hat uns etwas zur Si-
cherheit der Schiffe im Vergleich zum Nord-Ostsee-Ka-
nal vorgelesen. Wir haben im Bereich der Kadetrinne
66 000 Schiffe im Jahr. Das kann man überhaupt nicht
vergleichen. Auf dem Nord-Ostsee-Kanal gibt es eine
ganze Reihe von Unfällen. Wenn die Schiffe in die Bö-
schung fahren, ist das schlimm genug. Aber wenn
Schiffe gegen einen Pfeiler dieser Brücke auf der Ostsee
fahren, hat das eine ganz andere Dimension. Sie verglei-
chen hier wirklich Äpfel und Birnen. Das zeigt, dass Sie
wenig Ahnung von dem Problem haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Wir haben
doch den Sachverständigen in der Anhörung
dazu gehört!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie möchten keine Zwischenfrage von Herrn
Koppelin zulassen?
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Koppelin, bitte schön.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Vielen Dank, Kollege Steenblock. Ich habe nach Ih-
rem Redebeitrag nur eine kurze Frage. Der Herr Kollege
Patrick Döring hat auf eine Presseerklärung der beiden
Landtagsfraktionen aufmerksam gemacht, aus der her-
vorgeht, dass Sie im Kabinett zugestimmt haben. Sie wa-
ren stellvertretender Ministerpräsident. Wenn man etwas
nicht will, muss man im Kabinett ja nicht unbedingt zu-
stimmen. Sie haben aber zugestimmt. Das war ein Kabi-
nettsbeschluss, der auch im Landtag vertreten wurde. Ich
möchte jetzt gerne von Ihnen wissen: Wann sind Ihnen
denn zum ersten Mal Bedenken gekommen, nachdem
Sie damals im Kabinett als stellvertretender Ministerprä-
sident zugestimmt haben?
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Meine Bedenken
bestanden bereits sehr viel früher.
(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Kann es
auch sein, dass Sie im Kabinett zugestimmt
haben, aber auf der Straße demonstriert ha-
ben?)
– Das ist doch eine alberne Debatte. Sie wissen, wie Re-
gierungskoalitionen funktionieren. Nein, Sie wissen es
nicht, weil Sie in Schleswig-Holstein noch nie regiert
haben. Wir haben das öffentlich diskutiert, und ich habe
sehr deutlich gemacht, dass wir an einer solchen Frage
die Koalition nicht scheitern lassen. Aber dass das ge-
nauso ein Projekt ist wie der Transrapid oder die A 20,
haben wir in den Debatten in der schleswig-holsteini-
schen Landesregierung immer sehr deutlich gemacht.
Mir persönlich können Sie da ganz bestimmt keine Wa-
ckelei vorwerfen. Lieber Kollege, ich kann ja verstehen,
dass Sie Ihr schlechtes Gewissen, was den Umgang mit
Steuergeldern angeht – –
(Patrick Döring [FDP]: Wir haben überhaupt
kein schlechtes Gewissen!)
– Doch, natürlich! Sonst würden Sie nicht diese Dinge
aus der Vergangenheit hervorziehen, obwohl Sie wissen,
wie Koalitionen funktionieren. Unsere damalige Argu-
mentation war fast die gleiche wie heute. Nur geht es
heute um ein paar Milliarden Euro mehr. Die Kosten ha-
ben sich dramatisch verändert. Auch die ökologischen
Rahmenbedingungen sind deutlich verändert. Schon da-
mals ist das Gebiet hinterher als Schweinswalschutzge-
biet ausgewiesen worden. Die ökologischen Barrieren
sind höher geworden. – Lieber Kollege Koppelin, Sie
können sich jetzt wieder setzen; ich bin fertig mit der
Antwort auf Ihre Frage.
Ich würde aber gerne noch einmal deutlich machen,
worum es uns heute geht. An dem Entschließungsantrag,
über den wir heute debattieren, Kollege Koppelin, kön-
nen Sie erkennen, dass es uns unter anderem darum geht,
dass heute keine Entscheidung gefällt wird. Denn der
Bundestag soll heute – das hat auch der Kollege
Heilmann gesagt – über die Fehmarnbelt-Querung ent-
scheiden, eines der größten Verkehrsprojekte, obwohl
wir nur wissen, dass sich dieses Projekt nicht rechnet.
Vieles andere wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal,
wo in Schleswig-Holstein die Trasse für die Hinter-
landanbindung sein soll. Wir wissen nicht, was das
Ganze kostet. Wir wissen nicht, ob es ein Tunnel oder
eine Brücke wird. Sie entscheiden heute in einem Staats-
vertrag über ein Projekt, das Sie nicht kennen, über eine
Trassenstruktur, die Sie nicht kennen,
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Seit 20 Jahren
wird das Projekt diskutiert!)
über Kosten, die Sie nicht kennen. Sie wollen entschei-
den, obwohl Sie wissen, dass dahinter wahrscheinlich
Milliardensummen stehen.
Dazu – das möchte ich gern einmal zitieren – hat der
Bundesrechnungshof gesagt:
Der Bundesrechnungshof hält die Art der Darstel-
lung der Kosten gegenüber dem Parlament für nicht
angemessen. Diese Vorgehensweise des Bundes-
ministeriums …
– für Verkehr –
wird weder der Bedeutung dieses internationalen
Vorhabens noch dem Anspruch an eine transparente
Information des Gesetzgebers gerecht.
Weiter heißt es:
Der Bundesrechnungshof hält abschließend daran
fest, dass eine transparente aktuelle Information des
Parlaments über die aus jetziger Sicht zu erwarten-
den finanziellen Belastungen geboten ist.
25206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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Rainder Steenblock
All das legen Sie nicht vor.
(Patrick Döring [FDP]: Wir müssen doch noch
ein Planfeststellungsverfahren machen!)
Sie muten diesem Parlament eine Entscheidung zu, die
dem Wissensstand des Parlaments zwangsläufig nicht
entsprechen kann. Sie entscheiden ohne Not heute über
ein Milliardenprojekt. Ich finde, das können Sie nicht
verantworten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. – Ohne Not entscheiden Sie heute. Unser Ent-
schließungsantrag geht dahin, –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege!
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– eine fundierte Entscheidung in die nächste Legis-
laturperiode zu übertragen. Sie wollen das heute durch-
peitschen. Das ist mit uns nicht zu machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick
Döring [FDP]: Sie wollen es nicht! Sagen Sie
es doch!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker
für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den beiden letzten Vorrednern möchte ich zum
sachlichen Kern der heutigen Debatte zurückkehren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Worum geht es heute? Wir beraten heute in zweiter
und dritter Lesung die Ratifizierung des Staatsvertrages
zwischen dem Königreich Dänemark und der Bundes-
republik Deutschland zum Bau einer festen Fehmarn-
belt-Querung. Es handelt sich um das wichtigste euro-
päische Verkehrsprojekt in dieser Zeit. Mit einer festen
Querung des Fehmarnbelts rückt Europa wieder ein
Stück näher zusammen. Wir sollten darin zuallererst eine
Chance sehen, obwohl die Realisierung noch einige
Jahre in Anspruch nehmen wird. Eine feste Fehmarn-
belt-Querung eröffnet der wirtschaftlichen Entwicklung
des gesamten Ostseeraums neue Potenziale. Nicht nur
Skandinavien, sondern auch der norddeutsche Raum
werden davon profitieren.
(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Mecklenburg-
Vorpommern insbesondere, ja?)
Eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur ist die
Grundvoraussetzung für Wirtschaftsentwicklung und
Warenaustausch im EU-Binnenmarkt. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich den Staatsver-
trag als Basis für weitere Untersuchungen und Planun-
gen zur Errichtung einer festen Querung.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
Dass von einer festen Fehmarnbelt-Querung ein nach-
haltiger Anstoß für die wirtschaftliche, wissenschaftli-
che und kulturelle Zusammenarbeit in der westlichen
Ostseeregion ausgehen kann
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, mit 6 000 Autos! Ein Quatsch!
Sie verbinden Wiesen miteinander, aber keine
Zentren!)
– ich habe Ihnen auch zugehört, Herr Steenblock –, be-
weist die vor wenigen Tagen verabschiedete Lübecker
Erklärung. Lesen Sie diese doch einmal durch, Herr
Steenblock.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die habe ich schon gelesen! Da
steht nichts Neues drin! Keine einzige neue
Zahl!)
Die in der Lübecker Erklärung genannten Themen –
grenzüberschreitender Verkehr, Wissenschaftsstandorte,
Tourismusentwicklung,
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal, was Ihre
Landesregierung beschlossen hat! Ihre Lan-
desregierung hat das Gegenteil beschlossen!)
gemeinsamer Arbeitsmarkt, Klimaschutz, Kulturaus-
tausch und Informationsvernetzung – stehen für ein brei-
tes Spektrum der künftigen Zusammenarbeit in dieser
Region, der Schweden, Dänemark und Deutschland an-
gehören.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP – Rainder
Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ihre Landesregierung lehnt das ab!)
Meine Damen und Herren, Bundesregierung und
Bundestag haben es sich mit der Grundsatzentscheidung
für eine feste Querung nicht leicht gemacht. Die Ver-
handlungen gehen bis in das Jahr 1992 zurück; das ist
schon gesagt worden. Wir haben uns im Deutschen Bun-
destag in den letzten Jahren wiederholt mit diesem
Projekt befasst. Die Route ist – das möchte ich in Erin-
nerung rufen – Bestandteil des transeuropäischen Ver-
kehrsnetzes. Ich sage an dieser Stelle auch: Bundes-
minister Tiefensee hat die deutschen Interessen bei den
Verhandlungen gut vertreten. Dafür ein Dank!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Es geht heute darum, wie wir grundsätzlich zu diesem
Projekt stehen. Es geht nicht darum, über einzelne Er-
gebnisse eines Planfeststellungsverfahrens oder einer
Umweltverträglichkeitsprüfung zu entscheiden. In der
Tat werden noch viele Fragen zu beantworten sein. Mög-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25207
(A) (C)
(B) (D)
Hans-Joachim Hacker
liche Auswirkungen auf Mensch und Natur müssen na-
türlich genau analysiert und Schlüsse daraus für das
Bauprojekt gezogen werden.
Der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages
hat zum Staatsvertrag und zu den technischen sowie
ökologischen Fragestellungen einer festen Querung eine
Expertenanhörung durchgeführt. Die Sachverständigen
hatten ausführlich Gelegenheit, zu dem Projekt Stellung
zu nehmen. Peter Lundhus, der Geschäftsführer der Be-
treibergesellschaft, hat in dieser Anhörung ein entschei-
dendes Signal gesetzt. Er sagte, man werde das Projekt
mit Sorgfalt und Respekt vor Natur und Mensch realisie-
ren. Selbstverständlich müssen dafür alle gesetzlichen
Vorgaben – seien es nationale, seien es europarechtliche –
erfüllt werden.
In den kommenden zwei Jahren wartet aufgrund der
Voruntersuchungen eine umfangreiche Arbeit auf die
künftigen Bauherren. Erst danach kann bestimmt wer-
den, ob es ein Brücken- oder ein Tunnelbauwerk sein
wird und welche Maßnahmen zur Schiffssicherheit so-
wie zum Schutz der Natur getroffen werden müssen –
aber erst nach diesen Untersuchungen, Herr Steenblock,
nicht heute. Das müssen wir heute nicht tun.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber dann brauchen wir das Ge-
setz gar nicht! – Lutz Heilmann [DIE LINKE]:
Es gibt immer nur Bilder von Brücken!)
In der Anhörung wurde auch Kritik geäußert. Aber
selbst schärfste Kritiker schließen eine Tunnellösung
nicht aus. Auch die auf deutscher Seite zu realisierenden
Schienenhinterlandanbindungen wurden als angemes-
sen bezeichnet.
Heute ist die Kritik des Bundesrechnungshofs ange-
sprochen worden. Dazu hat die Bundesregierung bereits
im vorigen Jahr ausführlich Stellung bezogen. Ich
schließe mich der Bewertung an. Die Kritik basiert zum
Teil auf spekulativen Ausgangspunkten, denen wir uns
nicht anschließen müssen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Steenblock zulassen?
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Nein! Es ist
gut! Es ist gleich 24 Uhr!)
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Ja.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich mache es auch ganz kurz: Gibt es nach Ihrer
Kenntnis irgendeinen Grund, aus dem Sie dieses Gesetz
für die weitere Planung brauchen? Können Sie all die
Planungen, die Sie gerade genannt haben, nicht auch
ohne dieses Gesetz machen? Brauchen Sie den Staats-
vertrag, um die deutsche Hinterlandanbindung zu planen
oder nicht?
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Lieber Herr Steenblock, das haben wir im Verkehrs-
ausschuss und bei anderer Gelegenheit nun wirklich
mehrfach erörtert.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja oder nein?)
– Herr Steenblock, ich antworte darauf nicht mit Ja oder
Nein. Ich antworte im Zusammenhang. Es war Ziel und
Absicht der Bundesregierung und der Regierung des Kö-
nigreichs Dänemark, die Vorarbeiten und eine mögliche
Bauausführung auf der Grundlage eines Staatsvertrages
vorzubereiten.
(Patrick Döring [FDP]: So ist es!)
Das hat die Bundesregierung getan. Dabei hat sie das
Parlament begleitet. Wir sind heute mit nur einer Frage
konfrontiert, nämlich mit der Frage, ob wir für das Ver-
handlungsergebnis der Bundesregierung grünes Licht
geben und damit die Voraussetzungen für weitere Unter-
suchungen schaffen wollen.
Herr Steenblock, ich räume ein, dass man das auch
anders hätte machen können.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Gut! Danke!)
Wir haben uns aber grundsätzlich dazu entschlossen, den
Staatsvertrag zu schließen und auf dieser Grundlage wei-
tere Untersuchungen durchzuführen. Ich finde, das ist
eine überzeugende Lösung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Patrick Döring [FDP]: Auf Wunsch der schles-
wig-holsteinischen Landesregierung von
1999!)
Die Expertenanhörung hat ein weiteres Ergebnis ge-
bracht: Sie hat Sorgen hinsichtlich einer Beeinflussung
der wirtschaftlichen Entwicklung in Mecklenburg-Vor-
pommern zerstreut. Die Hafenstandorte Wismar und
Rostock werden keine nachteiligen Folgen zu erwarten
haben. Wer das nicht glaubt, möge in die Stellungnah-
men der Experten bei der Anhörung schauen. Die Hafen-
standorte Wismar und Rostock bedürfen aber auch in
Zukunft einer Förderung. In erster Linie ist die Landes-
regierung aufgefordert, aber auch die Bundesregierung
und das Parlament in Berlin, die Attraktivität und die
Leistungsfähigkeit dieser Häfen durch weitere Verbesse-
rungen der Hinterlandanbindung zu erhöhen.
Daraus lassen sich für mich zwei Forderungen ablei-
ten: Erstens, dass wir die Planungen und die Bau-
durchführung der A 14 beschleunigt durchführen, und
zweitens, dass wir die Ertüchtigung der Bahnstrecke
Berlin–Rostock endlich zu Ende bringen.
(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Die braucht
man dann doch nicht mehr!)
Eine feste Querung des Fehmarnbelts hat eine histori-
sche Dimension für Europa. Wir wollen, dass Europa
25208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Hans-Joachim Hacker
wirtschaftlich und verkehrstechnisch noch enger zusam-
menrückt. Deshalb stimmt die SPD-Bundestagsfraktion
heute für den Staatsvertrag. Ich bitte Sie, diesem Staats-
vertrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem
Vertrag mit dem Königreich Dänemark über eine feste
Fehmarnbelt-Querung. Hierzu liegen mehrere Erklärun-
gen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13261, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/12069 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Die Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen
und die FDP angenommen. Dagegen haben Bündnis 90/
Die Grünen und die Fraktion Die Linke gestimmt. Dage-
gen gab es auch einige Stimmen aus der SPD sowie,
wenn ich das richtig gesehen habe und das nicht jemand
war, der seinen Arm noch oben hatte, eine Stimme aus
der CDU/CSU-Fraktion.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Das ist jetzt besser zu sehen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Die Gegenstimmen? – Die
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung bei dem gleichen Stimmenverhältnis wie vor-
her angenommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/13409? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschlie-
ßungsantrag bei Zustimmung durch die Fraktion Die
Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt. Abgelehnt haben den Entschließungsantrag die
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP. Es ha-
ben sich einige Abgeordnete der SPD enthalten.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13422? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und
die Fraktion Die Linke sowie einige Abgeordnete der
1) Anlagen 17 bis 22
SPD. Dagegen haben die Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP und die Mehrheit der SPD-Fraktion gestimmt.
Enthalten hat sich niemand.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Seib,
Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi
Brase, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses ausbauen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth,
Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklungschancen für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs schaffen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Hirsch,
Volker Schneider (Saarbrücken) und der Frak-
tion DIE LINKE
Perspektiven für den wissenschaftlichen
Mittelbau öffnen – Karrierewege absichern –
Gleichstellung durchsetzen – Selbständigkeit
fördern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wissenschaft als Beruf attraktiver machen –
Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser
unterstützen
– Drucksachen 16/11883, 16/11880, 16/10592,
16/9104, 16/13421 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Seib
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Uwe Barth
Dr. Petra Sitte
Kai Gehring
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Marion
Seib, Swen Schulz, Uwe Barth, Petra Sitte und Kai
Gehring.
Marion Seib (CDU/CSU):
Im „Bundesbericht zur Förderung des wissenschaft-
lichen Nachwuchses“ (BuWiN) vom Februar 2008 wird
die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in
Deutschland erstmalig dargestellt. Der Bericht gibt einen
Überblick über das Spektrum der Förderung und analy-
siert Reformbereiche.
(A) (C)
(B) (D)
Marion Seib
Der Bericht bestätigt das umfangreiche Spektrum und
die hohe Qualität der Nachwuchsförderung in Deutsch-
land. Mit einer Vielzahl von Maßnahmen werden junge
Wissenschaftler im Rahmen der Programm- und Projekt-
förderung gefördert.
In fünf Reformbereichen macht der Bericht auf Weiter-
entwicklungsbedarf aufmerksam und formuliert Hand-
lungsansätze: erstens frühe Karriereperspektiven und
Planbarkeit, auch für chronisch Kranke und für Behin-
derte; zweitens Chancengerechtigkeit für Frauen; drit-
tens nachhaltiger Effekt von Fördermaßnahmen; viertens
Internationalisierung der deutschen Hochschulen und
Karriereentwicklung inner- und außerhalb von Wissen-
schaft und Forschung.
Wichtig ist, dass Nachwuchswissenschaftler aus der
ganzen Welt dauerhaft für den Wissenschafts- und For-
schungsstandort Deutschland gewonnen werden. Des-
halb sorgt das neue Kommunikations- und Informations-
system Wissenschaftlicher Nachwuchs – kurz KISSWIN
genannt – seit einem halben Jahr für Information und
Transparenz in deutscher und in englischer Sprache.
Berechenbare und attraktive Karrierewege sind für ein
international konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem
dringend nötig. Berechenbare und attraktive Karriere-
wege sollen möglichst weit führen. Das bedeutet natür-
lich nicht, dass jeder an der Hand geführt werden soll.
Das bedeutet, dass junge engagierte in- und ausländische
Wissenschaftler Möglichkeiten erhalten müssen, ohne
zeitraubenden Leerlauf ihr Wissen und Können in ihre
Themen einzubringen.
Die Tenure-Track-Stellen müssen ausgebaut werden.
Diese Einschätzung wurde auch in der Anhörung geteilt.
Dabei geht es nicht um starre Beamtenstellen – wie mir
vom FDP-Kollegen im Ausschuss unterstellt wurde.
Die Promotionsphase muss in ihrer Qualität verbes-
sert werden, sie muss klarer strukturiert werden. Mehr
Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Doktoran-
den sollen zu einer gezielten Qualifizierung auch außer-
halb der Wissenschaft führen. Allerdings darf die Vielfalt
der Promotionswege – ein Standortfaktor Deutschlands –
nicht eingeschränkt werden.
Deshalb muss gemeinsam mit den Ländern über Mög-
lichkeiten der Stärkung der Tenure-Track-Stellen beraten
werden. Es ist ein zentrales Instrument, den klügsten
Köpfen der Welt attraktive und international konkurrenz-
fähige Karriereperspektiven in Deutschland zu bieten.
Die Experten haben das anlässlich der Anhörung bestä-
tigt.
Wir hatten die Bundesregierung aufgefordert, sich mit
den Ländern dafür einzusetzen, dass die Verbesserung
der Lehrqualität intensiviert wird und die Nachwuchsför-
derung im Rahmen der Fortsetzung des Paktes für For-
schung und Innovation, der Exzellenzinitiative sowie des
Hochschulpaktes – wie mit dem Beschluss vom 4. Juni ge-
schehen – nachhaltig gestärkt wird.
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
hat bisher bereits – zum Beispiel mit der Förderlinie Gra-
duiertenschulen der Exzellenzinitiative – einen besonde-
Zu Protokoll
ren Stellenwert gehabt. Dies soll auch so bleiben und aus-
gebaut werden.
Eine Reihe der Forderungen der FDP teilen wir in der
CDU/CSU ebenfalls. Zwar richten sich diese Forderun-
gen in erster Linie an die Länder und die Hochschulen.
Als Beispiel sei hier genannt die Forderung nach attrak-
tiven zusätzlichen Karrierewegen für den sogenannten
wissenschaftlichen Mittelbau.
Andere Forderungen teilen wir nicht: Die Forderung
nach einer stärkeren Ausrichtung des Hochschulpaktes
auf den Bereich der Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses verfehlt insofern ihr Ziel, als der Hoch-
schulpakt nicht darauf ausgerichtet ist, Karrierechancen
für Nachwuchsforscher zu eröffnen, sondern dem Ausbau
der Studienkapazitäten dient. Außerdem ist er befristet bis
2020.
Die mittel- und langfristige Politik liegt in der Zustän-
digkeit von Hochschulen und Ländern.
Die Forderung nach engen Vorgaben an die Hoch-
schulen bei der Verwendung der Programmpauschalen
lehnen wir ab. Diese Mittel eröffnen bewusst weitere
finanzielle Spielräume, die zwar auch für spezielle Instru-
mente der Nachwuchsförderung eingesetzt werden kön-
nen, die aber nicht vorrangig hierfür vorgesehen sind.
Beim Antrag der Linken gibt es nicht so viel zu sagen.
Lediglich dem Titel des Antrages können wir zustimmen.
In einer Reihe von Punkten verkennt der Antrag der
Linken den aktuellen Stand der Entwicklung. Die Umset-
zung der EU-Charta ist weitgehend Realität, die gefor-
derte „Roadmap“ demnach nicht notwendig. Auch ge-
nießt die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
in der DFG höchste Priorität: Etwa zwei Drittel der För-
dermittel werden für die Vergütung wissenschaftlicher
Mitarbeiter sowie für Stipendien verwendet.
Der Antrag missachtet in wesentlichen Punkten die
Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern bzw. der Ta-
rifpartner und Hochschulen sowie Forschungseinrich-
tungen. Die Länder allein sind beispielsweise zuständig
für die Finanzierung der grundständigen Aufgaben der
Hochschulen. Auch verfügt der Bund nicht über eine Re-
gelungskompetenz in Bezug auf die Kategorien des Hoch-
schulpersonals und kann insofern weder die Juniorpro-
fessur verbindlich regeln, noch kann und wird der Bund
den Ländern Vorgaben machen in Bezug auf die Einfüh-
rung von Lehrprofessuren oder Lecture-Stellen.
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, das deut-
sche Wissenschaftssystem attraktiver zu machen, unter-
stützen wir uneingeschränkt. Einer Reihe von Forderun-
gen des Antrages können wir allerdings nicht zustimmen:
Wir halten die generelle Verpflichtung der Hochschulen
und Forschungseinrichtungen auf bestimmte Steige-
rungsquoten des Frauenanteils für nicht zielführend.
Eine Selbstbindung der Hochschulen und die Förderung
von Chancengleichheit durch strukturelle Programmvor-
gaben sind sinnvoller. Auch die Forderungen mit Bezug
auf den Hochschulpakt können wir so nicht unterstützen.
Der Hochschulpakt ist darauf ausgerichtet, den Ausbau
der Studienkapazitäten zu befördern. Die Personalpolitik
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25209
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Marion Seib
oder eine Änderung der Personalstrukturen bleibt allein
den Hochschulen und Ländern überlassen. Die gefor-
derte Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes
ist bereits eingeleitet. Ein vollständiger Bericht wird im
zweiten Halbjahr 2010 vorgelegt.
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
Bereits unter der Regie der damaligen Bundesministe-
rin Bulmahn in der Regierung Schröder haben wir die
Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs verbessert. Besonders umstritten war die Einfüh-
rung von Juniorprofessuren, um Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern einen
neuen Karriereweg zu eröffnen und damit gleichzeitig die
Lehre zu verbessern. Ich kann mich noch gut daran erin-
nern, wie wir damals dafür angegriffen worden sind. Und
heute sind die Juniorprofessuren allgemein anerkannt als
wichtige Bereicherung der Hochschulen und Angebot an
den wissenschaftlichen Nachwuchs. Daran sollten wir
weiterarbeiten, und wir sollten die Juniorprofessuren
ausbauen.
Wir sind aber bei den Erfolgen aus rot-grüner Regie-
rungszeit nicht stehen geblieben, sondern wir haben auch
in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen weiter ver-
bessert: etwa durch den Hochschulpakt, der ja auch eine
Art Jobmotor für das wissenschaftliche Personal an
Hochschulen ist, durch die Erhöhung der Promotions-
stipendien oder durch diverse Programme und Maßnah-
men auch auf internationaler Ebene.
Jedoch dürfen wir uns auf dem Erreichten nicht ausru-
hen, sondern wir müssen schauen, was wir noch besser
machen können. In dem Antrag der Koalitionsfraktionen
mit dem Titel „Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses ausbauen“ sind die Handlungsfelder deutlich
skizziert. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass die Bundes-
länder aufgefordert sind, den sogenannten Tenure Track
für Professuren ausbauen zu müssen, denn hierdurch kön-
nen verlässliche Karrierepfade geebnet werden. Es geht
darum, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
nicht zum Wechsel der Hochschule gezwungen werden,
sondern eine berechenbare Karriereperspektive erhalten.
Das ist auch ein Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie
und wissenschaftlicher Karriere. Die Hochschulen müs-
sen darüber hinaus verstärkt Kinderbetreuungsangebote
machen – auch für die Studierenden ist das wichtig.
Die Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlicher
Karriere ist vor allem, aber nicht nur für Frauen von gro-
ßer Bedeutung. Deren Perspektiven müssen ganz beson-
ders verbessert werden. Wenn man sich die niedrigen
Anteile von Frauen an der Gesamtheit des wissenschaft-
lichen Personals anschaut, auch im Vergleich zu anderen
Staaten, dann wird klar: In Deutschland werden Frauen
in der Wissenschaft benachteiligt. Sie sind nicht weniger
intelligent als die Männer, sie haben nicht weniger Qua-
lifikationen und sie haben meist auch nicht weniger Inte-
resse an einer Karriere.
Aber die Karriere wird ihnen verbaut. Das ist unge-
recht und es ist auch für die Wissenschaft und die Gesell-
schaft falsch, weil dadurch geistiges Potenzial ungenutzt
bleibt. Wir von der SPD sehen, dass dieser Zustand frei-
Zu Protokoll
willig nicht durchgreifend geändert wird. Mit dem Frau-
enprofessorinnenprogramm haben wir einen wichtigen
Ansatz geschaffen. Darüber hinaus plädieren wir für eine
Quote an Hochschulen und Forschungseinrichtungen,
und wir müssen über Modelle zur weiteren Stärkung der
Frauenbeteiligung in der Wissenschaft reden. Immer
mehr hochrangige Wissenschaftler schließen sich dieser
Forderung an. Wir sind sicher, dass das bald kommen und
Erfolg haben wird.
Brachliegendes geistiges Potenzial, ungenutzte Ta-
lente gibt es auch in einem anderen Bereich, nämlich bei
den behinderten und chronisch kranken Nachwuchswis-
senschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Auch
hier müssen die Rahmenbedingungen verändert werden,
damit diese Menschen ihren Beruf ausüben und Karriere
machen können. Es geht uns darum, dass alle, unabhän-
gig von ihrer Geburt, ihrem Geschlecht, ihrem Geldbeutel
oder ihrem körperlichen Zustand die gleichen Chancen
zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben. Bildung ist für
uns von der SPD ein Menschenrecht. Das gilt auch an
dieser Stelle.
Mit der Exzellenzinitiative, dem Pakt für Forschung
und Innovation und mit dem Hochschulpakt unternehmen
wir erhebliche Anstrengungen für Forschung und Lehre.
Die Hochschulen erhalten in bislang ungekanntem
Ausmaß Mittel, um sich, ihr Angebot, ihre Arbeit zu
verbessern. Davon profitieren auch – ich habe bereits
darauf hingewiesen – Nachwuchswissenschaftlerinnen
und Nachwuchswissenschaftler, weil für sie neue Stellen
geschaffen werden. Allerdings wäre es begrüßenswert,
wenn der Umfang in den Pakten auch explizit festge-
schrieben würde. Bund und Länder sollten gemeinsam si-
cherstellen, dass diese großen Anstrengungen auch denen
zugutekommen, ohne die eine Zukunft der Wissenschaft
undenkbar wäre: den jungen Menschen, die sich für eine
Karriere als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler inte-
ressieren.
In diesen Tagen finden große Aktionen unter dem Titel
„Bildungsstreik“ statt, mit denen sehr viele Schülerinnen
und Schüler, Studentinnen und Studenten, aber auch das
Lehrpersonal auf Missstände im deutschen Bildungswe-
sen hinweisen. Als Bildungspolitiker freue ich mich sehr
über diese Aktivitäten, weil dadurch die Notwendigkeit
von weiteren Verbesserungen und öffentlichen Investitio-
nen in die Bildung deutlich und die Debatte darüber vo-
rangetrieben wird. Von allen Politikerinnen und Politi-
kern hören wir sonntags die Reden über die großen
Herausforderungen in der Bildungspolitik. Doch bei
allen unbestreitbaren Erfolgen, die gerade die SPD er-
kämpft hat, sehe auch ich, dass werktags noch mehr ge-
leistet werden muss.
Bund und Länder haben im letzten Jahr vereinbart, die
Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes zu steigern. Wir sprechen über
einen zweistelligen Milliardenbetrag – jährlich. Das ist
nur machbar, wenn es eine deutliche Prioritätensetzung
zugunsten der Bildung gibt und wenn der Staat dafür die
nötigen Mittel einnimmt. Der von uns Sozialdemokratin-
nen und Sozialdemokraten vorgeschlagene Bildungssoli
sieht vor, dass diejenigen mit wirklich hohen Einkommen
25210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Swen Schulz (Spandau)
einen Beitrag dafür leisten, dass alle eine gute Bildung
erhalten. Das ist gleichermaßen fair und nötig.
Ganz falsch dagegen ist, auf mehr private Mittel zu set-
zen; denn Bildung ist im Kern ein öffentliches Gut. Nur
die Bereitstellung von guter Bildung durch den Staat kann
gewährleisten, dass alle, auch diejenigen, denen es finan-
ziell nicht so gut geht, einen gleichen Zugang zu Bildung
erhalten. Darum sind wir etwa gegen Gebühren von der
Kita bis zur Hochschule. Studien, aber auch ganz einfach
die Lebenserfahrung zeigen, dass durch Gebühren finan-
ziell Schwächere von Bildung abgeschreckt werden. Die
Staatsministerin im Kanzleramt und Integrationsbeauf-
tragte Maria Böhmer hat erst gestern ausgeführt, dass
die Kitas gebührenfrei sein müssten, damit auch die Zu-
wandererfamilien ihre Kinder in die vorschulische Bil-
dung und Betreuung geben. SPD-regierte Länder haben
damit angefangen, Kitas gebührenfrei zu stellen, und in
keinem SPD-regierten Land gibt es Studiengebühren. Es
wird Zeit, dass auch andere Parteien endlich verstehen:
Gebührenfreiheit in der Bildung ist der einzig richtige
Weg.
Es gibt noch viele weitere Maßnahmen, die wir durch-
setzen wollen, um das Bildungswesen zu verbessern. Die
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist ein
wichtiges Element in dem Bestreben, gute Bildung für alle
zu erreichen und Deutschland wieder zur Bildungs- und
Forschungsnation Nummer eins in der Welt zu machen.
Das bleibt auch in der nächsten Legislaturperiode des
Deutschen Bundestages ein Anliegen der SPD.
Uwe Barth (FDP):
Der „Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaft-
lichen Nachwuchses“ zeichnet ein vielfach positiveres
Bild der „Bildungsrepublik Deutschland“, als wir es in
den vergangenen Jahren gewohnt waren. Die Lage des
wissenschaftlichen Nachwuchses wird in einem geradezu
rosigen Licht dargestellt, zumindest wenn man sich die
Situation an Kitas und Schulen vor Augen führt. Kein
Wunder eigentlich, haben unsere Doktoranden und Junior-
professoren etliche Staustufen des Bildungswesens über-
wunden und den mühseligen Aufstieg im Wissenschafts-
system gemeistert. Ihnen steht die Welt offen.
Der Umstand, dass man unserem wissenschaftlichen
Nachwuchs überall die Kusshand zuwirft und ihn mit
offenen Armen empfängt, erfüllt uns mit Stolz. Dass es
unsere jungen Nachwuchstalente ins Ausland drängt, sie
dort Erfahrungen sammeln wollen, ist ein positives
Zeichen. Dass sie sich auf dem internationalen Feld
wissenschaftliche Meriten erwerben wollen, unterstützen
wir ausdrücklich. Dies alles ist Ausdruck eines gesunden
Forschungsklimas. Katastrophal ist dagegen der Um-
stand, dass nur ein geringer Teil dieser Hoffnungsträger
dann zurückkehrt.
Unser Problem ist, dass wir mit Blick auf die wissen-
schaftlichen Toptalente einen negativen Saldo zwischen
Export und Import aufweisen. Es gehen viel mehr als
kommen. Dies wurde nicht zuletzt in der vom Bildungs-
ausschuss des Bundestages durchgeführten Anhörung
deutlich. Die Max-Planck-Gesellschaft, MPG, verdeut-
lichte in diesem Zusammenhang, dass uns bereits in fünf
Zu Protokoll
Jahren 300 000 bis 400 000 Akademiker und 100 000 Inge-
nieure fehlen werden. Die Konsequenzen lassen sich leicht
am Beispiel der MPG darstellen. Man sieht sich gezwungen,
sollte diese Entwicklung anhalten, um 25 Prozent zu
schrumpfen. Eine Gesellschaft, die ihre Spitzenforschung
vom Wachstumskurs verabschiedet, verabschiedet sich im
selben Maße von der Teilhabe an der globalen Wissens-
generierung und technologischen Entwicklung. Während
wir im vergangenen Jahrhundert noch zu der geistigen
Speerspitze gehörten, driften wir nun seit Jahrzehnten in
die Mittelmäßigkeit ab.
Dabei will ich abermals betonen: Es ist keineswegs ein
Mangel an Geist, Kreativität und Talent, was uns größte
Sorgen bereiten müsste. Auch die ungünstige demografische
Entwicklung ist bis zu einem gewissen Grad beherrsch-
bar. Sie nötigt uns, unsere personellen Ressourcen effek-
tiver zu nutzen, was uns auch bis zu einem gewissen Grad
gelingt. Schließlich haben wir den Bevölkerungsanteil
mit hoher und höchster Ausbildungsstufe kontinuierlich
gesteigert. Die Zahl der Promovierten liegt in Deutsch-
land liegt über viermal so hoch wie im EU-Schnitt.
Wir schaffen es, einen größer werdenden Teil unseres
Nachwuchses auf ein immer höheres Kompetenzniveau zu
fördern. Doch dann fängt das Problem an. Um es mit den
Worten des Präsidenten der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft e.V., DFG, Professor Dr. Kleiner, zu sagen:
„Der weltweite Wettbewerb um die besten Talente lässt
auch in anderen forschungsstarken Ländern Arbeitsbe-
dingungen entstehen, mit denen wir hier in Deutschland
kaum noch Schritt halten können.“ Es gelte daher, dem
wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland attraktive
Perspektiven zu bieten.
Dieser Mangel an Perspektiven im Wissenschaftssystem
führt leider dazu, dass nur ein vergleichsweise geringer
Anteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
nach der Verleihung des Doktorgrades der Wissenschaft
erhalten bleibt. Davon wandert eine nicht unwesentliche
Zahl ins Ausland ab, wohingegen wir uns mit der Anwer-
bung ausländischer Talente weiterhin schwertun. Kein
Wunder, dass Stellen im Wissenschaftsbetrieb unbesetzt
bleiben oder, wie im Kontext der Exzellenzinitiative, nur
schleppend in Anspruch genommen werden können. Daran
muss sich etwas ändern.
Insgesamt müssen die Leistungsfähigkeit und Flexibilität
sowie die internationale Wahrnehmbarkeit des deutschen
Wissenschaftssystems erhöht werden. Damit dies gelingt,
sind die Eigenverantwortung der Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftseinrichtungen
hervorzuheben und der Entscheidungsspielraum der be-
troffenen Akteure auszuweiten. Hierfür müssen Bund und
Länder ihre jeweiligen Verantwortungen konsequent
wahrnehmen und durch gemeinsame Anstrengungen – wie
heute bereits im Rahmen des Hochschulpaktes, des Pak-
tes für Forschung und Innovation und der Nationalen
Qualifizierungsinitiative – die Voraussetzungen für eine
grundlegende qualitative und quantitative Stärkung des
Wissenschaftssystems schaffen.
Es reicht jedoch nicht aus, nur finanzielle Anreize zu set-
zen. Wir müssen das rechtliche Korsett aufschnüren, das
die Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses ein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25211
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Uwe Barth
engt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland
müssen attraktiv, forschungsfreundlich und international
konkurrenzfähig ausgestaltet werden. Es bedarf eines
mutigen Schritts hin zu einem bundesweiten Wissenschafts-
freiheitsgesetz, das einen gemeinsamen Handlungsrahmen
beschreibt, bestehende Hemmnisse beseitigt und die Hand-
lungsspielräume des Wissenschaftssystems ausweitet.
Wir müssen aber auch neue Potenziale erschließen.
Dazu gehören gerade Frauen und ältere Wissenschaftler.
Es ist nicht nachvollziehbar, weswegen in Deutschland
Professorinnen und Professoren maximal bis zum 68. Le-
bensjahr ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen
dürfen. Es ist ein Skandal, dass diejenigen, die über den
größten Erfahrungshorizont im Wissenschaftssystem ver-
fügen, abgeschoben werden – ob sie das wollen oder
nicht. Für viele dieser Professorinnen oder Professoren
bleibt nur noch das Ausland als Alternative zum Altenteil.
Diese Altersdiskriminierung ist nicht nur menschen-
unwürdig, sondern auch noch wissenschaftsfeindlich und
muss auf dem Misthaufen kontraproduktiver Regelungen
entsorgt werden.
Ein ähnliches Problem stellt das in der Hochschulgesetz-
gebung der Länder verankerte Hausberufungsverbot dar.
Was vor einigen hundert Jahren durchaus eine sinnvolle
Regelung war, um Vetternwirtschaft und Korruption zu
verhindern, ist unter heutigen Rahmenbedingungen eher von
Nachteil. Hochschulen wird es nahezu unmöglich gemacht,
aufstrebenden Nachwuchswissenschaftlern langfristig
eine Perspektive vor Ort zu unterbreiten. Tenure-Track-
Verfahren, also eine befristete Berufung, die nach Bewäh-
rung in eine Dauereinstellung mündet, wird so nahezu un-
möglich gemacht. Das ist, wie wenn man gezwungen
würde, den Lehrling, den man mühsam ausgebildet hat,
nach der Gesellenprüfung vor das Werkstor zu setzen.
Völlig kontraproduktiv und ökonomisch unsinnig!
Wir müssen die Anwerbung ausländischen Nachwuchses
professionalisieren. Keineswegs darf man davon ausgehen,
dass wir nur die Pforten öffnen müssen, und schon würden
sich Schlangen bilden. Das zeigen frühere Versuche mit
Green- und Bluecards: Der Ansturm ist ausgeblieben.
Dabei können wir unsere Ausfälle aufgrund der demo-
grafschen Entwicklung nur durch Zuwanderung zu kom-
pensieren versuchen. Die Ansiedlung der Hugenotten im
vom Dreißigjährigen Krieg entvölkerten Brandenburg
zeigt, wie eine solche Politik Wirkung entfalten kann. Durch
Toleranz, aber auch von eigennützigem Kalkül getrieben
hatte der Große Kurfürst mittels Steuererleichterung und
Annehmlichkeiten die Anwerbung erfolgreich durchgeführt.
Es war nämlich keineswegs so, als ob die High Potentials
des 17. Jahrhunderts ohne Alternative gewesen wären,
zumal die Brandenburger Einöde einen besonderen
Charme ausstrahlt, dessen Vorzüge man erst zu entde-
cken lernen muss.
Kurzum, wir müssen die Rahmenbedingungen unseres
Wissenschaftssystems so ausgestalten, dass sich ein höhe-
rer Anteil unserer Nachwuchskräfte gegen die durchaus
attraktiven Angebote der Wirtschaft entscheiden und bei
der Forschung verbleiben, dass sich Talente nach einem
Auslandsaufenthalt für die Rückkehr nach Deutschland
entschließen. Wir müssen Wissenschaftlerinnen unterstüt-
Zu Protokoll
zen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken.
Älteren Hochschulmitgliedern dürfen wir nicht länger die
Türe weisen, sondern auf Wunsch den Verbleib im Wissen-
schaftssystem ermöglichen. Schließlich müssen wir aus-
ländische Wissenschaftler und Forscher gezielt für den
Standort Deutschland gewinnen und ihnen bei uns eine
Heimat bieten.
Deutschland muss ein Land der Ideen, der Innovation
und des Fortschritts bleiben. Darauf beruht unser Wohl-
stand, aber auch unser Selbstverständnis. Deswegen
bleibt uns auch gar keine Alternative, als dass wir mit
vereinten Kräften daran arbeiten, diesem Anspruch zu
entsprechen und den folgenden Generationen einen posi-
tiven Ausblick in die Zukunft offenhalten.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Im Jahr 1919 beschrieb der Soziologe Max Weber die
Entscheidung junger Menschen für eine Karriere in der
Wissenschaft als großes persönliches Risiko: „Denn es ist
außerordentlich gewagt für einen jungen Gelehrten, der
keinerlei Vermögen hat, überhaupt den Bedingungen der
akademischen Laufbahn sich auszusetzen. Er muss es
mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne
irgendwie zu wissen, ob er nachher die Chancen hat, ein-
zurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt aus-
reicht.“
Heute, ungezählte Hochschulreformen später und
90 Jahre nach Webers berühmtem Vortrag zu „Wissen-
schaft als Beruf“, hat sich an diesem problematischen
Umgang mit jungen Leistungsträgerinnen und Leistungs-
trägern der Wissenschaft nicht viel geändert. Die Situa-
tion des sogenannten Nachwuchses in Deutschland ist
immer noch gekennzeichnet durch große Unsicherheit,
durch strukturell bedingte Karrieresackgassen für viele
und Chancen auf die begehrte selbstständige Hochschul-
lehrertätigkeit für ganz wenige. In Zahlen ausgedrückt:
Nur ein Fünftel des Personals an Hochschulen ist dauer-
beschäftigt, Tendenz fallend. 80 Prozent hingegen haben
entweder befristete Verträge oder als Lehrbeauftragte
überhaupt keine verbindliche Vereinbarung über ihre Tä-
tigkeit. Die Aussicht auf eine Dauerstelle und damit die
Möglichkeit eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit ist
für die überwiegende Mehrheit unserer Nachwuchswis-
senschaftler und -wissenschaftlerinnen nicht mehr als
eine vage Hoffnung. Nur 26 Prozent gaben in einer aktu-
ellen Studie der HIS-GmbH an, dass sie die Planbarkeit
ihrer Laufbahn gut oder sehr gut einschätzen. Lediglich
ein Prozent mehr bewerteten die Aufstiegsmöglichkeiten
positiv. Diese hermetischen Strukturen machen Deutsch-
lands Wissenschaftslandschaft so unattraktiv für junge
Menschen, noch stärker für Frauen als für Männer.
Andere Länder bieten da weit bessere Aussichten: In
Großbritannien sind zwei Drittel der Wissenschaftlerstel-
len unbefristet, in Frankreich sogar drei Viertel. Selbst
die „Hire and fire“-Mentalität an amerikanischen Hoch-
schulen erlaubt einen Dauerstellenanteil von mehr als
50 Prozent. Der „Braindrain“, die Entscheidung zum
Gang ins Ausland ist nur allzu verständlich, wenn das
deutsche System vor allem die Aussicht auf den Ausstieg
aus der Wissenschaft bietet.
25212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Petra Sitte
Vor diesem Ausstieg steht zumeist der Versuch, sich
von Befristung zu Befristung zu hangeln. Durch den stei-
genden Anteil der Drittmittelfinanzierung an Hochschu-
len finden viele hier zeitweise Beschäftigungsmöglichkei-
ten. Der Anteil der befristeten Mitarbeiterstellen, die
durch Drittmittel finanziert werden, ist von 36,2 Prozent
im Jahr 1995 auf 43,7 Prozent im Jahr 2007 gestiegen.
Personalräte aus Universitäten berichteten auf einer
Konferenz an der TU Berlin zur Situation des wissen-
schaftlichen Nachwuchses von der einreißenden Sitte,
Wochenverträge für Drittmittelbeschäftigte auszuschrei-
ben. Ich wiederhole: Wochenverträge! Eine Debatte über
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wirkt angesichts
solcher Realität wie eine Farce.
Wenn von der Linken, aber auch von Gewerkschaften,
Hochschulexperten und dem Deutschen Hochschulver-
band mehr Dauerstellen für Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler gefordert werden, geht es nicht nur um
den berechtigten Wunsch Höchstqualifizierter nach bes-
serer sozialer Absicherung und selbstbestimmter Lebens-
planung: Kreativität und wissenschaftliche Leistung müs-
sen reale Chancen auf Verwirklichung bekommen. Dafür
braucht der akademische Nachwuchs in seiner innova-
tivsten Lebensphase Bedingungen, unter denen selbststän-
dig geforscht und gelehrt werden kann. In der derzeitigen
Struktur sind fast alle, die es nicht auf eine der wenigen
Hochschullehrerstellen geschafft haben, eng an einen
Mentor, selten an eine Mentorin, gefesselt. Sie vertreten
diese in der Lehre, nehmen Prüfungen ab, organisieren
Konferenzen, arbeiten Drittmittelanträgen und For-
schungstexten zu. Empirische Untersuchungen, etwa die
sogenannte Mittelbaustudie der TU Berlin, zeigen ein-
dringlich, dass neben der Arbeitsbelastung am Lehrstuhl
häufig kaum Zeit bleibt, die eigene Karriere, die eigene
Qualifikation weiter zu verfolgen. Schätzungen gehen da-
von aus, dass die Hälfte der Promotionen abgebrochen
werden. Die Datenlage dazu ist übrigens absolut unbe-
friedigend.
Der wissenschaftliche Mittelbau spielt auch in der De-
batte um die Qualität der Lehre eine entscheidende Rolle,
die mit der Umstellung auf gestufte und modularisierte
Studiengänge noch gewachsen ist. Wissenschaftliche Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter tragen einen großen Teil
der Lehrverpflichtung, ohne dass die Frage der Qualität
ihrer Veranstaltungen ihnen einen Vorteil bei der eigenen
Karriere verschaffen würde.
Angesichts der beschriebenen Misere werden zumeist
und völlig zu Recht die Länder in Haftung genommen: Sie
sind – auf eigenen Wunsch – für die Finanzierung der
Hochschulen zuständig und haben überwiegend auch die
entsprechende Gesetzgebung in der Hand. Doch der
Bund kann nicht aus der Verantwortung entlassen wer-
den. Die Exzellenzinitiative, deren Fortsetzung gerade
beschlossen wurde, verstärkt die Tendenz, dass unbefris-
tete Stellen verstärkt durch befristete ersetzt werden. Auf
den ständigen Wettbewerbsdruck samt aufwändigen An-
tragsverfahren und die jeweils auf höchstens fünf Jahre
befristeten Projekte reagieren die Universitäten mit Fle-
xibilisierung ihrer Personal- und Stellenplanung. Das ist
jedoch nur in den Kategorien unterhalb der Professur
möglich. Die wenigen noch unbefristeten nichtprofesso-
Zu Protokoll
ralen Stellen, etwa Hochschuldozenten, fallen in diesem
Zuge weg: Kamen im Jahr 2000 nur 3,6 befristete Mittel-
baustellen auf eine unbefristete, sind es aktuell mehr als
fünf. Zudem führt das um sich greifende Antragswesen in
Peer-Review-Verfahren dazu, dass die Reputation der An-
tragstellenden eine entscheidende Rolle bei der Begut-
achtung spielt. Ohne Mentor oder seltener Mentorin, der
bzw. die einen guten Namen gibt und Einfluss geltend
macht, bekommt kaum ein Nachwuchswissenschaftler
Drittmittel bewilligt. Auch dies führt zu verschärfter Ab-
hängigkeit in Zeiten der Exzellenzrhetorik. Wer die durch
den Elitewettbewerb geschaffenen 4 200 Stellen feiert,
muss ehrlicherweise zugeben, dass es sich weniger um
Sprungbretter als vielmehr um Schleudersitze handeln
kann. Verlässliche Strukturplanungen und nachhaltige
Beschäftigungsperspektiven sind mit den befristeten
Drittmitteln nicht zu erreichen.
Die unkritische Begeisterung über die Exzellenzinitia-
tive, auch niedergelegt im Antrag der Koalition zum
Thema Nachwuchsförderung, zeigt, dass diese Koalition
samt ihrer Forschungsministerin beim Thema Nach-
wuchsförderung leider nicht in die Rolle der Problemlö-
serin gekommen ist. Das im Antrag erwähnte Portal
KISSWIN, das Informationen über Karriere- und Förder-
möglichkeiten anbietet, ist sicher eine sinnvolle Initiative.
Auch den durch das BMBF in Auftrag gegebenen „Bun-
desbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses“ können wir nur loben. Es wäre jedoch ausge-
sprochen vernünftig gewesen, wenn Koalition und
Ministerin den dort vollzogenen Analysen der strukturel-
len Probleme durch konstruktive Lösungsvorschläge ent-
sprochen hätten.
Denn diese sind längst erarbeitet. Immerhin böte die
Umsetzung des Hochschulpaktes II auch für den Bund
Einflussmöglichkeiten. Zuerst benötigen die Hochschul-
pakte umgehend eine nachhaltige finanzielle Grundlage.
Die Länder brauchen Planungssicherheit. Nur so kann
diese weiterführend dann auch den Hochschulen gewährt
werden. Es muss endlich die Praxis beendet werden, be-
fristete Nachwuchsstellen zur Verschiebemasse zu degra-
dieren. Flexibilität und Mobilität wurden ja wohl eindeu-
tig anders begründet als mit Haushaltsnotwendigkeiten.
Stattdessen sind Promotions- bzw. Qualifizierungsver-
einbarungen abzuschließen. Integriert werden müssen
Elemente der persönlichen Kompetenzentwicklung durch
spezifische Weiterbildungsangebote zu Lehrbefähigung,
Sprachen, Zeitmanagement, Teambildung und -führung,
IT-Wissen, Vernetzung, Genderansätzen und Interdis-
ziplinarität.
Ohne Zweifel ist es an der Zeit, neben der Zahl der Stu-
dienanfängerplätze auch weitere Kriterien zur Studien-
qualität in den Pakt zu integrieren, so etwa die Senkung
von Abbrecherquoten und die Zahl von Absolventinnen
und Absolventen. Dadurch würden Lehre und Wertschät-
zung der Arbeit des wissenschaftlichen Mittelbaus ver-
bessert.
Grundsätzlich müssen jedoch Gesetzgebung, Tarif-
recht und Förderlandschaft auf ein neues Modell von
„Wissenschaft als Beruf“ auch neben der Professur ein-
gestellt werden. Wissenschaft ist danach als kollektiver
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25213
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Petra Sitte
Prozess zu behandeln. Planbarkeit, Transparenz und
Durchlässigkeit werden damit zu Leitmotiven akademi-
scher Personalpolitik. Der Bund muss das Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz überarbeiten. Die Tarifsperre ist ab-
zuschaffen und die Befristungsmöglichkeiten für
Drittmittelbeschäftigte sind wieder zu begrenzen. Wir
brauchen einen flächendeckenden Wissenschaftstarifver-
trag, der die soziale Absicherung des akademischen Mit-
telbaus zum Ziel hat und die Vereinbarkeit von Privatle-
ben und Beruf ermöglicht. Der Vertrag sollte auch
Tarifregelungen für Privatdozentinnen und Lehrbeauf-
tragte enthalten.
Qualifikationsformen, welche die frühe Selbstständig-
keit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie
eine Beschleunigung ihrer Karriere zum Ziel haben, müs-
sen durch den Bund stärker gefördert werden. Das kann
durch ein Aufstocken und Reformieren der bekannten
DFG-Programme wie „Eigene Stelle“ oder Heisenberg-
Professur geschehen, reicht aber nicht aus. Vielmehr ist
ein neues Programm zur Unterstützung der Juniorprofes-
sur nötig. Zudem sollte der Wissenschaftsrat, aber auch
die DFG über innovative Anreize und Förderungen zur
Einrichtung und Besetzung neuer Dauerstellen im Mittel-
bau nachdenken. Alle befristeten Qualifikationswege
sollten mit einer Tenure-Track-Option ausgestattet wer-
den. Nach positiver Bewertung soll es eine verlässliche
Chance auf eine dauerhafte Hochschullehrerstelle geben.
Weitere notwendige Maßnahmen beinhaltet nicht nur
unser Antrag, sondern auch der Bericht der Bundesregie-
rung selbst. Die Prioritätensetzung steht grundsätzlich
zur Debatte: Soll das Wissenschaftssystem an der Basis
gestärkt werden oder wollen Bundesregierung und FDP
auch weiterhin vor allem um professorale Spitzengehäl-
ter und einen Markt für elitäre Spitzenwissenschaftler
kämpfen? Der große Soziologe Max Weber hätte sich
wohl für Ersteres entschieden.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es gibt in hierzulande zu wenige Forscherinnen und
Forscher und zu wenige junge Menschen, die sich für eine
Karriere in der Wissenschaft entscheiden. Die Ursachen
sind vielschichtig; sie reichen bis in die früheste Kindheit
zurück: Kinder und Jugendliche werden noch immer zu
selten individuell gefördert, Potenziale oftmals vergeu-
det, anstatt ihren Forschungsdrang und ihre Neugierde
von Anfang an zu wecken.
Neben Reformen im Kita- und Schulbereich müssen
die vielen zusätzlichen Studienberechtigten der nächsten
Jahre tatsächlich einen Platz im Hörsaal finden. Wie sol-
len die Talente von Zehntausenden Studienberechtigten
gefördert werden, wenn sie es nicht einmal auf den Uni-
Campus schaffen, sondern vor verschlossenen Hörsaal-
türen stehen bleiben? Im Vereinbarungsentwurf zum
Hochschulpakt II werden jedenfalls leider die Fehler wie-
derholt, an denen schon der Vorgängerpakt krankte. Was
den wissenschaftlichen Nachwuchs anbelangt, glänzten
die Regierungsfraktionen lange Zeit mit Passivität. Die
Wahlperiode liegt in den letzten Zügen, da fällt Ihnen ein,
etwas zum wissenschaftlichen Nachwuchs zu Papier zu
bringen. In Ihrem Koalitionsantrag listen Sie die zentra-
Zu Protokoll
len Problembereiche und unkonkrete Forderungen auf.
Ihre reale Politik wird dadurch konterkariert: Sie fordern
den Bund auf, die Länder in ihren Bemühungen um bes-
sere Lehre zu unterstützen. Der Hochschulpakt leistet ge-
nau das nicht, sondern schafft allenfalls Billigstudien-
plätze. Auch sollen Exzellenzinitiative, Forschungspakt
für Forschung und Innovation und der Hochschulpakt II
für die Frauenförderung und zur Stärkung der Juniorpro-
fessur genutzt werden. All das findet aber nicht statt.
Beim Koalitionsantrag stand offenbar der Gedanke im
Vordergrund: Wenn schon alle Oppositionsfraktionen
was gemacht haben, will man sich keine Leerstelle erlau-
ben. Doch genau das kennzeichnet Ihre Politik zur För-
derung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Wir Grünen wollen Wissenschaft als Beruf attraktiver
machen und den wissenschaftlichen Nachwuchs besser
unterstützen. Vier Kernpunkte möchte ich nennen, auf die
sich die Bundesregierung mit den Ländern und diese mit
den Hochschulen einigen müssen.
Erstens. Es müssen mehr Promotionsstellen und Gra-
duiertenkollegs geschaffen werden. Daneben muss für
Promovierende mit Stipendien die Anbindung an Hoch-
schulen und Forschungseinrichtungen erleichtert wer-
den.
Zweitens. Es muss mehr für die Verbreitung der
Juniorprofessur getan werden. Von Beginn an müssen
klare Bedingungen für die weitere Karriereplanung fest-
stehen. Dazu soll von den Ländern eine dem angelsäch-
sischen „tenure track“ entsprechende Planbarkeit der
Karriereschritte geschaffen werden. Wo die Habilitation
als Qualifikationsweg bestehen bleibt, muss gewährleis-
tet sein, dass sie in größerer wissenschaftlicher Unab-
hängigkeit als bisher erfolgen kann.
Drittens. Die Gleichstellung der Geschlechter muss
umfassend durchgesetzt werden. Mit dem Professorin-
nenprogramm allein ist bei weitem nicht alles Mögliche
und Notwendige für mehr Chancengerechtigkeit für
Frauen getan. Wir fordern, dass sich Hochschulen und
Wissenschaftseinrichtungen zu messbaren und realisti-
schen Steigerungsquoten des Frauenanteils verpflichten,
und wollen unser grünes Kaskadenmodell zur Gleichstel-
lung umsetzen. In Bremen wurde auf grüne Initiative hin
vor kurzem ein 40-Prozent-Ziel beschlossen. Das ist ein
echter Meilenstein.
Viertens. Unsere Hochschulen müssen endlich fami-
lienfreundlicher werden, damit sich Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und -wissenschaftler nicht länger zwi-
schen Kind und wissenschaftlicher Karriere entscheiden
müssen, sondern beides gut miteinander vereinbaren kön-
nen.
Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Pakt für For-
schung und Innovation wären eine Chance gewesen,
mehr Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu
schaffen und zu sichern. So weitsichtig zu denken, sah
sich die Bundesregierung wohl nicht in der Lage. Anstatt
den Hochschulpakt gleich bis 2020 zu beschließen, endet
die zweite Paktphase bereits Ende 2015. Die Hochschu-
len brauchen jedoch dringend Planungssicherheit, um
Nachwuchsforscher sowie Professorinnen und Professo-
25214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25215
(A) (C)
(B) (D)
Kai Gehring
ren einstellen zu können. Mit diesem Kurzsichtpakt hat
die Bundesregierung diese Chance vertan und leistet
auch durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ganz be-
wusst einen Beitrag für den Aufbau unsicherer, prekärer
Arbeitsplätze, anstatt sie mit Karriereperspektiven auszu-
statten. Bei der Exzellenzinitiative zeichnet sich ab, dass
aufgrund befristeter Stellen und schlechter Bezahlung die
Talente eher in die Wirtschaft gehen oder ins Ausland ab-
wandern.
Das zeigt: Gute Arbeitsbedingungen hierzulande ent-
scheiden darüber, ob wissenschaftliche Nachwuchskräfte
im Inland bleiben oder nach Auslandsaufenthalten
wieder zurückkehren. Deswegen brauchen wir einen Wis-
senschaftstarifvertrag, der Wissenschaft in Deutschland
international wettbewerbsfähig macht. Die Regierungs-
koalition dagegen hat mit ihrem Wissenschaftszeitver-
tragsgesetz für viele Wissenschaftler in Deutschland die
unbefristete Befristung eingeführt. Wir wollen klare Re-
geln für ein wissenschaftsspezifisches Befristungs- und
Kündigungsrecht schaffen, wobei Befristung eine Aus-
nahme und nicht die Regel für alle sein soll. Die Bedin-
gungen müssen stimmen, damit sich genügend Hochqua-
lifizierte – ob zugewandert oder nicht – für ein Leben und
Arbeiten in Deutschland entscheiden.
Dieser Bundesregierung hat es am klaren Willen und
beherzten Handeln gefehlt, solche wissenschaftsfreundli-
chen Bedingungen zu schaffen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 16/13421.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrages der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/11883 mit dem Titel „Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses ausbauen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
mung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Da-
gegen haben das Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
gestimmt. Die FDP hat sich enthalten.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/11880 mit dem Titel „Ent-
wicklungschancen für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs schaffen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke ange-
nommen. Die Fraktion der FDP hat dagegen gestimmt,
das Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10592 mit dem
Titel „Perspektiven für den wissenschaftlichen Mittelbau
öffnen – Karrierewege absichern – Gleichstellung durch-
setzen – Selbständigkeit fördern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zu-
gestimmt haben die Koalitionsfraktionen und die FDP.
Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Bünd-
nis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9104
mit dem Titel „Wissenschaft als Beruf attraktiver ma-
chen – Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser unter-
stützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen und die FDP angenommen. Dagegen hat die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Linke hat
sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Peter Bleser,
Wolfgang Zöller, Klaus Hofbauer, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Botz,
Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Ingrid Arndt-
Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Unsere Verantwortung für die ländlichen
Räume
– Drucksachen 16/5956, 16/9164 Nr. 1 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Gerhard Botz
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Klaus
Hofbauer, Gerhard Botz, Christel Happach-Kasan,
Kirsten Tackmann und Cornelia Behm.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz auf Drucksache 16/9164. Unter Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung ist der Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen aufgeführt, über den bereits in einer
früheren Sitzung abgestimmt wurde.
Daher stimmen wir heute nur über Nr. 1 der Be-
schlussempfehlung ab. Der Ausschuss empfiehlt die An-
nahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/5956 mit dem Titel „Unsere
Verantwortung für die ländlichen Räume“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt; die Opposi-
tionsfraktionen haben sich enthalten.
1) Anlage 29
25216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Biopatentrecht verbessern – Patentierung von
Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungs-
verfahren verhindern
– Drucksachen 16/11604, 16/13439 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Auswir-
kungen des Gesetzes zur Umsetzung der Bio-
patentrichtlinie
– Drucksachen 16/12809, 16/13438 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Hierzu haben ihre Reden zu Protokoll gegeben:
Günter Krings, Matthias Miersch, Christel Happach-
Kasan, Petra Sitte, Ulrike Höfken und Alfred
Hartenbach.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Biopatentrecht verbessern –
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen
Züchtungsverfahren verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt
auf Drucksache 16/13439, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11604 abzuleh-
nen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktio-
nen und die FDP; dagegen gestimmt hat Bündnis 90/
Die Grünen; die Linke hat sich enthalten.
Nun stimmen wir über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung
über die Auswirkungen des Gesetzes zur Umsetzung der
Biopatentrichtlinie ab. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13438, in Kennt-
nis der Unterrichtung auf Drucksache 16/12809 eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
1) Anlage 30
Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür gestimmt
haben die Koalitionsfraktionen; dagegen gestimmt haben
die Linke und Bündnis 90/Die Grünen; die FDP hat sich
enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften
– Drucksachen 16/12256, 16/12677 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)
– Drucksache 16/13428 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Birgitt Bender
Zu Protokoll haben ihre Reden gegeben: Wolf Bauer,
Marlies Volkmer, Daniel Bahr, Frank Spieth, Birgitt
Bender und Rolf Schwanitz.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf.
Einige Kolleginnen und Kollegen haben Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben.3)
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13428, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 16/12256
und 16/12677, in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt
haben die Koalitionsfraktionen; dagegen gestimmt hat die
FDP-Fraktion; enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Fraktion Die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in dritter Beratung bei dem gleichen Stimmenverhältnis
wie in der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 e auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Birgit Homburger, Martin Zeil, Rainer
Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Einsetzung ei-
nes Nationalen Normenkontrollrates
– Drucksache 16/7855 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
– Drucksache 16/9839 –
2) Anlage 31
3) Anlagen 23 bis 25
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25217
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rainer Wend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Frank Schäffler, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bürokratie abbauen – Unternehmen, Bürge-
rinnen und Bürger entlasten
– Drucksache 16/12470 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Rainer Brüderle, Martin Zeil, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Wirtschaftliche Dynamik fördern – Gewerbe-
anmeldungen entbürokratisieren
– Drucksachen 16/9338, 16/11977 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Schultz (Everswinkel)
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirk-
sam, unbürokratisch und marktwirtschaftlich
gestalten
– Drucksachen 16/3318, 16/4961 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Birgit Homburger, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Entlastung kleiner und mittlerer Betriebe
durch Abbau bürokratischer Regelungen im
Sozialrecht
– Drucksachen 16/3163, 16/5494 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Ernst
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael Fuchs,
Garrelt Duin, Birgit Homburger, Roland Claus und
Kerstin Andreae.
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Bürokratie kostet Zeit, Bürokratie kostet Geld. Beides
sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit
eines Unternehmens. Bürokratieabbau ist eine wichtige
Aufgabe für uns; denn wir wollen die Unternehmen aktiv
entlasten.
Bürokratieabbau ist mühsam. Wolfgang Clement hat
einmal gesagt, es sei Häuserkampf. Doch dieser Kampf
lohnt sich. Denn Bürokratieabbau ist das bestmögliche
Konjunkturprogramm, das wir überhaupt machen können:
Die Abschaffung von überflüssigen gesetzlichen Regelun-
gen, von veralteten Verfahrensweisen oder doppelten Sta-
tistikpflichten kostet uns, als Staat, keinen Cent. Aber die
betroffenen Unternehmen profitieren in hohem Maße. Sie
können Arbeitsabläufe effizienter gestalten und Betriebs-
kosten einsparen. Kurz: Bürokratieabbau ist ein voller
Gewinn.
Bei diesem ehrgeizigen Vorhaben unterstützt uns die
Geschäftsstelle für Bürokratieabbau im Bundeskanzler-
amt, und seit zweieinhalb Jahren der Normenkontrollrat.
Im Mai hat uns der NKR seine Halbzeitbilanz vorgelegt, die
durchweg positiv ist. Sie zeigt uns, dass das „Regierungs-
programm für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“
richtig und wichtig ist. Die von uns beschlossenen Maß-
nahmen greifen, und die Arbeit lohnt sich.
Dazu will ich Ihnen ein Beispiel nennen: Im Zuge des
parlamentarischen Verfahrens rund um die Unterneh-
mensteuerreform wurde der Regierungsentwurf vom NKR
geprüft. Das Ergebnis war alles andere als erfreulich:
Die geplanten Regelungen hätten allein durch die Neurege-
lungen im Bereich der geringwertigen Wirtschaftsgüter zu
einer Mehrbelastung der Unternehmen von 190 Millionen
Euro geführt. Aber gerade weil wir das Gremium aktiv in
das gesetzgeberische Verfahren einbeziehen und gerade
weil wir die Berichte sehr ernst nehmen, fließen selbstver-
ständlich die Ergebnisse in unsere Arbeit mit ein. Darum
kann ich die Unterstellungen, die die FDP in ihrem Antrag
formuliert hat, nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.
Tatsache ist, dass aufgrund dieses Berichts der Gesetz-
entwurf zur Unternehmensteuerreform noch einmal von
uns gründlich überarbeitet wurde. Damit haben wir eine
Nettoentlastung für die Unternehmen von 168 Millionen
Euro erreicht. Bei den GWGs ist es uns gelungen, aus einer
zuerst erwarteten Belastung von 190 Millionen eine Ent-
lastung von 65 Millionen Euro zu erzielen. Ich denke,
diese beachtlichen Zahlen sprechen ganz klar für die sehr
gute Arbeit des NKR und die hervorragende Zusammen-
arbeit zwischen Parlament und Normenkontrollrat. Ohne
das Ex-ante-Verfahren hätten wir erst zwei, drei Jahre
nach Inkrafttreten des Gesetzes auf die Ergebnisse einer
Evaluierung warten müssen. So konnten wir bereits im
laufenden Verfahren die Regelungen optimieren und sicher-
stellen, dass wir mit dem Gesetz unser Ziel auch erreichen.
Das nenne ich bessere Rechtsetzung.
Ein weiterer Punkt muss an dieser Stelle noch einmal
klargestellt werden: Das Beispiel Untemehmensteuerreform
zeigt auch, dass das NKR-Gesetz dem Normenkontrollrat
sehr wohl ausreichende Befugnisse erteilt und dass es vor
allem funktioniert. Wir brauchen kein neues Gesetz, das
das Anrufungsverfahren verändert. § 6 Abs. 3 ermöglicht
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Michael Fuchs
es den Ausschüssen, den NKR um Stellungnahme anzurufen.
Genau das haben wir damals im Wirtschaftsausschuss
auch getan. Es ist darum schlicht und einfach falsch,
wenn das Gegenteil behauptet und eine Ausweitung des
Anrufungsrechtes gefordert wird, weil es nämlich keinerlei
positiven Nutzen hätte. Ganz im Gegenteil: Der NKR
wäre binnen kürzester Zeit lahmgelegt und würde seine
wertvolle Arbeit vergeuden mit der Prüfung von Gesetz-
entwürfen, die zwei Wochen später im Papierkorb landen.
Das kann nicht das Ziel sein, das darf nicht die Aufgabe
dieses wichtigen Gremiums sein, und wir dürfen die Res-
sourcen einfach nicht verschwenden.
Mittlerweile haben wir uns ja schon fast daran gewöhnt,
dass die FDP gerne die von uns erreichten Erfolge
schlichtweg ignoriert. Mit zumeist populistischen Attacken
wird in unzähligen Anträgen und Anfragen unsere oft
mühsame und schwierige Arbeit ganz einfach unter den
Teppich gekehrt. Aber ich sagen Ihnen: Da machen Sie es
sich zu einfach. Diese Bundesregierung hat von Anfang
an sehr deutlich gemacht, dass es ihr sehr ernst ist mit
dem Bürokratieabbau. Selbstverständlich werden wir
auch in Zukunft mit Nachdruck daran arbeiten. Wir
scheuen die Arbeit eben nicht.
Natürlich ist Bürokratieabbau eine Querschnittsaufgabe.
Hier sind alle Ressorts gefragt, bestehende Gesetze und
Verordnungen auf Herz und Nieren zu prüfen und Doku-
mentations- oder Berichtspflichten – wo möglich – am bes-
ten zu streichen oder zumindest deutlich zu vereinfachen.
Mit der Einführung des Standardkostenmodells haben
wir eine wissenschaftlich fundierte Methode, die es uns
ermöglicht, die Kosten durch Informations- und Dokumen-
tationspflichten zu benennen, sie transparent zu machen.
Transparenz zu schaffen ist dabei eines unserer wichtigsten
Ziele. In Deutschland wird viel geschimpft über den läs-
tigen Papierkram, über die Bürokraten in den Ämtern und
Behörden, über die vielen, oft undurchsichtigen Vor-
schriften. Das ist unser Anliegen; genau hier wollen wir
Licht ins Dunkel bringen und aktiv für mehr Klarheit und
mehr Effizienz sorgen.
Die Ergebnisse der Bestandsmessung waren dabei ein
wichtiger Hinweis: 10 900 Informationspflichten wurden
identifiziert, die allein der Wirtschaft durch nationales
Recht und EU-Verordnungen entstehen. Die Prüfung hat
ergeben, dass die rund 50 kostenintensivsten Informations-
pflichten rund 80 Prozent der gesamten Bürokratiekosten
für die Wirtschaft in Deutschland verursachen. Insgesamt
haben wir 330 Vereinfachungen erreicht, die für die Wirt-
schaft eine jährliche Entlastungswirkung von rund 7 Mil-
liarden Euro haben. Damit schaffen wir Freiräume. Das
gibt den Unternehmen Luft, die sie besonders jetzt sehr
gut brauchen können.
Konkret reduzieren sich bis Ende 2009 die jährlichen
Bürokratiekosten von 47,6 Milliarden Euro um 12,5 Prozent.
Damit haben wir viel erreicht; denn unser ehrgeiziges
Ziel ist es, bis zum Jahr 2012 die Bürokratiekosten um
25 Prozent abzubauen. Natürlich ist das ein Nettoziel.
Darüber hinaus haben wir über 1 000 Gesetze, Rechts-
verordnungen und Rechtsvorschriften ermittelt, die aufge-
hoben werden konnten. Im Zuge dieser Rechtsbereinigung
Zu Protokoll
ist der Bestand des Bundesrechts trotz neuer Rechtsetzung
um 16 Prozent gesunken, nämlich von über 5 200 auf
knapp 4 400 Gesetze und Verordnungen. Auch das sind
beachtliche Zahlen, wie ich finde.
Selbstverständlich werden wir uns jetzt nicht zurückleh-
nen und uns auf diesen Lorbeeren ausruhen. Selbstverständ-
lich wollen wir den Bürokratieabbau weiter voranbringen
und vor allem auch für die Bürger ganz direkt deutliche
Entlastungen erreichen.
Wie Sie wissen, ist Deutschland leider Weltmeister in
Sachen Steuerfachliteratur – ein trauriger Rekord, auf den
wir weder stolz sein können, noch sollten wir ihn einfach so
akzeptieren. Es muss uns gelingen, unser Steuersystem
dauerhaft und nachhaltig zu vereinfachen, um hier die
Belastungen für die Bürger, für Verwaltung und Unter-
nehmen deutlich zu reduzieren. An vielen Stellen ist es
schlicht und einfach die Technik, die alte Verfahren der
Datenerfassungen überflüssig gemacht hat. Onlinedaten-
banken sind mittlerweile in den meisten Bereichen vor-
handen, und Verbände oder Kommunen können digital auf
die erforderlichen Informationen und Daten zugreifen,
ohne dass ein Betrieb zum x-ten Male das viele Seiten
lange Formular ausfüllen muss.
„E-Government“ ist hier das Stichwort. Es ist ein zentra-
les Instrument bei der weiteren Umsetzung unseres Pro-
gramms für bessere Rechtsetzung, und es ist der richtige
Weg. Im digitalen Zeitalter wollen wir eine moderne und
schlanke Datenerfassung für Unternehmen und Ver-
bände, Kommunen und Bürger. Wir wollen den Menschen
wertvolle Zeit ersparen. Dafür werden wir uns einsetzen.
Garrelt Duin (SPD):
Gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs ist
es besonders wichtig, die Kosten, die Bürgern und Unter-
nehmen durch neue Gesetze und Rechtsverordnungen
entstehen, möglichst gering zu halten. Daher ist es beson-
ders wichtig, die erzielten Erfolge beim Bürokratieabbau
in der heutigen Zeit zu unterstreichen: Wir werden die ge-
steckten Abbauziele von 12,5 Prozent bis Ende des Jahres
erreichen. Die deutsche Wirtschaft wird circa 7 Milliar-
den Euro jährlich weniger an unnötigen Bürokratiekos-
ten zahlen. Drei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes
zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates
lässt sich damit festhalten, dass entscheidende Kostenfak-
toren der Wirtschaft vermieden werden konnten. Das
Standardkostenmodell hat sich etabliert. Die Bundesre-
gierung wird bei der Reduzierung der bestehenden Büro-
kratiekosten nicht nur ihr Zwischenziel bis Ende 2009 er-
reichen, es erscheint aus heutiger Sicht ebenso
realistisch, dass bis 2011 eine Entlastung von insgesamt
25 Prozent erzielt werden kann.
Wir haben erreicht, dass Bürokratiekosten nach ein-
heitlichen Maßstäben erfasst, gemessen und bewertet
werden. So werden neue Regelungsvorhaben in der Ent-
stehungsphase bereits auf mögliche bürokratische Kosten
hin untersucht und Alternativen geprüft. Das hat dazu ge-
führt, dass in allen Bundesministerien ein deutlich stär-
keres Bewusstsein für die Kosten der Bürokratie entstan-
den ist.
25218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Garrelt Duin
Insgesamt 10 404 Informationspflichten der Wirt-
schaft existieren in Deutschland. Davon sind 9 230 Infor-
mationspflichten aus nationalen Gesetzen und Verord-
nungen einschließlich des national umgesetzten EU- und
internationalen Rechts. 1 174 Informationspflichten
stammen aus EU-Verordnungen, die direkt und unmittel-
bar in Deutschland gelten. Es konnten Bürokratiekosten
der Wirtschaft von rund 47,6 Milliarden Euro pro Jahr er-
mittelt werden. Demnach sind 22,5 Milliarden Euro vom
nationalen Gesetzgeber verursacht, 25,1 Milliarden Euro
gehen auf Regelungen zurück, die durch EU- und inter-
nationales Recht veranlasst wurden.
Der Nationale Normenkontrollrat unterstützt die Bun-
desregierung bei der Umsetzung des Programms. Gemäß
seinem gesetzlichen Auftrag prüft der Normenkontrollrat
alle neuen Regelungsvorhaben auf Bürokratiekosten aus
Informationspflichten und berät die Bundesregierung bei
der Reduzierung der bestehenden Bürokratiekosten. Der
Rat ist als unabhängiges Beratungs- und Prüfgremium ei-
ner der Erfolgsfaktoren für den Bürokratieabbau in unse-
rem Land! Die Abschätzung der Bürokratiekosten bei
neuen Regelungsvorhaben durch die Bundesregierung
und die Überprüfung dieser Kosten durch den Normen-
kontrollrat hat sich als erfolgreiches Vorgehen zur Ver-
meidung unnötiger Belastungen der Wirtschaft erwiesen.
Mit diesem „präventiven“ Verfahren der Kostenabschät-
zung und -kontrolle nach einer einheitlichen Methode
folgt Deutschland einer europaweiten Entwicklung.
Die Erfahrungen mit dem Programm der Bundesregie-
rung zeigen jedoch auch, dass sich die von den Bürgern
und Unternehmen als unnötig „bürokratisch“ wahrge-
nommen Belastungen nicht nur auf Bürokratiekosten aus
Informationspflichten zurückführen lassen. Ebenso rele-
vant können Belastungen sein, die durch den Vollzug von
bundesrechtlichen Vorschriften entstehen. Um die Betrof-
fenen wirkungsvoll von bürokratischen Belastungen be-
freien zu können, ist es daher notwendig, zu identifizieren,
wo die Ursachen für die bürokratischen Belastungen lie-
gen und wer welchen Beitrag zur Entlastung der Betrof-
fenen in seinem jeweiligen Verantwortungsbereich leisten
kann. Dazu bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtung
des Gesamtprozesses – von der bundes-, gegebenenfalls
über die landesrechtliche Regelung bis hin zum Vollzug
durch die zuständige Stelle. Für den Vollzug bundesrecht-
licher Vorschriften sind zumeist die Länder und Kommu-
nen bzw. die Kammern oder Sozialversicherungsträger
zuständig.
Eine weitere Ursache für bürokratische Belastungen
ist sicherlich darin zu sehen, dass Bürokratiekosten aus
Informationspflichten nur einen Teil der Kosten bilden,
die Bürgern und Unternehmen aus Rechtsvorschriften
entstehen. Nicht Teil des Regierungsprogramms sind bis-
lang solche Kosten, die Bürgern und Unternehmen aus
der inhaltlichen Rechtsbefolgung entstehen. Unter-
suchungen zeigen, dass diese inhaltlichen Befolgungs-
kosten für die Betroffenen eine erhebliche Belastung
darstellen können. Die alleinige Betrachtung von Büro-
kratiekosten aus Informationspflichten ist insoweit zu eng
und lässt wesentliche Entlastungspotenziale ungenutzt.
Zu Protokoll
Die Bundesregierung sollte beim Bürokratieabbau den
eingeschlagenen Weg weitergehen. Sie sollte das Pro-
gramm Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung im
Sinne einer ganzheitlichen Kostenbetrachtung erweitern.
Um eine nachhaltige Entlastung der Unternehmen si-
cherstellen zu können, sind zukünftig – neben den Büro-
kratiekosten aus Informationspflichten – verstärkt auch
weitere Kosten und Bürokratiebelastungen für die Wirt-
schaft in den Blick zu nehmen.
Ein erweitertes Programm zum Bürokratieabbau
sollte auf den bestehenden Strukturen aufbauen. Dazu
zählen insbesondere das erfolgreiche Verfahren zur Ab-
schätzung von Bürokratiekosten bei neuen Regelungsvor-
haben sowie der Nationale Normenkontrollrat als eta-
bliertes Prüf- und Beratungsgremium. Der Nationale
Normenkontrollrat ist als unabhängiger Begleiter in den
Prozess der erweiterten Kostenbetrachtung bei neuen Re-
gelungsvorhaben einzubinden und mit einem entspre-
chenden gesetzlichen Prüf- und Beratungsauftrag auszu-
statten.
Ziel sollte es weiterhin sein, dass verstärkt auch Bür-
ger von bürokratischen Belastungen befreit werden. Dazu
müssen vorrangig besonders belastete Bevölkerungs-
gruppen in den Blick genommen werden. Dabei kann sich
die Bundesregierung an anderen europäischen Ländern,
wie zum Beispiel Niederlande und Österreich, orientie-
ren.
Darüber hinaus sollte der Dialog mit den für die Um-
setzung und den Vollzug von Bundesrecht zuständigen
Stellen, wie Ländern, Kommunen, Kammern und Sozial-
versicherungsträgern, aufgenommen werden. Gemein-
sam können weitere Entlastungspotenziale besser identi-
fiziert und Vereinfachungsmaßnahmen auf den Weg
gebracht werden. Länder, Kommunen, Kammern und So-
zialversicherungsträger sollten zudem ermutigt werden,
auch im eigenen Zuständigkeitsbereich weitere Anstren-
gungen zum einfachen, serviceorientierten und zügigen
Verwaltungsvollzug zu unternehmen.
Birgit Homburger (FDP):
Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat Bundeskanzle-
rin Angela Merkel den Bürokratieabbau noch zur Chef-
sache erklärt. Viel mehr ist nicht passiert. Im Laufe dieser
Legislaturperiode gab es nicht etwa einen Abbau, son-
dern noch mehr Zuwachs bei der Bürokratie. Zwar sind
einige wenige Regelungen von geringer gesellschaftli-
cher Relevanz und damit mit geringem Entlastungspoten-
zial abgeschafft worden, eine Reihe neuer Regelungen
mit hohem Belastungspotenzial aber neu beschlossen
worden. Besonders ernst ist es Union und SPD offensicht-
lich nicht mit dem Bürokratieabbau.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat stets für die Festle-
gung eines konkreten Nettoziels beim Bürokratieabbau
plädiert. Nach wie vor fehlt ein verbindliches Bekennt-
nis der Bundesregierung, dass das von ihr proklamierte
25-Prozent-Abbauziel ein Nettoziel darstellt. In welcher
Höhe seit Beginn des „Programms Bürokratieabbau und
bessere Rechtsetzung“ neue belastende Regelungen ver-
abschiedet wurden, ist immer noch unklar. Im Jahresbe-
richt 2008 der Bundesregierung blieb dies unberücksich-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25219
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Birgit Homburger
tigt. Doch um beurteilen zu können, ob das 25-Prozent-
Abbauziel tatsächlich erreicht wird, ist das nötig. Am
Ende dürfen die Entlastungen nicht von neuen bürokrati-
schen Regelungen aufgefressen oder gar übertroffen wer-
den.
Der Gesetzentwurf der FDP sah daher vor, Nettoziele
festzulegen. Das hätte einen belastbaren Soll-Ist-Ab-
gleich ermöglicht. In der letzten Debatte zum Bürokratie-
abbau am 17. Januar 2008 hat Dr. Rainer Wend für die
SPD dieses Ziel noch unterstützt: „Wir müssen für die
Entlastungen, die wir in nächster Zeit bei den Ministerien
herbeiführen wollen, ein Nettoziel vereinbaren, denn es
macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir auf der einen
Seite bei älteren Gesetzen Bürokratie abbauen, auf der
anderen Seite aber neue verabschieden, die Bürokratie
aufbauen.“ Recht hat er. Umso unverständlicher ist es da-
her, dass die SPD zusammen mit der Union diese Rege-
lung heute ablehnt. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert
die Bundesregierung ausdrücklich auf, sich zu einem Net-
toziel zu bekennen.
Der Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion, über
den heute entschieden wird, ist ein Paradebeispiel dafür,
dass eine eigentlich von allen Seiten unterstützte Verbes-
serung der Kompetenzen des Nationalen Normenkon-
trollrats, NKR, aus parteitaktischen Gründen von den
Koalitionsfraktionen verhindert wird. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion wollte mit der Gesetzesänderung eine Rege-
lungslücke schließen und den Fraktionen des Parlaments
ein Anrufungsrecht für den NKR einräumen. Dadurch
sollte gewährleistet werden, dass auch Gesetzentwürfe
aus der Mitte des Deutschen Bundestages auf etwaige Bü-
rokratiekosten überprüft werden können. Dies wäre eine
sachdienliche Erweiterung des Aufgabenbereichs des
NKR gewesen; denn wer Bürokratieabbau will, muss alle
Gesetzesvorlagen im Blick haben.
Im federführenden Wirtschaftsausschuss hat die Re-
gierungskoalition den Gesetzentwurf mit der Begründung
abgelehnt, man wolle den NKR nicht übermäßig belasten.
Diese Begründung ist schlicht fadenscheinig und vorge-
schoben. Wie soll der NKR wirksam vor neuen bürokrati-
schen Regelungen warnen, wenn ihm beim Parlament die
Hände gebunden sind? Das ist völlig widersinnig und an-
gesichts der Probleme und Kosten – allein für die Unter-
nehmen 47,6 Milliarden Euro, die durch Bürokratie in
Deutschland entstehen – nicht angemessen.
In der letzten Debatte vor eineinhalb Jahren haben
Union und SPD noch große Töne geschwungen und an-
gekündigt, eine solche Regelung umzusetzen. Kollege
Hartmut Koschyk sagte damals für die CDU/CSU-Frak-
tion: „… wir, die CDU/CSU, wollen und werden ge-
meinsam mit der SPD-Fraktion dafür sorgen …, dass
Gesetzesinitiativen des Parlaments in Zukunft vom Nor-
menkontrollrat überprüft werden.“ Geschehen ist nichts.
Es gab keine Initiative der Koalition; stattdessen lehnt sie
den Gesetzentwurf der FDP heute sogar ab. Das ist pure
Ankündigungspolitik, inkonsequent und ein Armutszeug-
nis für die Durchsetzungsfähigkeit der Koalition. Das
schadet dem Parlament, dem Bürokratieabbau und den
Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen.
Zu Protokoll
Bürokratieabbau ist zwar ständig in aller Munde, be-
sonders gerne auch bei Vertretern der Regierungskoali-
tion, aber geschehen ist leider viel zu wenig. Ein erster
richtiger Schritt mit der Einsetzung des NKRs wird kon-
terkariert durch fehlende Nettoziele und Nichteinbezie-
hung von Gesetzentwürfen aus der Mitte des Parlaments.
Die Bundesregierung gibt sich ideenlos und lässt das nö-
tige Interesse für den Bürokratieabbau vermissen. An
Vorschlägen mangelt es nicht. Allein die FDP-Bundes-
tagsfraktion hat in den letzten beiden Legislaturperioden
in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages eine
konkrete Initiative zum Bürokratieabbau vorgelegt. Da-
runter waren viele innovative Vorschläge wie die Befris-
tung von Normen, die Umstellung von verschiedenen Ge-
nehmigungsverfahren auf Anzeigeverfahren oder die Er-
stattung von Bürokratiekosten für die Wirtschaft als
Anreizmechanismus in der öffentlichen Verwaltung zur
Verringerung der bürokratischen Lasten. Konzepte und
Ideen gibt es genug, an der Umsetzung allerdings man-
gelt es.
Die sogenannte Große Koalition zeigt bei diesem
Thema wieder einmal eindrücklich, dass lediglich die Be-
nennung des Bürokratieabbaus als Chefsache durch die
Bundeskanzlerin nicht ausreicht. Von leeren Versprechun-
gen wird die Bürokratie nicht weniger. Es muss etwas getan
werden. Konsequentes Handeln wäre nötig gewesen. Statt-
dessen haben Union und SPD beim Bürokratieabbau ein
Feuerwerk versprochen, am Ende aber nur ein Strohfeuer
entfacht.
Roland Claus (DIE LINKE):
Die Fraktion Die Linke lehnt den Gesetzentwurf der
FDP ab. Sie tut dies nicht, weil sie etwa meint, dass an
diesem Nationalen Normenkontrollrat nichts zu verbes-
sern wäre. Im Gegenteil: Dieser Kontrollrat muss, wenn
er denn tatsächlich etwas bewirken soll, grundsätzlich
und umfassend umgestaltet werden. Aber davon ist im
FDP-Vorschlag nicht im Geringsten die Rede, und für ein
bisschen Kosmetik hier und ein bisschen Schönheitspfläs-
terchen da sind wir nicht zu haben.
Das Grundübel des Normenkontrollrates ist, dass er
unter Bürokratieabbau lediglich die Entlastung der Un-
ternehmen versteht. Damit folgt er willig dem Zeitgeist,
der, wenn er von Wirtschaft redet, immer nur die Unter-
nehmerinnen und Unternehmer, die Managerinnen und
Manager im Blick hat. „Die Wirtschaft“ sind aber auch
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Hartz-IV-
Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, und deren In-
teressen bleiben in der bisherigen Arbeit des Rates völlig
unbeachtet. Daran ändert auch die Selbstkritik nichts,
zu der sich der Kontrollratsvorsitzende Dr. Johannes
Ludewig im Dezember 2008 durchgerungen hat, als er
feststellte, dass es an der Zeit sei, „zu zeigen, dass die
Entlastung von Bürgern genauso ernst genommen wird
wie die Entlastung von Unternehmen“. Man müsste, um
diesem Ziel näherzukommen, in den Kontrollrat eben
nicht nur Vertreterinnen und Vertreter aus Unternehmen
und Unternehmensverbänden berufen, sondern auch sol-
che aus Sozialverbänden oder zivilgesellschaftlichen In-
s-titutionen.
25220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Roland Claus
In seiner Halbzeitbilanz nach zweieinhalbjähriger Tä-
tigkeit verwies der Rat im Mai auf eine Nettoentlastung
von Unternehmen durch Bürokratieabbau in Höhe von
3,7 Milliarden Euro. Nehmen wir das einmal als einen
– freilich schwer überprüfbaren – Erfolg. Entgegen steht
dem aber eine ganz andere Bilanz: Bei Hartz IV sind die
Bürokratiekosten ins Unermessliche gestiegen. Es liegen
Zehntausende von unbearbeiteten Einsprüchen zu Be-
scheiden bei total überforderten Gerichten, die dring-
lichst um neue Stellen ersuchen. Die Betroffenen – also
die Hartz-IV-Empfänger – befinden sich durch die unge-
klärten Prozeduren und monate-, ja jahrelangen Warte-
zeiten in einer überaus misslichen Lage, und durch die
Unklarheiten in der Gesetzgebung sind außerdem viele
Tausend Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den
Argen und Optionsgemeinden zu Betroffenen geworden.
Die an sich schon mit ihrer Armut schaffenden Wirkung
unerträglichen Hartz-Gesetze werden dadurch, dass sie
so sträflich nachlässig erarbeitet worden sind, doppelt
unerträglich – aber vom Normenkontrollrat hört man
darüber kein Wort, wie interessanterweise auch die Tat-
sache, dass noch immer die Mehrheit der Regierungsstel-
len in Bonn beheimatet ist und nicht in Berlin, im Nor-
menkontrollrat offensichtlich keine Rolle spielt. Müsste
nicht, nachdem wir nun am 5. Juli schon den zehnten Jah-
restag des Parlamentsumzuges von Bonn nach Berlin fei-
ern, der Komplettumzug der Regierung ein ständiges
Ratsthema sein?
Wertvolle Erkenntnisse könnte der Normenkontrollrat
aus den im Osten der Republik gewonnenen Transforma-
tionserfahrungen gewinnen. So sind zum Beispiel bei der
Ansiedlung und Förderung der Solarindustrie unbüro-
kratische Wege gegangen worden. Aber auch an vielen
anderen Stellen verdienen lokale und regionale Herange-
hensweisen Beachtung, bei denen eben nicht auf einen
kritiklosen Nachbau West, sondern sehr ideenreich auf
neue, noch unerprobte, Bürokratie vermeidende Pro-
blemlösungen gesetzt wurde.
Der Normenkontrollrat ist ein vom Bundespräsidenten
auf Vorschlag der Bundeskanzlerin berufenes Gremium.
Schon darin liegt die Crux. Das Parlament ist nicht wirk-
lich einbezogen. Da muss der Blick zwangsläufig ein zu
enger bleiben. Es braucht, wenn Bürokratieabbau wirk-
lich ernst genommen werden soll, einen grundsätzlich an-
deren Ansatz. Wir werden uns an den entsprechenden An-
strengungen gern beteiligen. Unser heutiges „Nein“ ist
ein „Ja“ für einen Neuanfang.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesregierung hat sich zu Beginn ihrer Amtszeit
den Bürokratieabbau als Priorität auf die Fahnen ge-
schrieben. Umgesetzt hat sie wenig. Ihr jetziges Ziel, bis
2011 die Bürokratie um 25 Prozent abzubauen, ist wenig
ambitioniert. Und auch diese Entlastung wird mit den
Trippelschritten der Mittelstandsentlastungsgesetze kaum
erreicht.
Der Normenkontrollrat weist in seinen Berichten da-
rauf hin, dass bei einer bürokratischen Belastung von
rund 48 Milliarden Euro durch die mit Bundesregelungen
verbundenen Informationspflichten Abbaumaßnahmen in
Zu Protokoll
Höhe von 12 Milliarden Euro nötig seien. Hiervon sind
bisher 6,58 Milliarden Euro beschlossen. Es bleibt also
noch sehr viel zu tun.
Andere sind da viel weiter. Die Niederlande haben in
einer Legislaturperiode die Bürokratielasten um 25 Pro-
zent abgebaut, 2006 Vollzug gemeldet und arbeiten jetzt
schon an der nächsten Runde. Die deutsche Bundesregie-
rung will bis 2011 dieses Ziel erreichen. Und selbst das ist
mit den Trippelschritten, die sie mit ihren Mittelstands-
entlastungsgesetzen vorlegt hat, noch nicht sicher. Auch
Österreich ist da schon viel weiter. In Österreich werden
wie in den Niederlanden die Bürokratieabbauziele in den
Haushaltsplan integriert. Bei den Haushaltsberatungen
geht es so immer auch um Bürokratieabbau; jeder Minis-
ter berichtet entsprechend. In Deutschland gibt es ledig-
lich Quartalstreffen des Normenkontrollrates mit der
Kanzlerin, aber keine regelmäßigen Termine mit dem
Wirtschaftsminister.
Dem Normenkontrollrat fehlen umfassende Kompe-
tenzen, um den Bürokratieabbau voranzutreiben. So prü-
fen, wie der Normenkontrollrat können müsste, darf er
nicht. Wenn die Gesetze durch die Regierung ins Parla-
ment eingebracht werden, gibt es eine Bürokratiekosten-
einschätzung des Normenkontrollrates. Alles, was im
parlamentarischen Verfahren in die Gesetze reinge-
schrieben wird, kann er aber nicht mehr prüfen. Wenn die
Fraktionen Gesetze einbringen, wird er nicht gefragt. Da-
für gibt es im Bundestag – leider – keine Mehrheit. Ge-
setze, die vor Januar 2007 ins Parlament eingebracht
worden sind, werden, wie zum Beispiel der Gesundheits-
fonds, gar keiner Bürokratielastenmessung unterzogen.
Wir brauchen jetzt eine ehrliche Durchsicht aller gel-
tenden gesetzlichen Regelungen sowie aller neuen Be-
schlüsse des Bundestages auf ihre Bürokratiefolgen hin
durch den Normenkontrollrat. Das muss nicht nur am An-
fang, sondern am Ende des parlamentarischen Verfah-
rens geschehen.
Da bleiben die Anträge und der Entwurf der FDP zu
weich. Wir brauchen nicht nur das Recht der Fraktionen,
ihre Entwürfe überprüfen zu lassen. Das muss zur Regel
werden. Sonst kann jede Bundesregierung weiter leicht
den Normenkontrollrat umgehen, indem ihre Entwürfe
einfach über die Regierungsfraktionen eingebracht wer-
den und die ihn dann einfach nicht anrufen. Aber das ist
nicht das einzige Problem. Darum ist der Gesetzentwurf
der FDP eindimensional. Der Normenkontrollrat kriti-
siert in seinem Jahresbericht selbst: Er kann sich nur auf
Belastungen beziehen, die Wirtschaft, Bürgern und Ver-
waltung durch die Auferlegung von Informationspflichten
entstehen. Bürokratielasten sind aber weiter gefasst und
umfassen auch die Belastungen durch Regelungen der
Länder, der EU, der Sozialversicherungsträger.
Insgesamt geht der Normenkontrollrat von rund
85 Milliarden Euro Gesamtlasten für die Wirtschaft in
Deutschland aus. Das trifft insbesondere kleine und mitt-
lere Unternehmen. Sie geben 4 bis 6 Prozent ihres Umsat-
zes für staatlich veranlasste Verwaltungskosten aus. Um
diesen Problematiken wirksam zu begegnen, müssen wir
insgesamt die Rolle des Normenkontrollrats überdenken
und ausbauen. Vor allem müssen alle Regelungen so ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25221
gegebene Reden
25222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Kerstin Andreae
fasst werden, dass sie für KMU auch handhabbar sind.
Da ist die FDP mit ihrer vorgeschlagenen Gesetzesände-
rung doch sehr zögerlich.
Auch die vorgelegten FDP-Anträge weisen zwar teil-
weise in die richtige Richtung. Zentrale Bürokratiepro-
bleme wie die Gewerbeanmeldungen drängen und Lösun-
gen hierfür müssten zuvörderst angegangen werden. Eine
Bündelung der Zuständigkeiten bei der Gewerbeanmel-
dung, die Schaffung eines einheitlichen Ansprechpart-
ners oder die elektronische Gewerbeanmeldung machen
Sinn. Aber die Problematik des Bürokratieabbaus geht
noch weit über das hinaus, was die FDP hier thematisiert.
Und es ist auch falsch, Umweltziele und Bürokratieabbau
wie bei der Behandlung von Abfall gegeneinander auszu-
spielen. Umweltpolitik ist keine Gängelung der Wirt-
schaft, sondern schafft zum Beispiel bei intelligenten Re-
cyclingkonzepten oder energetischer Gebäudesanierung
neue Investitionsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. Da
verfällt die FDP einem alten Reflex.
Bürokratieabbau ist der einfachere Hebel zur Wirt-
schaftsförderung als Subventionen. Gerade kleine und
mittlere Unternehmen können umständliche Genehmi-
gungs- und Antragsverfahren nur schwer bewältigen. Wir
brauchen ein umfassendes Konzept für den Bürokratieab-
bau, das Ressort für Ressort umgesetzt wird. Neben der
beschriebenen deutlichen Stärkung der Rechte des Nor-
menkontrollrates umfasst das grüne Konzept zum Büro-
kratieabbau Vorschläge wie Kosten-Nutzen-Rechnungen
für Gesetzesvorlagen, die Abschaffung der Generalunter-
nehmerhaftung durch die Auftragnehmer für alle Subun-
ternehmen, die Anhebung der Grenze für geringwertige
Wirtschaftsgüter und die Weiterentwicklung des Teilzeit-
und Befristungsgesetzes. Das sogenannte Ersteinstel-
lungsgebot bei sachgrundlosen Befristungen muss abge-
schafft werden. Die Wartefrist, die zwischen zwei Arbeits-
verhältnissen liegen muss, sollte maximal sechs Monate
betragen, um Kettenbefristungen zu vermeiden. Damit ist
auf unbürokratische Weise sichergestellt, dass kein Miss-
brauch stattfindet. Eine befristete Wirkung von Gesetzes-
änderungen kann im Einzelfall nach Sachlage sinnvoll
sein.
Bündnis 90/Die Grünen haben noch weit umfassen-
dere Vorschläge für einen konsequenten Bürokratieabbau
erarbeitet. In den halbherzigen Gesetzgebungsvorschlä-
gen der Großen Koalition wurden diese bislang
ignoriert – nachdem ihnen zuvor Fachpolitiker der Frak-
tionen persönlich Respekt gezollt hatten. Es bleibt also
viel zu tun.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der FDP zur Änderung des Gesetzes zur Einsetzung
eines Nationalen Normenkontrollrates. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/9839, den Gesetz-
entwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7855
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion der FDP; da-
gegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion Die Linke; enthalten hat sich die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Die dritte Beratung entfällt.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12470 mit dem Ti-
tel „Bürokratie abbauen – Unternehmen, Bürgerinnen
und Bürger entlasten“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:
Ist das eine Beschlussempfehlung?)
– Nein, das ist ein Antrag. Sie müssen sich entscheiden:
dafür, dagegen oder Enthaltung.
Ich wiederhole die Abstimmung: Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist abgelehnt. Dafür hat die einbringende
Fraktion gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen
und die Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
halten.
Tagesordnungspunkt 22 c, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wirtschaftliche
Dynamik fördern – Gewerbeanmeldungen entbürokrati-
sieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/11977, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9338 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Ge-
genstimmen! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen. Dafür haben gestimmt die Koali-
tionsfraktionen und die Linke, dagegen haben gestimmt
FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 22 d, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel
„EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirksam, unbüro-
kratisch und marktwirtschaftlich gestalten“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4961, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/3318 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung des gesamten Hauses und Gegen-
stimmen der FDP-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 22 e, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Entlastung kleiner und
mittlerer Betriebe durch Abbau bürokratischer Regelungen
im Sozialrecht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5494, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3163 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen-
stimmen! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dagegen
gestimmt hat die FDP. Die Linke hat sich enthalten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25223
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis e auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Dr.
Reinhold Hemker, Gregor Amann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Potentiale von Migranten für den internatio-
nalen Tourismus nutzen
– Drucksachen 16/11403, 16/12186 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Reinhold Hemker
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus-
schuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Renate
Gradistanac, Clemens Bollen, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Barrierefreien Tourismus weiter fördern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Barrierefreier Tourismus für alle in Deutsch-
land
– Drucksachen 16/12101, 16/10317, 16/13046 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Renate Gradistanac
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus-
schuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Hans-
Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße,
Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bauernhofurlaub und Landtourismus wei-
ter fördern – Ländliche Räume nachhaltig
stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, Katrin Kunert
und der Fraktion DIE LINKE
Landurlaub und Urlaub auf dem Bauernhof
als Chance für einen umweltfreundlichen
Tourismus in Deutschland nutzen
– Drucksachen 16/10320, 16/7614, 16/13052 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)
Gabriele Hiller-Ohm
Jens Ackermann
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Klaus Riegert, Jürgen Klimke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Dr.
Reinhold Hemker, Dr. Peter Danckert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potentiale von Tourismus und Sport erkennen
und fördern
– Drucksachen 16/11402, 16/13053 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Reinhold Hemker
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-
Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Engelbert
Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Reformationsjubiläum 2017 als welthistori-
sches Ereignis würdigen
– Drucksachen 16/9830, 16/13054 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uda Carmen Freia Heller
Engelbert Wistuba
Jens Ackermann
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
Die Kolleginnen und Kollegen Uda Heller, Anita
Schäfer, Engelbert Wistuba, Gabriele Hiller-Ohm, Reinhold
Hemker, Jens Ackermann, Ilja Seifert und Bettina
25224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herlitzius haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich
gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 a, Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem Titel
„Potentiale von Migranten für den internationalen Tou-
rismus nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12186, den
Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/11403 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen,
dagegen Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die
FDP hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 27 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 16/13046.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12101
mit dem Titel „Barrierefreien Tourismus weiter fördern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen und die Linke. Gegenstimme gab es keine. Ent-
halten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die FDP.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/10317 mit dem Titel „Barrierefreier Tourismus für
alle in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt
haben die Koalitionsfraktionen und die FDP, dagegen
gestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke.
Tagesordnungspunkt 27 c, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 16/13052.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/10320 mit
dem Titel „Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter
fördern – Ländliche Räume nachhaltig stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. Dafür gestimmt haben die Koalitions-
fraktionen und die Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grü-
nen. Die FDP hat sich enthalten.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/7614 mit dem Titel „Landur-
laub und Urlaub auf dem Bauernhof als Chance für einen
umweltfreundlichen Tourismus in Deutschland nutzen“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Dafür haben gestimmt die Koalitionsfrak-
tionen und Bündnis 90/Die Grünen, dagegen hat die Frak-
tion Die Linke gestimmt. Die FDP hat sich enthalten.
1) Anlage 32
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/13052 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben
die Koalitionsfraktionen und die FDP, dagegen haben ge-
stimmt Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 27 d. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Potentiale von
Tourismus und Sport erkennen und fördern“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13053, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/11402
anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Reformations-
jubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13054, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9830 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koali-
tionsfraktionen und die FDP, Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke haben sich enthalten. Es gab keine Gegenstim-
men.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Barbara Höll, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Digitale Kluft schließen – Zehntausende Ar-
beitsplätze schaffen
– Drucksache 16/12999 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
Ihre Reden zu Protokoll haben gegeben: Martina
Krogmann, Martin Dörmann, Rainer Brüderle, Katrin
Kunert und Grietje Staffelt.
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Schnelle Zugangsmöglichkeiten zum Internet sind für
die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung un-
seres Landes von grundlegender Bedeutung. Eine leis-
tungsfähige Breitbandinfrastruktur ist eine wesentliche
Voraussetzung für Wachstum, Innovation und Arbeits-
plätze. Immer mehr Geschäftsmodelle, Dienste und An-
wendungen können nur mit einem schnellen Zugang zum
Netz genutzt werden. Wertschöpfungs- und Kommunika-
tionsprozesse in Unternehmen, Verwaltungen und im ge-
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Martina Krogmann
sellschaftlichen Leben werden immer stärker über
schnelle Datenleitungen abgewickelt.
Zentrales Ziel ist es deshalb, möglichst schnell flä-
chendeckenden Breitbandzugang in Deutschland zu er-
reichen. Diese Zielsetzung ist nicht nur für die Stärkung
des Wirtschaftsstandortes Deutschland von entscheiden-
der Bedeutung. Sie ist auch eine zwingende Vorausset-
zung dafür, die Chancengleichheit der Bürgerinnen und
Bürger zu wahren. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen
in Deutschland an den Chancen der Informationsgesell-
schaft teilhaben können!
Deshalb muss die bislang insgesamt gute Breitband-
entwicklung weiter beschleunigt und vorangetrieben
werden; denn eine Vielzahl von Haushalten kann die
Möglichkeiten breitbandiger Internetverbindungen noch
immer nicht nutzen und, jetzt werden die volkswirtschaft-
lich bedeutsamen Investitionsentscheidungen für den
Aufbau schneller Netze mit Übertragungsraten ab
50 MBit/s getroffen.
Die Bundesregierung wird der Entwicklung zusätzli-
che Impulse geben. Sie hat deshalb in der im Februar be-
schlossenen Breitbandinitiative ehrgeizige Ziele gesetzt:
Erstens. Bis Ende 2010 sollen die Lücken in der Breit-
bandversorgung geschlossen und flächendeckend leis-
tungsfähige Breitbandanschlüsse verfügbar sein.
Zweitens. Bis 2014 sollen bereits für 75 Prozent der
Haushalte Anschlüsse mit Übertragungsraten von min-
destens 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung stehen mit
dem Ziel, solche hochleistungsfähigen Breitbandan-
schlüsse möglichst bald flächendeckend verfügbar zu ha-
ben.
Diese Zielsetzungen sind das Ergebnis intensiver Dis-
kussionen mit der Branche und den Ländern. Der Bun-
desregierung ist durchaus bewusst, dass es sich um ambi-
tionierte Ziele handelt. Sie hält diese Ziele aber für
realisierbar, wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen von
allen Beteiligten zielorientiert umgesetzt werden. Un-
streitig ist, dass diese Ziele nur durch einen Technologie-
mix und im Wettbewerb erreicht werden können. Das gilt
für die Beseitigung der „weißen Flecken“ ebenso wie für
die Entwicklung der Hochleistungsnetze.
Die Techniken tragen dabei aufgrund ihrer Eigen-
schaften in unterschiedlicher Weise zur Erreichung der
Ziele bei: DSL, Kabelnetze, Funk- und Satellitenverbin-
dungen und vereinzelt auch Powerlinenetze sind die
Grundlage für die kurzfristige Bereitstellung einer flä-
chendeckenden Versorgung mit leistungsfähigen Breit-
bandanschlüssen. Darunter versteht man derzeit Über-
tragungsraten von mindestens 1 MBit/s. Kabelnetze,
VDSL, Glasfasernetze und langfristig möglicherweise
auch zukunftsfähige Funktechnologien wie LTE – Long-
Term-Evolution – bilden die Basis für hochleistungsfä-
hige Internetanschlüsse – ab 50 MBit/s.
Um diese ambitionierten kurz- und langfristigen Ziele
zu erreichen, schlägt die Bundesregierung einen anreiz-
orientierten Ansatz vor, indem sie die Nutzung von Syner-
gien beim Infrastrukturausbau vorantreibt, eine unter-
Zu Protokoll
stützende Frequenzpolitik gewährleistet, sich für eine
wachstums- und innovationsorientierte Regulierung ein-
setzt und im erforderlichen Umfang finanzielle Förder-
maßnahmen bereitstellt.
Das kurzfristige Ziel einer flächendeckenden Versor-
gung mit leistungsfähigen Breitbandanschlüssen wird da-
bei vor allem durch die Fortsetzung und den Ausbau der
finanziellen Föndermaßnahmen für Kommunen unter-
stützt sowie durch die Nutzung von Instrumenten zur Ver-
besserung der Finanzierungsmöglichkeiten für Unter-
nehmer. Zudem greifen mehr Planungssicherheit bei der
Regulierung, die Nutzung der digitalen Dividende und
die verschiedenen Aktivitäten der Länder.
Die Bundesregierung setzt also auf einen Mix der ver-
schiedensten Maßnahmen um eine passgenaue und wirt-
schaftlich vertretbare Lösung für jeden Ort zu erreichen.
Wer aber ausschließlich auf eine steuerfinanzierte flä-
chendeckende Kabelinfrastruktur setzt, handelt volks-
wirtschaftlich unsinnig und (verschwendet die Staatsgel-
der – Gelder, die nicht irgendwo herkommen, sondern
von den Menschen in unserem Land hart erarbeitet wer-
den müssen.
Es gilt vielmehr, dünn besiedelte ländliche Regionen
zum Beispiel auch über Funk an Breitbandinternet anzu-
schließen. Dies erreichen wir durch eine flexible und ef-
fiziente Frequenzpolitik.
Die heutigen breitbandigen Mobilfunknetze decken
derzeit in erster Linie dichter besiedelte Regionen ab.
Dies wird sich künftig verbessern. Die bislang für die
GSM-Netze genutzten Frequenzspektren um 900 MHz
sollen künftig – unabhängig von einer bestimmten Tech-
nonlogievorgabe – für alle Formen des drahtlosen Netz-
zugangs verwendet werden können.
Die Vorbereitungen zu einer Vergabe weiterer Fre-
quenzressourcen sind nahezu abgeschlossen. Die konkre-
ten Auktionsregeln werden noch erarbeitet und zur Kom-
mentierung gestellt. Mit 270 Megahertz wird 2010 das
bisher umfangreichste Spektrum versteigert. Eine Be-
schränkung des Einsatzes bestimmter Techniken wird es
dabei nicht geben. Diese Frequenzen werden bundesweit
für breitbandige Anwendungen zur Verfügung gestellt.
Dabei geht die Bundesnetzagentur konsequent den einge-
schlagenen Weg weiter: möglichst technologie- und
diensteneutral Frequenzen bereitzustellen für drahtlose
Netzzugänge.
Die Einführung eines Universaldienstes, wie es die
Linke fordert, würde keines der grundsätzlichen Pro-
bleme lösen, aber viele neue schaffen. Wie sollte er defi-
niert werden? Welche Übertragungsrate soll vorge-
schrieben werden? Wie oft sollte er der technischen
Entwicklung angepasst werden? Wo sind volkswirtschaft-
liche und finanzielle Grenzen? Ich gebe außerdem zu
bedenken, dass wir derzeit über Satelliten fast überall in
Deutschland – inzwischen gar nicht mehr so teure – 1-MB-
Verbindungen erhalten können.
Vor diesem Hintergrund können wir mit diesem Antrag
nur eines tun: ablehnen!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25225
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Martin Dörmann (SPD):
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt und unterstützt
die Breitbandstrategie der Bundesregierung. Eine inves-
titionsorientierte Regulierung, die Nutzung der „Digita-
len Dividende“ und verbesserte Rahmenbedingungen für
den Infrastrukturausbau sind wesentliche Bausteine des
flächendeckenden Breitbandausbaus.
Die SPD setzt sich seit langem dafür ein, die Versor-
gungslücken in der Fläche zu schließen und ganz
Deutschland mit schnellen Internetverbindungen zu ver-
sorgen. Davon profitieren nicht nur ländliche Regionen
und mittelständische Unternehmen, die an die Daten-
autobahn angeschlossen werden. Unser Ziel war auch
stets, alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland an den
Chancen der Informationsgesellschaft zu beteiligen.
Es ist ein besonderes Anliegen von Frank-Walter
Steinmeier und ihm zu verdanken, dass die Bundesregie-
rung im Zusammenhang mit dem zweiten Konjunkturpa-
ket eine Breitbandstrategie verabschiedet hat, die zusätz-
liche Impulse für Milliardeninvestitionen in den zügigen
flächendeckenden Breitbandausbau setzt.
Die Ziele sind ehrgeizig gesteckt: Bis Ende 2010 sollen
flächendeckend leistungsfähige Breitbandanschlüsse von
einem Megabit pro Sekunde zur Verfügung stehen, bis
2014 mit Übertragungsraten von mindestens 50 Megabit
für 75 Prozent der Haushalte.
Dies erfordert zweistellige Milliardeninvestitionen der
TK-Unternehmen. Deshalb ist es notwendig und zu be-
grüßen, dass die Bundesregierung ausdrücklich auf eine
wachstums- und innovationsorientierte Regulierung
setzt. Hierfür kommt der Bundesnetzagentur eine beson-
dere Verantwortung zu. Die von ihr zu entwickelnden
Eckpunkte müssen ökonomische und rechtliche Pla-
nungssicherheit schaffen, spezifische Risiken der inves-
tierenden Unternehmen berücksichtigen und ein geeigne-
tes Risiko-Sharing regulatorisch absichern. Die
kostspieligen Investitionen in den Infrastrukturausbau
müssen von mehreren Unternehmen erfolgen, wenn man
die formulierten Ziele erreichen will. Deshalb wird es
auch weiterhin einen intensiven Wettbewerb in diesem
Bereich geben. Inzwischen hat die Bundesnetzagentur ih-
ren Eckpunkteentwurf zur öffentlichen Konsultation ge-
stellt, sodass mit der endgültigen Vorlage bereits in den
nächsten Monaten zu rechnen ist.
Zur Unterstützung der Unternehmen und der beson-
ders betroffenen Kommunen setzt die Bundesregierung
darüber hinaus auf ein Maßnahmenbündel. Finanzielle
Fördermaßnahmen, zusätzliche Hilfestellung beim Infra-
strukturausbau und eine unterstützende Frequenzpolitik
werden den Breitbandausbau weiter beschleunigen.
Die Nutzung eines Teils der „Digitalen Dividende“ für
mobiles Internet ist dabei ein wichtiger Baustein. Die
hierfür notwendigen rechtlichen und technischen Klärun-
gen sollen nun unverzüglich erfolgen. Die Bundesnetz-
agentur beabsichtigt, noch in diesem Jahr ein Verfahren
zur Vergabe der entsprechenden Frequenzen durchzufüh-
ren. Dabei wird darauf zu achten sein, dass die Bedingun-
gen für die Mobilfunkunternehmen so gesetzt werden,
dass zunächst vorrangig der Ausbau der nicht oder nur
Zu Protokoll
schlecht versorgten Regionen angegangen wird. Insofern
ist es zu begrüßen, dass der Bundesrat mit seiner Zustim-
mung zur Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung
in der vergangenen Woche den Weg frei gemacht hat.
Insgesamt befindet sich die Breitbandstrategie der
Bundesregierung also auf einem guten Weg, auch wenn
noch die eine oder andere Klippe zu umschiffen ist. Umso
unverständlicher ist der heutige Antrag der Fraktion Die
Linke, über den wir hier diskutieren. Er enthält nicht nur
Widersprüche, sondern auch zahlreiche Fehlinformatio-
nen, auf die man aufgrund der begrenzten Zeit an dieser
Stelle gar nicht alle eingehen kann. Ich will deshalb nur
wenige Punkte beispielhaft aufgreifen.
Anfang 2007 haben wir mit dem neuen Telemedienge-
setz erstmals einen einheitlichen, entwicklungsoffenen
Rechtsrahmen im Bereich der Tele- und Mediendienste
geschaffen. Frühere Abgrenzungsprobleme sind entfal-
len. Gegenüber dem alten Rechtszustand wurde eine
deutliche Verbesserung erzielt. Damit haben wir einen
wirksamen Beitrag zur Fortentwicklung des Internets ge-
leistet, für das das Telemediengesetz von besonderer Be-
deutung ist.
Bereits bei der damaligen Verabschiedung hatten die
Koalitionsfraktionen in Aussicht gestellt, noch in dieser
Legislaturperiode eine Überarbeitung vorzunehmen.
Denn damals mussten wir das Gesetz zügig verabschie-
den, um ein zeitgleiches Inkrafttreten mit dem Neunten
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien zum 1. März
2007 zu ermöglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich
und haben die bisherigen Bestimmungen abgelöst.
Zuletzt hat der Bundestag im Mai 2008 eine ausführli-
che Debatte über möglichen Änderungsbedarf geführt.
Grundsätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die
einen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auch je-
weils mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Aus Sicht der
Koalitionsfraktionen geht es hierbei in erster Linie um die
weitere Verbesserung der Rechtssicherheit im Bereich der
Internethaftung. Das betrifft die Klärung der Störerhaf-
tung sowie Fragen, die von den Haftungsbestimmungen
der einschlägigen E-Commerce-Richtlinie nicht erfasst
werden und die auch in Deutschland vor diesem Hinter-
grund ausdrücklich nicht geregelt wurden, insbesondere
Suchmaschinen und Hyperlinks. Insofern haben wir es
nämlich mit einer Rechtsprechung zu tun, die in der Inter-
netbranche für Unsicherheiten gesorgt hat, die es mög-
lichst zu beseitigen gilt.
Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweit
ein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbst
eingestellt hat. Dass Rechtsverletzungen beseitigt werden
müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitet aller-
dings die zukünftige Verhinderung einer Rechtsverlet-
zung, insbesondere dann, wenn eine Rechtsverletzung
festgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fälle
zu übertragen ist. Denn wer auf seiner Homepage Links
auf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht ständig
kontrollieren.
Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Diens-
teanbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftung
reguläre Überwachungspflichten übernehmen müssen
25226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Martin Dörmann
oder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlas-
sungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kernglei-
che Rechtsverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großer
Verunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung der
Kerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führen
könnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Ausle-
gung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffenen
Rechteinhaber führen.
Insgesamt geht es daher vor allem um eine gerechte
und praktikable Lösung, die die unterschiedlichen Inte-
ressen von Rechteinhabern, Verbrauchern und Internet-
unternehmen zu einem vernünftigen Ausgleich bringt.
Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allen Be-
teiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich in den
vergangenen Monaten als besonders schwierig erwiesen.
Die Koalitionsfraktionen hatten erwartet, dass die Bun-
desregierung, wie angekündigt, noch im Jahr 2008 einen
Gesetzentwurf vorlegt, in dem die problematisierten Ge-
sichtspunkte berücksichtigt werden. Das Wirtschaftsmi-
nisterium war auch keineswegs untätig, sondern hat zahl-
reiche Gespräche mit vielen Beteiligten geführt, um eine
möglichst von allen getragene Lösung abzustimmen. Eine
besondere Schwierigkeit ist dabei, dass die Rechtspre-
chung auch weiterhin in der Entwicklung ist. Wichtige
Entscheidungen, die in diesem Jahr ergangen sind, müs-
sen bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Dies al-
les hat zu einer Zeitverzögerung geführt, die wir auch als
Koalitionsfraktionen bedauern. Wir wären hier gerne
schneller vorangeschritten.
Die Große Koalition prüft derzeit, wie wir mit der The-
matik des Telemediengesetzes weiter vorgehen. Wie Sie
wissen, gibt es aktuell Überlegungen des Familienminis-
teriums zur Einführung einer Sperrungsverpflichtung zur
Bekämpfung der Kinderpornografie. Hier ist zu klären,
inwieweit sich zusätzlicher Regelungsbedarf beim Tele-
mediengesetz oder beim Jugendmedienschutz-Staatsver-
trag ergibt. Dabei wird man zu berücksichtigen haben,
dass die deutsche Internetwirtschaft bei der Bekämpfung
illegaler und gefährliche Inhalte – insbesondere auch der
Kinderpornografie – durchaus aktiv und engagiert ist. In-
soweit wird zu prüfen sein, wie man das gemeinsame Ziel,
Kinderpornografie den Garaus zu machen, effektiv und
angemessen erreichen kann, sei es durch zusätzliche Re-
gelungen oder eine Ausweitung der Selbstverpflichtung
der Internetwirtschaft.
Zudem steht für Anfang 2009 ohnehin das Vorhaben
zur teilweisen Umsetzung der europäischen Audiovisu-
elle-Mediendienste-Richtlinie an. Hierzu wird das Wirt-
schaftsministerium Anfang des Jahres einen ersten Ent-
wurf zur Änderung des Telemediendienstes vorlegen. Es
scheint einiges dafür zu sprechen, die zu klärenden Fra-
gen in einem größeren Vorhaben zur Änderung des Tele-
mediendienstes anzugehen. Die Große Koalition wird
sich hierzu Anfang des Jahres auf das weitere Vorgehen
verständigen. Die FDP-Fraktion hat nun einen eigenen
Gesetzentwurf zur Änderung des Telemediengesetzes vor-
gelegt. Er greift insbesondere die Frage der Störerhaf-
tung auf. Die von der FDP vorgetragenen Änderungsvor-
schläge werden wir eingehend prüfen. Insbesondere bei
den Regelungen zu Suchmaschinen und Hyperlinks er-
Zu Protokoll
scheint mir die Zielrichtung unterstützendswert. Anderer-
seits enthält der FDP-Entwurf allerdings auch eine Reihe
von Widersprüchlichkeiten und fragwürdigen Regelungs-
vorschlägen. So soll der Internetvermittler nur dann als
Störer haften, wenn der eigentliche Verursacher nicht
greifbar ist, andererseits aber auch nur dann, wenn gegen
den eigentlichen Störer ein vollstreckbarer Titel erwirkt
wurde. Hierdurch würde die Verhinderung einer Rechts-
verletzung beim Vermittler übermäßig erschwert.
An manchen Stellen macht es sich der FDP-Antrag
deshalb bezüglich der Abwägung der unterschiedlichen
Interessenlagen zu einfach, angesichts der komplexen
Problemlagen. Daher kann der Gesetzentwurf aus Sicht
der Koalitionsfraktionen insgesamt keine geeignete
Grundlage für eine Novellierung des Telemediengesetzes
sein. Bei allen Unterschieden im Detail hoffe ich aber
dennoch, wir können im Sinne des durchaus konstrukti-
ven Dialogs, den wir in dieser Sache pflegen, am Ende zu
Lösungen kommen, die von möglichst vielen Fraktionen
gemeinsam getragen werden. In diesem Sinne freue ich
mich auf die weiteren Diskussionen hierzu im nächsten
Jahr.
Im Antrag bleibt unklar, wer für die Kosten des Breit-
bandausbaus aufkommen soll. Er kann sich nicht ent-
scheiden zwischen öffentlichen und privaten Investitio-
nen der Unternehmen. Er verkennt die Fortschritte, die in
vielen Bereichen bereits erzielt wurden. Er enthält viele
falsche Darstellungen, beispielsweise die, dass im Kon-
junkturpaket II kein einziger Euro für den Breitband-
ausbau vorgesehen ist. Dabei ist es möglich, über das
kommunale Investitionsprogramm Mittel für den Infra-
strukturausbau abzurufen, die insbesondere auch für die
notwendige Verlegung von Leerrohren für den Glasfaser-
ausbau genutzt werden können.
Die Liste der Fehleinschätzungen und Fehlinforma-
tionen ließe sich problemlos verlängern. In Wirklichkeit
hat die Fraktion Die Linke keinen Breitbandantrag, son-
dern einen Schmalbandantrag vorgelegt.
Dies ist bedauerlich, zumal es um ein wichtiges Ziel
geht, nämlich zusätzliche Entwicklungschancen für den
ländlichen Raum, Wirtschaftswachstum und eine positive
Arbeitsmarktentwicklung. Diesen Zielen wird die Breit-
bandstrategie der Bundesregierung gerecht, nicht jedoch
dieser Antrag.
Wer wissen will, was wirklich in der Breitbandstrate-
gie steht, kann diese übrigens im Internet unter
www.zukunft-breitband.de abrufen, auch der Fraktion
Die Linke zur Lektüre empfohlen.
Rainer Brüderle (FDP):
In Deutschland muss die Breitbandtechnik flächende-
ckend nutzbar sein. Das ist auch unser politisches Ziel.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland
hängt nicht zuletzt von der Verfügbarkeit einer modernen
und zukunftsfähigen technischen Infrastruktur für Infor-
mations- und Kommunikationsdienstleistungen ab. Breit-
bandzugang ist mittlerweile nahezu unverzichtbar für
viele Bereiche wirtschaftlicher Wertschöpfung, aber auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25227
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Rainer Brüderle
für moderne Bildungsmethoden, elektronische Behörden-
dienstleistungen und politische Beteiligung.
Wir wollen keine digitale Spaltung. Wir wollen keine
dauerhaft weißen Flecken für schnelle Internetzugänge.
Wir wollen nicht, dass sich ländliche Räume weiter ent-
leeren, dass Unternehmen aus ländlichen Regionen in die
Ballungsgebiete abwandern, nur weil die Kommunika-
tionsinfrastruktur nicht stimmt. In dieser Frage gibt es
keinen Dissens.
Unterschiedlicher Auffassung sind wir aber sehr wohl
darüber, auf welche Weise wir dieses Ziel am besten ver-
wirklichen können. Die Linken wollen den Universal-
dienst auf Breitbandanschlüsse ausweiten. Abgesehen
davon, dass ein staatlicher Beschluss allein die An-
schlüsse nicht gleich überall verfügbar macht, ist das
auch der falsche Ansatz. Man kann doch nicht im Ernst
das Monopol der Deutschen Telekom zurückholen wol-
len. Sie scheinen vergessen zu haben, dass es der Wettbe-
werb war, der dafür gesorgt hat, dass die Preise fürs Te-
lefonieren drastisch gesunken sind. Nach Angaben der
Bundesnetzagentur haben sich die Nutzungsentgelte seit
der Liberalisierung für Sprachtelefonie um bis zu 97 Pro-
zent verbilligt. Es war der Wettbewerb, der dafür gesorgt
hat, dass wir nicht mehr mit den grauen Einheitstelefonen
vorliebnehmen müssen, dass sich neue Techniken schnell
durchsetzen konnten. Das verdanken wir den Wettbewer-
bern, den neuen Anbietern, die sich im Markt etabliert ha-
ben und Arbeitsplätze schaffen. Zurück zum Monopol
kann kein vernünftiger Mensch wollen. Deshalb sollten
wir auch beim Breitbandausbau den Wettbewerb der
Ideen und Techniken zum Zuge kommen lassen. Eine Uni-
versaldienstverpflichtung wäre von allen möglichen
Staatseingriffen die unwirtschaftlichste Option für diesen
sich ständig weiterentwickelnden Markt.
Wenn der Staat schon im Rahmen seiner Konjunktur-
programme viel Geld ausgibt, dann sollte es möglichst
sinnvoll verwendet werden. Das Geld auf kommunaler
Ebene für den Breitbandausbau zu verwenden, ist ohne
Zweifel sinnvoll. Aber statt zentrale Vorgaben zu machen,
sollten wir es den Kommunen überlassen, welche Technik
sie zweckmäßigerweise installieren lassen und mit wel-
chem Partner sie vor Ort zusammenarbeiten wollen. Ob
Glasfaserkabel, Funkfrequenzen, Powerline – also Inter-
net über Stromnetze – oder Satellit, es hängt nicht zuletzt
auch von der Beschaffenheit einer Region ab, was sich als
besonders günstig erweist, in technischer wie in wirt-
schaftlicher Hinsicht. Die noch stärkere Nutzung von Ko-
axial-, also Kabelfernsehnetzen verspricht für die Zukunft
eine spürbare Steigerung der Breitbandabdeckung.
Es gibt keine Technik, die das Problem der weißen Fle-
cken allein vollständig lösen kann. Es ist deshalb wenig
erfolgversprechend, nur bestimmte Unternehmen oder
Initiativen zum Breitbandausbau zu fördern. Die Politik
kann hier unterstützend wirken. Beispielsweise sollten die
freigewordenen Frequenzen aus der Digitalen Dividende
flexibel vergeben werden. Wer Arbeitsplätze schaffen und
erhalten will, sollte den kleinen und mittleren Unterneh-
men jetzt keine Wachstums- und Beschäftigungspoten-
ziale verbauen, der sollte auch Alternativen zum Glasfa-
serkabel eine Chance geben.
Zu Protokoll
Was jetzt nötig ist, damit die Investitionen schnell um-
gesetzt werden können, ist vor allem kompetente Bera-
tung der Kommunen, die die Investitionen in Auftrag ge-
ben sollen. Nicht nötig, sondern schädlich ist hingegen
die Bevormundung durch den Bund. Für die FDP gilt
auch in Zukunft: Abhängig von den geografischen, demo-
grafischen und sozioökonomischen Gegebenheiten soll
sich die jeweils kostengünstigste Technik durchsetzen.
Nur eine einzige Technik zu forcieren, lehnt die FDP ab.
Außerdem brauchen wir eine Marktaufsicht für Tele-
kommunikationsdienste, die dem schon entstandenen und
noch entstehenden Wettbewerb gerecht wird. Im Rahmen
einer Deregulierung der Endkundenmärkte muss die
nachträgliche Marktaufsicht gestärkt werden. Es ist be-
grüßenswert, wenn sich mehrere Unternehmen beim Aus-
bau der Breitbandinfrastruktur in bestimmten Gebieten
zusammentun. Hier muss das Bundeskartellamt aller-
dings sicherstellen können, dass solche gemeinsamen
Ausbauvorhaben nicht zu Kartellen führen, die andere
Anbieter unzumutbar von der Nutzung ausschließen.
Katrin Kunert (DIE LINKE):
Die Linke bringt das Thema Breitbandinternet im Ple-
num nicht zum ersten Mal zur Sprache. Unsere Vor-
schläge wurden bisher ignoriert. Das Ergebnis: Im Breit-
bandausbau in Deutschland tut sich viel zu wenig. Die
Aktivitäten der Bundesregierung zur Schließung der
Breitbandlücken sind bisher völlig unzureichend. Jetzt
kommt auch noch die Wirtschaftskrise dazu.
Wir sagen: Gerade jetzt wäre aber eine breit angelegte
Breitbandoffensive, die diesen Namen auch verdient, nö-
tig. So könnten Millionen Menschen den Zugang zum
schnellen Netz bekommen und zugleich Hunderttausende
Arbeitsplätze gesichert bzw. geschaffen werden.
Zur Erinnerung: Derzeit haben etwa 12 Millionen
Haushalte keinen Zugang zum schnellen Internetan-
schluss, legt man eine Übertragungsrate von 2 Megabit
pro Sekunde zugrunde. Das ist fast jeder dritte Haushalt.
Der Zugang zum Breitbandinternet ist für die Men-
schen aber dringend notwendig, um am gesellschaftli-
chen Leben teilzuhaben. Das können sie derzeit nicht in
allen Bereichen. Für die Menschen in unterversorgten
Regionen ist es nicht selbstverständlich, Nachrichten im
Internet zu verfolgen, Digitalfotos an entfernt lebende
Verwandte und Freunde zu schicken oder im Internet ein-
zukaufen.
Kleine und mittlere Unternehmen sind für ihre Ge-
schäftstätigkeit auf schnelle Internetanschlüsse angewie-
sen. Gerade ländliche Kommunen müssen eine zeitge-
mäße Infrastruktur vorweisen können, damit sich neue
Unternehmen ansiedeln. Das betrifft besonders die struk-
turschwachen Regionen in Ostdeutschland.
Um die digitale Spaltung zu überwinden, fordert die
Linke seit langem, Telekommunikationsunternehmen ge-
setzlich dazu zu verpflichten, schnelle Internetanschlüsse
in jedem Dorf und jeder Stadt zur Verfügung zu stellen.
Diese Forderung gewinnt vor dem Hintergrund der
heutigen Krise eine noch stärkere Bedeutung. Denn durch
25228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Katrin Kunert
einen breit angelegten Infrastrukturausbau könnten Ar-
beitsplätze gesichert und neu geschaffen werden.
Mit Interesse habe ich die MICUS-Studie gelesen, die
die Bundesregierung vor einiger Zeit selbst in Auftrag ge-
geben hatte. Diese von der MICUS GmbH ausgearbeitete
Studie befasst sich mit den gesamtwirtschaftlichen Aus-
wirkungen der Breitbandnutzung. Und sie stellt fest: Die
Beschäftigungseffekte durch den Breitbandausbau sind
deutlich positiv zu bewerten. Die Studie stellt heraus,
dass im Idealfall 265 000 neue Arbeitsplätze geschaffen
werden können. Bei weniger idealen Bedingungen geht
die Studie immer noch von 178 000 Arbeitsplätzen aus,
die bis 2010 geschaffen werden können. Nun ist die Studie
auch schon drei Jahre alt.
Hätte die Bundesregierung in der Vergangenheit auf
uns gehört, wären wir schon einige Schritte weiter. Union
und SPD sollten wenigstens klare gesetzliche Vorgaben
machen, statt auf die freiwilligen Aktivitäten der Telekom-
munikationsunternehmen zu setzen, und damit Beschäfti-
gung schaffen.
Mein Fazit ist: Die Umsetzung der Breitbandoffensive
der Bundesregierung zeigt bereits jetzt, dass es nicht dazu
kommen wird, dass alle Haushalte mit einem schnellen
Internetanschluss in den nächsten Jahren versorgt wer-
den. Dies ist nur möglich durch die Aufnahme des Breit-
bands in den Universaldienst, das heißt die gesetzlich ga-
rantierte Grundversorgung.
Damit können zwei Fliegen mit einer Klappe geschla-
gen werden: Menschen in den Gemeinden ohne Breit-
bandnetz können endlich am digitalen Leben teilhaben,
und der Netzausbau schafft Beschäftigung.
Einen Breitbanduniversaldienst einzuführen, ist wich-
tiger denn je. Nur so kann sichergestellt werden, dass die
Bundesregierung endlich von ihrem Irrweg abkommt und
den Weg frei macht für eine flächendeckende Breitband-
versorgung und mehr Beschäftigung in Zeiten der Krise.
Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
„Digitale Kluft schließen – Zehntausende Arbeitsplätze
sichern“ verhält es sich so: Die Analyse ist streckenweise
gelungen, im Gegensatz zu den daraus abgeleiteten For-
derungen.
Es ist richtig, dass die Bundesregierung auf dem Feld
des Breitbandausbaus weitestgehend beratungsresistent
ist. Selbst Studien, die von Ministerien der aktuellen Re-
gierung selbst in Auftrag gegeben wurden, scheinen nicht
in konkrete Politik umgesetzt zu werden. Vielmehr dienen
diese Studien nur dazu, die eigenen Lippenbekenntnisse
wissenschaftlich zu untermalen. So begründet das Bundes-
wirtschaftsministerium den Aktionismus der großspuri-
gen Breitbandinitiative der Bundesregierung mit wissen-
schaftlich prognostizierten Wachstumszahlen in Milliar-
denhöhe und Hunderttausenden von Arbeitsplätzen.
Leider bleibt die Strategie, dann auch weitestgehend
Strategie. Auch wenn die Notwendigkeit des Ausbaus der
Breitbandinfrastruktur gesehen wird und auch die ar-
beitsmarktpolitischen und wirtschaftlichen Effekte belegt
und bekannt sind, kann sich die Bundesregierung zu kei-
Zu Protokoll
ner ausgesprochenen Breitbandpolitik durchringen. Viel-
mehr wird im Konjunkturpaket II der Breitbandausbau
dann unter den allgemeinen Infrastrukturmaßnahmen
wie Straßenbau behandelt.
Die Folge dieser Verkündungspolitik ist, wie im Antrag
ganz richtig konstatiert, die verfestigte Spaltung der Re-
publik ohne baldige Aussicht auf Besserung. Auf der ei-
nen Seite sind die Bürgerinnen und Bürger, die sich über
einen schnellen, den aktuellen technischen Möglichkeiten
und Anforderungen entsprechenden Breitbandzugang
freuen dürfen. Auf der anderen Seite befindet sich der
analoge Rest, der mit veralteter Technik und unzumutba-
ren Up- und Download-Zeiten durch das weltweite Netz
kriecht. Von Surfen kann hier beim besten Willen nicht ge-
sprochen werden.
Diese Analyse entspricht unserer Ansicht nach weitge-
hend den Tatsachen. Kritisch sehen wir den Antrag der
Linken aber da, wo er die technische Umsetzung thema-
tisiert. Es ist sicherlich richtig, dass die Bundesregierung
bei ihrer Breitbandstrategie hauptsächlich auf den gro-
ßen Player, die Deutsche Telekom AG, gesetzt hat. Man
darf aber getrost davon ausgehen, dass die Euphorie der
Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsministers im
Besonderen weder von den Wettbewerbern noch von der
Deutschen Telekom AG unumwunden geteilt wurde und
wird. Von Anfang an war aus sämtlichen Vorstandsetagen
unter der Hand zu hören, dass die formulierten Ziele der
Breitbandstrategie, mindestens als ambitioniert, wenn
nicht gar als überambitioniert anzusehen sind.
Schon Anfang April stellt die Deutsche Telekom AG
den Breitbandausbau infrage und tritt damit den geregel-
ten Rückzug aus dem Breitbandprogramm der Bundesre-
gierung an. Auch wenn dieser mit den abgesenkten Teil-
nehmeranschlussgebühren begründet wurde, zeigt sich
doch nur allzu deutlich, was man in der Regierung noch
nicht ganz realisieren mag: Die Versorgung von bisher
unterversorgten Gebieten mit Breitbandzugängen ist al-
lein mit Fördergeldern und Strategiepapieren nicht zu
machen.
In diesem Zusammenhang explizit auf den Ausbau ei-
ner Glasfaserinfrastruktur setzen geht unserer Meinung
nach ebenfalls am Ziel vorbei. Letztlich ist die einseitige
Festlegung auf den Glasfaserausbau eine nur leidlich
verdeckte direkte Subventionsstrategie für ein einziges
Unternehmen. Die schnelle Glasfasertechnologie VDSL
wird ja in der Hauptsache von der Deutschen Telekom AG
betrieben. Das ist ein Unternehmen, das sich nach eige-
ner Aussage unter den gegebenen Umständen gar nicht in
der Lage sieht, die notwendigen Investitionen aufzubrin-
gen. Keines der beteiligten Unternehmen hat das wirt-
schaftliche Potenzial, den von der Regierung geforderten
Standards in der Versorgung der weißen Breitbandflecken
alleine gerecht zu werden, eine Tatsache, der sich die Te-
lekommunikationsunternehmen schon lange bewusst
sind. Die zunehmende Kooperation der Unternehmen bei
Ausbaumaßnahmen in unterversorgten Gebieten ist ein
deutliches Zeichen für dieses Bewusstsein. In diesem Zu-
sammenhang sollte man tatsächlich darüber nachdenken,
ob es nicht sinnvoll wäre, Anbieter und Netzstrukturen zu
entflechten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25229
gegebene Reden
25230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Grietje Staffelt
Hier fordert Die Linke konkrete staatliche Intervention
und vertritt die Position, dass die deutsche Breitbandin-
frastruktur doch besser verstaatlicht werden sollte. So-
lange dies aber noch nicht geschehen ist, hat der Staat
lenkend dafür zu sorgen, dass die privaten Netzbetreiber
den flächendeckenden Ausbau aus Gewinnen in Bal-
lungszentren finanzieren. Bei allem Verständnis für ihren
Ärger über den schleppenden Ausbau schneller Breit-
bandzugänge außerhalb der Metropolen, den Netzbetrei-
bern vorzuwerfen, sie würden ihre Gewinne nicht auch
für den Infrastrukturausbau im ländlichen Raum einset-
zen, ist überzogen. Auch wenn die Investitionen nicht im
gewünschten Maße getätigt werden, kann man sie nicht
einfach negieren.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt zwar
die grundsätzliche Forderung des Antrags der Linken, die
Bundesregierung auf ihr Versprechen bezüglich der
flächendeckenden Versorgung mit schnellen Internet-
anschlüssen festzulegen. Es ist auch unstrittig, die Bun-
desregierung aufzufordern, ihre bisherige Breitbandstra-
tegie den tatsächlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen
anzupassen. Aus den Versäumnissen aber perspektivisch
ein staatliches Netzmonopol abzuleiten, geht mir aller-
dings zu weit. Weder der Markt noch der Staat alleine
können das Allheilmittel für gesellschaftliche wie auch
wirtschaftliche und strukturelle Probleme sein. Ein staat-
lich kontrolliertes Netz garantiert noch lange nicht den
schnellen und flächendeckenden Ausbau einer Breit-
bandinfrastruktur in bisher unterversorgten Gebieten.
Um den raschen und zukunftsfähigen Zugang zu
schnellem Internet auch für bisher nichtversorgte Gebiete
zu gewährleisten, müssen staatliche wie private Initia-
tiven einander zuarbeiten. Die Politik muss einen ver-
nünftigen Rahmen setzen, der den Anforderungen der An-
bieter genauso gerecht wird wie den Bedürfnissen der
Nutzerinnen und Nutzer. Daher sollten verschiedene
Wege beschritten werden, um der digitalen Spaltung in
Deutschland entgegenzuwirken. Wir Grüne setzen in die-
sem Zusammenhang schon lange auf einen Technologie-
mix. Der Aufbau einer nachhaltigen Breitbandinfrastruk-
tur muss den jeweiligen Gegebenheiten gerecht werden.
Die strukturellen sowie wirtschaftlichen Bedürfnisse der
bisher unterversorgten Regionen müssen dabei beson-
dere Beachtung finden. Glasfaserleitungen sind nur eine
von vielen technischen Möglichkeiten und nicht in jedem
Fall die sinnvollste und kostengünstigste Lösung. Die
Möglichkeiten von Public-Private-Partnerships sollten
ebenfalls eingehend geprüft werden. Hier könnten Kom-
munen durch Anteile oder Beteiligungen kommunaler
Versorgungsunternehmen selbst zum Netzbetreiber wer-
den und damit aktiv eine eigene, regionale Infrastruktur-
und Wirtschaftsförderungspolitik betreiben.
Sollten aber solche Initiativen aus der Politik bei der
Wirtschaft nicht für die erwünschten Effekte sorgen, so ist
in diesem Zusammenhang auch die Aufnahme der Breit-
bandversorgung in den Katalog der Telekommunika-
tionsuniversaldienste in Erwägung zu ziehen, um mög-
lichst effektiv zur Auflösung der digitalen Spaltung zu
kommen. Eine anbieterunabhängige Universaldienstver-
pflichtung ist unserer Meinung nach aber nicht das allei-
nige Allheilmittel, sondern eher Ultima Ratio. Dieses be-
sondere Mittel der Politik sollte letztlich dann in
Erwägung gezogen werden, falls absehbar ist, dass auch
mit einer deutlich nachgebesserten Breitbandstrategie
die Bundesregierung die selbst gesetzten Fristen für die
flächendeckende, privatwirtschaftliche Breitbandinfra-
struktur nicht einhalten wird.
Das Problem der digitalen Spaltung ist viel zu wichtig
und von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Hier nur ei-
ner staatlichen oder privatwirtschaftlichen Lösung das
Wort zu reden, geht letztlich nur zulasten der Nutzerinnen
und Nutzer. Es muss eine Politik verfolgt werden, die in
der Lage ist, positive Marktanreize zu setzen, und sich ak-
tiv in die Förderung moderner Kommunikationstechnik
einbringt. Kernpunkte einer solchen Politik sind Techno-
logieneutralität, realistische Rahmen- und Zielsetzung,
transparente Fördermittel und da, wo notwendig, politi-
sche Intervention; eine Politik, die von Bündnis 90/Die
Grünen schon zu Beginn der Debatte um die Breitband-
unterversorgung vertreten wurde und auch weiterhin ver-
treten wird.
Wir stimmen dem Antrag der Linken, trotz einiger
Überschneidungen in der Problemanalyse, nicht zu.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12999 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
60 Jahre Europarat
– Drucksache 16/13375 –
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die Tätig-
keit des Europarats für die Zeit vom 1. Januar
bis 30. Juni 2008
– Drucksache 16/12858 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die Tätig-
keit des Europarats vom 1. Juli bis 31. Dezem-
ber 2008
– Drucksache 16/12859 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25231
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben – ich
gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind –:
Eduard Lintner, Renate Gradistanac, Johannes Pflug,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hakki Keskin und
Rainder Steenblock.1)
Tagesordnungspunkt 29 a. Wir kommen zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 16/13375 mit dem Titel „60 Jahre Europarat“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 29 b und 29 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
16/12858 und 16/12859 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines
… Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung
und Bestechlichkeit von Abgeordneten –
(… StrÄndG)
– Drucksachen 16/6726, 16/13436 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)
Zu Protokoll gegeben – Sie sind sicher damit einver-
standen – haben ihre Reden: Siegfried Kauder, Joachim
Stünker, Jörg van Essen, Wolfgang Nešković und Jerzy
Montag.2)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b so-
wie Zusatzpunkt 8 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re-
form der Sachaufklärung in der Zwangsvoll-
streckung
– Drucksache 16/10069 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13432 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
1) Anlage 33
2) Anlage 34
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger,
Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Zwangsvollstreckung beschleunigen – Gläubi-
gerrechte stärken
– Drucksachen 16/7179, 16/13432 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Internetversteigerung in der Zwangs-
vollstreckung
– Drucksache 16/12811 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 16/13444 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Hier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Andrea
Astrid Voßhoff, Dirk Manzewski, Mechthild Dyckmans,
Wolfgang Nešković, Jerzy Montag und Alfred
Hartenbach.3)
Tagesordnungspunkt 31 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Re-
form der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13432, den
Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates auf Drucksache
16/10069 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch die Koalition, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhält-
nis wie vorher angenommen.
3) Anlage 35
25232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Tagesordnungspunkt 31 b. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Zwangsvollstreckung beschleunigen –
Gläubigerrechte stärken“. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13432, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/7179 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die FDP-
Fraktion hat dagegen gestimmt. Die übrigen Fraktionen
haben dafür gestimmt.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
die Internetversteigerung in der Zwangsvollstreckung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/13444, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 16/12811 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen, die FDP und das Bündnis 90/Die
Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, erheben sich bitte. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung angenommen mit dem gleichen Stim-
menverhältnis wie vorher.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Müller-Sönksen, Jens Ackermann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Eigentumsfreiheit weltweit schützen
– Drucksachen 16/10613, 16/12981 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Christoph Strässer
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck (Köln)
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Holger
Haibach, Christoph Strässer, Florian Toncar, Michael
Leutert und Thilo Hoppe.
Holger Haibach (CDU/CSU):
Eigentumsfreiheit – darin kann man dem Antrag der
FDP nur zustimmen – ist ein wichtiges Gut und ein lange
Zeit unterschätztes Menschenrecht. Viele Beispiele welt-
weit zeigen, in welch gravierender Art und Weise dieses
wichtige Recht unterlaufen und verletzt wird. Da dies je-
doch ein sehr wichtiges Rechtsgut ist, sollten bei dessen
Durchsetzung vor allem der notwendige Ernst und die
notwendige Angemessen- und Ernsthaftigkeit an den Tag
gelegt werden. Sosehr im Allgemeinen die Ziele des FDP-
Antrags unterstützenswert sein mögen, so kann ich auf-
grund der Debatte zur Einbringung des Antrags und der
Einlassungen des Kollegen Müller-Sönksen aus der
FDP-Fraktion genau diese Angemessen- und Ernsthaf-
tigkeit eben nicht erkennen.
Mit Genehmigung des Präsidenten möchte ich den
Kollegen mit seiner Begründung zu diesem Antrag in der
Debatte am 5. März 2009 zitieren. Er führte aus: „Kom-
men wir nun zu einem leider gerade in Deutschland völlig
unerwartet infrage gestellten Menschenrecht, einem nach
unserer Verfassung geschützten Grundrecht …“. Und
weiter: „In diesem Geiste fordert die FDP-Bundestags-
fraktion mit dem Antrag „Eigentumsfreiheit weltweit
schützen“ dieses Hohe Haus zu einem klaren Bekenntnis
auf. Dass das überhaupt nötig ist, zeigen uns die aktuellen
Pläne der Regierung in dieser Finanzkrise.“ Im Hinblick
auf ebendiese Finanzkrise schloss der Kollege Müller-
Sönksen seine Ausführungen mit den Worten: „Ein Ent-
eignungsgesetz ist nach meiner Auffassung schlicht de-
mokratiegefährdend.“
Und genau hier liegt der Grund, warum wir als CDU
und CSU diesem Antrag nicht zustimmen können. Wer die
Debatte um die Rettung systemrelevanter Unternehmen
im Rahmen der Finanzkrise und die sich daraus ergeben-
den Maßnahmen in einen Zusammenhang stellt mit staat-
lichen Enteignungsmaßnahmen in Russland, China oder
Venezuela – die nach deutschem Recht undenkbar wären –
dessen Verhalten legt nur zwei Motivationen nahe. Ent-
weder werden hier unwissentlich Äpfel mit Birnen vergli-
chen – das wäre allerdings ein Armutszeugnis für die An-
tragsteller –, oder dieser Antrag ist wissentlich in diesem
Sinne und in diesem Zusammenhang entstanden. Dann
allerdings ginge es nicht mehr um den absolut sinnvollen
weltweiten Eigentumsschutz, sondern darum, ein wichti-
ges Menschenrecht innenpolitisch missbräuchlich zu ver-
wenden. Und beides wäre jedenfalls nicht hinnehmbar.
Wenn man wieder zum eigentlichen Kern des Eigen-
tumsschutzes zurückkehrt, so stellt die FDP in ihrem An-
trag viele wichtige Forderungen. Allerdings erfüllt die
Bundesregierung viele der hier aufgeführten Forderun-
gen bereits. Auch in dieser Hinsicht ist der Antrag obso-
let.
Das Phänomen der Verletzung des Eigentumsschutzes
und der Eigentumsfreiheit gewinnt jenseits des heute vor-
liegenden Antrags allerdings leider weltweit immer mehr
an Bedeutung. Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen be-
finden sich viele Staaten mit ehemalig kommunistischer
Staatsform in einem schwierigen Transformationspro-
zess. Dieser bringt es mit sich, dass der Übergang von
Staats- und Gemeineigentum auf privates Eigentum in ei-
nem möglichst rechtsstaatlichen Verfahren gewährleistet
werden muss. Das führt dazu, dass in manchen, vor allem
postsowjetischen Staaten, zwar Bürgerinnen und Bürger
Häuser und Wohnungen kaufen können, dass aber der Be-
sitz von Grund und Boden nur beschränkt oder gar nicht
möglich ist. Wenn dies dann noch mit einem nicht funk-
(A) (C)
(B) (D)
Holger Haibach
tionierenden Rechtssystem einhergeht, das politisch ge-
steuert ist, wird der quasi-offiziellen und quasi-staat-
lichen Enteignung Tür und Tor geöffnet.
Ähnliche Phänomene gilt es da zu beobachten, wo
Staaten zur Durchführung größerer Projekte im Bereich
der Infrastruktur oder zur Gewinnung von Ressourcen
Menschen in großer Zahl umsiedeln oder heimatlos ma-
chen, und dies ohne eine wie auch immer geartete hinrei-
chende Bürgerbeteiligung oder die Möglichkeit, den Kla-
geweg zu beschreiten. Hierfür ließen sich viele Beispiele
anführen, wie etwa die massenhafte Umsiedlung von
Menschen zum Bau der olympischen Sportstätten in
China oder mehrere Staudammprojekte in Asien.
Und schließlich lässt sich besonders in Südamerika in
einigen Staaten wie etwa Venezuela eine Tendenz zur Ver-
staatlichung sogenannter Schlüsselindustrien beobach-
ten; dies geschieht unter dem Deckmantel des Ausgleichs
sozialer Ungleichheiten und des Aufbaus gerechterer Ge-
sellschaften. Diese kaum als rechtsstaatlich zu bezeich-
nenden Maßnahmen sind Mittel solcher Machthaber wie
Präsident Hugo Chávez, mit denen sie ihre mehr als „ro-
busten“ Methoden der Staatsführung decken.
Alles in allem lässt sich also feststellen: Der Antrag
der FDP ist insofern berechtigt, als das Recht auf Eigen-
tum vielerorts gefährdet ist. Die Gründe hierfür sind viel-
fältig. Ein Weiteres lässt sich hierbei feststellen: Staaten,
in denen ohnehin menschenrechtliche und rechtstaatliche
Defizite herrschen, haben auch sehr häufig Defizite beim
Eigentumsschutz.
Daraus lässt sich auch erkennen, dass einer der besten
Wege, Eigentum und das Recht darauf zu schützen, darin
besteht, die jeweiligen nationalstaatlichen Rechtssysteme
zu stärken. Und gerade hierbei geht die Bundesrepublik
mit gutem Beispiel voran, wie etwa der deutsch-chinesi-
sche Rechtsstaatsdialog deutlich macht. Zu erwähnen ist
an dieser Stelle auch das wichtige Engagement der poli-
tischen Stiftungen in diesem Bereich.
Eigentumsschutz kann nur in einer Gesellschaft gedei-
hen, die Eigentum als einen Wert per se anerkennt. Des-
halb muss der erste Schritt zur Verbesserung in diesem
Bereich sein, das Recht auf Eigentum und die Unverletz-
lichkeit dieses Rechts zu einem gesellschaftlichen Allge-
meingut zu machen. Hierfür bedarf es vor allem in Staa-
ten, die zuvor einer anderen Philosophie anhingen, einer
umfangreichen Wandlung nicht nur im Regierungshan-
deln und im rechtstaatlichen System, sondern auch im
Denken der gesamten Gesellschaft. Dass dieses Denken
mancherorts durchaus erwachsen kann, zeigt das Bei-
spiel der Charta 08 in China, jenes Menschenrechtsdoku-
ments, das nicht nur von bekannten Regimekritikern, son-
dern auch von Menschen gezeichnet wurde, denen es
darum ging, ihr Eigentum an Wohnraum zu schützen.
Hier zeigt sich eine interessante Parallele auch zur
Geschichte der politischen Partizipation in unserem
Lande: In dem Maße, in dem das Bürgertum im 19. und
frühen 20. Jahrhundert wirtschaftliche Macht und damit
auch Eigentum erwarb, entstand daraus der Wunsch in
dieser Schicht nach größerer Teilhabe an politischen Ent-
scheidungsprozessen. Insofern scheint eine gewisse Inte-
Zu Protokoll
ressenparallelität zwischen Eigentum und Selbstbe-
stimmtheit zu herrschen.
Aus diesem Grund ist der Antrag der FDP richtig und
das Thema der intensiven Beratung wert. Da aber die
Forderungen zum großen Teil überholt und die Motiva-
tion zumindest zweifelhaft ist, können wir dem Antrag
nicht zustimmen.
Christoph Strässer (SPD):
„Eigentum ist eine Frucht von Arbeit. Eigentum ist
wünschenswert, ein positives Gut in der Welt. Dass einige
reich sind, zeigt, dass andere reich werden können, und
das ist wiederum eine Ermutigung für Fleiß und Unter-
nehmensgeist.“ In diesem Zitat von Abraham Lincoln
steckt viel Wahres drin. Aber es ist eben auch nur die
halbe Wahrheit – höchstens.
Der Antrag der FDP irritiert durch ein überhöhtes ei-
gentumsorientiertes Gesellschaftsbild, das die Dimen-
sion der sozialen Verantwortung praktisch gänzlich aus-
blendet. Auch fehlt der Blick hinter die Kulissen. Wie ist
Eigentum entstanden, auf wessen Kosten, und ist es recht-
mäßig erworben worden? In diesem Zusammenhang ent-
hält der Antrag zusätzlich einige problematische Einzel-
und Länderbeispiele, die nicht unkommentiert bleiben
können.
In ihrem Antrag nähert sich die Fraktion der FDP den
Themen Eigentumsfreiheit, Eigentumsschutz und Eigen-
tumsbildung aus verschiedenen Richtungen. Ein Schwer-
punkt liegt in der Schilderung von Gefahren für den
Eigentumsschutz. Dabei stellt die Fraktion der FDP ver-
schiedene Forderungen an die Bundesregierung, die da-
rum kreisen, sich auf internationaler Ebene verstärkt für
den Eigentumsschutz einzusetzen.
Neben dem Völkergewohnheitsrecht, welches die Ei-
gentumsfreiheit in ihren Grundlagen garantiert, ist der
Schutz des Eigentums im Völkerrecht an verschiedenen
Stellen positiv verankert. Art. 17 der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte betont das Recht auf Eigentum
und verbietet willkürliche Enteignungen. Sowohl die
Europäische Menschenrechtskonvention – Art. 1 Satz 1
Zusatzprotokoll der EMRK –, die Afrikanische Charta
der Menschenrechte und der Rechte der Völker als auch
die Amerikanische Menschenrechtskonvention enthalten
Regelungen zum Schutz von privatem Eigentum. Die
Charta der Grundrechte der Europäischen Union garan-
tiert in Art. 17 ebenfalls ein umfassendes Eigentumsrecht.
Es bestehen somit auf internationaler Ebene bereits
umfangreiche Regelungen zum Schutz von Eigentum.
Gleichwohl ist es jedenfalls nicht falsch, den Eigentums-
schutz auch noch im Internationalen Pakt über bürgerli-
che und politische Rechte zu verankern. Es darf keine
Schutzlücken geben.
In den letzten Jahren stand das Recht auf Eigentum
nicht im Zentrum menschenrechtspolitischer Debatten.
Das Anliegen der FDP-Fraktion, dieses Recht einmal in
den Mittelpunkt zu stellen, ist somit nachvollziehbar und
durchaus berechtigt – leider in vielen Punkten aber zu un-
differenziert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25233
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Christoph Strässer
Ich möchte dem Antrag insoweit beipflichten, als die
Eigentumsgarantie ohne Zweifel ein wesentliches Ab-
wehrrecht des Bürgers gegenüber dem Staat darstellt.
Ganz ohne Zweifel ist die Eigentumsgarantie ein wesent-
liches Freiheitsrecht unserer Gesellschaft und als solches
im Grundgesetz auch fest verankert. Gleichwohl steht in
Art. 14 Abs. 2 unserer Verfassung, dass Eigentum auch
verpflichtet und der Gebrauch zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen soll. Art. 14 Abs. 2 ist Ausdruck ei-
ner Werteorientierung, derer wir uns besinnen sollten,
wenn wir über eine weltweite Eigentumsfreiheit diskutie-
ren. Nach dieser Werteordnung sind gemäß Art. 14 Abs. 3
in Verbindung mit Art. 15 GG unter den dort genannten
Voraussetzungen auch Enteignungen zulässig und fallen
damit nicht aus dem Rahmen unseres Wertesystems. Da-
bei ist richtig, dass Enteignungen nicht als Druckmittel
der Politik salonfähig werden dürfen. Nur als Ultima Ra-
tio und in Verbindung mit einer angemessenen Entschä-
digung können Enteignungen von legal erworbenem Ei-
gentum rechtmäßig sein.
Die Eigentumsfreiheit muss geschützt werden, und das
weltweit. Aber bestehende Eigentumsverhältnisse welt-
weit kritiklos anzuerkennen, wird dieser sozialen Werte-
orientierung nicht gerecht. Ungleiche Eigentumsvertei-
lung wie zum Beispiel das dramatische Missverhältnis
von riesigem Landbesitz weniger Großgrundbesitzer und
minimalem oder keinem Landbesitz unzähliger Bauern in
Lateinamerika ist ebenso wenig Thema im Antrag wie die
soziale Verantwortung, die sich aus Eigentum ergibt.
Im Antrag findet sich die Aussage, dass durch bewaff-
nete Konflikte herbeigeführte Enteignungen vielfach zu
einem substanziellen Hindernis für eine stabile Friedens-
ordnung würden. Für sich stehend unterstütze ich selbst-
verständlich diese Aussage. Aber die FDP vergisst, einen
Schritt weiter zu gehen und diesen logischen Gedanken-
gang zu Ende zu führen. In einer Gesellschaft mit gerecht
– was nicht bedeuten muss gleich – verteiltem Eigentum
ist die Eigentumsfreiheit ein Grundpfeiler für Stabilität.
Gleichwohl gilt der Umkehrschluss und ist auf der ganzen
Welt zu beobachten: In Gesellschaften, in denen Eigen-
tum in der Vergangenheit massiv ungerecht verteilt
wurde, kann diese gefühlte und tatsächliche Ungerechtig-
keit noch nach Jahrzehnten zu Instabilitäten führen.
Die sozialen Unruhen in Südamerika sind auch Aus-
druck eines massiven Unrechtsempfindens der Bevölke-
rungen dieser Staaten. Dies äußert sich auch in der Wahl
stark sozialistisch orientierter Präsidenten. Ohne in eine
Geschichtsstunde abschweifen zu wollen, muss daran
erinnert werden, dass viele der in den Staaten Süd- und
Mittelamerikas angesiedelten großen Konzerne ihren
Landbesitz und Machtbereich in der Vergangenheit un-
rechtmäßig und durch die Unterstützung ausländischer
Regierungen ausgedehnt haben. Von der Wertschöpfung,
die diese Unternehmen aus den Ressourcen der Regionen
zogen, blieb kaum etwas in den Staaten zurück. Somit
lebte der Großteil der Bevölkerungen in Armut – und tut
es heute noch – während sich ausländische Großkonzerne
bereicherten. Gleiches gilt im Übrigen für Teile Afrikas,
in denen Farmer auf ihnen in Kolonialzeiten zugeteilten
Gebieten leben und wirtschaften. Es scheint mir nicht
Zu Protokoll
verwunderlich zu sein, dass es in solchen Gegenden der
Welt immer wieder zu sozialen Unruhen kommt.
Was um der Gerechtigkeit willen angestrebt werden
muss, ist ein fairer Interessenausgleich. Wenn wir ernst-
haft für Menschenrechte weltweit eintreten wollen, dann
brauchen wir Eigentumsschutz, faire Chancen auf Eigen-
tum und verantwortliches Handeln mit Eigentum. Wenn
die FDP-Fraktion in ihrem Antrag staatliche Eingriffe in
die Rechtspositionen von Energieunternehmen in Süd-
amerika anprangert, dann muss auch der Perspektive der
Restbevölkerung Rechnung getragen werden. Sich einsei-
tig und undifferenziert auf die Seite der Privatwirtschaft
zu stellen, ist zu kurz gesprungen. Wenn in diesem Antrag
von Enteignungen von Konzernen und Farmern gespro-
chen wird, dann muss auch gleichzeitig das Problem des
dramatischen Missverhältnisses von riesigem Landbesitz
weniger Großgrundbesitzer und dem minimalen oder
nicht bestehenden Landbesitz unzähliger Bauern in La-
teinamerika angesprochen werden.
Letztes Beispiel: Geradezu verharmlosend werden das
Verhalten militanter jüdischer Siedler und die Siedlungs-
politik Israels dargestellt. Die systematische Errichtung
illegaler Siedlungen auf palästinensischem Boden, der
teilweise mehrfach erfolgte Abriss von Häusern palästi-
nensischer Bauern, die Abholzung alter palästinensi-
scher Olivenhaine oder die konkrete Grenzziehung des
Schutzzauns stellen massive Verletzungen des Schutzes
von Eigentum dar. Es wäre besser gewesen, auf das Bei-
spiel „Palästina“ ganz zu verzichten, als aus Rücksicht-
nahme den eigenen Antrag ad absurdum zu führen.
Abschließend möchte ich noch einmal ausdrücklich
betonen, dass ich mich für eine weltweite Garantie der
Eigentumsfreiheit einsetze. Das Recht auf Eigentum ist
ein fundamentales Menschenrecht. Viele Forderungen
des Antrags halte ich daher für durchaus berechtigt und
diskutabel. Aber aus Eigentum ergibt sich eine soziale
Verantwortung. Es gibt Missstände in der Welt, die wir
nicht einfach unkommentiert lassen können. Ich verlange
nicht nur den Schutz des Eigentums weltweit, sondern
auch das Eintreten für die soziale Verantwortung, die sich
aus Eigentum ergibt. Unternehmen und Privatpersonen,
die in großem Maße Eigentum besitzen, sind auch auf be-
sondere Weise verpflichtet, die Einhaltung von Men-
schenrechten zu beachten. Und wenn sie dieser Verpflich-
tung nicht nachkommen, dann müssen wir das kritisieren
können.
Dieser Aspekt kommt nicht nur zu kurz im Antrag, er
fehlt quasi vollständig. Die Eigentumsgarantie und die
soziale Verpflichtung und Verantwortung, die sich daraus
ergeben, stehen in einem untrennbaren Zusammenhang.
Beide Gesichtspunkte sind zwei Seiten ein und derselben
Medaille. Es ist zu kurzsichtig, nicht beide Seiten zusam-
menhängend zu betrachten. Gerade auch deshalb lehnen
wir den Antrag aus guten Gründen ab.
Florian Toncar (FDP):
Spätestens seit der unsäglichen Diskussion um Enteig-
nungen ist auch in Deutschland ein Thema in den Vorder-
grund gerückt, das in anderen Staaten bereits seit langem
25234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Florian Toncar
Gegenstand unterschiedlicher Konflikte ist. Es handelt
sich um die Eigentumsfreiheit.
Lassen Sie mich mit einigen grundsätzlichen Überle-
gungen zur Eigentumsfreiheit beginnen: Die Eigentums-
freiheit ist ein eigenständiges Recht. Es bestimmt maß-
geblich den Charakter einer Gesellschaft und die Stellung
des Einzelnen im Gemeinwesen. In Deutschland ist der
Schutzbereich durch Art. 14 Grundgesetz geregelt. Das
Bundesverfassungsgericht hat in umfassender Rechtspre-
chung die Funktion des Eigentums konkretisiert. Danach
kommt der Eigentumsgarantie im Gesamtgefüge der
Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grund-
rechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Be-
reich zu ermöglichen. Eigentum ermöglicht es dem Bür-
ger also, auf materiell gesicherter Basis selbstbewusst
dem Staat entgegenzutreten. Der Schutz des Eigentums
vor staatlichen Eingriffen sowie vor unberechtigten Ein-
griffen durch private Dritte ist daher eine Kernaufgabe
des Staates zur Wahrung der Menschenrechte seiner Bür-
ger. Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass die
FDP als einzige Fraktion im Deutschen Bundestag sich in
dieser Form ohne Wenn und Aber für den Schutz des Ei-
gentums starkmacht.
Dem vorliegenden Antrag ist zu entnehmen, dass die
Eigentumsfreiheit in zahlreichen internationalen Verträ-
gen sowie im Europarecht verankert ist. Die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte ist trotz ihrer rechtlichen
Unverbindlichkeit eine starke moralische Legitimation
dieses Menschenrechts. Daneben decken zahlreiche Men-
schenrechtsabkommen unterschiedliche Einzelaspekte
der Eigentumsfreiheit ab. Ebenso sehen regionale Men-
schenrechtskonventionen den Schutz des Eigentums vor.
In der EU schützt die Charta der Grundrechte das Eigen-
tum in Art. 17.
Was jedoch bisher fehlt, ist ein umfassender, rechtlich
verbindlicher Schutz der Eigentumsfreiheit im Rahmen
eines der VN-Menschenrechtsabkommen. Daher fordert
die FDP in ihrem Antrag, dass sich Deutschland gemein-
sam mit den europäischen Partnern auf Ebene der Verein-
ten Nationen für ein Zusatzprotokoll zum VN-Zivilpakt
einsetzt, das den Schutz des Eigentums vor unberechtig-
ten Eingriffen durch private Dritte oder den Staat garan-
tiert und angemessene Entschädigung im Falle von Ent-
eignungen vorschreibt.
Ein solches internationales Bekenntnis zur Eigentums-
freiheit ist leider bitter nötig. Denn in vielen Staaten wird
das Eigentum der Bürger auf unrechtmäßige Weise ver-
letzt. Bewaffnete Konflikte und Kriege führen stets zu er-
heblichen Beschädigungen des Eigentums der ansässigen
Bevölkerung. Ein Beispiel ist die sudanesische Konflikt-
region Darfur, wo nicht nur Hunderttausende Menschen
von der Regierung und den mit ihr verbündeten Milizen
getötet wurden. Durch systematische Zerstörungen und
durch Raubüberfälle wird den Bewohnern die materielle
Existenzgrundlage entzogen. Es bleibt nur die Flucht in
von Hilfsorganisationen eingerichtete Lager. Das Land
mit der höchsten Zahl an Binnenvertriebenen ist Kolum-
bien, wo Guerillas und paramilitärische Gruppen Teile
der Landbevölkerung von ihrem Land vertrieben haben
und dieses für die Produktion von Drogen nutzen.
Zu Protokoll
Zerstörtes oder enteignetes Eigentum kann sich nach
der Beendigung von Konflikten zu einem Hindernis auf
dem Weg einer stabilen Friedensordnung entwickeln. Es
gilt zu klären, inwiefern zerstörtes oder enteignetes Ei-
gentum zurückerstattet oder ersetzt werden kann. Falls
dies nicht möglich ist, müssen andere Formen der Ent-
schädigung gefunden werden. Dies kann von finanziel-
len Wiedergutmachungen bis hin zu symbolischen
Entschädigungen in Form von Gedenkstätten oder öf-
fentlichen Gesten der Anerkennung erlittener Schädi-
gungen reichen.
Wie wichtig die Eigentumsfreiheit als Abwehrrecht ge-
gen staatliche Eingriffe ist, wird deutlich, wenn autori-
täre Regime ihre Gegner durch Enteignung gängeln. Es
ist ein bei Diktatoren beliebtes Muster, Mitgliedern der
Opposition die wirtschaftliche Existenz zu entziehen, um
Widersacher gefügig zu machen. Ein krasses Beispiel aus
dem Jahr 2005 ist die Vertreibung von 700 000 Menschen
aus ihren Behausungen in Simbabwe im Zuge einer Kam-
pagne mit dem zynischen Titel „Clear the Filth“. Der Ty-
rann Robert Mugabe schikanierte so ganz gezielt Men-
schen, die er mehrheitlich der Opposition zurechnete.
In Venezuela eignet sich die Regierung nach und nach
Schlüsselindustrien an und beschneidet die Pressefreiheit
durch den Entzug von Fernseh-Sendelizenzen. In Russland
findet dieser Tage bereits der zweite Prozess gegen den
ehemaligen Unternehmer Michail Chodorkowski statt. Er
hatte sich politisch betätigt und zog sich so den Zorn des
Kremls zu. In der Folge wurde der von Chodorkowski ge-
leitete Yukos-Konzern zerschlagen, Chodorkowski enteig-
net und unter fadenscheinigen Vorwänden zu langjähri-
ger Gefängnishaft verurteilt.
Die Bundesregierung muss derartige Verstöße an-
prangern. Dazu müssen unter anderem die deutschen
Auslandsvertretungen über Verletzungen der Eigentums-
freiheit berichten. Der Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung muss eine Liste von Staaten, die gegen
das Recht auf Eigentum verstoßen, erstellen.
Eine weitere Gefahr für die Eigentumsfreiheit besteht
durch unberechtigte Eigentumsverletzungen durch pri-
vate Dritte. Im Zuge raschen Wirtschaftswachstums bei
gleichzeitig schwachen rechtsstaatlichen Strukturen
kommt es in vielen asiatischen Ländern wie China wie-
derholt zu Enteignungen von Landbesitzern durch private
Investoren. Die von ihrem Land verdrängte Bevölkerung
hat kaum Aussicht, durch rechtliche Schritte erfolgreich
gegen Übergriffe auf ihr Land und Hab und Gut vorzuge-
hen.
Um derartige Verstöße gegen die Eigentumsfreiheit
zurückzudrängen, muss Deutschland diesen Staaten Un-
terstützung beim Aufbau einer effektiven Polizei und
eines funktionierenden Gerichtswesens anbieten. Gege-
benenfalls sollte Deutschland auch Hilfe bei Gesetz-
gebungsprozessen in den Bereichen Sachenrecht,
Grundbuchwesen, Staatshaftungsrecht oder Entschädi-
gungsregelungen leisten. Daneben zeigt der Antrag noch
weitere Maßnahmen zum weltweiten Schutz der Eigen-
tumsfreiheit auf.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25235
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Florian Toncar
Insgesamt muss die Bundesregierung die Eigentums-
freiheit deutlich stärker als bisher in den Blickpunkt ihrer
Politik rücken. Ich freue mich, dass wir Liberalen mit un-
serem Engagement für den Schutz des Eigentums einen
Akzent setzen. Für uns ist das Eigentum kein notwendiges
Übel, das zu akzeptieren ist, sondern Grundvorausset-
zung zur Entfaltung von Freiheit und Wohlstand einer Ge-
sellschaft. Als solches stellt der Schutz des Eigentums ei-
nen überragenden rechtlichen und moralischen Wert dar,
zu dem wir uns klar bekennen.
Michael Leutert (DIE LINKE):
Dieser Antrag der FDP ist bemerkenswert. Halten wir
uns eines vor Augen: Wir befinden uns inmitten der
schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren. Diese Krise
wurde von einem zügellosen Kapitalismus verursacht und
bringt massive soziale Folgen mit sich. Angesichts dieser
Folgen hat Amnesty International jüngst vor den Gefah-
ren für die Menschenrechte aufgrund der Wirtschafts-
krise gewarnt. Und die FDP hat hier und heute keine an-
deren Sorgen, als den weltweiten Schutz des Eigentums
als drängendes menschenrechtliches Problem behandeln
zu wollen. Meine Damen und Herren von der FDP, dies
offenbart ein Ausmaß an ideologisch bedingter Loslö-
sung von der Realität, das mir das letzte Mal 1989 in der
DDR begegnet ist.
Man könnte Ihnen einen gewissen Sinn für Satire zu-
billigen, wenn Sie in dem Antrag schreiben: „Eigentum
ist der Ausdruck unmittelbarer Verantwortung für eine
Sache, aber auch das Ergebnis einer Lebensleistung und
der Ertrag jahrelanger Arbeit.“ Angesichts der gegen-
wärtigen Wirtschaftskrise und ihrer Verursacher kann
man diesen Satz beinahe als die Aufforderung der FDP
für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums
verstehen.
Doch lassen wir die Polemik beiseite, auch wenn es Ihr
Antrag nicht verdient. Selbstverständlich ist der Schutz
des persönliches Eigentums ein wichtiges Menschen-
recht. Dahinter steht die Einsicht, dass die Freiheit der
Person ohne den Schutz des persönlichen Eigentums eine
unerfüllte und unerfüllbare Phrase bleibt. Leider reicht
das Vorstellungsvermögen des heutigen politisch organi-
sierten Liberalismus nicht mehr zu der eigentlich nahe
liegenden Folgerung aus, dass die Freiheit der in einer
Gesellschaft zusammenlebenden Individuen offenbar
auch von der Verteilung des Eigentums abhängt.
Nur um Verdächtigungen vorzubeugen: Das ist keine
sozialistische These, sondern eine liberal-republikani-
sche. Dass dieser Gedanke auch in der FDP einmal eine
Rolle spielte, entnehme ich den Freiburger Thesen:
Wo Ziele liberaler Gesellschaft durch den Selbst-
lauf der privaten Wirtschaft nicht erreicht werden
können, wo somit von einem freien Spiel der Kräfte
Ausfallserscheinungen oder gar Perversionsten-
denzen für die Ziele liberaler Gesellschaft drohen,
bedarf es gezielter Gegenmaßnahmen des Staates
mit den Mitteln des Rechts.
Und weiter heißt es dort:
Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtli-
chen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur
Zu Protokoll
Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen
immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur
Konzentration des privaten Eigentums an den Pro-
duktionsmitteln in wenigen Händen.
Wenn die Form fortschreitender Kapitalakkumulation
die Freiheit bedroht, dann ist der Staat also auch berech-
tigt, dagegen etwas zu tun.
Natürlich glaubt einem heute kein Mensch mehr, dass
die FDP so etwas je für gut befunden haben soll. Und der
vorliegende Antrag zeigt, dass die FDP heute auch weit
davon entfernt ist, an diese Dimension liberalen Denkens
anschließen zu wollen.
Was uns der organisierte Liberalismus heute anbietet,
ist eine Mischung aus bescheidener Aufklärung über Tri-
vialitäten und ziemlichen Frechheiten. Ein Beispiel für
Triviales. Sie schreiben: „Hinter jeder juristischen Per-
son eines Unternehmens stehen die natürlichen Personen
von Eigentümern, die mit dem Unternehmen verbunden
sind.“ Allein deshalb soll für den Enteignungsfall gelten:
„Solche Eingriffe sind geeignet, den Weg in einen Will-
kürstaat zu ebnen, der sich nach Belieben der Rechte sei-
ner Bürger bemächtigt.“ Das ist ja einmal eine richtig
starke These, die Sie sich da ausgedacht haben. Vielleicht
sollte sich der Staat jeder Handlung enthalten, welche die
Rechtspositionen von Individuen verändert. Liberalismus
bedeutet dann aber den Verzicht auf jede Politik.
Wo das Übel auf der Welt gerade am größten ist, daran
lässt die FDP keinen Zweifel: „Die staatlichen Eingriffe
in die Rechtspositionen von Energieunternehmen in Vene-
zuela, Ecuador oder Bolivien waren besonders schäd-
lich.“ Der Gedanke der Freiburger Thesen ihrer Partei,
dass die Spontaneität der Märkte nicht ohne Weiteres
wünschenswerte Resultate für ein emanzipiertes Leben
hervorbringt, wird nicht einmal erwogen. Gewisserma-
ßen ohne Luft zu holen, riskieren Sie anschließend einen
Übergang von der Nationalisierung von Energieressour-
cen, für die es ja gute Gründe geben könnte, zur Medien-
zensur, die natürlich unter anderem auch durch Enteig-
nung geschehen kann. Aber was bitte hat das eine mit dem
anderen zu tun? Ich muss schon sagen: Mehr als üble ar-
gumentative Trickserei ist das nicht.
Ihr Problem, meine Damen und Herren von der FDP,
ist, dass es Ihnen gar nicht um eine umfassende Erörte-
rung des Menschenrechts auf Schutz des Eigentums geht.
Dann müssten Sie auch ernsthaft über die Verantwortung
von Eigentum reden. Ihnen geht es, wenn Sie von weltwei-
tem Schutz des Eigentums sprechen, darum, Ihre hiesige
Klientel zu befriedigen und insbesondere die CDU etwas
vor sich herzutreiben. Dabei kommt dann eben ein sol-
cher Antrag heraus, der komplett überflüssig und noch
dazu schlecht formuliert ist und dem meine Fraktion
selbstredend nicht zustimmen wird.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eigentumsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie ist vom Grund-
gesetz und auch vom internationalen Völkerrecht ge-
schützt. Es ist deshalb richtig, einzuschreiten und es zu
benennen, wenn die Eigentumsfreiheit verletzt wird. Da
wir diese Ansicht teilen, werden wir den Antrag nicht ab-
lehnen. Wir werden uns enthalten, da der Antrag zum ei-
nen eine wilde Zusammenstellung von Themen ist und
25236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25237
(A) (C)
(B) (D)
Thilo Hoppe
zum anderen den Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet,
nicht würdigt. Der Zeitpunkt des Antrages der FDP
kommt sicherlich nicht von ungefähr und erinnert ein we-
nig an das von Klaus Staeck entworfene ironische Bun-
destagswahlplakat von 1972: „Deutsche Arbeiter! Die
SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Es soll
wohl der Eindruck entstehen, dass nur die FDP den
Schutz der Eigentumsfreiheit gewährleisten kann.
Es scheint nicht, als seien die Herausforderungen
durch die Nichtgewährleistung der Eigentumsfreiheit
weltweit das Hauptanliegen des Antrages, obwohl der
Antrag eigentlich nur dort sein Anliegen entfalten kann.
Denn für den Schutz des Eigentums in Deutschland und
Europa braucht es keinen Einsatz der FDP. Dieser Schutz
ist zu Recht im Grundgesetz und anderen Rechtsvor-
schriften festgeschrieben. Es verwundert dann auch
nicht, wenn in dem recht langen Antrag der FDP zwar
über ganze Absätze en detail über die rechtliche Ausge-
staltung der Eigentumsfreiheit gesprochen wird, aber der
Abs. 2 des Art. 14 GG mit keinem Wort erwähnt wird: „Ei-
gentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Um diesen Rechts-
grundsatz zur Realität werden zu lassen, spielen gerechte
Steuersysteme eine zentrale Rolle. Auch hierzu findet sich
kein Verweis im Antrag der FDP.
Das Credo der FDP lautet: Wo Eigentumsrechte nicht
gewährleistet werden, sind Menschen Willkür und Men-
schenrechtsverletzungen ausgesetzt. Umgekehrt aber
wird ein Schuh daraus. Willkür und Menschenrechtsver-
letzungen führen oft auch zur Verletzung der Eigentums-
freiheit. Nicht das Eigentum des Menschen steht an erster
Stelle, sondern die Würde des Menschen.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutlichen,
bei dem die Eigentumsrechte eines deutschen Landbesit-
zers über die Rechte einer indigenen Gemeinschaft in Pa-
raguay gestellt werden und es in der Folge zu gravieren-
den Menschenrechtsverletzungen kam.
Im Jahr 1993 haben Deutschland und Paraguay ein
Investitionsschutzabkommen geschlossen. Ziel war es,
die Investitionen – also das Eigentum – von Deutschen in
Paraguay zu schützen. Dagegen ist nichts zu sagen. Sehr
wohl gibt es aber etwas dagegen zu sagen, wenn unter Be-
rufung auf ein solches Abkommen Menschenrechte ver-
letzt werden. Dies ist in der Vergangenheit geschehen.
Die deutsche Bundesregierung steht in der Pflicht, zu ver-
hindern, dass es erneut zu solchen Fällen kommt.
Der konkrete Fall, um den es in Paraguay geht, ist der
der indigenen Gemeinschaft Sawhoyamaxa. Sie muss am
Rand einer Landstraße leben, seit sie der deutsche Land-
besitzer Heribert Rödel 1998 von ihrem Land vertrieb.
Wegen der miserablen Bedingungen, unter denen die
circa 100 Familien leben, haben allein im letzten halben
Jahr neun Personen ihr Leben verloren. Unter ihnen
mehrere Kinder. Alle sind an heilbaren Krankheiten ge-
storben.
Als die Sawhoyamaxa ihren Fall den paraguayischen
Behörden schilderten, wurde ihnen gesagt, dass man
nichts für sie tun könne, da es ein Investitionsschutzab-
kommen zwischen Paraguay und Deutschland gebe. Von
der deutschen Botschaft in Asunción gab es zunächst kei-
nen Widerspruch gegen diese Behauptung. Ich sage
bewusst Behauptung. Denn das Investitionsschutzabkom-
men wurde von der damaligen paraguayischen Regie-
rung nur vorgeschoben. Die Sawhoyamaxa sind mit
ihrem Fall bis vor den Interamerikanischen Menschen-
rechtsgerichtshof gezogen – und haben Recht bekommen.
Der Gerichtshof machte in dem Verfahren deutlich, was
er davon hielt, dass Paraguay mit dem Investitionsschutz-
abkommen argumentierte, um den Sawhoyamaxa ihr
Land nicht zurückzugeben: nämlich gar nichts. Das Ar-
gument wurde rundherum zurückgewiesen.
Inzwischen hat die Bundesregierung ihre Haltung zum
Investitionsschutzabkommen geändert, auch wenn es kein
offizielles Dokument, keine schriftliche Note dazu gibt.
Auch die neue paraguayische Regierung von Präsident
Lugo scheint bereit, das Urteil des Interamerikanischen
Gerichtshofs endlich umzusetzen. Damit würde er den
Sawhoyamaxa ermöglichen, auf ihr Land zurückzukeh-
ren. Allerdings ist derzeit unklar, ob der Senat von Para-
guay das notwendige Gesetz hierfür verabschieden wird.
Der Präsident hat hier keine Mehrheit.
Ich möchte meine Rede mit zwei Aufforderungen
schließen: Zum einen möchte ich die Bundesregierung
auffordern, der Regierung Paraguays eine schriftliche
Note zu überreichen, die zum Ausdruck bringt, dass das
Investitionsabkommen Landrückgaben und Landrefor-
men nicht im Wege steht. Dies wäre ein Zeichen, das den-
jenigen in Paraguay, die vergangenes Unrecht aufarbei-
ten wollen, stärken würde. Zum anderen möchte ich Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, auffordern, sich an einer
aktuellen Aktion von Amnesty International zu beteiligen.
Schreiben Sie an unsere Kollegen aus dem paraguayi-
schen Senat und fordern Sie sie auf, dem Gesetz zuzustim-
men, das den Sawhoyamaxa ein Leben in Würde ermög-
lichen kann.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12981, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/10613
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Die FDP
hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich
enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Stephan Hilsberg,
Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Internationale Kreditfinanzierung in der Ent-
wicklungspolitik auf eine neue Grundlage stel-
len
– Drucksache 16/13378 –
25238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Die Kollegen Jürgen Klimke, Stephan Hilsberg,
Hellmut Königshaus, Heike Hänsel und Thilo Hoppe ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Sie sind damit
einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/13378. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen hat niemand gestimmt. Die Opposi-
tionsfraktionen haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
schuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr
(Münster), Martin Zeil, Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Auswüchse des Versandhandels mit Arznei-
mitteln unterbinden
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine qualitätsgesicherte und flächen-
deckende Arzneimittelversorgung – Versand-
handel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen
– Drucksachen 16/9752, 16/9754, 16/13427 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolf Bauer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Wolf
Bauer, Marlies Volkmer, Daniel Bahr, Martina Bunge,
Birgitt Bender und Rolf Schwanitz.2)
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU):
Immer, wenn wir über die Arzneimittelversorgung in
Deutschland diskutieren, spielt selbstverständlich die
Arzneimitteldistribution eine entscheidende Rolle. Inso-
fern stand auch diese Frage – neben europarechtlichen
Erwägungen – an zentraler Stelle bei der Einführung des
Versandhandels im Rahmen des GKV-WSG. Daher wur-
den damals zu Recht hohe Hürden für den Versandhandel
ins Gesetz eingebaut, um eine möglichst sichere und zu-
verlässige Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln
auch über diesen Vertriebsweg zu gewährleisten.
Heute stehen wir vor der Situation, dass es nicht nur
den Face-to-face-Versandhandel gibt, sondern dass wir
auch eine besorgniserregend hohe Zunahme sogenannter
Pick-up-Stellen beobachten müssen. Diese Pick-up-Stel-
len können in jedem beliebigen Gewerbebetrieb einge-
richtet werden. Bereits heute gibt es solche Stellen in
1) Anlage 36
2) Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem späte-
ren Zeitpunkt abgedruckt.
Drogeriemärkten, Blumenläden, Metzgereien oder Tank-
stellen. Dort kann ein Patient seine Arzneimittel bestellen
und auch abholen – und nebenbei Süßigkeiten und Toilet-
tenartikel einkaufen.
Besonders schlimm finde ich es, wenn daran einschlä-
gige Bonusprogramme geknüpft sind, die dazu anregen
sollen, den Arzneimittelkonsum unnötigerweise zu er-
höhen: So werden Arzneimittel immer weniger als be-
sondere oder als gefährliche Ware angesehen. Das Be-
wusstsein für mögliche Gesundheitsgefahren durch
Arzneimittel lässt nach. Das Personal der Pick-up-Stellen
ist weder entsprechend ausgebildet noch in der Lage, Pa-
tienten auf Gefahren und Nebenwirkungen von Arznei-
mitteln hinzuweisen, wie das für jeden Apotheker eine
Selbstverständlichkeit ist. Wenn man dieses Konstrukt zu
Ende denkt, könnte auch der mobile Eisverkäufer, der
letztendlich auch Gewerbetreibender ist, in diesen Markt
einsteigen. Juristisch spricht zumindest nichts dagegen.
Kaum jemand in unserem Land will solch einen Wild-
wuchs. Insofern stimme ich auch in der Diagnose mit wei-
ten Teilen der vorgelegten Anträge überein.
Doch der politische Wille allein reicht leider nicht im-
mer aus, um Missstände sofort zu beseitigen. In diesem
Fall haben wir das Problem, dass wir einen juristisch
praktikablen Gesetzesentwurf brauchen, mit dem die Aus-
wüchse von Pick-up-Stellen gerichtsfest verhindert wer-
den. Und hierzu werden im Antragstext keine brauchba-
ren Vorschläge gemacht. Denn die Antragsteller wissen
ganz genau, dass das Bundesverwaltungsgericht am
13. März 2008 geurteilt hat, dass ein Verbot von Pick-up-
Stellen nur über ein generelles Verbot des Versandhan-
dels zu bekommen ist.
Ehrlich wäre, wenn im Antrag der Fraktion Die Linke
allein dieses Argument angeführt würde. Denn alle ande-
ren – Arzneimittelsicherheit, Kontrollfunktion, Medika-
mentenabhängigkeit – treffen nicht zu.
Die Antragsteller von der FDP dagegen möchten ja
nur Pick-up-Stellen verbieten, den Versandhandel an sich
aber weiterhin beibehalten. Hier verweise ich gerne auf
eine entsprechende Stellungnahme des Bundesministe-
riums der Justiz, in der es heißt, dass ein solch einseitiges
Verbot „verfassungsrechtlich nicht mehr vertretbar sein
dürfte“ .
Daher muss ein wie auch immer gearteter Gesetzent-
wurf zum Pick-up-Verbot in Bezug auf seine Folgen so-
wohl zu Ende gedacht und eindeutig als auch gerichtsfest
sein. Wie dieser jedoch – ich wiederhole mich – aussehen
kann, dazu fehlen zielführende Aussagen in beiden Anträ-
gen – wohl nicht ohne Grund.
Richtig ist, dass wir grundsätzlich mehr Wettbewerb
im System der Arzneimittelversorgung brauchen, dem
sich auch alle Beteiligen stellen müssen. Doch dabei dür-
fen wir zwei Dinge nicht vergessen: dass wir erstens über
die Diskussion um mehr Wettbewerb nicht die Arznei-
mittelsicherheit vergessen und wir zweitens bei der Aus-
gestaltung des Wettbewerbs auch die Chancengleichheit
der Wettbewerbsteilnehmer gewährleisten. Wenn wir das
nicht hinbekommen, werden wir eines Tages unzählige
Pick-up-Stellen haben, die wie kleine Apotheken fungie-
ren, aber nicht den hohen und damit kostenintensiven An-
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Wolf Bauer
forderungen entsprechen, die an echte Apotheken gestellt
werden. Die einen picken sich nur die dicksten Rosinen
aus dem Kuchen, die anderen gewährleisten fachkundige
Beratung, führen diverse Dienstleistungen durch, halten
ein Labor vor und sind an Sonn- und Feiertagen dienst-
bereit. Durch ein zu großes Ausufern der Pick-up-Stellen
würde schlussendlich die Arzneimittelsicherheit auf ge-
fährliche Art und Weise ausgehöhlt.
Das wissen wir alles, aber ganz offensichtlich wird in
dieser Legislaturperiode keine Lösung mehr für die Pick-
up-Problematik gefunden. Da sowohl das Bundesgesund-
heitsministerium als auch die SPD-Fraktion meinen, an
bestimmten Kriterien für die Ausgestaltung von Pick-up-
Stellen festhalten zu müssen, kann diese Blockade nur von
einer anderen Koalition – und zwar einer schwarz-gelben –
aufgelöst werden. Das ist dann jedoch eine Aufgabe für
die Abgeordneten der nächsten Wahlperiode.
Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
13. März 2008 hat die Politik vor eine schwierige He-
rausforderung gestellt. Das Gericht hatte geurteilt, dass
der Arzneimittelbestell- und -abholdienst (Pick-up), der
damals nur von einigen Drogeriemärkten in Kooperation
mit Versandapotheken angeboten wurde, zulässig ist. Ge-
werbetreibende unterschiedlichster Provenienz, darunter
Tankstellen und Blumenläden, machen sich mittlerweile
die Spielräume des Urteils zunutze und bieten Bestell-
und Abholdienste von Arzneimitteln an.
Eine Abgabe von Arzneimitteln außerhalb von Apothe-
ken ist in mehrerer Hinsicht problematisch. Die zwei
wichtigsten Einwände sind dabei eine Gefährdung der
flächendeckenden Arzneimittelversorgung und eine Mar-
ginalisierung des Arzneimittels als besonderes Gut.
Tatsächlich ist die Einrichtung von Pick-up-Stellen ge-
eignet, die flächendeckende Versorgung mit Präsenzapo-
theken zu gefährden. Die öffentliche Apotheke hat in
Deutschland nicht ohne Grund ein Monopol inne, das
zudem vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.
Danach ist ein berechtigter Zweck des Monopols die
Erhaltung der wirtschaftlichen Existenzfähigkeit der
Präsenzapotheken. Die Existenzfähigkeit der Präsenz-
apotheken ist Voraussetzung für die Existenz eines flä-
chendeckenden Apothekennetzes, das die ordnungsge-
mäße und zeitnahe Versorgung ermöglicht.
Eine zeitnahe Versorgung kann dabei nur die öffentli-
che Apotheke gewährleisten: Sie ist verpflichtet, durch
Nacht- und Notdienste rund um die Uhr die Versorgung
der Bevölkerung sicherzustellen. Bestellung und Versand
über eine Pick-up-Stelle dauern naturgemäß mehrere
Tage.
Bisher sind Apotheken als besondere Institutionen des
Gesundheitswesens klar getrennt von sonstigen Gewer-
bebetrieben. Diese Trennung leistet nach der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts einen wesentli-
chen Beitrag zum Bewusstsein der Bevölkerung für die
Besonderheiten von Arzneimitteln und damit zur Vermei-
dung eines gesundheitsschädlichen Fehlgebrauchs von
Arzneimitteln. Einfach gesagt: Wenn ein Arzneimittel
Zu Protokoll
auch in einem Blumenladen oder an einer Tankstelle be-
stellt werden kann, geht das Bewusstsein über die damit
verbundenen Risiken und Nebenwirkungen verloren.
In den komplizierten Gesprächen über die Thematik
haben wir mehrere Lösungswege diskutiert, darunter
auch die Vorschläge der Antragsteller: das Verbot des
Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arznei-
mitteln und ein Verbot der Pick-up-Stellen.
Ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungs-
pflichtigen Arzneimitteln hat bereits im Bundesrat keine
Mehrheit gefunden. Die Gründe hierfür waren freilich
nicht maßgeblich gesundheitspolitischer Art. In der An-
hörung vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages
wurde vor allem diskutiert, dass Arzneimittelfälschungen
beim legalen Versand von Arzneimitteln eine zu vernach-
lässigende Rolle spielen.
Ein Verbot der Pick-up-Stellen und der Rezeptsamm-
lungen in Gewerbebetrieben war in der Koalition eben-
falls nicht mehrheitsfähig. Argumentiert wurde, ein Ver-
bot sei nicht verfassungsmäßig, da der Eingriff in die
Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 des Grundgesetzes
nicht durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls ge-
rechtfertigt sei. Ein Verbot sei nicht verhältnismäßig, ge-
eignet und erforderlich.
Diskutiert wurde des Weiteren, ob Kriterien für die Ab-
gabe von Arzneimitteln in Gewerbebetrieben formuliert
werden können. Dieser Vorschlag wollte die Sammlung
von Rezepten und die Aushändigung von Arzneimitteln
nur Betrieben erlauben, die bestimmten definierten An-
forderungen entsprachen.
Dieser Vorschlag stieß in der Koalition auf Bedenken,
denn damit wäre das dargestellte grundsätzliche Pro-
blem, Arzneimittel außerhalb von Apotheken abzugeben,
nicht behoben worden. Im Gegenteil wären Drogerie-
märkte mit diesem Vorschlag ein Teil der Regelversor-
gung geworden, eine „Apotheke Light“.
Der Status quo bleibt somit bestehen. Diese Situation
ist unbefriedigend. Es bleibt nun der neuen Legislaturpe-
riode vorbehalten, eine Lösung zu finden, die die Aus-
wüchse des Versandhandels mit Arzneimitteln unterbin-
det und die von der Mehrheit dieses Hauses getragen
werden kann.
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Die AMG-Novelle hat gezeigt: Die Koalition geht
nicht gegen die Auswüchse des Versandhandels mit Arz-
neimitteln vor. Ich erinnere daran, dass Vertreter aller
Fraktionen in der ersten Lesung zum Antrag der FDP die
Probleme durch so genannte Pick-up-Stellen sahen und
Abhilfe forderten. Ich stelle nunmehr fest, dass CDU und
CSU und SPD nicht in der Lage sind, eine gemeinsame
Lösung zu finden. Schwarz-Rot wirft die heiße Kartoffel
hin und her. Die Koalitionsfraktionen weisen einander
die Schuld zu. Das alles ist Zeichen für eine Endzeitstim-
mung in der Koalition. Die Koalition sehnt ihr Ende her-
bei. Ob die Versprechen angesichts des Nichtstuns wirk-
lich ernst gemeint waren, kann man nur noch bezweifeln.
Vor dem Hintergrund werden die positiven Aussagen von
CDU und CSU und SPD zum Urteil des Europäischen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25239
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Daniel Bahr (Münster)
Gerichtshofes zu Lippenbekenntnissen. Vollmundig be-
grüßen Union und SPD das Fremd- und Mehrbesitzver-
bot, aber konkret tun sie nichts gegen die Aushöhlungen.
Dabei ist mittlerweile durch den bekundeten Einstiegs-
willen von Tankstellenketten noch einmal die Dring-
lichkeit und Notwendigkeit für ein Verbot der Pick-ups
deutlich geworden. Wir brauchen eine gesetzliche Klar-
stellung, dass ein Versand von Arzneimitteln nur aus Apo-
theken durch Apotheken selbst oder durch von diesen be-
auftragten Transportunternehmen unmittelbar an den
Endverbraucher zulässig ist. Die FDP legt einen Antrag
vor, der genau dieses Problem anpackt. Die Anhörung hat
auch deutlich gemacht, dass ein Verbot des Versandhan-
dels von rezeptpflichtigen Arzneimitteln die Probleme
nicht löst, sondern neue Unsicherheiten, vor allem ver-
fassungsrechtliche, aufwirft. Nur der FDP-Vorschlag
fand eine breite Unterstützung in der Anhörung.
Die Abgabe von Arzneimitteln in Abgabestellen, die
nicht die Bedingungen erfüllen, die an eine Apotheke ge-
stellt werden, ist ein echtes Problem. Es ist möglich, dass
anstelle des Apothekers auch zum Beispiel Kioskbetreiber
oder Tankwarte unkontrolliert Rezepte einsammeln und
die bestellten Arzneimittel ausgeben. Eine sachgemäße
Behandlung und Lagerung ist damit nicht gewährleistet.
Ein Arzneimittel ist ein ganz spezielles Gut, das hat der
Europäische Gerichtshof vor kurzem erneut bestätigt.
Wenn Abgabestellen Gutscheine für Waschmittel oder
Schokoriegel ausstellen, wenn Patienten Arzneimittel
über sie beziehen, dann fehlt das Bewusstsein dafür, dass
es sich bei Arzneimitteln um ein ganz spezielles Gut han-
delt, das mit Nebenwirkungen verbunden ist und bei dem
eine sorglose Ausweitung des Konsums auf jeden Fall
verhindert werden muss. Arzneimittel gehören nicht zwi-
schen Waschmittel und Schokoriegel. Eine solche Ent-
wicklung kann weder unter Sicherheitsaspekten noch im
Hinblick auf gleiche Wettbewerbsbedingungen gewollt
sein.
Wettbewerb kann nur unter fairen Bedingungen funk-
tionieren. Es ist eine Benachteiligung, wenn Wettbewer-
ber Pflichten zu erfüllen haben, die andere nicht erfüllen
müssen. Die Apotheke vor Ort erbringt wichtige Gemein-
wohlaufgaben wie Nacht- und Wochenenddienst, muss
Labor und Mindestgrößen der Ladenfläche und entspre-
chend fachkundiges Personal gewährleisten. Wir alle ha-
ben ein Interesse daran, dass diese Pflichten erfüllt wer-
den, damit die Arzneimittelversorgung auf einem
entsprechend hohen Niveau erreicht wird. Wenn jetzt
Drogerien oder andere versuchen, über die Ausnutzung
des Versandweges sich den Anschein einer Apotheke zu
geben, ohne die Pflichten zu erfüllen, dann sind das un-
faire Wettbewerbsbedingungen für die Apotheken vor
Ort. Hinzu kommt, dass Apotheken eine Vielzahl von Vo-
raussetzungen erfüllen müssen, um den Sicherheitsstan-
dard zu gewährleisten. Es könnte eine Gefahr für die Si-
cherheit und die Versorgung vor Ort entstehen.
Die FDP rät davon ab, Vorgaben für Pick-up-Stellen
zu formulieren. Wer Standards für Abholstellen hochset-
zen will, der schafft ein mittelfristig viel größeres Pro-
blem, der schafft eine „Apotheke light“. Wir brauchen
kein ein bisschen fachkundiges Personal und keine
Zu Protokoll
Räume, die ein bisschen wie Apotheken aussehen. Das
verzerrt die Versorgung und verwirrt den Verbraucher.
Dann könnten auch mittelfristig die Apothekenpflicht von
Arzneimitteln und sogar das Fremd- und Mehrbesitzver-
bot fallen. Wen das SPD-geführte Gesundheitsministe-
rium solche Vorschläge vorlegt, dann will es die Apothe-
ken schwächen.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Ein Jahr ist es her, dass Linke und FDP unerwünschte
Gefahren aus dem Versandhandel mit Medikamenten im
Deutschen Bundestag zum Thema machten. Auslöser war
das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März
2008, demzufolge die Abgabe von Arzneimitteln über Be-
stell- und Abholstationen – sogenannte Pick-up-Stellen –
in Drogeriemärkten zulässig sei. Das ging selbst der Ko-
alition zu weit. Schließlich resultieren hieraus erhebliche
Gefahren für eine gute und sichere Arzneimittelversor-
gung. Die Linke im Bundestag tritt daher dafür ein, den
Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel zu begrenzen.
CDU/CSU und SPD versprachen, die Sache insgesamt zu
prüfen und gegebenenfalls zu handeln.
Doch was ist passiert? Nichts. Den großen Verspre-
chen folgten keine Taten. Heute verstrich die letzte Mög-
lichkeit, etwas zu tun. Die 15. Novelle des Arzneimittelge-
setzes ist verabschiedet. Der Versandhandel mit
Medikamenten spielt darin keine Rolle. CDU/CSU und
SPD haben ihre Chance verpasst, einen Fehler zu korri-
gieren.
Zur Erinnerung: Zusammen mit den Grünen waren es
Union und SPD, die vor fünf Jahren den Versandhandel
mit Arzneimitteln erlaubten, – handwerklich nicht gut
und im vorauseilendem Gehorsam, wie so manch Betei-
ligter im Rückblick eingesteht; denn der Europäische Ge-
richtshof entschied später, dass die EU-Mitgliedsländer
den Versandhandel nicht auf verschreibungspflichtige
Arzneimittel ausdehnen müssen. Das hat gute Gründe.
Arzneimittel sind besondere Güter, ihre Abgabe erfor-
dert hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards. Unerläss-
lich ist aus Sicht der Linken eine umfassende Beratung
durch unabhängiges und gut ausgebildetes pharmazeuti-
sches Personal; denn die Qualität der Arzneimittelver-
sorgung hängt ganz wesentlich von der Beratungsqualität
in der abgebenden Apotheke ab. Dafür ist es wichtig, in-
dividuell auf die Patientin/den Patienten einzugehen und
die richtige Sprache zu finden, um komplizierte Sachver-
halte zu erklären. Eine telefonische Beratung kann das
nicht gewährleisten. Es bedarf hierfür vielmehr eines
persönlichen und vertrauensvollen Gesprächs in der
Apotheke.
Richtungweisend ist ein aktuelles Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofes – EuGH – : Am 19. Mai 2009 hat er
das bundesdeutsche Fremdbesitzverbot von Apotheken
bestätigt und damit die inhabergeführte Präsenzapotheke
gestärkt. Apothekenketten und Aktiengesellschaften kön-
nen somit weiterhin verhindert werden. Dies ist ein wich-
tiger Erfolg für die unabhängige Beratung, da Apotheken
nicht zum Spielball von profitorientierten Kapitalgesell-
schaften werden.
25240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25241
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Martina Bunge
Der Gesetzgeber ist gefordert, die rechtlichen Rah-
menbedingungen so zu gestalten, dass diese die Bera-
tungsfunktion der Apotheken unterstützen und nicht be-
hindern. Aus Sicht der Linken besteht die einzige
konsequente und rechtliche Möglichkeit darin, den Ver-
sandhandel auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimit-
tel zu begrenzen und folglich den Versandhandel mit ver-
schreibungspflichtigen Arzneimitteln zu verbieten. Sich
nur gegen die Pick-up-Stellen zu wenden, wie von der
FDP gefordert, ist zu kurz gesprungen und birgt bekann-
termaßen verfassungsrechtliche Bedenken.
Die Zukunft der Arzneimittelversorgung liegt in unse-
ren Händen. Die Politik ist in der Pflicht, die Rahmenbe-
dingungen für eine qualitätsgesicherte und flächende-
ckende Arzneimittelversorgung zu schaffen. Noch spielt
der Versandhandel mit Medikamenten eine untergeord-
nete Rolle. Doch die neuen Vertriebsformen werden eine
neue Dynamik entwickeln. Wird das flächendeckende
Apothekennetz dadurch infrage gestellt, gibt es ein Ver-
sorgungs- und Beratungsproblem für die Bevölkerung.
Dies betrifft insbesondere Menschen auf dem Land und
ältere, zumeist mehrfach erkrankte Menschen.
Vor diesem Hintergrund ist es für uns nicht nachvoll-
ziehbar, weshalb die Koalition die Hände in den Schoß
legt und abwartet. Es bleibt zu hoffen, dass in der nächs-
ten Legislaturperiode schnell eine Lösung gefunden wird.
Die Linke hat die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Vor-
schläge frühzeitig zur Diskussion gestellt. Sie können ver-
sichert sein, dass wir auch weiterhin für eine qualitativ
hochwertige Arzneimittelversorgung streiten werden.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
In der Anhörung zu den hier vorliegenden Anträgen
waren die Stellungnahmen der eingeladenen Juristen un-
missverständlich: Ein Verbot des Versandhandels mit ver-
schreibungspflichtigen Arzneimitteln wäre europarecht-
lich möglich, wenn durch den Versandhandel die
Gesundheit der Bevölkerung gefährdet würde. Doch der
Versand von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist
seit fünf Jahren erlaubt. Und in dieser Zeit ist nicht ein
einziger Fall bekannt geworden, in dem ein Patient durch
Versäumnisse einer zugelassenen Versandapotheke zu
Schaden gekommen wäre.
Ein Verbot wäre auch verfassungsrechtlich nicht halt-
bar. Denn der damit verbundene Eingriff in das Grund-
recht der Berufsfreiheit der Versandapothekerinnen und
-apotheker würde eine starke Rechtfertigung brauchen.
Die kann es aber nicht geben, wenn es das Problem der
Patientengefährdung, dem man angeblich mit dem Verbot
begegnen will, mangels Schadensfällen gar nicht gibt.
Schutz vor Konkurrenz aber ist kein zulässiger Eingriffs-
zweck.
Und auch sonst ist kein guter Verbotsgrund in Sicht.
Die in der Anhörung vertretenen Patientenverbände ha-
ben klargemacht, dass der Versandhandel aus Sicht der
chronisch Kranken und Behinderten eine wichtige Option
ist. Vor allem bei mobilitätseingeschränkten Menschen
könne der Versandhandel den Zugang zu preisgünstigen
Medikamenten verbessern – so die Vertreter der chro-
nisch Kranken. Wer wollte dem widersprechen?
Deutlich geworden ist auch, dass die Beratungsquali-
tät von Versandapotheken nicht schlechter ist als die von
Präsenzapotheken. Der Vorteil der Präsenzapotheke,
dass der Kunde direkten Kontakt mit dem Apothekenper-
sonal hat, wird dadurch wieder ausgeglichen, dass die te-
lefonische Beratung der Versandapotheken eine größere
Vertraulichkeit erlaubt. Über die eigenen Gesundheits-
probleme in einer Präsenzapotheke in der Anwesenheit
anderer Kundinnen und Kunden zu reden, ist vielen Men-
schen peinlich.
Bleibt noch das Argument der Arzneimittelfälschun-
gen. Aber die werden sich mit einem Verbot des zugelas-
senen Versandhandels nicht verhindern lassen. Kein ille-
galer Internetversender wird sich von einem Verbot
davon abhalten lassen, seine gefährlichen Produkte auch
weiterhin anzubieten. Und die Verwechslung von legalen
und illegalen Anbietern ist ausgeschlossen. Denn anders
als bei dubiosen Internethändlern kann man bei zugelas-
senen Versandapotheken nicht einfach per „Mausklick“
bestellen. Voraussetzung für den Versand ist immer, dass
vorab der Kunde sein Rezept an die Versandapotheke
schickt.
Spätestens nach dieser Anhörung hätte es der Linken
gut angestanden, ihren Antrag zurückzuziehen. Sie hat es
nicht getan. Offensichtlich ist Klientelpflege für die Linke
wichtiger gewesen als der Patientenschutz.
Auch die FDP hätte in der Anhörung einiges lernen
können. Ich zähle nur einmal die wichtigsten Argumente
auf: Ein absolutes Verbot der Pick-up-Stellen steht nicht
an, denn Abholstellen sind eine Variante des Versandhan-
dels mit Arzneimitteln; sie machen preisgünstige Arznei-
mittel auch für solche Personen zugänglich, die keinen
Internetzugang haben. Die Lagerung eines Arzneimittels
bis zur Abholung in einem Drogeriemarkt ist nicht weni-
ger sicher als die Individualzustellung im Briefkasten.
Das Argument, dass durch den Abholservice Arzneimittel
trivialisiert würden, ist wenig einleuchtend. Warum soll
die Sicht eines Patienten auf ein Arzneimittel dadurch
eine andere werden, dass er es nicht über den heimischen
Briefkasten erhält, sondern in einem Drogeriemarkt ab-
holt? Schließlich werden seit jeher nicht apothekenpflich-
tige Arzneimittel in Drogeriemärkten verkauft. Diese Ar-
gumente sprechen gegen ein Verbot.
Allerdings glauben auch wir, dass aus Gründen der
Arzneimittelsicherheit die Abholstellen bestimmten An-
forderungen unterworfen werden sollten. So könnte ihre
Einrichtung auf Drogeriemärkte beschränkt werden.
Drogisten müssen über pharmazeutische Sachkenntnisse
verfügen. Außerdem unterliegen sie der amtlichen Arz-
neimittelüberwachung.
Leider hat es die Koalition nicht geschafft, sich auf sol-
che oder vergleichbare Regelungen zu verständigen. Die
Handlungsfähigkeit dieser Regierungsmehrheit stößt wie
so oft auch hier an ihre Grenzen. Auch dies bleibt als
Hausaufgabe für die kommende Legislaturperiode.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
25242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
empfehlung auf Drucksache 16/13427, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9752 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfrak-
tionen und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen hat die
Fraktion der FDP gestimmt, und Die Linke hat sich ent-
halten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/9754. Wer stimmt für die Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Dagegen hat ge-
stimmt die Fraktion Die Linke. Die übrigen Fraktionen
haben dafür gestimmt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela
Noll, Antje Blumenthal, Maria Eichhorn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Renate Gradistanac,
Edelgard Bulmahn, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Situation von Frauenhäusern verbessern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forderung nach einem Bericht der Bundes-
regierung über die Lage der Frauen- und
Kinderschutzhäuser
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Katja Kipping, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Finanzierung von Frauenhäusern bundes-
weit sicherstellen und losgelöst vom SGB II
regeln
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrechte schützen – Frauenhäuser si-
chern
– Drucksachen 16/12992, 16/8889, 16/6928,
16/10236,16/13265 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Renate Gradistanac
Sibylle Laurischk
Diana Golze
Irmingard Schewe-Gerigk
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Absicherung von Frauen- und Kin-
derschutzhäusern
– Drucksache 16/13178 –
Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden
sind, dass Ihre Reden zu Protokoll gegeben wurden. Es
handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Michaela Noll, Ingrid Fischbach, Renate
Gradistanac, Caren Marks, Sibylle Laurischk, Kirsten
Tackmann und Irmingard Schewe-Gerigk.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/13265. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/12992 mit dem Titel „Die Situation von
Frauenhäusern verbessern“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Die Op-
positionsfraktionen haben sich enthalten. Niemand war
dagegen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/8889 mit dem Titel „Forde-
rung nach einem Bericht der Bundesregierung über die
Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür gestimmt haben die Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD. Dagegen gestimmt haben die Frak-
tionen der FDP und der Linken. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Familie,
Frauen, Senioren und Jugend unter Nr. 3 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/6928 mit dem Titel
„Finanzierung von Frauenhäusern bundesweit sicherstel-
len und losgelöst vom SGB II regeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktionen.
Dagegen gestimmt hat die Fraktion Die Linke.
Bündnis 90/Die Grünen und die FDP haben sich enthal-
ten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/10236 mit dem Titel „Grundrechte schützen – Frau-
enhäuser sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen. Dafür gestimmt
haben die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die
1) Anlage 37
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25243
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Linke. Dagegen gestimmt hat das Bündnis 90/Die Grü-
nen. Die FDP hat sich enthalten.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 35 b und zur
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/13178 mit dem Titel „Für eine Absiche-
rung von Frauen- und Kinderschutzhäusern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Dafür gestimmt
hat die Fraktion der FDP. Dagegen gestimmt haben die
Koalitionsfraktionen und Die Linke. Bündnis 90/Die
Grünen hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann,
Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rechtsklarheit und Transparenz schaffen –
Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen
kommunaler Gesellschaften bundesrechtlich
eindeutig normieren
– Drucksachen 16/11826, 16/13296 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Klaus Uwe Benneter
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Günter
Krings, Klaus Uwe Benneter, Max Stadler, Katrin
Kunert und Britta Haßelmann.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Wer setzt sich nicht für Rechtsklarheit und Transpa-
renz ein? Rechtsklarheit ist immer gut, und Transparenz
ist auch immer gut. Da wird man auch den Grünen nicht
widersprechen können und wollen. Es bleibt nur die
Frage zu klären, ob die Forderungen der Grünen wirklich
zu Rechtsklarheit und Transparenz führen oder ob sie
heute schon umsetzbar sind. Die von den Grünen erhobe-
nen Forderungen laufen jedoch auf ein „Sondergesell-
schaftsrecht“ für private Unternehmen, die von der öf-
fentlichen Hand geführt werden, hinaus und führen damit
zu einer Diskriminierung dieser Unternehmen.
Wenn die Grundsatzentscheidung einmal gefallen ist,
dass Kommunen bestimmte Tätigkeitsfelder in einer pri-
vatrechtlichen Gesellschaft organisieren dürfen, dann ist
diese Entscheidung zu respektieren. Daher kann ich es
nicht nachvollziehen, dass immer wieder versucht wird,
daran etwas zu ändern und Ausnahmen zu schaffen, die
sich explizit auf kommunal geführte private Gesellschaf-
ten beziehen, selbst wenn es sich um so ein vernünftiges
und richtiges Anliegen handelt wie die Transparenz einer
Gesellschaft. Wer unbedingt eine privatrechtliche Gesell-
schaft gründen will, muss eben auch deren Rechtsregime
akzeptieren. Und ein Landesgesetzgeber, der das Gesell-
schaftsrecht für nicht passend für seine Kommune hält,
muss hier eben bestimmte Zulässigkeitsschranken einzie-
hen.
Die Antragssteller zeichnen in ihrem Antrag ein arges
Zerrbild der kommunalpolitischen Wirklichkeit und
scheuen sich nicht, dies auch noch in ihrem Antrag expli-
zit herauszustreichen. Sie beklagen sich darüber, dass
„kleinere Gemeinderatsfraktionen in den Aufsichtsrats-
gremien dieser Gesellschaft oftmals nicht vertreten sind“.
Dank dieser Passage wissen wir nun, dass dieser Antrag
der Grünen jedenfalls nicht uneigennützig gestellt wurde.
Wenn eine kleine Fraktion in einem Aufsichtsrat aller-
dings keinen Sitz abbekommt, dann hat das eben nichts
mit mangelnder Transparenz, sondern etwas mit ihren Er-
gebnissen bei den Kommunalwahlen zu tun. Demokrati-
sche Entscheidungen müssen aber auch dann akzeptiert
werden, wenn sie einem selbst wehtun. Auch die Fraktion
der Grünen sollte das nach über drei Jahren Opposition
langsam wieder verinnerlichen.
Wenn sie es schon selbst in den gerade einmal zwei Sei-
ten ihres Antrags nicht tun, will ich zumindest versuchen,
inhaltlich auf ihr vermeintliches Anliegen einzugehen. Ihr
Vorschlag ist zunächst schlicht verfassungswidrig. Im
Gegensatz zum damaligen FDP-Antrag wollen Sie die
Verschwiegenheitspflicht ja nicht nur für die Aufsichts-
ratsmitglieder von Gesellschaften aufheben, bei denen
die Städte und Gemeinden Alleingesellschafter sind, son-
dern sie wollen sie auch noch ausdehnen auf solche Ge-
sellschaften, in denen die Kommune mehrheitsbeteiligt
ist. Dieser Vorschlag verletzt ohne zwingenden Grund die
Eigentumsrechte der privaten Aktionäre und ist mit
Art. 14 GG unvereinbar. Sie greifen durch diese Forde-
rung in Rechte Privater ein, die nicht nur durch das Ge-
sellschaftsrecht geschützt sind, sondern auch durch die
Verfassung.
Mit Ihrer zweiten Forderung schießen Sie jedoch den
Vogel ab. So ganz geheuer scheint es Ihnen dann doch
nicht mit der Einbeziehung der kommunalen Mehrheits-
gesellschaften in die Aufhebung der Verschwiegenheits-
pflicht zu sein, denn der Grundsatz der Öffentlichkeit
kann auf Gemeinderatsmitglieder und Medienvertreter
beschränkt werden. Um diesen bizarren Vorschlag einmal
in einem Szenario zu veranschaulichen: Wenn das Ge-
meinderatsmitglied etwas aus der Aufsichtsratssitzung zu
einem Journalisten sagt, dann gibt es am nächsten Tag ei-
nen Bericht in der Zeitung. Wenn das Aufsichtsratsmit-
glied eines privaten Gesellschafters etwas in der Öffent-
lichkeit ausplaudert, gibt es am nächsten Tag Besuch vom
Staatsanwalt. Das ist an Naivität wirklich nicht zu über-
bieten.
Da es an Konstruktivität in ihrem Antrag fehlt, will ich
konstruktiv Kritik üben und lhnen einen Weg aufzeigen,
wie man das Anliegen, Transparenz in kommunale Unter-
nehmen zu bringen, schon jetzt ohne gesetzliche Eingriffe
und sehr wirkungsvoll erfüllen kann. Das öffentliche
Recht kennt längst Gesellschaftsformen, die den im An-
trag beschriebenen Transparenzanforderungen gerecht
werden. Vor allen Dingen ist dies die Anstalt des öffentli-
chen Rechts. Dafür müssen keine Vorschriften geändert
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Günter Krings
werden, sondern es kann schon heute umgesetzt werden,
wenn sich Kommunen für diese Gesellschaftsform ent-
scheiden. Und jetzt kommt das Beste: Hier kann der Lan-
desgesetzgeber sogar in noch viel höherem Maße, als den
Grünen das offenbar vorschwebt, Transparenz und Infor-
mationspflichten anordnen.
Nun mag es ja sein, dass Ihnen als Antragsteller die
weitergehenden Optionen, die auch das GmbH-Recht für
die Eingrenzung der Verschwiegenheitspflichten des Auf-
sichtsrats vorsieht, nicht ausreichen. Wer mehr will, wird
den Kommunen diese Transparenz wohl schon vorschrei-
ben müssen. Solche Informationspflichten und Transpa-
renzgebote für kommunale Gesellschaften wären aber
keine gesellschaftsrechtliche Regelung mehr, sondern
hätten einen dezidiert kommunalverfassungsrechtlichen
Regelungszweck. Das Kommunalverfassungsrecht ist
aber Sache des Landesgesetzgebers. In dieser Frage sind
also die Landtage gefordert und nicht der Bundestag.
Nur dort, wo punktuell – etwa das HGB – einer solchen
Transparenzordnung des Landes bei Anstalten etwas ent-
gegenstünde, wären wir zum Handeln aufgefordert. Ob
eine jüngere Entscheidung aus Nordrhein-Westfalen zu
der Vergütungsoffenlegung von Sparkassenvorständen
einen solchen Fall darstellt, ist heute noch nicht klar, da
es sich hier nur um eine Entscheidung im einstweiligen
Rechtsschutz handelt. Wir als Union werden diese ganz
konkrete Frage aber genau verfolgen und nötigenfalls
§ 34 a HGB ändern.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben Ver-
trauen in das verantwortungsbewusste Handeln der
Kreistage sowie der Stadt- und Gemeinderäte in unserem
Land. Wir verwahren uns gegen Unterstellungen, dass
unsere Kommunalpolitiker in den Aufsichtsräten „ge-
räuschlos und konsensual ihre politischen Ziele ... verfol-
gen, ohne sich im Vorfeld einer Entscheidung der Ausei-
nandersetzung mit anderen politischen Kräften und einer
kritischen Öffentlichkeit stellen zu müssen“. Das ist eine
inakzeptable Kritik und unterstreicht noch einmal, dass
der Antrag mehr von Populismus getrieben ist, als dass
sie wirklich an einer Diskussion in der Sache interessiert
sind.
Gute Kommunalpolitiker sehen Transparenzregeln
nicht als Bedrohung an, sondern als Ausdruck einer bür-
gernahen Kommunalpolitik. Was die anderen Kommunal-
politiker angeht, so habe ich Vertrauen in die Wählerin-
nen und Wähler, die in acht Bundesländern in diesem
Jahr Gelegenheit hatten und haben, intransparent arbei-
tende Gemeinderäte abzuwählen. Wir wollen uns nicht
anmaßen, besser zu wissen als die Bürger und Entschei-
dungsträger vor Ort, wie Transparenz und Offenheit zu
sichern ist.
Wir wollen eine Zersplitterung des Gesellschaftsrechts
verhindern. Wir wollen kein apokryphes Sondergesell-
schaftsrecht für kommunale Unternehmen. Stattdessen
wollen wir, dass die kommunalen Verantwortungsträger
die vielfältigen Möglichkeiten nutzen, mit den vorhande-
nen Mitteln des GmbH- und Landesrechts für ausrei-
chende Transparenz zu sorgen. Ich glaube nicht, dass
dem Anliegen nach einem hohen Maß an Transparenz in
Zu Protokoll
kommunalen Unternehmen dadurch geholfen wird, wenn
man, wie die Antragsteller es tun, den Gemeinderatsmit-
gliedern und Stadträten, die hier – ich betone dies – viel
ehrenamtliches Engagement zum Gemeinwohl aufbrin-
gen, auf einmal unlautere Absichten unterstellt. Ich
würde mir wünschen, dass die Grünen ihre Einstellung
zur kommunalen und bürgerschaftlichen Selbstverwal-
tung positiver überdenken. Wir jedenfalls lassen uns nicht
von Misstrauen, sondern von Vertrauen in die Kreise,
Städte und Gemeinden in unserem Land leiten.
Klaus Uwe Benneter (SPD):
Die vorangegangene Debatte zu diesem Antrag hat
mich schon nachdenklich gemacht, das möchte ich hier
klar sagen. Ich komme gleich darauf.
Die Grünen wollen eine Gesetzesänderung. Aktien-
recht und GmbH-Recht sollen es ermöglichen, dass Auf-
sichtsräte von Aktiengesellschaften und GmbHs mit
mehrheitlicher kommunaler Beteiligung grundsätzlich
öffentlich tagen können.
Nach meiner Auffassung ist es so, dass es diese Mög-
lichkeit heute schon gibt – jedenfalls bei kommunalen
GmbHs. Um die geht es ja in der Praxis. Denn bei der
GmbH besteht weitgehende Satzungsfreiheit. Schon die
Einrichtung eines Aufsichtsrates ist nicht zwingend.
Wenn man ihn aber einrichtet, könnte man in der Satzung
auch vorsehen, dass er grundsätzlich öffentlich tagen
muss. Denn das GmbH-Gesetz verweist gerade nicht auf
die Vorschrift des Aktiengesetzes, die regelt, dass Auf-
sichtsräte grundsätzlich nichtöffentlich tagen sollen. Was
die Grünen wünschen, ist also bereits Gesetzesrecht. So
sehe ich es. Es besteht deshalb kein Handlungsbedarf.
Allerdings nutzen die Kommunen diese Möglichkeiten
kaum. Ich finde das schade. Kollegin Katrin Kunert hat
auf die Public Corporate Governance hingewiesen, die
die Stadt Stuttgart verabschiedet hat. Ihr Ziel ist, gute
Standards für das Zusammenwirken von Gemeinderat,
Stadtverwaltung und Beteiligungsgesellschaft festzule-
gen. Ich finde, das geht in die richtige Richtung und ist ein
gutes Vorbild.
Denn Transparenz ist ganz wichtig. Kommunale
GmbHs erfüllen öffentliche Aufgabe beispielsweise im
Bereich des öffentlichen Nahverkehrs oder im Abfallbe-
reich, betreiben Schwimmbäder usw. Wie sie dies tun und
ob sie dies ausreichend tun und ob sie mit dem Geld der
Steuer- und Beitragszahler ordentlich umgehen und ob
sie gut geführt sind und auch eine innere Verfassung ha-
ben, die einem öffentlichen Unternehmen angemessen ist,
das alles sind Fragen von öffentlichem Interesse. Ich
wünsche mir, dass die Städte und Gemeinden im Rahmen
der Satzungsfreiheit, die das GmbH-Recht bietet, auslo-
ten, was an Transparenz sinnvoll ist. Offenbar ist da eher
eine abwehrende Haltung verbreitet. Ich würde mir mehr
Offenheit in diese Richtung wünschen. Man muss die Ver-
schwiegenheitspflichten und die Nichtöffentlichkeit nicht
wie eine Monstranz vor sich her tragen. Ich empfehle zu
diesem Thema allen Interessierten die sehr öffentlich-
keitsfreundliche Rechtsprechung des Bayerischen Ver-
waltungsgerichtshofs als Lektüre.
25244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Uwe Benneter
Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem Kollegen
Krings widersprechen. Er hat davon gesprochen, der Vor-
schlag der Grünen sei verfassungswidrig und würde in
die Eigentumsrechte der Minderheitsgesellschafter ein-
greifen. Das kann ich so nicht unterschreiben. Wie ge-
sagt: Es ist heute schon möglich, öffentliche Aufsichts-
ratssitzungen bei GmbHs mit kommunaler Beteiligung
vorzusehen. Bei GmbHs mit 100 Prozent kommunaler Be-
teiligung ist das unter Eigentumsschutzaspekten völlig
unproblematisch. Aber auch bei kommunalen GmbHs mit
Minderheitsgesellschaftern sehe ich keine Verletzung von
Eigentumsrechten. Kritisch könnte es allenfalls sein,
wenn der Gesellschaftsvertrag nachträglich unter Über-
stimmung der Minderheitsgesellschafter geändert wer-
den soll. Problemlos ist es aber, wenn die GmbH von
vornherein auf Öffentlichkeit der Aufsichtsratssitzungen
angelegt ist. Denn niemand muss Gesellschafter einer
GmbH werden, bei der ihm der Gesellschaftsvertrag
nicht gefällt. Im Übrigen bleiben jedem Gesellschafter
auch bei Öffentlichkeit der Aufsichtsratssitzungen seine
vollen Gesellschafterrechte erhalten. Warum also soll
hier das Eigentumsrecht verletzt sein?
Kollege Krings hat weiter gesagt: Das Gesellschafts-
recht sei kein kaltes Buffet, von dem man nach Belieben
auswählen kann. Ich sage: doch! Die weitgehende Sat-
zungsfreiheit im GmbH-Recht ist ein solches Buffet. Sie
gibt Gestaltungsmöglichkeit und die Freiheit, auszuwäh-
len, was zu einem passt. Und zu kommunalen GmbHs
passt nun einmal mehr Offenheit und Öffentlichkeit als zu
rein privaten Unternehmen.
Dr. Max Stadler (FDP):
Das in dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen formulierte Anliegen, durch eine klare bundesrecht-
liche Regelung die Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzun-
gen kommunaler Gesellschaften zuzulassen, wird von der
FDP-Bundestagsfraktion seit langem unterstützt. Die
FDP hat einen ähnlichen Vorstoß bereits früher unter-
nommen, ist dabei leider ebenso wenig auf Gegenliebe
bei der Großen Koalition gestoßen, wie dies auch heute
wieder zu erwarten ist.
Die Debatte in der ersten Lesung sowie in den Aus-
schüssen hat gezeigt, dass die Koalition irrtümlich der
Meinung ist, es bestehe kein Regelungsbedarf. Immer
wieder wird behauptet, dass dieses Problem nur einige
wenige Kommunalpolitiker interessiere. Dem ist entge-
genzuhalten, dass beispielsweise in Bayern zu dieser The-
matik Verwaltungsgerichtsstreitigkeiten bis zum Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshof geführt worden sind und
dass es in vielen Städten und Gemeinden lebhafte Debat-
ten über mehr Transparenz bei kommunalen Gesellschaf-
ten gibt. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist es nicht
einsichtig, warum wegen einer reinen Rechtsformände-
rung bisher nach Kommunalrecht öffentlich zu diskutie-
rende Sachverhalte plötzlich hinter verschlossenen Türen
behandelt werden. Die Leichtigkeit, mit der sich die
Große Koalition über das berechtigte Anliegen nach
mehr Transparenz hinwegsetzt, zeugt leider entweder von
Arroganz oder von Ignoranz. Beides ist gleich schlimm.
Zu Protokoll
Soweit die Koalition überhaupt sachlich auf das
Transparenzanliegen eingeht, gibt sie mit ihrer Verwei-
gerungshaltung aber Steine statt Brot. Zum einen wird
behauptet, die Kommunen könnten sich ja anderer Or-
ganisationsformen bedienen, bei denen der Nichtöffent-
lichkeitsgrundsatz des Gesellschaftsrechts nicht gelte. Es
mag ja sein, dass der Weg der bloßen Organisationspri-
vatisierungen und der Überführung kommunaler Dienst-
stellen in Gesellschaften mit beschränkter Haftung ein
Irrweg gewesen ist, der hauptsächlich aus dem Ruder
laufende Schattenhaushalte und überzogene Geschäfts-
führergehälter produziert hat. Gleichwohl ist es ein Fak-
tum, dass beispielsweise aus steuerlichen Gründen viele
Kommunen diesen Weg gegangen sind und nun eben zahl-
reiche kommunale GmbHs existieren. Vor dieser Realität
kann man nicht einfach die Augen verschließen, sondern
muss als Gesetzgeber die passenden Antworten geben.
Hierzu behauptet die SPD, man könne alle gewünsch-
ten Regelungen im Gesellschaftsvertrag unterbringen.
Genau dies ist aber unter Juristen äußerst streitig. In Pas-
sau, wo über die Thematik seit langem öffentlich intensiv
diskutiert wird, hat sich dazu kürzlich auf einer Vortrags-
veranstaltung der renommierte Gesellschaftsrechtler
Professor Dr. Jan Wilhelm geäußert. Nach seiner Auffas-
sung darf entsprechend der derzeitigen Rechtslage vom
Nichtöffentlichkeitsgrundsatz gerade nicht abgewichen
werden.
Daran erkennt man, dass zumindest eine erhebliche
Rechtsunsicherheit herrscht. Manche Städte, wie etwa die
große Kreisstadt Deggendorf, sind dazu übergegangen,
gleichwohl die Sitzungen der Aufsichtsgremien kommu-
naler Gesellschaften öffentlich durchzuführen. Fachleute
wie Professor Wilhelm haben die Sorge geäußert, dass
Beschlüsse, die auf diese Weise zustande gekommen sind,
anfechtbar seien. Im Hintergrund drohen sogar Schaden-
ersatzansprüche gegen die Aufsichtsräte.
Es ist unverantwortlich, Kommunalpolitiker, die ihre
Beratungen der Öffentlichkeit zugänglich machen wol-
len, mit dieser ihrer guten Absicht alleine zu lassen. Es
gibt keinen einsichtigen Grund, warum der Gesetzgeber
keine sichere Grundlage für mehr Transparenz schaffen
dürfte und sollte. Mit ihrer Untätigkeit verletzt die Große
Koalition ihre Pflicht, per Gesetz Klarheit und Rechtssi-
cherheit zu schaffen.
Die FDP wird nicht müde werden, das Thema erneut
auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Es ist zu
hoffen, dass in der nächsten Legislaturperiode eine grö-
ßere Bereitschaft hergestellt werden kann, das einfach zu
lösende Thema endlich anzupacken.
Bei dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag der
Grünen enthält sich die FDP-Fraktion allerdings aus ei-
nem bestimmten Grund der Stimme. Die Grünen wollen in
die wünschenswerte Neuregelung auch Gesellschaften
mit lediglich kommunaler Mehrheitsbeteiligung einbezie-
hen. Dies könnte rechtlich problematisch sein, weil dann
auch private Minderheitsgesellschafter, für die eben tra-
ditionell der Nichtöffentlichkeitsgrundsatz gilt, betroffen
wären. Aus Sicht der FDP wäre es daher besser, zunächst
einmal die Transparenzregelung auf die vollständig in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25245
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Max Stadler
kommunaler Hand befindlichen Gesellschaften zu bezie-
hen.
Wenn wir somit auch dem Antrag der Grünen nicht zu-
stimmen können, sondern uns der Stimme enthalten,
bleibt doch zu betonen, dass das Grundanliegen von der
FDP seit langem befürwortet wird.
Katrin Kunert (DIE LINKE):
In der ersten Lesung zum Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hatte ich ja bereits die grundsätzliche
Position der Fraktion Die Linke zu Protokoll gegeben. An
dieser Position hat sich nichts geändert. Die Fraktion Die
Linke wird dem Antrag zustimmen. Insofern möchte ich
die Gelegenheit nutzen, mich mit den Argumenten der an-
deren Fraktionen auseinanderzusetzen.
Aus der Rede des Kollegen Krings von der Fraktion
der CDU/CSU resultiert, dass die Erbringung öffentli-
cher Leistungen in privater Rechtsform untauglich ist.
Dem möchte ich mich voll anschließen. Und nicht nur ich.
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass of-
fensichtlich mit der Überführung kommunaler Unterneh-
men in eine private Rechtsform ihre Möglichkeiten der
Einflussnahme und die ihrer gewählten Vertreterinnen
und Vertreter eingeschränkt wurden.
Die SPD-Fraktion unterstreicht diese Position noch,
indem sie nachweist, dass es offensichtlich eine Rechts-
unklarheit hinsichtlich der Möglichkeiten der öffentli-
chen Einflussnahme auf Unternehmensentscheidungen
gibt. Im Unterschied zu Herrn Benneter bin ich der Auf-
fassung, dass genau das der Anlass ist, gesetzgeberisch
tätig zu werden. In dieser Hinsicht kann ich den Ausfüh-
rungen von Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, zustimmen.
Wenn Private sich an einem öffentlichen Unternehmen
beteiligen oder ihre Beteiligung beim Einstieg der öffent-
lichen Hand aufrechterhalten wollen, dann ist dies eine
bewusste Entscheidung. Sie wissen, dass sie damit Ver-
antwortung für das öffentliche Wohl übernehmen. Die
Gewinne, die sie aus dem Engagement erzielen, sind letzt-
lich nur möglich, weil die Leistungen des öffentlichen Un-
ternehmens als öffentlich anerkannt sind. Natürlich gibt
die Bindung des Unternehmens an die öffentliche Hand
den Investoren auch Sicherheit. Es ist wohl nicht zu viel
verlangt, wenn dafür ein erhöhtes Maß an Transparenz
eingefordert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Posi-
tion, dass die Aufhebung der Verschwiegenheitspflicht
eine Verletzung der Rechte Privater sei, nicht nachzuvoll-
ziehen.
Natürlich haben wir Vertrauen in das verantwortungs-
bewusste Handeln der Kommunalvertretungen. Und wir
unterstützen natürlich auch den Gedanken, dass gute
Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker Trans-
parenzregeln nicht als Bedrohung ansehen, sondern diese
als Ausdruck bürgernaher Kommunalpolitik werten. Es
ist jedoch naiv anzunehmen, dass es hier einen Automa-
tismus gäbe. Wenn Bürgerinnen und Bürger überhaupt
nicht wissen, was in öffentlichen Unternehmen vorgeht,
können sie natürlich nicht beurteilen, ob Kommunalpoli-
tikerinnen und Kommunalpolitiker dem Kriterium der
Zu Protokoll
Transparenz überhaupt gerecht werden. Die Einführung
von Regelungen, wie sie durch den Antrag der Grünen
vorgeschlagen werden, ist nicht Ausdruck von Miss-
trauen, sondern stärkt gerade die Position der Kommu-
nalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, die für Trans-
parenz stehen. Sie erhalten für ihr Handeln eine
verlässliche Rechtsgrundlage.
Mehrere Urteile belegen, dass erst durch Gerichte
dem von Kollegen Benneter unterstellten Transparenz-
prinzip Geltung verschafft werden konnte. Es ist also
nicht der Fall, dass hier eine in sich widerspruchsfreie
Rechtslage besteht. Dafür sprechen rechtliche Auseinan-
dersetzungen in Fragen der Auskunftspflicht – Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 10. Februar 2005 – und zur
Einschränkung der Verschwiegenheitspflicht von Auf-
sichtsratsmitgliedern – Urteil des 4. Senats des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Mai 2006 – , um
nur zwei Beispiele zu nennen.
Wir bleiben dabei, dass es einer veränderten gesetzli-
chen Regelung bedarf. Es stellt sich ja auch die Frage, in-
wieweit die Bestimmungen für private Unternehmen
überhaupt den neuen Bedingungen entsprechen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Immer mehr Aufgaben der Daseinsvorsorge von der
Wasserversorgung bis zur Abfallbeseitigung haben die
Städte und Gemeinden in Gesellschaften – GmbHs oder
Aktiengesellschaften – überführt. Für diese Gesellschaf-
ten schreibt das Gesellschaftsrecht vor, dass deren Auf-
sichtsräte nichtöffentlich tagen. Deshalb können wichtige
kommunale Entscheidungen getroffen werden, über die
die Öffentlichkeit und die Gemeinderäte nur unzulänglich
informiert werden. Solche intransparenten Entscheidun-
gen sind das Gegenteil von dem, was gelebte Demokratie
vor Ort braucht, nämlich Transparenz und Offenheit ge-
genüber den Bürgerinnen und Bürgern.
Mangels einer gesetzlichen Lösung dieses Problems
hat sich eine uneinheitliche Rechtsprechung entwickelt.
Angesichts der bestehenden Gesetzeslage haben sich die
Gerichte mehrheitlich dafür ausgesprochen, dass Auf-
sichtsräte nicht öffentlich tagen müssen. Widersprüchli-
che Rechtsauffassungen und die Uneinheitlichkeit der
OLG-Rechtssprechung machen jedoch deutlich, dass der
Gesetzgeber eine rechtliche Klarstellung treffen muss.
Bündnis 90/Die Grünen fordern deshalb, Rechtsklar-
heit zu schaffen und das Gesellschaftsrecht dahin gehend
zu ändern, dass die Aufsichtsgremien kommunaler Ge-
sellschaften in privater Rechtsform künftig öffentlich ta-
gen dürfen. Union und SPD sehen jedoch nach wie vor
keinen Regelungsbedarf.
Während die SPD sich in der ersten Lesung unseres
Antrags unwissend gab, sich der Mindermeinung der Ge-
richte anschloss und proklamierte, Öffentlichkeit von
Aufsichtsratssitzungen sei kein Problem, ist die Union
ehrlicher vorgegangen. Sie, sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Union, kanzeln unsere Vorschläge
für mehr Transparenz mit dem Argument eines Eingriffs
in die privaten Freiheitsrechte ab, weil wir auch Transpa-
25246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25247
(A) (C)
(B) (D)
Britta Haßelmann
renz für solche kommunalen Gesellschaften fordern, an
denen Private in der Minderheit beteiligt sind.
Die Haltung der Union lässt tief in Ihr Demokratiever-
ständnis blicken. Sie wissen sehr wohl, dass auch privates
Eigentum einer Sozialbindung unterliegt. Wenn Sie sich
unsere Vorschläge genauer anschauen würden, dann
wäre Ihnen auch aufgefallen, dass wir sehr wohl den
Schutz privaten Eigentums mitgedacht haben.
Im sensiblen Bereich der kommunalen Daseinsvor-
sorge, wo die Versorgungssicherheit zum Beispiel für
Wasser, Abfall, Energie und den Nahverkehr und die Ent-
wicklung der Preise für diese Leistungen eine immense
Rolle für die Bürgerinnen und Bürger spielen, hat die
Transparenz von Entscheidungen eine herausragende
Bedeutung. Sie ist eine notwendige Bedingung, um die
politische Steuerungsfähigkeit der Kommunen und ihrer
demokratischen Gremien zu gewährleisten, damit diese
ihre eigenen kommunalen Gesellschaften nicht nur auf
dem Papier, sondern auch strategisch leiten können. Des-
halb muss Transparenz den Vorrang vor privaten Kapital-
interessen haben. Zu oft gerät Klüngel in kommunalen
wie in privaten Unternehmen der Daseinsvorsorge an die
Oberfläche – leider immer erst dann, wenn das Kind be-
reits in den Brunnen gefallen ist.
Vor dem Hintergrund der Finanzkrise sollten Sie, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen von Union, SPD und
auch der FDP, endlich begreifen, dass die Devise nicht
„Privat vor Staat“ heißen kann. Wenn Sie die Gelegenheit
für eine Demokratisierung unserer Unternehmen, insbe-
sondere solcher, die die öffentliche Versorgung sicherstel-
len, nicht nutzen, dann haben Sie aus der Krise nichts ge-
lernt. Ich bitte deshalb, unserem Antrag zuzustimmen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13296, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11826 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen. Dafür gestimmt haben die Frak-
tionen der Koalition. Dagegen gestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und Die Linke. Die FDP hat sich ent-
halten.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Landgraf, Steffen Reiche (Cottbus),
Renate Schmidt (Nürnberg) und weiterer Abge-
ordneter
Der Zukunft eine Stimme geben – Für ein
Wahlrecht von Geburt an
– Drucksache 16/9868 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich gebe der Kollegin Renate Schmidt das Wort.
(Beifall bei der SPD und der FDP)
Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Was bewegt uns – in meinem Manuskript
steht an dieser Stelle: wenige Unverdrossene; das kann
ich gar nicht sagen; das sind beinahe viele Unverdros-
sene –, zur nächtlichen Stunde teilweise zur Belustigung,
teilweise zum Ärger mancher Kollegen und Kolleginnen
– und in jedem Fall ihrem Unverständnis ausgesetzt –
über unseren Antrag „Der Zukunft eine Stimme geben –
Für ein Wahlrecht von Geburt an“ zu debattieren? Uns
bewegt die Sorge um die Zukunft unserer Kinder und
Enkel, der immer weniger werdenden Kinder und Enkel.
Wir haben das Ziel, die letzte Wahlungleichheit, die es in
unserem Wahlrecht gibt, zu beseitigen; denn jede Alters-
grenze, die wir setzen, ist willkürlich. Wir wissen, dass
wir von vielen belächelt werden. Aber auch diejenigen
Frauen und wenigen Männer, die für das Frauenwahl-
recht eingetreten sind, wurden mit angeblich ausgespro-
chen schlüssigen Argumenten seinerzeit lächerlich ge-
macht und angefeindet. Wir werden aber nicht nur
belächelt, sondern auch von namhaften Juristinnen und
Juristen wie zum Beispiel von Roman Herzog, dem von
mir nicht häufig zitierten Paul Kirchhof und der ehemali-
gen Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-
Gutzeit ermutigt.
Unser Ziel ist, der Zukunft, nämlich unseren Kindern
und Enkelkindern, eine Stimme zu geben. Dies ist in un-
serer Gesellschaft des langen Lebens, in unserem Land
der vielen Älteren und der wenigen Jungen von unver-
zichtbarer Bedeutung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Es geht darum, allen Generationen in unserer Gesell-
schaft ein gleiches Gewicht zu geben. Das geschieht in
einer Demokratie über das Stimmrecht. Wir haben in un-
serem Antrag offengelassen, ob das Stimmrecht derjeni-
gen, die jünger als 18 Jahre sind, generell über ihre El-
tern ausgeübt wird oder ob es ab einem festzulegenden
Alter von den Jugendlichen selbst in Anspruch genom-
men werden kann. Darüber können und müssen wir
streiten, wenn die Grundsatzentscheidung für ein Wahl-
recht von Geburt an getroffen ist.
Auch mit einem Wahlrecht von Geburt an ist der
Grundsatz der Unmittelbarkeit, der Höchstpersönlichkeit
und der Gleichheit der Wahl genauso wenig verletzt wie
der Grundsatz der geheimen Wahl. Das haben wir in der
Begründung unseres Antrags schlüssig nachgewiesen.
Wir sind in der Begründung unseres Antrags zudem auf
die vielen Gegenargumente eingegangen. Dabei zeigt
sich, dass alle Probleme, die bei einem Wahlrecht von
Geburt an auftreten können, lösbar sind. Man muss es
nur wollen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
25248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Renate Schmidt (Nürnberg)
Aber ich habe die Vermutung, dass sich viele, die nun
sagen, das alles sei ein Krampf, bisher nicht die Mühe
gemacht haben, unseren Antrag wenigstens einmal von
Anfang bis Ende durchzulesen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen der Zukunft eine Stimme geben, damit
frühkindliche Bildung genauso wichtig wird und bleibt
wie die Anpassung der Renten. Wir wollen der Zukunft
eine Stimme geben, damit Kindertagesstätten denselben
Stellenwert haben wie Pflegeheime, damit das Bedürfnis
von Kindern, zu toben, genauso akzeptiert wird wie das
Ruhebedürfnis der Älteren und damit generell die Inte-
ressen von Kindern und Jugendlichen denselben Stellen-
wert haben wie die von Älteren. Wir wollen damit den
Zusammenhalt der Generationen fördern. Wir wollen
kein Gegeneinander der Generationen, sondern ein Mit-
einander.
Die heutige Debatte wird nicht zu einem Ergebnis
führen können. Sie ist ein Merkposten für die nächste
Legislaturperiode und ein Auftrag für diejenigen, die
weiter dabei sein werden. Katharina Landgraf, Steffen
Reiche, Dr. Hermann Otto Solms sowie die anderen Un-
terstützer und Unterstützerinnen werden diesen Antrag
wieder auf die Tagesordnung setzen, für ihn werben und
ihm letztendlich zum Durchbruch verhelfen, vielleicht in
einem Gesamtpaket: Kindergrundrechte und das Prinzip
der Generationengerechtigkeit in die Verfassung und als
eine der logischen Schlussfolgerungen daraus ein Wahl-
recht von Geburt an, um endlich der Zukunft in unserem
Land eine Stimme zu geben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als langjähriger und engagierter Unterstützer ei-
nes Wahlrechts von Geburt an bin ich Widerstände ge-
gen unser Vorhaben gewohnt. „Totaler Unfug, aber im-
merhin sympathisch“ ist noch die mildeste Form der
Kritik, die ich erlebt habe. Es enttäuscht mich aber doch
sehr, dass das Thema in dieser Legislaturperiode bei der
Festlegung der Tagesordnung des Plenums trotz aller
Bemühungen der Initiatoren so stiefmütterlich behandelt
wird.
Was ist das Anliegen unseres Antrages? Wir wollen
schlicht und einfach, dass die 14 Millionen Menschen,
deutsche Staatsbürger, die aufgrund ihres Alters vom
Wahlrecht ausgeschlossen sind, eine Stimme bekom-
men, eine Stimme für die Jugend, für die Zukunft in
Deutschland. Für mich geht es dabei um eine zentrale
Frage meines Demokratieverständnisses: Darf man ein
Fünftel der Bürger unseres Landes nur aufgrund ihres
Alters von der Wahl ausschließen? Nach Art. 20 Abs. 2
unserer Verfassung geht alle Staatsgewalt vom Volke
aus,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD)
nicht vom erwachsenen Volk. Kinder sind mit Geburt
deutsche Staatsbürger. Sie sind Träger der Staatsgewalt,
sie sind rechtsfähig, sie sind nur nicht geschäftsfähig,
aber da – in anderen Bereichen ist das auch so – über-
nehmen die Eltern die Verantwortung.
Kinder sollten an der Möglichkeit teilhaben, durch die
Teilnahme an Wahlen Staatsgewalt auszuüben. Nur so
kann gewährleistet werden, dass ihre Interessen, Wün-
sche und Anliegen überhaupt Eingang in die politische
Willensbildung finden. Die heutige Politik ist oftmals
nur auf zwei Generationen ausgerichtet. Der demografi-
sche Wandel führt zu einer noch schlechteren Interessen-
vertretung der jungen Generation. Im Jahr 2030 wird je-
der dritte Bundesbürger 60 Jahre oder älter sein. Durch
die Aufnahme der dritten Generation in den Generatio-
nenvertrag kann endlich eine Lücke bei der Verteilungs-
gerechtigkeit geschlossen werden. Es ist endlich an der
Zeit, ein Dreigenerationenwahlrecht zu schaffen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD)
Nur so können die Interessen der Jugendlichen und Kin-
der tatsächlich in die Willensbildung einfließen.
Ein Wahlrecht ab Geburt bringt keine Privilegien für
Familien. Im Gegenteil, es beendet eine Benachteiligung
von Familien. Das ist verfassungsrechtlich geboten.
Art. 20 ist neben Art. 1 mit der Ewigkeitsgarantie ausge-
stattet; natürlich ist er prioritär gegenüber Art. 38.
Rechtliche Erwägungen stehen hier zurück; das bestäti-
gen bekannte Rechtspolitiker und Rechtsphilosophen,
die angeführt worden sind.
Das allgemeine Wahlrecht ist eine Errungenschaft der
modernen Demokratie. Ein Wahlrecht ist allgemein,
wenn es grundsätzlich allen Staatsbürgern zusteht, unab-
hängig von Geschlecht, Einkommen, Rasse, Religion,
Bildungsstand oder anderen Bedingungen.
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … aus-
geübt.
Lassen wir das für alle Staatsbürger, einschließlich unse-
rer Jugend, gelten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Katharina Landgraf hat das Wort.
Katharina Landgraf (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die de-
mografische Entwicklung in Deutschland zwingt uns ge-
radezu zu einer grundlegenden Veränderung des Wahl-
rechts und zur Wahrung der Generationengerechtigkeit;
meine Vorredner haben das schon ausgeführt. Ich
möchte ganz persönlich etwas hinzufügen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25249
(A) (C)
(B) (D)
Katharina Landgraf
Wir fordern permanent eine Stärkung der Familie und
deren Position in der Gesellschaft. Dem müssen Taten
folgen. Da gehört das Wahlrecht einfach dazu. Die Fami-
lien sind der Grundstock unserer Gesellschaft; darum
müssen sie sich auch mehr an der Demokratie beteiligen
dürfen.
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Also Fami-
lienwahlrecht!)
Da besteht Handlungsbedarf. Ich plädiere hier für das
Familienwahlrecht.
Ich möchte klarstellen, dass ich persönlich auf keinen
Fall eine Absenkung des Wahlalters will. Wenn wir die
Familien stärken wollen und ihre Stimme mit einem grö-
ßeren Gewicht in der Gesellschaft, in der Demokratie
ausstatten wollen, so brauchen wir die Einführung eines
Familienwahlrechts. Der vorliegende Antrag, den ich
mittrage, eröffnet dafür einen weiteren parlamentari-
schen Weg; er schließt auch andere Meinungen nicht
aus. Wir haben gemeinsam an diesem Thema gearbeitet;
das war sehr angenehm. Ich habe zum ersten Mal eine
solche Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinaus
erlebt. Ich möchte allen für diese Erfahrung danken.
Ich möchte zum Schluss sagen, dass sich die Anliegen
der Kinder durch das Familienwahlrecht viel mehr in
den politischen Entscheidungsfindungen wiederfinden
würden, als das jetzt der Fall ist. Eltern sollten als Stell-
vertreter für ihre Kinder bei Wahlen und Abstimmungen
ihre Stimme abgeben können. In einem ganz normal ent-
wickelten Familienleben müsste das möglich sein. Zu al-
len Ausnahmen und allen Schwierigkeiten, die es geben
könnte, sollen berufene Juristen Modelle entwickeln.
Darum haben wir die Bundesregierung aufgefordert, ei-
nen Gesetzentwurf zu entwickeln. Darüber müssen wir
zu dieser Tageszeit nicht diskutieren. Ich wünsche mir,
dass so ein besserer Weg für Kinder und Familien in der
Gesellschaft gefunden wird. Wir würden uns sehr
freuen, wenn Sie uns auf dem Weg weiterhin begleiten
würden.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Steffen Reiche hat das Wort.
Steffen Reiche (Cottbus) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Noch diskutieren wir über diesen Antrag zu später
Nacht, unbemerkt. Es werden andere Zeiten kommen.
Auch ich selber war vor zehn Jahren kritisch und hielt
das Ganze für absurd.
(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Aber dann habe ich nachgedacht. – Das steht Ihnen noch
bevor. – Keiner von uns hat etwas dagegen, dass ein
80-Jähriger oder ein 90-Jähriger Parlamentarier wählt,
die Entscheidungen treffen, die Jahrzehnte über sein ei-
genes Leben hinauswirken. Aber wir wollen und können
nicht akzeptieren, dass rund 14,24 Millionen Bürger un-
seres Staates, und zwar die, die am längsten von diesen
Entscheidungen betroffen sind, nicht mitwählen dürfen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Dr. Hermann Otto Solms [FDP])
Sie dürfen nicht mitwählen, werden also weniger bei den
Programmen berücksichtigt, müssen aber alle getroffe-
nen Entscheidungen ihr Leben lang tragen und bezahlen.
One Man, one Vote – das ist der Grundsatz der Demo-
kratie. Am Anfang hieß das: Ein Mann, eine Stimme.
Dann kamen die Frauen dazu. Seitdem muss es heißen:
Ein Mensch – zumindest ab 18 Jahre –, eine Stimme.
Haben Sie einmal die Argumente gegen das Frauenwahl-
recht von vor 90 oder 100 Jahren gelesen? Einige Argu-
mente gegen das Frauenstimmrecht lauten: Frauen haben
kein Interesse an der Politik. Frauen fehlt die geistige
Reife, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen.
Frauen sind zu leicht beeinflussbar und können so zum
Spielball von politischen Parteien werden. Frauen sind
zu emotional, um verantwortungsvolle politische Ent-
scheidungen treffen zu können. Das Frauenwahlrecht ist
nicht biblisch. – All das sind keine Argumente aus
Saudi-Arabien, sondern aus der Schweiz. Sie sind nicht
100 und nicht 80, sondern 42 Jahre alt. Sie stammen aus
dem Jahr 1967.
Durch die Rentenrechtsänderung und die Versprechen
für die Rentner entstehen zurzeit zusätzliche mittelfris-
tige Ausgaben von rund 46 Milliarden Euro. Wir wissen,
dass die solidarische Versicherung eigentlich so organi-
siert ist, dass diejenigen, die arbeiten, für die zahlen, die
in Rente sind. Aber schon heute werden 80 Milliarden
Euro vom Steuerzahler aufgebracht, also jeder dritte
Euro der Rentengelder in Höhe von 240 Milliarden
Euro. Ich kritisiere das nicht, ich stelle es nur fest. Aber
dass die 16,3 Millionen Menschen, die heute älter als
65 Jahre sind und wählen können, vor Wahlen wichtiger
sind als die 14,24 Millionen unter 18, die noch keine
Stimme haben, das aber bezahlen müssen, wollen wir
auf Dauer nicht akzeptieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP)
Wir brauchen in den Zeiten rasanter demografischer
Veränderungen eine neue Balance. Deshalb kämpfen wir
für das Wahlrecht von Geburt an. Uns ist klar, dass das
ein langer Weg ist; denn wir brauchen eine Zweidrittel-
mehrheit, nicht weil das Wahlrecht von Geburt an ver-
fassungswidrig wäre, nein, weil zurzeit in Art. 38 des
Grundgesetzes festgelegt ist, dass nur der, der das
18. Lebensjahr vollendet hat, das Wahlrecht hat. Allge-
mein, unmittelbar, frei, gleich und geheim wird auch das
Wahlrecht von Geburt an sein. Von „höchstpersönlich“
steht eben auch schon jetzt nichts in der Verfassung. Wir
wollen mit unserem Antrag erreichen, dass die letzte be-
stehende Wahlrechtsdiskriminierung aufgelöst wird. Wir
wollen ein wirklich allgemeines Wahlrecht, wie es un-
sere Verfassung verspricht, das aber nicht wie damals,
1949, 18,2 Millionen und heute 14,24 Millionen Bürger
ausschließt.
25250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Steffen Reiche (Cottbus)
All diejenigen, die jetzt nicht da sind und das Ganze
für verrückt halten, hätten vor vier Jahren vieles von
dem, was heute Gesetz ist, auch für verrückt, für un-
denkbar gehalten. Die Zeiten ändern sich und wir mit ih-
nen. Unser Projekt braucht lange Zeit – ein dickes Brett:
eher etwas für meine Urenkel als für meine Enkel. Ver-
mutlich brauchen wir noch mehrere Legislaturperioden.
Aber wer die Welt gerechter machen will, der muss tiefer
träumen und wacher sein als andere. Wir sind heute die
Letzten. Aber Sie kennen alle die Zusage: Die Letzten
werden die Ersten sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Stephan
Mayer, Klaus Uwe Benneter, Miriam Gruß, Petra Pau
und Kai Gehring.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9868 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist so beschlossen.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 34:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Gudrun
Kopp, Christoph Waitz, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Tele-
mediengesetzes (… Telemediengesetzände-
rungsgesetz – … TMGÄndG)
– Drucksache 16/11173 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
– Drucksache 16/13278 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martina Krogmann
Zu Protokoll gegeben sind die Reden von
Dr. Martina Krogmann, Martin Dörmann, Hans-Joachim
Otto, Dr. Lothar Bisky und Grietje Staffelt.
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):
Es ist zu begrüßen, dass das Telemediengesetz als ei-
nes der zentralen Gesetze für die Internetwirtschaft wie-
der einmal im Deutschen Bundestag thematisiert wird.
Weniger begrüßenswert ist, dass ein inhaltlich noch nicht
einmal ansatzweise überzeugender Gesetzentwurf Anlass
zur Beschäftigung mit dieser wichtigen Norm ist. Der
Entwurf zeugt von einer erheblichen Diskrepanz zwi-
schen rhetorischem Aufwand und fachlicher Sicherheit.
Richtig ist grundsätzlich, dass beim Telemediengesetz
ein erheblicher Aktualisierungs- und Präzisierungsbe-
darf besteht: Die seit 2007 ergangenen – teils höchstrich-
terlichen – Entscheidungen haben die grundlegenden
1) Anlage 38
Problemstellungen nicht gelöst, sondern in vielfacher
Hinsicht eher noch verschärft. Diese Rechtsunsicherheit,
die sich in schwer vorauszusehenden Entscheidungen
konkret auf die beteiligten Unternehmen auswirkt, belas-
tet die Wirtschaft. Die Rechtsprechung hat von der der
gesetzlich vorgesehenen, in der E-Commerce-Richtlinie
verankerten Haftungsbeschränkung der verschiedenen
Provider in der Praxis kaum etwas übrig gelassen. Es do-
minieren vielmehr Unterlassungsansprüche in Form der
sogenannten Störerhaftung seit langem das Bild. Die
Überarbeitung des Telemediengesetzes und der zivil-
rechtlichen Haftungsregelungen muss so schnell wie
möglich erfolgen. Es muss im Telemediengesetz klar und
eindeutig geregelt werden, welche Pflichten die Akteure
haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor al-
lem die Zugangsanbieter, Internetauktionshäuser, Such-
maschinenbetreiber und Verwender von Hyperlinks.
Unerfüllbare, unpraktikable und unverhältnismäßige
Regeln für die Verantwortlichkeit für Inhalte, die Dritte in
Foren, Blogs oder auf kommerziellen Seiten eingestellt
haben, lehnen wir ebenso wie die Initiatoren des Entwurfs
ab. Dies gilt auch für die Verantwortlichkeit der Verwen-
der von Hyperlinks und der Betreiber von Suchmaschi-
nen. Hier gibt es Übereinstimmung mit dem Gesetzent-
wurf der FDP. Insgesamt enthält der Entwurf jedoch ganz
erhebliche Mängel. Dies wurde auch in der Anhörung der
Sachverständigen vor dem Wirtschaftsausschuss des
Deutschen Bundestages bestätigt. Der Gesetzentwurf
sieht an zwei Stellen vor, dass eine vorrangige Inan-
spruchnahme des eigentlichen Verletzers eines Rechts er-
folgen soll.
Es geht hier also unter anderem darum – in der Regel
die übliche Konstellation –, dass wir einen Nutzer haben,
der Inhalte auf bereitgestellten Servicediensten hochlädt
und eben damit zum Abruf bereitstellt. Der Hostprovider
kann derzeit gegebenenfalls in Anspruch genommen
werden, diese Inhalte zu sperren oder herunterzuneh-
men. Es stellt sich hier die Frage, ob und in welchem
Umfang es – wie in dem Entwurf vorgesehen – sinnvoll
sein könnte, dass der Verletzte zunächst an den Verletzer
und erst dann an den Hostprovider herantreten muss. Auf
den ersten Blick erscheint es recht und billig, dass derje-
nige, der tatsächlich der Übeltäter ist und in der Regel
schuldhaft ein fremdes Recht verletzt hat, auch zuerst in
Anspruch genommen wird. Schon nach geltendem Recht
ist der Hostprovider verpflichtet, den Inhalt erst einmal
zu entfernen, wenn die Rechtsverletzung zumindest offen-
sichtlich ist. Daran würde der Gesetzentwurf nichts än-
dern. Das ist gut, da nicht weiter schädlich.
Geradezu absurd ist es aber, wenn gleichzeitig gefor-
dert wird, dass der Verletzte erst den Verletzer verklagen
muss und sich erst dann an den Hostprovider wenden
dürfen soll. Abgesehen davon, dass sich widersprechende
Regeln in einem Gesetz nicht zwangsläufig zur Rechts-
klarheit, wohl aber zur Verbesserung der Beschäftigung
von Juristen beitragen, ist dieser Ansatz wegen des damit
verbundenen sinnlosen bürokratischen Aufwands völlig
verfehlt.
Was soll der Verletzte tun, wenn der Verletzer in einem
Staat lebt, der weniger einem Rechtsstaat ähnelt, als uns
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Martina Krogmann
lieb ist? Was muss er in diesen Fällen alles unternehmen,
damit er gegen den Hostprovider vor seiner Haustür vor-
gehen kann? Soll ein mittelständisches Unternehmen
wirklich erst in einem entfernten Winkel dieses Planeten
ein Urteil erklagen? Ein Urteil, das im Zweifel nicht nur
zu spät ergeht, sondern auch noch Kosten ohne Ende ver-
ursacht, und zwar zunächst einmal für den sowieso schon
Geschädigten. Das ist für die Unternehmen untragbar.
Wir sollten uns auch hier an den alten Grundsatz halten,
dass nur schnelles Recht auch gutes Recht ist, und diese
Regelung so schnell wie möglich vergessen.
Das eigentliche Problem, die Begrenzung der Kon-
troll- und Überwachungspflichten der Diensteanbieter,
wird durch die vorliegende Initiative nicht gelöst. Dazu
haben die sonst durchaus eloquenten Initiatoren des Ent-
wurfs auch im Zusammenhang mit der Diskussion um das
Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kom-
munikationsnetzen geschwiegen. Sie haben keine Hand
gerührt, um die Diensteanbieter vor einer möglicher-
weise ausufernden Rechtsprechung zu bewahren. Es war
die Union, die durchgesetzt hat, dass die Infrastruktur der
Zugangserschwernis nicht für zivilrechtliche Ansprüche
genutzt werden darf.
Wir haben die Rechtssicherheit für die Accessprovider,
die nur Daten transportieren wie der Briefträger die Post,
entscheidend gestärkt. Ausgangspunkt unserer Überle-
gungen waren hier die Haftungsprivilegien der E-Com-
merce-Richtlinie, die auch bei einer Überarbeitung des
Telemediengesetzes zur Klarstellung der Störerhaftung
die Richtschnur sein werden. Gerade die Inanspruch-
nahme Dritter als Störer sollte mit einer sehr großen
Sorgfalt gehandhabt werden. Wir müssen auf jeden Fall
verhindern, dass eine zu weit gehende, in nationalem Zi-
vilrecht gefangene Rechtsprechung die Grundgedanken
der E-Commerce-Richtlinie unterläuft.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch übereilten Hau-
ruckaktionen, die die inzwischen sehr umfangreiche
Rechtsprechung ignorieren und so durch fehlende intel-
lektuelle Reflexion die alten Probleme nicht lösen, dafür
aber neue schaffen, eine entschiedene Absage erteilen.
Glücklicherweise hat sich das Bundeswirtschaftsministe-
rium bereits in geradezu mustergültiger Weise seit länge-
rer Zeit dieses Themas angenommen, eine reichhaltige
Expertise in praktischer und theoretischer Hinsicht ange-
häuft, sodass einer Aktualisierung des Telemediengeset-
zes zu Beginn der neuen Legislaturperiode nichts entge-
gensteht.
Ich bin mir auch sicher, dass wir in der nächsten Le-
gislaturperiode keine Ressortegoismen mehr zu beklagen
haben werden, die dringend erforderliche Anpassungen
verschleppen.
Sie sehen, es gibt noch viel zu tun. Wir werden es mit
der gebotenen Gründlichkeit und Schnelligkeit anpacken.
Eines sollten wir aber auf jeden Fall schon jetzt tun: Die
Vorschläge aus diesem Gesetzentwurf vergessen.
Martin Dörmann (SPD):
Ich will zunächst noch einmal die bisherige Diskussion
in dieser Legislaturperiode in Erinnerung rufen. Anfang
Zu Protokoll
2007 haben wir mit dem neuen Telemediengesetz erstmals
einen einheitlichen, entwicklungsoffenen Rechtsrahmen
im Bereich der Tele- und Mediendienste geschaffen. Frü-
here Abgrenzungsprobleme sind entfallen. Gegenüber
dem alten Rechtszustand wurde eine deutliche Verbesse-
rung erzielt. Damit haben wir einen wirksamen Beitrag
zur Fortentwicklung des Internets geleistet, für das das
Telemediengesetz von besonderer Bedeutung ist. Wir
mussten damals das Gesetz zügig verabschieden, um ein
zeitgleiches Inkrafttreten mit dem Neunten Staatsvertrag
für Rundfunk und Telemedien zum 1. März 2007 zu er-
möglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich und haben
die bisherigen Bestimmungen abgelöst.
Zuletzt hat der Bundestag im Mai 2008 eine ausführli-
che Debatte über möglichen Änderungsbedarf geführt.
Grundsätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die
einen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auch je-
weils mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Aus Sicht der Koalitionsfraktionen geht es hierbei in
erster Linie um die weitere Verbesserung der Rechtssi-
cherheit im Bereich der Internethaftung. Das betrifft die
Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den
Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce-
Richtlinie nicht erfasst werden und die auch in Deutsch-
land vor diesem Hintergrund ausdrücklich nicht geregelt
wurden, insbesondere Suchmaschinen und Hyperlinks.
Insofern haben wir es nämlich mit einer Rechtsprechung
zu tun, die in der Internetbranche für Unsicherheiten ge-
sorgt hat, die es möglichst zu beseitigen gilt.
Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweit
ein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbst
eingestellt hat. Dass Rechteverletzungen beseitigt werden
müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitet aller-
dings die zukünftige Verhinderung einer Rechteverlet-
zung, insbesondere dann, wenn eine Rechteverletzung
festgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fälle
zu übertragen ist. Und wer auf seiner Homepage Links
auf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht ständig
kontrollieren.
Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Diens-
teanbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftung
reguläre Überwachungspflichten übernehmen müssen
oder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlas-
sungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kernglei-
che Rechteverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großer
Verunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung der
Kerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führen
könnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Ausle-
gung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffenen
Rechteinhaber führen.
Insgesamt geht es daher vor allem um eine gerechte
und praktikable Lösung, die die unterschiedlichen Inte-
ressen von Rechteinhabern, Verbrauchern und Internet-
unternehmen zu einem vernünftigen Ausgleich bringt.
Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allen Be-
teiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich als äu-
ßerst schwierig erwiesen. Die Koalitionsfraktionen hat-
ten erwartet, dass die Bundesregierung wie angekündigt
noch im Jahr 2008 einen Gesetzentwurf vorlegt, in dem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25251
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Martin Dörmann
die problematisierten Gesichtspunkte berücksichtigt wer-
den. Das Wirtschaftsministerium war auch keineswegs
untätig, sondern hat zahlreiche Gespräche mit vielen Be-
teiligten geführt, um eine möglichst von allen getragene
Lösung abzustimmen. Eine besondere Schwierigkeit ist
dabei, dass die Rechtsprechung auch weiterhin in der
Entwicklung ist. Wichtige Entscheidungen, die in diesem
Jahr ergangen sind, müssen bei der Gesetzgebung be-
rücksichtigt werden. Dies alles hat zu einer Zeitverzöge-
rung geführt, die wir als Koalitionsfraktionen bedauern.
Wir wären hier gerne schneller vorangeschritten.
Die FDP-Fraktion hat nun einen eigenen Gesetzent-
wurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorgelegt. Er
greift insbesondere die Frage der Störerhaftung auf.
Die von der FDP vorgetragenen Änderungsvorschläge
haben wir geprüft. Bei den Regelungen zu Suchmaschi-
nen und Hyperlinks erscheint mir die Zielrichtung grund-
sätzlich durchaus unterstützenswert.
Andererseits enthält der FDP-Entwurf allerdings auch
eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und fragwürdigen
Regelungsvorschlägen. So soll der Internetvermittler nur
dann als Störer haften, wenn der eigentliche Verursacher
nicht greifbar ist, andererseits aber auch nur dann, wenn
gegen den eigentlichen Störer ein vollstreckbarer Titel er-
wirkt wurde. Hierdurch würde die Verhinderung einer
Rechteverletzung beim Vermittler sehr weitgehend er-
schwert.
An manchen Stellen macht es sich der FDP-Antrag
deshalb bezüglich der Abwägung der unterschiedlichen
Interessenlagen zu einfac, angesichts der komplexen Pro-
blemlagen. Daher ist der Gesetzentwurf aus Sicht der Ko-
alitionsfraktionen insgesamt keine geeignete Grundlage
für eine Novellierung des Telemediengesetzes. Dies hat
für uns auch die Anhörung im Wirtschaftsausschuss erge-
ben.
Es bleibt nun dem Bundestag in der neuen Legislatur-
periode vorbehalten, dieses Thema erneut aufzugreifen.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Die Große Koalition ist ihrer Verantwortung auf dem
Gebiet des Internet- bzw. Telemedienrechts nicht gerecht
geworden. Fast drei Jahre ist es nun her, dass CDU/CSU
und SPD die letzte Gesetzesnovelle in diesem wirtschaft-
lich und gesellschaftlich extrem wichtigen Bereich zu-
stande gebracht hatten. Schon die damalige Novelle des
TMG war nach allgemeiner Erkenntnis lückenhaft und in
Teilen fehlerbehaftet, eine umgehende Verbesserung
wurde von der Bundesregierung bereits anlässlich der
Verabschiedung des Gesetzes lauthals versprochen. Die
FDP hatte seinerzeit ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf
ausdrücklich nur wegen der Zusage der Großen Koalition
erteilt, dass diese umgehend eine Reform auf den Weg
bringen werde. Diese Zusage haben Sie nicht eingehal-
ten. Wir fühlen uns von Ihnen getäuscht.
Infolge Ihrer Untätigkeit gehen weitere Jahre der
Rechtsunsicherheit ins Land. Anbieter von Meinungs-
foren mussten und müssen diese schließen, weil einzelne
Beiträge Dritter mit zum Teil aberwitzigen Motiven recht-
lich beanstandet wurden. Anbieter von Verkaufsplattfor-
Zu Protokoll
men werden nach wie vor in die Haftungsfalle getrieben.
Sie haben nur die wenig erfreuliche Wahl zwischen der
Sperrung eines möglicherweise rechtmäßigen Angebotes
oder der Nichtsperrung eines möglicherweise rechtswid-
rigen Angebotes. Oder sie werden mit Überwachungs-
pflichten belegt, welche die europäische Grundlage des
Telemediengesetzes, die E-Commerce-Richtlinie, gerade
nicht will.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch im Internet
sollen und müssen materielles und immaterielles Recht
durchgesetzt werden. Das gilt für Eigentumsrechte ge-
nauso wie für Persönlichkeitsrechte. Dazu werden aber
transparente, eindeutige und nachvollziehbare Verfahren
benötigt, die das aktuelle Telemediengesetz gerade nicht
bietet. Rechtsunsicherheit und unklare Gesetze schaden
der Internet- und Kommunikationsbranche, den Inhabern
von Eigentumsrechten und modernen Bürgern in der In-
formationsgesellschaft gleichermaßen. Daran trägt die
Große Koalition Mitschuld.
Nun wurde von CDU/CSU und SPD geltend gemacht,
man habe nicht genug Zeit gehabt, um einen Gesetzent-
wurf zur Medien- und Kommunikationsordnung zu erar-
beiten. Das aber ist höchst merkwürdig. Denn bei den
Netzsperren, die sich vor allem die Union ausgedacht hat,
um noch ein wenig auf Stimmenfang zu gehen, benötigte
die Große Koalition nur wenige Wochen für einen – übri-
gens vollständig inakzeptablen und ungeeigneten – Ge-
setzentwurf zur Änderung des Telemediengesetzes. Als
die Mehrheit im Bundestag gefährdet war, präsentierten
die Koalitionsfraktionen dann noch viel kurzfristiger
– über Nacht sozusagen – ein völlig neues Gesetz mit dem
Titel „Zugangserschwerungsgesetz“.
Ich will hier nicht erneut über dieses im Hinblick auf
seine Geeignetheit sowie seine formelle – keine Zustän-
digkeit des Bundes und bereits vorhandene gesetzliche
Regelung durch die Länder – und materielle – Aushöh-
lung von Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsprinzip –
Verfassungsmäßigkeit höchst fragwürdige Vorhaben dis-
kutieren. Es ist aber bezeichnend, dass die Bundesregie-
rung nicht dazu in der Lage ist, innerhalb von drei Jahren
wenigstens einen Entwurf für ein ausgewogenes und mo-
dernes Gesetz zum Internetrecht vorzulegen, aber von
heute auf morgen einen massiven, einseitigen und im Hin-
blick auf das angestrebte Ziel ungeeigneten Eingriff in die
Kommunikationsfreiheit beschließt.
Wegen der Versäumnisse der Großen Koalition hat die
FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen Entwurf in den
Bundestag eingebracht, über den wir heute abschließend
entscheiden. Sie, liebe Kollegen von Union und SPD, ha-
ben in den bisherigen Debatten viele vorgeschobene
Gründe angeführt, warum Sie unserem Gesetzentwurf
nicht zustimmen wollen. Ich habe Sie gebeten, bessere
Vorschläge zu machen, so diese denn existieren.
Das ist offensichtlich nicht der Fall. Sie haben weder
Änderungsvorschläge gemacht noch einen eigenen Ge-
setzentwurf vorgelegt. Konstruktive parlamentarische
Arbeit sieht anders aus. Das Ausbleiben weiterer Anre-
gungen bestärkt mich in der Annahme, dass der Entwurf
der FDP bis dato den besten Vorschlag darstellt. Daher
appelliere ich an Sie, diesem zuzustimmen.
25252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Denn heute haben wir noch einmal die Möglichkeit,
die immer weiter zunehmende Rechtsunsicherheit bei der
Telekommunikationsbranche, bei Telemedienanbietern
und auch bei den Bürgern dieses Landes abzubauen. Die
geltende Rechtslage behindert offensichtlich Investitio-
nen und Innovationen. Das kostet Arbeitsplätze in einer
der wenigen dynamischen Branchen. Dazu tritt die dro-
hende Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit.
In dem Gesetzentwurf der FDP wird die grundsätzli-
che Nichtverantwortlichkeit von Diensteanbietern für In-
halte Dritter betont. Dennoch können Anbietern von
Telemedien Sorgfaltspflichten auferlegt werden, um
Rechtsverletzungen abzustellen oder zu verhindern. Das
dahin gehende Verfahren wird formalisiert und präzisiert.
Das stärkt Rechteinhaber und in ihren Rechten Verletzte
gleichermaßen.
Mit diesen Klarstellungen werden demnach Defizite
im geltenden Telemedienrecht abgebaut. Die Regelungen
begründen ein formalisiertes Verfahren zur Durchsetzung
von Rechtsgütern durch Entfernung oder Sperrung der
Nutzung von Inhalten seitens der Diensteanbieter. Das
Verursacherprinzip wird im haftungsrechtlichen Kontext
gestärkt. Bestehende Rechtslücken im Bereich der Such-
maschinen und Hyperlinks werden geschlossen. Beide
werden zu Recht als unverzichtbare und grundlegende
Mechanismen für eine effektive Nutzung des Internets an-
gesehen. Sie dürfen aus Sicht der FDP daher bei Haf-
tungsfragen nicht schlechter gestellt werden als andere
Dienste.
Mit der ebenfalls verankerten Option zur Schaffung
von Schwerpunktgerichten wird das Recht angemessen
weiterentwickelt werden. Sie ermöglicht Synergien bei
gerade im Telemedienbereich unverzichtbarem – auch
technischem – Sachverstand und vermindert negative Be-
gleiterscheinungen eines sogenannten fliegenden Ge-
richtsstands, der übrigens auch in der jüngeren Recht-
sprechung zunehmend kritisch beleuchtet wird. Der
Datenschutz wird durch die erweiterten Transparenzvor-
schriften sowie die Pflicht zur Angabe der Erreichbarkeit
des Datenschutzbeauftragten ebenfalls gestärkt.
Schließlich wird die bisher exzessive Ermächtigung
zur Weitergabe sensibler Nutzerdaten eingeschränkt.
Denn die Kompensationspflicht bei Bestandsdatenabfra-
gen sichert Diensteanbietern angemessene Entschädi-
gungen für Auskünfte gegenüber Behörden. Einen sinn-
vollen Nebeneffekt stellt dieser ökonomische Anreiz
insofern dar, als Bestandsdatenauskünfte durch den Staat
nicht zu exzessiv eingeholt werden. Ein solcher regulie-
render Anreiz ist rechtstaatlich geboten.
Der Entwurf der FDP ist ausgewogen, sinnvoll und
würde eine spürbare Verbesserung und Modernisierung
des Telemedienrechts bringen. Ich werbe daher noch ein-
mal um Ihre Unterstützung und Zustimmung. Die nächste
Gelegenheit, die überfällige Reform des Telemedien-
rechts umzusetzen, wird angesichts der Neukonstituie-
rung des Bundestages wohl frühestens in einem Jahr
kommen. In diesem Zeitraum droht Deutschland im inter-
nationalen Standortwettbewerb einer der zukunftsträch-
tigsten Branchen zurückzufallen. Gerade angesichts der
aktuellen Wirtschaftskrise sollten wir uns dies nicht leis-
ten.
Zu Protokoll
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
Die Novellierung des Telemediengesetzes ist längst
überfällig. Bei der Verabschiedung des Gesetzes zu Be-
ginn des Jahres 2007 war beabsichtigt, unterschiedliche
Gesetzesregelungen unter einheitlichem Bundesrecht zu-
sammenzuführen. Damit sollte die Rechtslage besser an
die Konvergenz der neuen Medien angepasst werden.
Durch die Zusammenführung wurden bedeutsame Berei-
che im Internet teilweise neu geregelt, also zum Beispiel
Haftungsfragen von Diensteanbietern, Regeln zur Anbie-
terkennzeichnung wie die Impressumspflicht, die Verfol-
gung von Spammails und Maßnahmen des Datenschutzes
und der Herausgabe von personenbezogenen Nutzerda-
ten.
Das Gesetz entstand seinerzeit unter großem Zeitdruck
und schon damals wurde angekündigt, dass nach seinem
Inkrafttreten eine Novellierung erforderlich sei. Das
spricht für sich und ich will das nicht weiter kommentie-
ren. In seiner jetzigen Fassung jedenfalls enthält das Te-
lemediengesetz viele ungeklärte, fragliche oder praxis-
ferne Regelungen. Hier ist Nachbesserung dringend
geboten! Entgegen der ursprünglichen Zielsetzung trägt
das Telemediengesetz in der digitalen Welt nicht zu mehr
Rechtssicherheit bei, sondern zu mehr Rechtsunsicher-
heit. Das lehnt Die Linke ab!
Obwohl die zahlreichen Probleme für eine der zentra-
len Vorschriften des Internetrechts bekannt sind, sieht
sich das Bundeswirtschaftsministerium außer stande,
zeitnah eine Überarbeitung vorzulegen. Die Linke und
auch die Grünen haben bereits im vergangenen Jahr in
eigenen Anträgen darauf hingewiesen und Lösungsvor-
schläge präsentiert. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf
der FDP sucht einen Teil der erheblichen Lücken und
Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz zu schließen.
Allerdings erfolgt das allein aus wirtschaftlich motivier-
ter Sicht. Das halte ich für inakzeptabel.
Im FDP-Entwurf werden wesentliche Aspekte bislang
vielfach ungeklärter Haftungsfragen von Inhalteanbie-
tern und Providern angesprochen. So weit, so gut, doch
fehlt zum Beispiel eine ausdrückliche Definition des Be-
griffes „Telemedien“. Und darum bleibt weiterhin unge-
klärt, wie digitale Inhalte in der Folge klassifiziert wer-
den und wer beispielsweise für die Aufsicht der Inhalte
zuständig ist, wenn es um Fragen des Jugendschutzes
geht. Das ist ein bisschen dünn und zudem werden viele
neue unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetzentwurf ver-
wendet. Es bleibt unklar, wie diese zu bestimmen sind. Als
Beispiel sei das „zumutbar“ im neu vorgeschlagenen § 7
Abs. 2 TMG im vorletzten Satz genannt. Mit dem Begriff
„zumutbar“ haben wir alle schlechte Erfahrungen ge-
macht. Ich verweise nur auf „zumutbare Arbeit“. Durch
die Ungenauigkeit solcher Formulierungen wird die Ge-
fahr der Rechtsunsicherheit nicht gemindert, sondern so-
gar verstärkt. Das ist der falsche Weg.
Im Gesetzentwurf der FDP werden zwar etliche ele-
mentare Fragen des Datenschutzes angesprochen und es
wird auch der Versuch unternommen, dafür eine gesetzli-
che Regelung zu finden. Doch aus Sicht der Linken gehen
uns diese Vorschläge nicht weit genug. Wir sagen: Von
vornherein muss gewährleistet werden, dass immer nur
möglichst wenige Daten erhoben werden. Die Linke will
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25253
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Lothar Bisky
den Datenschutz stärken! Deswegen dürfen unseres Er-
achtens Daten nicht mehr an eine nahezu beliebige Zahl
von Interessenten und Interessentinnen aus Polizei, Ge-
heimdiensten und Militär herausgegeben werden, wie es
bislang im Gesetz verankert ist.
Wir fordern für die Herausgabe von personenbezoge-
nen Bestandsdaten einen Richtervorbehalt. Zudem leh-
nen wir die im Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in der
Informationstechnik des Bundes vorgesehene Erhebung
und Verwendung von Nutzungsdaten durch Diensteanbie-
ter ab. Wir fordern, dass die Erstellung von Nutzerprofi-
len durch Diensteanbieter nur nach vorheriger ausdrück-
licher Einwilligung möglich ist. Und wir fordern, dass
Datenschutz und Verbraucherschutz im Netz generell ge-
stärkt werden. Schließlich lehnen wir Filter- und Sperr-
maßnahmen im Internet durch Zugangsanbieter oder
staatliche Stellen grundsätzlich ab. Wie heißt es doch so
schön im Grundgesetz: „Eine Zensur findet nicht statt.“
Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Im Moment ist viel die Rede vom Telemediengesetz
(TMG), aber leider nicht, weil die seit langem ungeklär-
ten Fragen der Anbieter- und Forenhaftung endlich ge-
löst würden, sondern weil die Regierung Kinderporno-
grafie im Netz über das Telemediengesetz sperren lassen
möchte. Dagegen wenden wir uns entschieden. Wir wol-
len, wenn überhaupt, ein Spezialgesetz dazu, damit ge-
währleistet ist, dass wirklich nur Kinderpornografie „ge-
sperrt“ wird. Neben einer Reihe von völlig ungeklärten
Fragen im Gesetzentwurf der Koalition ist uns das Risiko
bei einer Verankerung im TMG zu hoch, dass in Zukunft
auch andere Inhalte unzugänglich gemacht werden. Da-
neben ist die vorgeschlagene Änderung ein Bruch in der
Struktur des Gesetzes: Wo bislang die Absicherung von
Providern gegen Verfolgung geregelt wird und wir seit
Jahren über zusätzliche Haftungserleichterungen debat-
tieren, werden sie in Sachen Kinderpornografie nun zu
Hilfssheriffs des BKA gemacht.
Anstatt also – wie ursprünglich versprochen – das
TMG in dieser Legislatur noch einmal zu reformieren,
bekommen wir es nun lediglich wegen der Einfügung
der höchst umstrittenen Kinderpornografie-Zugangs-
erschwernis auf den Tisch. Das ist ein Schlag ins Gesicht
all derer, die sich um eine vernünftige Überarbeitung des
Gesetzes während der ganzen Legislatur eingesetzt ha-
ben, als da sind: Provider und Forenanbieter, Verbrau-
cher- und Datenschützer und damit sämtliche häufig in
die Ausschussanhörungen geladene Experten. Die FDP
hatte recht, hier mit einem eigenen Gesetzentwurf – den
wir heute beraten – noch einmal Druck aufzubauen. Nur
ist auch sie leider ohne Erfolg geblieben.
Die Koalition hat uns, wie ich schon bei der ersten Le-
sung angemerkt habe, zweimal hängen lassen: Erst ver-
abschiedet sie ein Gesetz, das sie selbst nicht für gut hält.
Dann bleibt die versprochene Nachbesserung einfach
aus. Dabei liegen die Vorschläge für ein funktionierendes
Telemediengesetz längst auf dem Tisch! Wir Grünen ha-
ben bereits zwei Anträge (16/3499, 16/6394) in den Bun-
destag eingebracht – mit ganz klaren Forderungen, was
im Telemediengesetz wie besser geregelt werden sollte.
Dazu gehört zum einen die Anbieterhaftung. Natürlich
Zu Protokoll
muss es eindeutige Haftungsregeln für Diensteanbieter
geben. Zugangsprovider dürfen nicht dazu verpflichtet
werden, die von ihnen zugänglich gemachten oder trans-
portierten Inhalte zu überwachen oder gar vorab nach
rechtswidrigen Inhalten zu suchen.
Es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, dass
sie inhaltliche Vorabkontrollen und -entfernungen im Ge-
setz nicht von vornherein ausgeschlossen hat. Und es ist
ein Beweis dafür, dass die Bundesregierung nicht im Ent-
ferntesten im Zeitalter des Web2.0 angekommen ist! Denn
dieses lebt gerade davon, dass Diensteanbieter eine
Onlineplattform oder den Zugang hierzu zur Verfügung
stellen, die die Nutzerinnen und Nutzer mit Inhalt und da-
mit auch mit Leben füllen. Ganze Geschäftsmodelle von
eBay über YouTube bis StudiVZ funktionieren so. Auch
Blogs und Foren sind dadurch charakterisiert, dass sie
Nutzerinnen und Nutzern eine Plattform für eigene In-
halte bieten. Wenn Vorabkontrollen zur Pflicht werden,
geht eine Szene kaputt, die Bürgerbeteiligung bedeutet,
eine Alternative zum Mainstream-Journalismus darstellt
und aus unserer Netzwelt einfach nicht mehr wegzuden-
ken ist!
Gleichzeitig müssen Diensteanbieter klar darauf ver-
pflichtet werden, rechtswidrige Links und Inhalte zu ent-
fernen, sobald sie davon Kenntnis erlangt haben und es
ihnen technisch zumutbar ist. Dazu dient das sogenannte
Notice-and-take-down-Verfahren, bei dem Nutzerinnen
und Nutzer dem Dienstanbieter rechtswidrige Inhalte
melden können, damit dieser sie entfernt. Regelungen, die
zur Entfernung von bekannten rechtswidrigen Inhalten
verpflichten, müssen zudem auch auf Suchmaschinen-
anbieter ausgeweitet werden, wie es auch die FDP will.
Sie sind ebenso Zugangsdienstleister, die selbst keine In-
halte produzieren.
Zum anderen müssen klarere Spamregelungen ins
TMG. Vorschläge, die Spamming härter bestrafen und die
Verfolgung von Spam möglich machen, sind mitnichten
Symbolpolitik, wie die FDP das immer darstellt. Spam ist
nicht nur nervig und zeitraubend für die Nutzerinnen und
Nutzer, sondern auch ein gewaltiger ökologischer Bal-
last: In einem Jahr fressen Spammails laut einer Meldung
von Heise Online vom 15. April dieses Jahres 33 Milliar-
den Kilowattstunden, so viel Strom wie 2,4 Millionen
Haushalte oder wie eine ganze Großstadt! Eine Spam-
mail verursacht einen CO2-Ausstoß von 0,3 Gramm. Die
meiste Energie wird beim Sichten und Löschen ver-
braucht, nur ein kleiner Teil beim Senden und automati-
schen Filtern, ein Grund mehr, um den Versand von Spam
endlich wirksamer zu bekämpfen. Die Bundesregierung
hätte hier aktiv handeln und die von uns gemachten Vor-
schläge umsetzen müssen!
Den Verbraucherinnen und Verbrauchern wäre schon
viel gedient, wenn unerwünschte Werbemails in ihrem
Postfach mit einem „W“ gekennzeichnet würden. Außer-
dem muss in Sachen Werbemails ein generelles Opt-in-
Verfahren her. Das heißt, nur wer der Zusendung von
Werbung vorher ausdrücklich zugestimmt hat, darf eben-
solche erhalten. Jedes Zuschicken unerwünschter Wer-
bung muss als Ordnungswidrigkeit geahndet und mit
hohem Bußgeld belegt werden. Sie muss außerdem durch
die Bundesnetzagentur verfolgt werden. Nur wenn es hier
25254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25255
(A) (C)
(B) (D)
Grietje Staffelt
spürbare Sanktionen gegen die Versender gibt, kann
Spam effektiv eingedämmt werden. Aber, wie wir ja wis-
sen, ist das Thema Verbraucherschutz weder ein Stecken-
pferd der FDP noch eines der Großen Koalition.
Neben den Antispamregelungen, die wir Grüne höchst
mangelhaft finden, halten wir eine Überarbeitung der
Datenschutzregeln im TMG für dringend geboten. Immer
öfter sehen sich Nutzerinnen und Nutzer damit konfron-
tiert, dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffent-
licht werden (siehe hierzu auch unseren Antrag Daten-
schutz in sozialen Netzwerken, 16/11920). Gelöst werden
kann dieses Problem nur, indem Telemedienanbieter von
vornherein keine oder nur wenige Daten ihrer Nutzerin-
nen und Nutzer erheben, wenn sie ihre Dienste anbieten.
Wir brauchen dringend ein sogenanntes Kopplungsver-
bot, das nicht nur für marktbeherrschende Unternehmen
gilt: Die Nutzung eines Onlinedienstes oder sonstigen
Angebotes darf nicht an die Herausgabe personenbezo-
gener Daten geknüpft werden. Auch müssen Nutzer den
Verbleib ihrer Daten regelmäßig abfragen können. Dafür
soll die Weitergabe der Daten jeweils protokolliert wer-
den. Dies hätte zur Folge, dass jede Datenerhebung
nachvollziehbar würde und rechtswidrige Erhebungs-
praktiken nicht länger verborgen blieben.
Statt Befugnisse zur Datensammlung immer weiter
auszuweiten – etwa wie es in den Forderungen zum
Thema Kinderpornografie teilweise geschehen ist –, soll-
ten endlich Regelungen geschaffen werden, um den Da-
tenschutz wirksamer zu machen! Auch hier gilt: Die Bun-
desregierung ist immer noch nicht im Internetzeitalter
angekommen. Das Telemediengesetz, das uns als die Re-
form der Medienordnung verkauft wurde, ist mal wieder
ein Beweis dafür!
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13278, den Gesetzentwurf
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11173 abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung abgelehnt. Zugestimmt hat die Fraktion der
FDP, dagegen haben die Koalitionsfraktionen und Die
Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat sich enthalten. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 41:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Stärkung der Sicherheit in der Infor-
mationstechnik des Bundes
– Drucksachen 16/11967, 16/12225 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)
– Drucksache 16/13259 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann (Volkach)
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
von CDU/CSU und SPD vor.
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden – ich sehe,
Sie sind damit einverstanden – Clemens Binninger,
Frank Hofmann, Gisela Piltz, Ulla Jelpke und Wolfgang
Wieland.1)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13259, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf den Drucksachen 16/11967 und 16/12225 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung angenommen bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen; dagegen hat die Opposition gestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Wer zustimmen will, stehe
bitte auf. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit demselben
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Nun zum Entschließungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/13373. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
angenommen bei Zustimmung der Koalition und Gegen-
stimmen der Opposition.
Tagesordnungspunkt 36:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schnellstmögliche Unterzeichnung und Ratifi-
zierung der Europäischen Landschaftskon-
vention
– Drucksachen 16/10821, 16/12917 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Lutz Heilmann
Undine Kurth (Quedlinburg)
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle-
ginnen und Kollegen Josef Göppel, Dirk Becker,
Angelika Brunkhorst, Lutz Heilmann und Undine Kurth.
1) Anlage 39
(A) (C)
(B) (D)
Josef Göppel (CDU/CSU):
Im Jahre 2000 wurde die Europäische Landschafts-
konvention von den Mitgliedstaaten des Europarates
beschlossen. Sie dient der Sicherung, Förderung und Ent-
wicklung der Vielfalt europäischer Kulturlandschaften
und liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung
regionaler und lokaler Identitäten in Europa. Die Euro-
päische Landschaftskonvention wurde bislang von
29 Ländern ratifiziert, allerdings noch nicht von
Deutschland. Die Bundesregierung wird im vorliegenden
Antrag der Linken aufgefordert, die Konvention umge-
hend zu ratifizieren.
Der Ratifizierung stand bisher aus Sicht der Bundes-
regierung entgegen, dass vom Übereinkommen keine we-
sentlichen Verbesserungen im Bereich des Umwelt- und
Naturschutzes in Deutschland und in den übrigen betei-
ligten Staaten zu erwarten seien. Naturschutz spielt in der
Konvention nur eine untergeordnete Rolle, es geht hier
vielmehr darum, das Recht des Menschen auf Bestim-
mung über die ihn umgebende Landschaft zu bekräftigen
und Verwaltungen auf verschiedenen Ebenen zur besse-
ren Zusammenarbeit zu bewegen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Vielzahl von
landschaftsbezogenen Konventionen unterschrieben,
darunter die Konvention über biologische Vielfalt, CBD,
die UNESCO-Welterbekonvention mit ihren Natur- und
Kulturerbestätten sowie Kulturlandschaftsstätten, die
FFH-Richtlinie, die Bonner Konvention zum Schutz wan-
dernder Arten, die Berner Konventionen und die Ramsar-
Konvention zum Schutz der Feuchtgebiete sowie die Al-
penkonvention. Im Sinne einer Bündelung der finanziel-
len und personellen Ressourcen und zur Vermeidung von
Doppelstrukturen muss daher die Unterzeichnung weite-
rer Konventionen genau geprüft werden.
Die Unionsfraktion hatte aber bereits in der Aus-
schusssitzung am 22. April 2009 erklärt, dass man die
Idee einer Europäischen Landschaftskonvention prinzi-
piell für richtig und wichtig erachte. Bisher ist allerdings
nicht ausreichend erkennbar, dass die Konvention einen
Anstoß für wesentliche Verbesserungen für den Umwelt-
und Naturschutz in Deutschland und in Europa geben
kann. In meiner Fraktion gibt es dazu noch Gesprächsbe-
darf. Persönlich bin ich der Meinung, dass sich im weite-
ren Beratungsverlauf und in der Anwendung der Konven-
tion in anderen Mitgliedstaaten der Mehrwert zeigen
wird und die Bundesrepublik Deutschland die Konven-
tion dann auch ratifizieren sollte. Dafür trete ich ein.
Dirk Becker (SPD):
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke die
schnellstmögliche Unterzeichnung der Europäischen
Landschaftskonvention. Sie wurde im Jahr 2000 von den
Mitgliedstaaten des Europarates beschlossen. Die Bun-
desrepublik Deutschland hat sie bis heute nicht ratifiziert –
aus guten Gründen.
Bereits das Naturschutzgesetz von 1976 nennt unter
den Grundsätzen des Naturschutzes die Vielfalt, Eigenart
und Schönheit der Landschaft in besiedelten und unbesie-
delten Bereichen. Die Begriffspaare „Natur und Land-
schaft“ oder „Naturschutz und Landschaftspflege“ zie-
Zu Protokoll
hen sich wie ein roter Faden durch die nachfolgenden
Novellierungen; auch die neuste Novelle, über die wir
morgen abschließend beraten, trägt den Titel „Gesetz zur
Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Land-
schaftspflege“. Der Schutz der Landschaft und die Land-
schaftspflege sind also traditionell im deutschen Recht
und im Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen veran-
kert.
Auch das Übereinkommen zur Erhaltung der biologi-
schen Vielfalt, CBD, verfolgt Ziele der Kultur-Land-
schaftserhaltung. Großräumige, bedeutende Kulturland-
schaften können auch im Rahmen des UNESCO-
Welterbeübereinkommens als international bedeutendes
Gebiet ausgewiesen werden. Der Schutz von Kultur- und
Naturlandschaften wird in der EU bereits durch die
Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie gewährleistet, da sie
zahlreiche das Landschaftsbild prägende Lebensraum-
typen mit Schutzverpflichtungen belegt. Wesentliche Ver-
besserungen für den Natur- und Landschaftsschutz sind
durch die Ratifizierung der Konvention also nicht zu er-
warten.
Es ist daher mehr als fraglich, ob wir noch eine zusätz-
liche Konvention brauchen, die dann mit einigem Verwal-
tungsaufwand, insbesondere in den Bundesländern, um-
gesetzt werden muss. Wir haben uns ja in dieser
Legislaturperiode mit dem Sondergutachten des Sachver-
ständigenrates für Umweltfragen „Umweltverwaltungen
unter Reformdruck – Herausforderungen, Strategien,
Perspektiven“ beschäftigt. Hier wurde deutlich, dass die
Verwaltungen schon jetzt aufgrund der geringer werden-
den personellen und finanziellen Ausstattung teilweise
nicht mehr in der Lage sind, ihren Vollzugsaufgaben voll-
ständig nachzukommen.
Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht über den
Stand der Unterzeichnung internationaler Konvention
– Drucksache 16/5375 – zu Recht darauf hin, dass es auf-
grund der begrenzten finanziellen und personellen Aus-
stattung auf der Ebene des Bundes, aber auch bei den
Ländern besonders wichtig sei, sich im internationalen
Bereich auf Projekte zu konzentrieren, bei denen gewähr-
leistet sei, dass sie einen Anstoß für wesentliche Verbes-
serungen für den Umwelt- und Naturschutz in Deutsch-
land und den anderen beteiligten Staaten gäben.
Darüber hinaus spielt der Naturschutz in dem Über-
einkommen – wie die Bundesregierung in ihrem Bericht
weiter ausführt – ohnehin nur eine untergeordnete Rolle;
es gehe vielmehr darum, das Recht des Menschen auf
Bestimmung über die ihn umgebende Landschaft zu be-
kräftigen und Verwaltungen auf verschiedenen Ebenen
– lokal, regional, national und international – zur Zusam-
menarbeit aufzurufen. Zu erwarten wären daher mittel-
fristig ein erhöhter Verwaltungsaufwand sowie neue
kostspielige Verwaltungsstrukturen im Bereich des Euro-
parats bzw. die Bindung vorhandener personeller und fi-
nanzieller Mittel, die dann anderen Projekten nicht mehr
zur Verfügung stünden.
Eine Ratifizierung der Europäischen Landschaftskon-
vention würde also den Natur- und Landschaftsschutz in
Deutschland nicht verbessern, sondern nur unnötige Kos-
ten und Verwaltungsaufwand verursachen.
25256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Angelika Brunkhorst (FDP):
Im Oktober 2000 beschloss der Europarat die Europäi-
sche Landschaftskonvention. Sie trat nach Unterzeich-
nung von zehn EU-Mitgliedstaaten im März 2004 in
Kraft. Deutschland gehört zu den EU-Mitgliedstaaten,
die die Konvention nicht unterzeichnet haben. Hierfür
gibt es jedoch gute Gründe. Die FDP stimmt dem Antrag
daher nicht zu.
Die Europäische Landschaftskonvention hat das Ziel,
„den Schutz, die Pflege und die Gestaltung der Land-
schaft zu fördern und die europäische Zusammenarbeit in
Landschaftsfragen zu organisieren“. Die Konvention be-
zieht sich auf das gesamte Territorium der Unterzeichner-
staaten, also auf alle Landschaften – seien es natürliche,
ländliche oder städtische Gebiete, Land- oder Wasserflä-
chen, außergewöhnlich schutzwürdige oder geschädigte
Landschaften. Unter Landschaft versteht die Europäi-
sche Landschaftskonvention „ein vom Menschen als sol-
ches wahrgenommenes Gebiet, dessen Charakter das Er-
gebnis des Wirkens und Zusammenwirkens natürlicher
und/oder anthropogener Faktoren ist“.
Mit Unterzeichnung der Europäischen Landschafts-
konvention verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten,
Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung, Ausbildung und
Erziehung sowie zur Landschaftserhaltung, Landschafts-
planung und zum Landschaftsmanagement einschließlich
landschaftsbezogener Qualitätsziele zu etablieren. Dabei
sollen Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung in der
„Landschaftspolitik“ eingeführt werden sowie die Land-
schaftsbelange in verschiedene andere, sich möglicher-
weise unmittelbar oder mittelbar auf die Landschaft aus-
wirkende Politiken aufgenommen werden.
Sowohl nach dem alten Bundesnaturschutzgesetz als
auch nach der BNatschG-Novelle, über die der Deutsche
Bundestag morgen abschließend beraten wird, sind in
Deutschland Natur und Landschaft aufgrund ihres eige-
nen Wertes und als Lebensgrundlagen des Menschen
auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im
besiedelten und unbesiedelten Bereich so zu schützen, zu
pflegen, zu entwickeln und, soweit erforderlich, wieder-
herzustellen, dass erstens die Leistungs- und Funk-
tionsfähigkeit des Naturhaushalts, zweitens die Rege-
nerationsfähigkeit und nachhaltige Nutzungsfähigkeit
der Naturgüter, drittens die Tier- und Pflanzenwelt ein-
schließlich ihrer Lebensstätten und Lebensräume sowie
viertens die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der
Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer ge-
sichert sind.
Im Vergleich zu diesen breit angelegten Zielen des
Bundesnaturschutzgesetzes werden in der Europäischen
Landschaftskonvention die kulturellen Werte der Land-
schaft stärker in den Vordergrund gerückt.
Grundsätzlich ist der Ansatz der Europäischen Land-
schaftskonvention, europaweit die rechtliche Grundlage
für eine umfassende Landschaftspolitik zu schaffen, posi-
tiv zu bewerten. Auch die FDP tritt im Bereich der Natur-
schutzpolitik für den Schutz auch der Kulturlandschaften
als Teils der „Heimat“ der dort lebenden Menschen ein.
Zu Protokoll
Deutschland gehört aber zu den Ländern mit einem
weitgehend ausgestalteten und etablierten Instrumenta-
rium zum Umgang mit Landschaft. Man denke nur an die
verschiedenen Ebenen der Landschaftsplanung. Ein
Großteil der Anforderungen der Europäischen Land-
schaftskonvention sind in Deutschland bereits umgesetzt
worden. Die Ratifikation bringt also im Ergebnis keinen
Mehrwert für den Naturschutz in Deutschland.
Der Umweltsachverständigenrat hatte in seinem Gut-
achten aus dem Jahr 2004 erklärt, er halte die baldige
Unterzeichnung der Europäischen Landschaftskonven-
tion für sinnvoll. Er hatte dies damals nicht mit dem na-
tionalen Naturschutzrecht begründet, sondern damit,
dass die Ratifizierung einen Anstoß geben könne für die
Einführung einer Öffentlichkeitsbeteiligung in der Land-
schaftsplanung. Zudem könne sie insbesondere auf ost-
europäische Staaten politische Signalwirkung entfalten.
Angesichts der heutigen Anzahl der Unterzeichnerstaa-
ten sind diese Argumente heute nicht mehr stichhaltig.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Wenn Sie unseren Antrag ablehnen, lehnen Sie die Eu-
ropäische Landschaftskonvention ab und zeigen damit
ein weiteres Mal, dass Ihr Interesse an der Einigung Eu-
ropas auf rein wirtschaftlichen Interessen beruht. Die
Forderung unserer Kanzlerin „Europa als Wertegemein-
schaft stärken“ scheinen Sie als politische Richtlinie
nicht ernst zu nehmen; denn die Europäische Land-
schaftskonvention ist doch ausdrücklich ein Beitrag des
Europarates, um eben diese Wertegemeinschaft zu stär-
ken.
Das hätten Sie schon dem ersten Abschnitt des Über-
einkommens entnehmen können, in dem noch einmal an
das Ziel des Europarats erinnert wird, „eine engere Ver-
bindung zwischen seinen Mitgliedern herbeizuführen, um
die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bil-
den, zu wahren und zu fördern, und dass dieses Ziel ins-
besondere durch den Abschluss von Übereinkünften auf
wirtschaftlichem und sozialem Gebiet verfolgt wird“.
Neben dem symbolischen Charakter, den die Unter-
zeichnung und Ratifizierung der Europäischen Land-
schaftskonvention hat, einigen sich die Unterzeichner na-
türlich auch auf das konkrete Ziel, sich gemeinsam dem
Schutz, der Pflege und der Gestaltung aller Landschaften
Europas zu widmen, sowie auf konkrete Maßnahmen, um
dieses zu erreichen, wie Bewusstseinsbildung, Ausbil-
dung und Erziehung, Erfassung und Bewertung von
Landschaften.
Von diesem Projekt sind keine unverhältnismäßigen
Kosten oder Verpflichtungen für die Bundesrepublik zu
erwarten, wie von einer Reihe von Fachleuten bestätigt
wurde. Die positiven Auswirkungen liegen klar auf der
Hand. So wird die europäische Landschaftspolitik aufei-
nander abgestimmt. Internationale Landschaften und
Schutzgebiete, wie der Nationalpark Unteres Odertal,
werden dadurch als Einheit betrachtet und nicht durch
einseitige Eingriffe zerstört. Europaweite, qualitativ
hochwertige Standards und das Einbeziehen von Land-
schaft in Regional- und Städteplanungspolitik, in Kultur-,
Umwelt-, Agrar-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik ermög-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25257
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Lutz Heilmann
lichen eine nachhaltige Landschaftspolitik. Zudem würde
die Unterzeichnung den internationalen Wissensaus-
tausch im Sinne einer effektiveren Landschaftspolitik
stärken. Ein weiterer wesentlicher Grund für die Unter-
zeichnung ist die Beteiligung der Öffentlichkeit an der
Entwicklung von Landschaften, die die Verbindung zwi-
schen Mensch und Landschaft anerkennt und stärkt.
Ich frage mich ernsthaft: Was spricht dagegen, die Eu-
ropäische Landschaftskonvention zu zeichnen? Bisherige
Einwände, insbesondere von Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen der SPD und der FDP, machen deutlich,
dass vielen hier im Hause die Bedeutung der Europäi-
schen Landschaftskonvention nicht klar ist. Ihr Argument
gegen die Unterzeichnung, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der SPD, die Bundesrepublik tue schon genug für
Umweltschutz, greift viel zu kurz. Es geht hier eben nicht
nur um Umweltschutz, es geht um eine umfassendere Be-
trachtung von Landschaft. Im Übrigen bin ich nicht der
Meinung, dass die Bundesrepublik schon genug für den
Umweltschutz getan hat. Allein das Scheitern des Um-
weltgesetzbuches ist ein Armutszeugnis.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie ha-
ben unseren Antrag mit der Begründung abgelehnt, es be-
stehe noch Gesprächsbedarf. Die Europäische Land-
schaftskonvention ist aus dem Jahr 2000. Seitdem sind
neun Jahre vergangen, in denen Sie Zeit hatten, sich zu
verständigen. Das zeigt deutlich, wie wichtig Ihnen dieses
Thema ist. Aber ich hoffe, dass Sie sich inzwischen aus-
getauscht haben und heute unserem Antrag zustimmen
werden; denn im Umweltausschuss haben Sie die Euro-
päische Landschaftskonvention ja als richtig und wichtig
bezeichnet. Vielleicht können Sie ja auch noch Ihren Ko-
alitionspartner von der Bedeutung der Konvention über-
zeugen.
Zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP,
möchte ich natürlich auch noch etwas sagen. Die Euro-
päische Landschaftskonvention zu unterzeichnen, um Si-
gnale in Richtung Osteuropa zu schicken, wäre für mich
auch nicht Grund genug für eine Unterzeichnung. Auch
ich bin nicht für den erhobenen Zeigefinger. Aber ich
frage Sie: Was spricht denn dagegen, dass Deutschland
mit seinen – wenn auch unzureichenden – Instrumenta-
rien für Staaten mit weniger nachhaltiger und effizienter
Landschafts-, Umwelt- und Naturschutzpolitik Berater
und Vorbild im Rahmen eines solchen Übereinkommens
ist?
Deutschland ist eines der wenigen Länder, die die Eu-
ropäische Landschaftskonvention weder ratifiziert noch
unterzeichnet haben. Wenn Deutschland die Konvention
weiterhin ablehnt, wird es sich in Europa isolieren. In
diesem Übereinkommen verständigt man sich auf ge-
meinsame europäische Werte und fördert so ein Zusam-
menwachsen Europas. Denn ein wirkliches Zusammen-
wachsen von Europa geschieht nicht durch Verträge wie
den Vertrag von Lissabon, die einseitig die Wirtschafts-
lobby stärken.
„Europa als Wertegemeinschaft stärken“ – diesen
Worten unserer Kanzlerin können Sie nun Taten folgen
lassen. Stimmen Sie dem Antrag der Fraktion Die Linke
zu, und beschleunigen Sie die Unterzeichnung und Rati-
Zu Protokoll
fizierung der Europäischen Landschaftskonvention im
Sinne eines vereinigten Europas, das uns ja allen am Her-
zen liegt – oder?
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
wird die Bundesregierung aufgefordert, die Europäische
Landschaftskonvention, die im Jahre 2000 vom Europa-
rat auf Initiative des Kongresses der Gemeinden und Re-
gionen beschlossen worden ist, zu unterzeichnen und ei-
nen Gesetzentwurf zur Ratifizierung vorzulegen. In den
vergangenen Jahren gab es immer wieder Bestrebungen,
eine Unterzeichnung der Konvention zu erreichen. Die
Bundesregierung hat dem immer wieder entgegengehal-
ten, man wolle sich lieber auf internationale Projekte
konzentrieren und in der ELK spiele der Naturschutz nur
eine untergeordnete Rolle. Andererseits sei mit dem Auf-
bau einer neuen kostspieligen Verwaltungs- und Bera-
tungsstruktur im Bereich des Europarates zu rechnen.
Bei dem Übereinkommen geht es darum, die öffentli-
chen Behörden aufzufordern, in ihrer Politik und ihren
Maßnahmen auf örtlicher, regionaler, nationaler und in-
ternationaler Ebene europaweit dem Landschaftsschutz,
der Landschaftspflege und der Landschaftsplanung Be-
achtung zu schenken. Das Übereinkommen betrifft sämt-
liche Landschaften, sowohl naturschutzfachlich heraus-
ragende als auch gewöhnliche, die die menschliche
Lebensqualität und die Qualität der Umwelt bestimmen.
Der Text sieht vor, dass alle Maßnahmen, die vor Ort
ergriffen werden, der jeweiligen Landschaft angepasst
werden. Die Besonderheiten einer jeden Landschaft er-
fordern verschiedene Vorgehensweisen, vom strikten Na-
turschutz über Landschaftsschutz, Landschaftspflege bis
hin zur besseren Landschaftsgestaltung.
Das Übereinkommen schlägt rechtliche und finan-
zielle Anreize auf nationaler und internationaler Ebene
vor, um eine durchdachte „Landschaftspolitik“ sowie ein
besseres Zusammenspiel zwischen den örtlichen und den
gesamtstaatlichen Dienststellen und grenzüberschrei-
tende Zusammenarbeit beim Landschaftsschutz zu för-
dern. Das Übereinkommen zählt eine Reihe verschiede-
ner Lösungen auf, derer sich die Staaten je nach ihren
besonderen Bedürfnissen bedienen können. Zwischen-
staatliche Ausschüsse beim Europarat sollen die Durch-
führung des Übereinkommens überwachen. Der Text
sieht auch die Verleihung eines Landschaftspreises durch
den Europarat vor. All dieses spricht dafür, die Konven-
tion auch durch Deutschland zu unterschreiben und zu
ratifizieren.
Die rechtlichen Regelungen und die praktischen Maß-
nahmen zur Landschaftsplanung in Deutschland stehen
in keinerlei Widerspruch zu den Zielen der ELK. Insofern
ist die Zögerlichkeit der Bundesregierung unverständ-
lich. Zudem war Deutschland an den Verhandlungen über
die Konvention aktiv beteiligt.
Ich will aber an dieser Stelle auch deutlich sagen, dass
die Erwartungen an die Konvention nicht überfrachtet
werden sollten. Eine qualitativ neue Landschaftspolitik
wird es durch den Beitritt zur ELK in Deutschland nicht
25258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25259
(A) (C)
(B) (D)
Undine Kurth (Quedlinburg)
geben. Ein solcher Effekt ist eher für die ost- und mittel-
europäischen Staaten zu erwarten. Auch die grenzüber-
schreitende Zusammenarbeit findet bereits über die Euro-
päische Union statt. Deutschland könnte die ELK durch
einen Beitritt aber stärken und viel zur Umsetzung der
Konvention in Europa beitragen.
Deshalb stimmen wir dem Antrag zu und hoffen, dass
der von der Fraktion der CDU/CSU signalisierte Ge-
sprächsbedarf noch dazu führen wird, dass ein Beitritt zur
Konvention spätestens in der nächsten Legislaturperiode
möglich wird.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12917, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/10821 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung von Koalition und FDP; dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gestimmt. Es gab
keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 43:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
im Gewerberecht und in weiteren Rechtsvor-
schriften
– Drucksachen 16/12784, 16/13190 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
– Drucksache 16/13399 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
Zu Protokoll gegeben sind die Reden von Lena
Strothmann, Doris Barnett, Ernst Burgbacher, Ulla
Lötzer und Dr. Thea Dückert.
Lena Strothmann (CDU/CSU):
Die Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni
2009 und insbesondere die enttäuschend geringe Wahlbe-
teiligung haben einige interessante Erklärungsversuche
und gewagte Interpretationen hervorgerufen. Von fehlen-
den Identifikationsmöglichkeiten war die Rede, von unzu-
reichender Transparenz, überflüssiger Regelungswut
oder gar von einer grundlegenden und grundsätzlichen
Unzufriedenheit der Bürger mit Europa. Es ist tatsächlich
so, dass es zu wenig Identifikationsmöglichkeiten mit
Europa gibt. Ein Parlament aus 27 Staaten wirkt unüber-
sichtlich und weicht beispielweise in Fraktionsbezeich-
nungen und Abstimmungsverhalten oft von den uns be-
kannten Parlamentsmechanismen ab. Die hinreichend
zitierten Beispiele für die Brüsseler Regelungswut tragen
zudem nicht dazu bei, die Sinnhaftigkeit und Logik einzel-
ner Richtlinien zu erkennen. Dass diese aus Reihen der
Kommission und zahlreiche abstruse Ideen sogar aus den
Mitgliedstaaten selbst stammen, ist vielen gar nicht be-
kannt.
Das Europäische Parlament hatte in den ersten Jahren
– die erste Wahl fand 1979 statt – kaum Möglichkeiten, in
Entscheidungsprozesse der Kommission einzugreifen.
Das hat sich jedoch stetig verändert. Heute hat das Euro-
päische Parlament bei einer Vielzahl von festgelegten
Themen und vor allem auch beim EU-Haushalt weitrei-
chende Mitentscheidungsrechte. In den letzten Jahren hat
sich diese wachsende Kompetenz des Europaparlamentes
wie bei kaum einem anderen Thema ausgerechnet bei der
Dienstleistungsrichtlinie gezeigt.
Die EU-Dienstleistungsrichtlinie wurde 2006 verab-
schiedet. Das Thema ist immens wichtig, da der Dienst-
leistungssektor in Deutschland und der EU ein wachsen-
der Wirtschaftsbereich ist.
Der Inhalt der Richtlinie besagt in Kurzform: Erstens.
Hürden bei der Dienstleistungs- und Niederlassungsfrei-
heit müssen abgebaut werden. Zweitens. Es wird für alle
Dienstleister – für In- und Ausländer – in allen Mitglied-
staaten eine sogenannte Einheitliche Stelle, ein einheitli-
cher Ansprechpartner, eingerichtet, der alle Fragen zur
Dienstleistungsfreiheit oder Anforderungen an eine Nie-
derlassung bearbeitet.
Zur Erinnerung: Während der Entscheidungsphase
um die Richtlinie haben wir das Herkunftslandprinzip
verhindert. Das heißt, der ausländische Dienstleister
bringt nicht uneingeschränkt sein heimisches Recht aus
einem Herkunftsland mit. Vielmehr gelten die hiesigen
Standards. Ausgeklammert vom Geltungsbereich der
Richtlinie sind zudem das Steuerrecht, Arbeits- und So-
zialrecht, der Gesundheitsbereich und das internationale
Privatrecht.
Bei den reglementierten Berufen der Berufsanerken-
nungsrichtlinie bleibt mit dem Nachweis über bestimmte
Qualifikationen ein wichtiges Mittel zur Sicherung eines
hohen Niveaus erhalten. Und auch unser Entsendegesetz
gilt nach wie vor. Aus diesem Grund ist bei unserem Ge-
setzentwurf ausdrücklich keine Aufnahme von Mindest-
lohnregelungen notwendig, da hierfür die Tarifparteien
zuständig sind und im Konfliktfall das Entsendegesetz ge-
ändert werden kann. Gesetzliche Anforderungen an eine
Dienstleistungserbringung im Ziel-Mitgliedstaat sind
grundsätzlich nur aus vier Gründen möglich. Dies sind
öffentliche Sicherheit und Ordnung, öffentliche Gesund-
heit und der Umweltschutz.
Dienstleistungen sind selbstständig erbrachte Tätig-
keiten außerhalb der Beschränkungen eines Arbeitsver-
trages. Betroffen ist demzufolge eine große Bandbreite
von Leistungen, die für Verbraucher oder auch für andere
Unternehmen erbracht werden können. Dazu zählen etli-
che Tätigkeiten durch Architekten, Ingenieure, Handwer-
ker oder auch Werbeagenturen, Handel und Großhandel,
Reisebüros, Freizeitparks, Reinigungsdienste oder auch
Anbieter von Gärtnerdienstleistungen und privater Kin-
derbetreuung oder Computerprogrammierer.
Die Richtlinie setzen wir heute mit dem Gesetzentwurf
eins zu eins in unser nationales Recht um. Eine als
Dienstleistung beschriebene Tätigkeit kann dann auch in
(A) (C)
(B) (D)
Lena Strothmann
Deutschland auf verschiedenste Weise angeboten wer-
den, entweder im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit
oder im Rahmen der Niederlassungsfreiheit. Grenzüber-
schreitende Dienstleistungsfreiheit heißt: Aus dem Aus-
land heraus wird in Deutschland die Dienstleistung er-
bracht; es wird in Deutschland keine Niederlassung
gegründet. Niederlassungsfreiheit heißt: In Deutschland
wird eine Niederlassung eines EU-Dienstleisters gegrün-
det. Wegen der Umgehungsmöglichkeiten zum Beispiel
im Fall einer dauerhaft erbrachten Dienstleistung ohne
Niederlassung haben wir in unserem Änderungsantrag
eine genauere Definition der grenzüberschreitend er-
brachten Dienstleistung festgelegt. Um deutlich zu ma-
chen, dass sie im Unterschied zu einer auf Dauer ange-
legten Niederlassung nur gelegentlich erbracht wird,
betonen wir als notwendiges Charakteristikum den As-
pekt der „vorübergehend“ erbrachten Dienstleistung.
Grundsätzlich gilt, dass bei ausländischen Anbietern
hier bei uns davon ausgegangen werden muss, dass diese
im Herkunftsland die Nachweise über ihre Qualifikatio-
nen bei den dortigen Behörden abgelegt haben. Darüber
hinaus sind die Anforderungen in Deutschland je nach
Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit unter-
schiedlich. Bei der grenzüberschreitenden Dienstleis-
tungsfreiheit entfällt laut unserem Gesetzentwurf die An-
zeigepflicht bei den Behörden. Bei der Gründung einer
Niederlassung besteht diese Anzeige- und Informations-
pflicht weiterhin. Zur Erleichterung gibt es das neue Sys-
tem der Einheitlichen Ansprechpartner, wo der Dienst-
leister alle Informationen erhält, alle Anträge abgeben
kann und eine qualifizierte Bestätigung erhält, aus der
eindeutig hervorgeht, ob die eingereichten Unterlagen
vollständig sind. Als neues Element in der Gewerbeord-
nung wird eine Genehmigungsfiktion eingeführt, welche
bedeutet, dass ein Antrag eines Dienstleisters nach einer
angemessenen Frist automatisch als genehmigt gilt. Al-
lerdings ersetzt diese automatische Zustimmung nicht den
zum Beispiel nach Handwerksrecht eventuell notwendi-
gen Nachweis einer bestimmten Qualifikation bzw. eines
Abschlusses.
Die Genehmigungsfiktion ist eine grundsätzlich wirt-
schaftsfreundliche Beschleunigungsmaßnahme, die auch
für deutsche Dienstleister gilt, ein deutlicher Beitrag zum
Bürokratieabbau. Mit unserem Änderungsantrag haben
wir uns dafür entschieden, die von der Bundesregierung
vorgesehene Frist bei der Genehmigungsfiktion von zwei
auf drei Monate zu verlängern. Zwar wird die überwie-
gende Anzahl der Anträge in deutlich kürzerer Zeit bear-
beitet. Aber die längere Frist ist zum einen eine 1:1-Um-
setzung der Richtlinie, und sie ermöglicht es zum anderen
zum Beispiel den Kammern, bei Problemfällen genügend
Zeit für Nachfragen oder auch Einsichten in Zentralregis-
ter zu erhalten.
Mit der Umsetzung in unser nationales Recht ist es
nicht getan. Auch die Zusammenarbeit unter den europäi-
schen Behörden muss sich sehr stark verändern. Diese
im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelten Punkte be-
treffen die gegenseitige Amtshilfe, die Kosten oder auch
die eventuell notwendigen Übersetzungen. Eine große
Bewährung wird dabei das Binnenmarktinformationssys-
tem darstellen, mit dessen Hilfe unter anderem das Spra-
Zu Protokoll
chenproblem gelöst werden soll. Hier kommt viel Arbeit
auf die Behörden zu, aber ich bin zuversichtlich, dass
nach Überwindung von gewiss auftretenden Anfangs-
schwierigkeiten das System funktionieren wird. Wie sich
die Richtlinie auswirkt, wird nach drei Jahren offiziell
evaluiert.
Die Dienstleistungsfreiheit bietet Chancen für unsere
Dienstleister, Handwerker und Freiberufler, sich im EU-
Markt zu etablieren und auch im EU-Ausland zu lukrati-
ven Aufträgen zu kommen. Insgesamt stellen die Dienst-
leistungsrichtlinie und die Umsetzung ins nationale Recht
einen Meilenstein zur Weiterentwicklung des Wirtschafts-
raums Europa dar.
Doris Barnett (SPD):
Heute schließen wir das Gesetzgebungsverfahren zur
Überführung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in deut-
sches Recht ab und stellen damit sicher, dass wir rechtzei-
tig vor dem 1. Januar 2010 die Umsetzung bewältigt ha-
ben. Anstrengende Jahre und harte Verhandlungen liegen
hinter uns – und erst die Praxis wird zeigen, ob die hohen
Erwartungen, die an ein europäisches Dienstleistungs-
recht gestellt werden, zu erfüllen sind.
Fraglich ist allerdings, ob diese Richtlinie auch tat-
sächlich europaweit und rechtzeitig umgesetzt wird.
Meine Rechercheanfrage beim Wissenschaftlichen Dienst
hat ergeben, dass nach dessen Kenntnis erst zwei weitere
Länder mit der Umsetzung fertig sind. Dennoch können
wir heute schon ein ganzes Stück zufrieden sein mit der
Arbeit und auch den Fortschritten, die wir im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens erreicht haben.
Wir haben vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion den
fachlichen Dialog über den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung geführt. So hat auch ein Gespräch mit Vertretern
der IHK Pfalz und der Handwerkskammer Pfalz aus
meiner Heimat im Bundestag stattgefunden. Bei dieser
Fachdiskussion, an der auch das Bundeswirtschaftsmi-
nisterium und Vertreter des Landes Rheinland-Pfalz teil-
genommen haben, wurde an verschiedenen Stellen deut-
lich, wo Veränderungsbedarf bestand. Insbesondere die
öffentliche Bestellung von Sachverständigen, deren
Kenntnisse, Fähigkeiten und persönliche Eignung ja be-
wertet werden müssen, gab Anlass zu Änderungswün-
schen der Kammern. Dass diese Voraussetzungen zu Be-
stellung laut Gesetz nur „im Wesentlichen“ den hiesigen
Anforderungen entsprechen sollen, statt „vergleichbar“
zu sein, konnte leider nicht verändert werden.
In weiteren Abstimmungsgesprächen, die intensiv mit
den Gewerkschaften geführt wurden, konnten wichtige
Veränderungen herausgearbeitet und übernommen wer-
den, die ebenso auch vom Bundesrat angemahnt wurden.
Unser Änderungsantrag sieht deshalb vor, in den Wort-
laut des § 4 Abs. 1 Gewerbeordnung das Wort „vorüber-
gehend“ einzufügen. Denn so, wie die Gewerbeordnung
sonst hätte gelesen und interpretiert werden müssen,
hätte eine Differenzierung zwischen Niederlassungsfrei-
heit und Dienstleistungsfreiheit nicht erfolgen können.
Die Folge wäre gewesen: Dienstleistungsanbieter, die
von einem anderen EU-Land aus bei uns tätig werden
würden, hätten dies dauerhaft tun können, also das Nie-
25260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Doris Barnett
derlassungsrecht mit all seinen Folgen umgehen können.
Eine solche Missbrauchsmöglichkeit konnte so verhin-
dert werden. Sicherlich, die Umgehung des Niederlas-
sungsrechts bliebe zwar auf dem Papier weiterhin verbo-
ten – aber der Nachweis wäre ungleich schwieriger, ja
unmöglich geworden.Wenn man bedenkt, dass aufgrund
eines fehlenden gesetzlichen Mindestlohnes Dienstleis-
tungen von Anbietern aus EU-Staaten mit Löhnen ange-
boten werden können, die weit unter unserem Lohnniveau
liegen, kann man sich leicht ausrechnen, wie es wäre,
wenn das Tatbestandsmerkmal „vorübergehend“ nicht
als eine gewissen Bremse eingeführt worden wäre. Wir
werden also besonders darauf zu achten haben, dass die
Dienstleistungsrichtlinie nicht zu Lohndumping führt.
Die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn ist
deshalb nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat heute
schon ganz handfeste Gründe.
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings auch, dass
die tägliche Praxis gerade in Grenzregionen oftmals
nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Das liegt zum
einen an den tatsächlich durchgeführten Kontrollen, zum
andern aber auch an Hürden, die einer wirklichen
Dienstleistungsfreiheit im Wege stehen. An dieser Stelle
sei daran erinnert, dass wir den Meisterzwang für eine
ganze Reihe von Handwerksberufen aufgehoben haben –
auch im Hinblick auf die Dienstleistungsrichtlinie. Des-
halb darf auch erwartet werden, dass umgekehrt Hemm-
nisse für unsere Handwerker fallen. Von meiner Heimat,
der Pfalz, aus gesehen, liegt das französische Elsass
gleich nebenan. Dort muss immer noch ein Handwerker,
der aus Deutschland kommt, für seine Leistungen eine
„garantie décennale“, eine Haftpflichtversicherung ab-
schließen. Die kommt zehn Jahre lang für Mängel und
Garantieansprüche auf. Aber sie ist für deutsche Betriebe
entweder gar nicht erst zu haben oder die Mindestsum-
men sind für den Handwerker unbezahlbar.
Europa ist eine tolle Sache – wenn alles, wie gedacht,
funktioniert. Das können auch die Menschen nachvollzie-
hen und sich für Europa begeistern. Deshalb müssen wir
gerade bei so tief einschneidenden Gesetzen wie der hier
vorliegenden Änderung der Gewerbeordnung alles tun,
um das Vertrauen der Menschen nicht zu enttäuschen.
Die Menschen in unserem Land erwarten zu Recht, dass
es fair zugeht und sich alle 27 Länder an die von Brüssel
gemachten Vorgaben halten, das heißt, dass sie von allen
gleichmäßig umgesetzt und beachtet werden. Deshalb ist
es auch wichtig und richtig, dass die Dienstleistungs-
richtlinie selbst eine Revisionsklausel enthält: Art. 16 der
Richtlinie, die den Umfang der Dienstleistungsfreiheit
beschreibt, bestimmt in Abs. 4, dass „bis zum 28. 12. 2011
die Kommission nach Konsultation der Mitgliedstaaten
und der Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene dem Eu-
ropäischen Parlament und dem Rat einen Bericht über
die Anwendung dieses Artikels (gibt), in dem sie prüft, ob
es notwendig ist, Harmonisierungsmaßnahmen hinsicht-
lich der unter diese Richtlinie fallenden Dienstleistungs-
tätigkeiten vorzuschlagen“.
In der Zwischenzeit ist es notwendig, dafür zu sorgen,
dass die Möglichkeiten, die die Richtlinie auch unseren
Dienstleistungserbringern bietet, genutzt werden. Nicht
nur der Einheitliche Ansprechpartner kann bei richtiger
Zu Protokoll
Umsetzung eine große bürokratische Entlastung mit sich
bringen. Auch die jetzt noch eingebrachten ergänzenden
Regelungen im Verwaltungsverfahrensgesetz dienen der
Rechtsklarheit und einem Weniger an Vorschriften.
Gleichlautende Vorschriften und Doppelregelungen in
verschiedenen Gesetzen auf Bundes- und Landesebene
können vermieden werden.
Alles in allem können wir heute mit dem Gesetz in der
abgeänderten Fassung zufrieden sein, selbst wenn nicht
alle Wünsche erfüllt werden konnten. Nach zwei Jahren
werden wir europaweit die Ergebnisse analysieren. Ich
gehe davon aus, dass wir bis dahin genug Erfahrungen
gesammelt haben, um aufgetretene Folgeprobleme der
Umsetzung zu beheben, die uns bei der Fortschreibung
dieses Großvorhabens weiterhelfen.
Ernst Burgbacher (FDP):
In zweiter und dritter Lesung wird heute der Gesetz-
entwurf beraten und verabschiedet, der die Richtlinie
2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im eu-
ropäischen Binnenmarkt umsetzen soll. Das Ziel der
Dienstleistungsrichtlinie ist es, Fortschritte im Hinblick
auf einen freien Binnenmarkt für Dienstleistungen zu er-
reichen. Im größten Sektor der europäischen Wirtschaft
sollen sowohl die Unternehmen als auch die Verbraucher
den vollen Nutzen aus den Möglichkeiten des Binnen-
markts ziehen.
Zur Erreichung dieses Ziels sollen in der Gewerbe- und
der Handwerksordnung sowie der Wirtschaftsprüferord-
nung und dem Signaturgesetz Änderungen vorgenommen
werden, die den grenzüberschreitenden Dienstleistungs-
verkehr erleichtern sollen. Die Dienstleistungsrichtlinie
sieht insbesondere die Vereinfachung von Verwaltungs-
verfahren und den Abbau von Hindernissen für die Er-
bringung von Dienstleistungen vor. Unmittelbar vor der
abschließenden Beratung des Gesetzentwurfes wurden
vonseiten der Koalitionsfraktionen noch einmal umfas-
sende Änderungsanträge gestellt, die wir heute mitbe-
schließen sollen. Heute, in der zweiten und dritten Le-
sung, befassen wir uns mit einem Gesetzentwurf, der
umfassenden Änderungen unterliegt und zum Beispiel im
Bereich des Verwaltungsverfahrens weitreichende Neure-
gelungen enthält.
Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die Vereinbar-
keit einfachgesetzlicher Normen mit dem EU-Dienstleis-
tungsrecht dahingehend zu überprüfen, ob die Aufnahme
oder Ausübung von Dienstleistungsaktivitäten einschrän-
kend geregelt wird. Wie ich im Rahmen der ersten Lesung
des Umsetzungsgesetzes bereits für die FDP-Fraktion be-
tont hatte, ist dieser Ansatz grundsätzlich zu begrüßen.
Auch ist zu begrüßen, dass mit einzelnen Regelungen im
Hinblick auf den Bürokratieabbau Fortschritte erzielt
werden sollen.
Die Bundesregierung geht von einem Einsparvolumen
von gut 518 000 Euro bei den Informationspflichten aus.
Dieses Einsparvolumen fällt, wenngleich es immerhin
eine halbe Million Euro erreicht, angesichts der gesam-
ten Kosten für Informationspflichten von knapp 48 Mil-
liarden Euro recht mager aus. Die Umsetzung der Dienst-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25261
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Ernst Burgbacher
leistungsrichtlinie hätte insgesamt für einen massiven
Bürokratieabbau genutzt werden können. Statt sich bei
der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewer-
berecht mit Einsparungen von nur gut einer halben Mil-
lion Euro zu begnügen, hätte die Bundesregierung einen
großen Wurf bei der Umsetzung dieser Richtlinie errei-
chen können. Doch wurde erneut die Chance zum Büro-
kratieabbau verspielt. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie
hätte die Chance geboten, insbesondere kleine und mitt-
lere Unternehmen massiv zu entlasten.
Es ist anzumerken, dass die Koalitionsfraktionen das
Vorhaben eines einheitlichen Ansprechpartners mit den
letzten Änderungsanträgen auf den Weg gebracht haben.
Dieser einheitliche Ansprechpartner wird seit langem ge-
fordert, und es ist doch mehr als erstaunlich, dass die Ko-
alitionsfraktionen erst in fast letzter Minute sich hierüber
einigen konnten. Auch dies zeigt, dass bei der Umsetzung,
vor allem im Hinblick auf eine Entlastung der Gewerbe-
treibenden in unserem Land, deutlichere Impulse hätten
gesetzt werden können – und müssen.
Trotz des grundsätzlich richtigen Ansatzes, den ein-
heitlichen Dienstleistungsmarkt in der EU voranzubrin-
gen, enthält das Umsetzungsgesetz noch immer eine
Reihe von Regelungen, die insbesondere für inländische
Unternehmen zu erschwerten Wettbewerbsbedingungen
führen können. Die neuen Regelungen im Gewerberecht
finden nicht nur in den klassischen Bereichen der Dienst-
leistungsfreiheit Anwendung, das heißt im Bereich einer
kurzfristigen oder gelegentlichen Dienstleistungserbrin-
gung, sondern auch dann, wenn ein Gewerbetreibender
aus einem anderen EU-Staat sich im Inland niederlässt.
Es ist deshalb auch nach den vorgenommenen Ände-
rungen für mich noch immer festzustellen, dass die Bun-
desregierung im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie
die für die Gewerbeordnung erforderliche Normenprü-
fung allzu restriktiv durchgeführt hat. Eine sehr viel wei-
tergehende Entlastung von bürokratischen Pflichten, eine
„Lichtung“ des Normendschungels im Bereich der Ge-
werbeordnung, hätte hier seitens der Bundesregierung
erfolgen können.
Weiterhin enthält dieses Umsetzungsgesetz eine statt-
liche Anzahl von zur Diskriminierung geeigneten Tatbe-
ständen. Ich hatte mir erhofft, dass im Rahmen der
Ausschussberatungen und im Rahmen des parlamentari-
schen Verfahrens hier noch Änderungen vorgenommen
werden. Leider hat sich die Koalition dazu nicht durch-
ringen können. Auch nach den Änderungen lässt sich der
Vorwurf der Inländerdiskriminierung nicht entkräften.
Wenn künftig die Gewerbeausübung für Unternehmen
aus dem EU-Ausland genehmigungsfrei ist, dann muss sie
dies auch für die Unternehmerinnen und Unternehmer
aus Deutschland sein. Andernfalls liegt eine nicht hin-
nehmbare Inländerdiskriminierung vor. Diese Verant-
wortung liegt bei Union und SPD.
Die Bundesregierung will mit der Umsetzung der EU-
Dienstleistungsrichtlinie den grenzüberschreitenden
Dienstleistungsverkehr sowohl innerhalb der EU als
auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und Angehörigen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erleichtern. Die
Bundesregierung selbst spricht in der Begründung des
Zu Protokoll
Gesetzentwurfs von großen Chancen auch für deutsche
Unternehmerinnen und Unternehmer, sich im europäi-
schen Ausland zu engagieren. Tatsächlich aber werden
viele Regelungen die Wettbewerbsbedingungen für inlän-
dische Unternehmen verschlechtern und Gewerbetrei-
bende aus Deutschland gegenüber ihren Mitbewerbern
diskriminieren. Zudem sieht die zwischenstaatliche Re-
alität in etlichen Bereichen hinsichtlich der Dienstleis-
tungsfreiheit leider anders aus. Auf meine Frage, wie die
Bundesregierung gegen protektionistische Maßnahmen
von europäischen Nachbarländern reagieren wird, hat
mir die Bundesregierung geantwortet, dass es „ab dem
Jahr 2010 eine Phase der gegenseitigen Evaluierung zwi-
schen den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der
Normenprüfung nach der europäischen Dienstleistungs-
richtlinie“ geben wird.
Faktisch bestehen Marktzugangsbeschränkungen, die
deutsche Unternehmen betreffen, wenn sie zum Beispiel
Bauleistungen in Frankreich erbringen oder als Hand-
werker in der Schweiz tätig werden wollen. Hier hätte die
Bundesregierung aktiv werden und sich im Rat dafür ein-
setzen müssen, dass deutsche Unternehmen nicht länger
benachteiligt werden.
Es kommt hinzu, dass gemeinsam mit der Bundesrepu-
blik Deutschland erst zwei weitere EU-Mitgliedstaaten
diese Richtlinie in nationales Recht umgesetzt haben oder
zeitnah umsetzen werden. Von einer gemeinsamen Har-
monisierung des Dienstleistungssektors kann also nicht
gesprochen werden.
Die Richtlinie muss umgesetzt werden, denn die Bun-
desrepublik Deutschland ist verpflichtet, bis zum Ende
des Jahres ein Umsetzungsgesetz zu erlassen. Für sinn-
volle und umfassende Änderungen ist es nun zu spät, denn
das parlamentarische Verfahren soll mit der heutigen Be-
ratung abgeschlossen werden. Es wäre gut gewesen,
wenn sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene
für mehr Entlastung auch des Mittelstandes im Rahmen
der Dienstleistungsrichtlinie eingesetzt hätte. Diese
Chance hat diese Regierung verpasst.
Ulla Lötzer (DIE LINKE):
Die Linke im Bundestag beglückwünscht die Große
Koalition, dass sie sich in letzter Minute darauf verstän-
digen konnte, dem Berliner Wirtschaftssenat zumindest in
einem wichtigen Punkt zu folgen. Das Land Berlin hatte
im Bundesrat darauf gedrungen, dass der Kreis derjeni-
gen Unternehmen, die die Dienstleistungsfreiheit in An-
spruch hätte nehmen können, nicht unnötig ausgeweitet
wird. Das hatte die Bundesregierung beabsichtigt. Damit
hätte in den betroffenen Wirtschaftszweigen fast jedes eu-
ropäische Unternehmen, das von einer Niederlassung au-
ßerhalb der Bundesrepublik aus agiert, auf dem deut-
schen Markt geltende Regeln umgehen können. Hierbei
ging es unter anderem um Erlaubnisse für Makler, Bau-
träger und das Reisegewerbe, also nicht gerade unwich-
tige Wirtschaftszweige. Der Bundesrat ist in seiner Stel-
lungnahme dem Land Berlin und damit der Position der
Linken gefolgt. Die Koalition hat dies am Ende akzep-
tiert. Damit konnten wir erneut mit Unterstützung des
DGB erreichen, dass der ursprüngliche Geist der Bolke-
25262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Ulla Lötzer
stein-Richtlinie, nämlich das sogenannte Herkunftsland-
prinzip, nicht wieder durch eine Hintertür eingeführt
wurde.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Wir werden dem
Gesetz trotzdem nicht zustimmen. Die Linke und die Ge-
werkschaften konnten wie auch damals auf europäischer
Ebene nur genug Druck ausüben, um das Schlimmste zu
verhindern. Im Ergebnis können sich nun nur vorüberge-
hend in der Bundesrepublik tätige Unternehmen auf die
niedrigeren Standards berufen. Der Unterschied zwi-
schen Dienstleistungsrichtlinie und Niederlassungsfrei-
heit ist jetzt aber objektiv überprüfbar. Das ist schön und
gut und wird für die Behörden zwar überprüfbar sein. Ob
sie diese Überprüfung und damit den Missbrauchstatbe-
stand wirksam verfolgen können, bleibt völlig offen. Denn
sie halten weiter daran fest, dass die Gewerbeanzeige
nach § 14 für grenzüberschreitende Dienstleister entfal-
len soll. Die Streichung der Gewerbeanzeige nimmt den
Behörden die Möglichkeit, von der Existenz des Gewer-
betreibenden Kenntnis zu nehmen. Kontrolle und Aufsicht
können aber ernsthaft nur wahrgenommen werden, wenn
der Mitgliedstaat ein Mindestmaß an Informationen über
die Existenz von Gewerbetreibenden in seinem Zustän-
digkeitsbereich besitzt. Darauf hatte der Bundesrat ge-
drungen. Die Bundesregierung ist dem nicht gefolgt. Un-
seren entsprechenden Änderungsantrag haben Sie
abgelehnt.
Damit bleibt für die Linke im Bundestag klar: Die
schönen Worte aus der gemeinsamen Erklärung von SPD
und DGB für ein soziales Europa bleiben in der Realität
wirkungslos. Sie schreiben dort:
Soziale Grundrechte und Standards dürfen nicht
durch Wettbewerb und Liberalisierung im europäi-
schen Binnenmarkt eingeschränkt werden.
In der Realität schränken Sie mit der CDU/CSU Stan-
dards, die sich langjährig bewährt haben ein; Sie diskri-
minieren inländische Gewerbetreibende, überfordern Be-
hörden und nehmen Missbrauch in Kauf.
Die Linke und der DGB treten dagegen dafür ein, dass
die sozialen und politischen Grundrechte gestärkt wer-
den. Wir setzen Harmonisierung von Standards gegen die
schädliche Konkurrenz um niedrige Umwelt-, Sozial-
oder andere sinnvolle Sicherheitsstandards. Die Anmel-
dung eines Gewerbes ist dabei doch oft nur die Voraus-
setzung für alle weiteren Prüfungen.
Wir wollen das Gleichgewicht zwischen Binnenmarkt-
freiheiten und sozialen Grundrechten wieder herstellen.
Wirtschaftliche Freiheiten wie die Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit dürfen keinen Vorrang vor sozia-
len Rechten und sinnvollen Regeln erhalten. Wir treten
deshalb dafür ein, dass die europäischen Verträge durch
eine soziale Fortschrittsklausel ergänzt werden. Damit
soll der Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Bin-
nenmarktfreiheiten gewährt werden.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Deutsche Bundestag befasst sich heute mit der
Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in deutsches
Gewerberecht. Dass eine EU-Richtlinie in deutsches
Zu Protokoll
Recht umgesetzt werden muss, kommt oft vor. Auch gibt es
häufig Kritik an den Vorgaben aus Brüssel in unserem
Haus. Diese ist oft unberechtigt. Bei der Dienstleistungs-
richtlinie handelt es sich aber definitiv um eine schlechte
EU-Vorlage. Die Bundesregierung trug ihren Teil zur
Entstehung der Richtlinie bei und trägt deswegen eine er-
hebliche Mitschuld. Erst durch ihre verfehlte Politik auf
europäischer Ebene konnte die Dienstleistungsrichtlinie
in dieser Form verabschiedet werden.
Die zentrale Schwachstelle der europäischen Dienst-
leistungsrichtlinie ist das Herkunftslandprinzip. Dies
wurde von der Bundesregierung auch erkannt. In ihrem
Koalitionsvertrag hat die Koalition zur Dienstleistungs-
richtlinie festgehalten: „Das Herkunftslandprinzip in der
bisherigen Ausgestaltung führt uns nicht in geeigneter
Weise zu diesem Ziel. Deshalb muss die Dienstleistungs-
richtlinie überarbeitet werden. Wir werden ihr auf euro-
päischer Ebene nur zustimmen, wenn sie sozial ausgewo-
gen ist, jedem Bürger den Zugang zu öffentlichen Gütern
hoher Qualität zu angemessenen Preisen sichert und Ver-
stöße gegen die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt nicht zu-
lässt.“ Leider folgten dieser Erkenntnis keine Taten. Die
Richtlinie wurde mit der Stimme der Bundesregierung
verabschiedet. Das Herkunftslandprinzip taucht zwar ex-
plizit nicht mehr auf, dennoch hat seine Regelung faktisch
Bestand.
Das Herkunftslandsprinzip besagt, dass einem Dienst-
leister die Ausübung seiner Tätigkeit in einem anderen
EU-Staat erlaubt werden muss, wenn er die Rechtsvor-
schriften seines Herkunftslandes erfüllt. Das ist so nach-
zuvollziehen. Das Problem ist aber, dass der Dienstleister
seiner Tätigkeit in einem anderen Land auch nach den
rechtlichen Vorgaben seines Heimatlandes nachgehen
kann. So können Umwelt-, Sozial- und Verbraucherstan-
dards umgangen werden. Dies ist unsere zentrale Kritik
an der Richtlinie an sich. Bündnis 90/Die Grünen haben
sich mit einem eigenen Antrag im Bundestag dafür stark
gemacht, das Herkunftsland nur beim Marktzugang an-
zuwenden, für die Ausübung der Tätigkeit sollte das Ziel-
landprinzip gelten. So wäre die Dienstleistungsfreiheit
gewährleistet und die Umgehung von nationalen Stan-
dards verhindert worden. Der Vorschlag stammt übrigens
von der SPD-Berichterstatterin Gebhardt, die von der
SPD für den Koalitionsfrieden fallen gelassen wurde.
Nun versucht die Bundesregierung, durch das vorlie-
gende Gesetz den Missbrauch der Dienstleistungsrichtli-
nie zu verhindern und nationale Standards zu sichern.
Dies gelingt aber nur teilweise, und es kann nicht ge-
währleistet werden, dass Inländerdiskriminierung ver-
hindert wird. Dazu bleibt das Gesetz in manchen Punkten
zu vage und erweist sich mit ungenauen Formulierungen
als zukünftige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Behör-
den und Gerichte.
Nicht mit diesem Gesetz, aber mit ihrer Verhandlungs-
führung auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung
die Chance verspielt, durch eine gute EU-Richtlinie die
Potenziale eines funktionierenden Binnenmarktes für
Dienstleitungen für die Bundesrepublik und ihren Ar-
beitsmarkt zu aktivieren. Als Land im Herzen der EU
hätte Deutschland überdurchschnittlich von der neuen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25263
gegebene Reden
25264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Thea Dückert
Richtlinie profitieren können. Die vorliegende Richtlinie
und der daraus resultierende Gesetzentwurf leisten kei-
nen Beitrag für einen fairen Binnenmarkt für Dienstleis-
tungen, der soziale und ökologische Standards schützt
und gleichzeitig Impulse für mehr Beschäftigung setzt.
Die Bundesregierung hat die Potenziale eines Binnen-
markts für Dienstleistungen nicht erkannt, und den Scha-
den haben die Bürgerinnen und Bürger.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13399, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
16/12784 und 16/13190 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Wer will dem Gesetzentwurf zustimmen? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der
Koalition. Dagegen hat Die Linke gestimmt, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und FDP.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Es erhebe sich bitte, wer zu-
stimmen möchte. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 38:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
(Herborn), Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungssparen als ein Baustein zur Förde-
rung lebenslangen Lernens
– Drucksachen 16/9349, 16/13359 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt
Volker Schneider (Saarbrücken)
Priska Hinz (Herborn)
Zu Protokoll genommen sind die Reden von Ernst
Dieter Rossmann, Uwe Barth, Volker Schneider, Priska
Hinz und Andreas Storm.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Die Förderung des lebenslangen Lernens hat uns in
unserem Parlament in der letzten Zeit schon viele Male
beschäftigt. Die zentralen Eckpunkte, die wir von der So-
zialdemokratie aus für dieses Grundziel, das Recht auf
Lernen in der gesamten Lebensbiografie nutzen zu kön-
nen, setzen, sind dabei von uns hinreichend deutlich ge-
macht worden. Ich will sie hier deshalb nur noch sehr
knapp wiederholen:
Erstens. Bildung ist Menschenrecht und muss deshalb
für alle zugänglich sein. Zugänglichkeit für alle setzt vo-
raus, dass es keine Privatisierung der Bildungskosten
gibt.
Zweitens. Bildung als Menschenrecht muss mit klaren
Rechtsansprüchen verbunden sein. Wir Sozialdemokra-
ten streiten deshalb für Bildungsgesetze, vom BAföG bis
zum Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
Drittens. Bildungsförderung muss die besondere mate-
rielle Lage von Menschen mit einbeziehen und ihren Teil
dazu tun, dass finanzielle Unterschiede keine Bildungs-
barrieren aufbauen. Entsprechend muss sich die öffentli-
che Förderung darauf konzentrieren, Zugänglichkeit für
alle zu garantieren.
Viertens. Bildung ist keine marktförmige Ware, son-
dern braucht öffentliche Infrastruktur. Es muss deshalb
sichergestellt sein, dass über ein Netz öffentlich getrage-
ner bzw. mindestens öffentlich anerkannter und zertifi-
zierter Einrichtungen Qualität und Zugänglichkeit für
alle gewährleistet werden kann.
So weit zentrale Eckpunkte und Leitgedanken, entlang
deren die SPD ihre Vorstellungen von Ausbau und Festi-
gung der BAföG-Treppe vom Schüler- bis zum Meister-
BAföG hin zum Erwachsenenbildungsförderungsgesetz
ausgestalten will, mit denen die SPD gezielt Fördermög-
lichkeiten bewertet, Lücken im bisherigen Fördersystem
schließen will und nach denen die SPD auch die Ideen
und Konzepte anderer Fraktionen bewertet.
Mit dem vorgelegten Antrag zum Bildungssparen als
einem Baustein zur Förderung des lebenslangen Lernens
geht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen deutlich
über das in der Großen Koalition verhandelte, streitig
diskutierte und am Ende als Kompromiss beschlossene
Konzept von Bildungsprämie, Bildungssparen und Bil-
dungskredit hinaus. Ich will an dieser Stelle für die SPD
noch einmal deutlich machen, dass wir insbesondere die
Bildungsprämie, also den Ausgleich für gering verdie-
nende Haushalte gegenüber den Unterstützungen, die
besser verdienende Haushalte bisher aus der steuerlichen
Absetzbarkeit bekamen, ausdrücklich begrüßen und in
der weiteren Perspektive zum Aufbau einer Weiterbil-
dungsförderung für alle als zentral ansehen. Gleichwohl
wissen wir, dass diese Weiterbildungsprämie vom Um-
fang her ein Fortschritt, aber noch nicht der ganze Him-
mel ist. Und wir wissen auch, dass für diese Weiterbil-
dungsprämie noch viel stärker in der Öffentlichkeit, bei
interessierten Institutionen wie Betroffenen und zu betei-
ligenden Menschen geworben werden muss. Für uns als
Sozialdemokraten ist dabei klar, dass das Programman-
gebot einer solchen Weiterbildungsprämie nicht der End-
punkt, sondern nur der Anfang für die Entwicklung hin zu
einem gesetzlichen Anspruch sein kann. Die Weiterbil-
dungsprämie ist ein erster kleiner Schritt, bevor wir dann
auf mittlere Sicht zu einem umfassenderen Erwachsenen-
bildungsförderungsgesetz kommen, das auch die bishe-
rige Bildungsförderungsgesetzgebung im Sinne des
BAföG und des Meister-BAföG einschließt.
Was nun den konkreten Vorstoß von Bündnis 90/Die
Grünen angeht, speziell aus dem Gedanken der Bildungs-
vorsorge heraus ein umfassendes Konzept zum Bildungs-
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
sparen vorzustellen, möchten wir hierzu im Einzelnen
feststellen:
Erstens. Gegenüber klaren Leistungsgesetzen hat das
Bildungssparen den Nachteil, dass es unter Umständen
auch sehr schnell zu einer weiteren Ungleichgewichtig-
keit im Zugang zu Bildungs- und speziell auch Weiterbil-
dungsmaßnahmen führen kann. Nicht jeder Mensch hat
die Möglichkeit zu sparen, nicht für jeden Menschen kann
gespart werden, nicht jeder Mensch kann begreifen, dass
er Bildungsvorsorge treffen muss. Das Bildungssparen
kann deshalb allenfalls komplementär sein, aber nicht im
Zentrum der künftigen Weiterbildungsförderung stehen.
Zweitens. Das Bildungssparen muss sich einordnen in
die Prioritätensetzung, die wir bei knappen Mitteln ge-
genüber anderen Modellen von verbesserter Weiterbil-
dungsförderung festgesetzt haben. Hier kommt das Bil-
dungssparen, zumal wenn hier von den Grünen eine
Gegenfinanzierung in beträchtlicher Höhe über die Ab-
schaffung der Wohnungsbauprämie vorgeschlagen wird,
für die SPD-Fraktion erst an zweiter Stelle. An erster
Stelle stehen die unmittelbaren gesetzlichen Leistungen,
wie sie in den jetzigen Bildungsförderungsgesetzen ste-
hen und wie sie über ein Leistungsgesetz im Sinne einer
Bildungsprämie auszubauen wären.
Drittens. Positiv hervorzuheben ist an dem Ansatz von
Bündnis 90/Die Grünen, dass das Vermögenssparen hier
tatsächlich auch auf Bildungszwecke begrenzt werden
soll. Auch für die SPD ist es sehr wichtig, wenn in einem
Bildungssparkonzept, das sich über die bisherigen An-
sätze, die wir in der Großen Koalition vereinbaren konn-
ten, hinausbewegt, der erhöhte öffentliche Zuschuss klar
an die Verwendung für Bildungszwecke gebunden ist.
Viertens. Was nicht passieren darf, ist, dass von Betrof-
fenen aufgebaute Rechtsansprüche gegenüber der Soli-
dargemeinschaft wie zum Beispiel die Rechtsansprüche
aus den Sozialgesetzbüchern II und III, die ja auch im We-
sentlichen Bildungsansprüche bei Arbeitslosigkeit oder
drohender Arbeitslosigkeit sind, danach gerichtet wer-
den, ob es eine eigene Bildungsanstrengung vorher gege-
ben hat oder nicht. Wir haben an dieser Stelle allergrößte
Bedenken gegenüber dieser Konditionierung im Konzept
von Bündnis 90/Die Grünen und können nur nachdrück-
lich davor warnen, eine solche Kofinanzierung von SGB-II-
und -III-Leistungen aus Bildungssparverträgen zur Vor-
aussetzung zu machen. Um es noch einmal ganz deutlich
zu sagen: Für Leistungen der Solidargemeinschaft im
Sinne des SGB III durch die Arbeitslosenversicherung
und im Sinne des SGB II durch die Steuersolidarität darf
es nicht zur Voraussetzung gemacht werden, dass ein Bil-
dungssparvertrag vorliegt und abgeschlossen worden ist.
Genauso wenig wollen wir eine zusätzliche Finanzbetei-
ligung aus anderen Eigenmitteln in Höhe von 15 Prozent,
denn auch dies würde heißen, dass das bisherige Solidar-
system systematisch durch eine private Pflichtbeteiligung
infrage gestellt würde.
Fünftens. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht in
der Frage, an welcher Stelle der Ausbau der Bildungsbe-
ratung zu vollziehen ist, sehr weit, wenn sie diese in Zu-
kunft ausschließlich an die Verbraucherzentralen binden
will. Wir möchten zu bedenken geben, ob es hier nicht tat-
Zu Protokoll
sächlich eine Mehrgleisigkeit geben sollte, einmal aus
praktischen Gründen der Erreichbarkeit von Bildungsbe-
ratung, aus politischen Gründen aufgrund der Pluralität
von Weiterbildung und Weiterbildungsberatung und
schließlich aus Gründen der Systematik. In Zukunft gibt
es sowohl sozialversicherungsgebundene wie auch steu-
ergebundene Weiterbildungsförderung. Es liegt deshalb
nahe, sowohl über die Bundesagentur für Arbeit in Bezug
auf die sozialversicherungsbezogenen Weiterbildungen
wie über ein unabhängiges Netz von steuergeförderten
Weiterbildun gsberatungsstellen die steuergebundene För-
derung zu intensivieren. Dass hier eine enge Zusammenar-
beit dieser beiden Weiterbildungsförderungsstränge wün-
schenswert ist, muss an dieser Stelle nicht noch extra
betont werden.
Aus diesen inhaltlichen Punkten können Sie erkennen,
dass die SPD von der Priorität her nicht an erster Stelle
auf das Bildungssparen setzt, von der Gesamtkonzeption
das Bildungssparen aber nicht ausschließt. Außerdem ist
die SPD dagegen, Vorschläge vorschnell anzunehmen,
bei denen es mindestens noch gravierende Fragen im Sys-
tem, aber auch in nicht unwichtigen Details gibt. Die SPD
lehnt deshalb den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab.
Uwe Barth (FDP):
Wir müssen uns hier mit einem Restposten aus der An-
tragskiste der Grünen auseinandersetzen. Erst im April
haben wir uns thematisch mit diesem Fragekomplex be-
fasst und unter anderem auch den FDP-Antrag „Aufbau
von privatem Bildungskapital fördern – Grundlage für
Bildungsinvestitionen schaffen“ – Drucksache 16/10328 –
behandelt. Leider hat die Koalition – wie im Übrigen
auch die Grünen, damals unserem Antrag die eigentlich
verdiente Zustimmung verweigert.
Nun also zum Antrag. Wie auch die FDP beklagen die
Grünen zu Recht das Regierungskonzept des „Weiterbil-
dungssparens“. Insbesondere die von der Koalition kon-
zipierte Weiterbildungsprämie in Höhe von 154 Euro ist
Murks. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen ha-
ben mehrfach darauf hingewiesen, dass Grund zu der An-
nahme besteht, dass dadurch Mitnahmeeffekte geschaffen
werden. Gerade weil der Kreis der als „förderbedürftig“
eingestuften Altbewerber nicht eng genug definiert
wurde, kann dieses Instrumentarium nur die Note „unzu-
reichend“ erhalten. Doch die Koalition lässt sich beim
Verbrennen von Steuergeldern auch hier nicht beirren.
Analog zum FDP-Modell des privaten Bildungsspa-
rens unterbreiten die Grünen mit einem sogenannten Bil-
dungssparkonto eine Alternative zum Regierungskonzept.
Kernelement ist dabei, dass die staatliche Vermögensbil-
dungs- und Altersvorsorgeförderung, zum Beispiel in
Form der Wohnungsbauprämie, zugunsten einer Förde-
rung eines privaten Bildungssparens umgewidmet wird.
So weit, so gut. Doch dann schrecken die Grünen vor dem
eigenen Mut zurück und bauen in gewohnter Manier
Stoppschilder auf. Das Modell zum Aufbau privaten Bil-
dungskapitals kann nur dann volle Wirksamkeit entfalten
und zur Geltung kommen, wenn es zwar klare Rahmenbe-
dingungen aufzeigt, jedoch nicht gleichzeitig eine ganze
Latte von Bedingungen daran knüpft. Gerade deswegen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25265
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Uwe Barth
ist es absurd, wenn über eine künstliche, ideologische
Barriere eine Finanzierung von Schulgeld oder Studien-
beiträgen ausgeklammert werden soll.
Abgesehen von der geheuchelten Scheu vor einer ver-
meintlichen „Ökonomisierung der Bildung“ – wir wollen
nicht vergessen, dass die Grünen in Hamburg die Erhe-
bung von Studienbeiträgen maßgeblich unterstützen und
auch außerhalb der Hansestadt gerne das Angebot bei-
tragspflichtiger Privatschulen in Anspruch nehmen – ist
dieser Ansatz nicht praktikabel. Denn zukünftig werden
die Hochschulen aus ganz unterschiedlichen, guten
Gründen vermehrt kostenpflichtige Weiterbildungsange-
bote unterbreiten. Es stellt sich die Frage, inwiefern nun
zwischen einem vertiefenden Masterstudiengang und ei-
nem Weiterbildungsstudiengang sinnvoll unterschieden
werden kann und sollte. Hier werden, allein um das grüne
Gewissen zu beruhigen, absonderliche Bürokratiehürden
aufgebaut. Deswegen können wir diesen Antrag nicht
mittragen.
Zukünftig werden private Investitionen im Bildungs-
system kaum wegzudenken sein. In diesem Zusammen-
hang muss Politik dazu beitragen, dass sich die Bevölke-
rung dessen bewusst wird und vorbeugende Maßnahmen
trifft, zum Beispiel Mittel für die Hochschulbildung der
Kinder anlegt. Gerade deswegen regt die FDP-Bundes-
tagsfraktion an, den Aufbau von privatem Bildungskapi-
tal staatlicherseits zu unterstützen. Es bedarf neben der
Aufklärung über den Wert von Bildungsinvestitionen
staatlicher Anreize, um Bürger dazu zu motivieren, Geld
für sich oder jemand anderen zur Finanzierung späterer
Bildungsinvestitionen anzulegen. Gerade in diesem Zu-
sammenhang sollten analog zur Systematik und Logik der
Förderung privaten Wohneigentums, der privaten Alters-
vorsorge Maßnahmen zur Stärkung der privaten Vermö-
gensbildung zur Ermöglichung späterer Bildungsinvesti-
tionen getroffen werden.
In diesem Sinne hat die FDP-Bundestagsfraktion die
Bundesregierung dazu aufgefordert, ein Bildungsspar-
konzept zu erarbeiten, welches folgenden Ansprüchen ge-
nügt: Bildungskonten werden eröffnet, um zum Zweck
einer späteren Bildungsinvestition Kapital zu akkumulie-
ren. Es steht jedem Bürger offen, für sich oder eine andere
Person ein solches Konto zu eröffnen. Analog zu dem Mo-
dell der Bausparförderung erhält der Bildungssparer ei-
nen staatlichen Zuschuss in Form der Bildungssparzu-
lage. Das Bildungssparguthaben kann grundsätzlich für
alle über die schulischen Bildungsgänge hinausreichen-
den Bildungsinvestitionen, zur Finanzierung der berufli-
chen Qualifikation, der Hochschulausbildung, von
Weiterbildungsmaßnahmen oder anderen Angeboten der
Erwachsenenbildung herangezogen werden.
Damit können die notwendigen Impulse und die
Grundlage dafür geschaffen werden, dass der private An-
teil an den Bildungsinvestitionen im Bereich der Hoch-
schul- und Weiterbildung signifikant gesteigert werden
kann, ohne dass es dabei zu einer Überstrapazierung der
betroffenen Haushalte kommt. Dies ist gerade deshalb
notwendig, weil das unbestrittene Bildungsinvestitions-
ziel von 7 Prozent des BIP nur durch eine konzertierte
Kraftanstrengung von Bund, Ländern und eben auch Pri-
Zu Protokoll
vaten zu erreichen ist. Doch wenn wir die Rahmenbedin-
gungen nicht derart verändern, dass es eine realistische
Chance auf eine „Planerfüllung“ gibt, verkommen diese
Appelle zum leisen Pfeifen im Wald. Mag sein, dass wir
uns dadurch etwas mutiger vorkommen, voran kommen
wir so jedoch nicht. Deswegen muss die Parole lauten:
Beherzt anpacken!
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
Wir haben in dieser Legislaturperiode schon mehrfach
Anträge und Gesetzesentwürfe zum Thema „lebenslanges
Lernen“ diskutiert. Die Bundesregierung hat das soge-
nannte Weiterbildungssparen auf den Weg gebracht und,
wenn auch nur unzureichend, das Aufstiegsfortbildungs-
gesetz, AFBG, erweitert. Beides sind Instrumente, die zei-
gen, wie engstirnig und kurzfristig diese Koalition das
Thema behandelt. Da ist nichts zu spüren von dem Ver-
sprechen Ihres Koalitionsvertrages, die Weiterbildung
massiv auszubauen.
Dies bemängelt auch der vorliegende Antrag vom
Bündnis90/Die Grünen. Da ist die Rede von einem
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz oder von der
zwingenden Verantwortung der Unternehmen, mehr für
die betriebliche Weiterbildung zu tun. Das alles sind
Punkte, die unsere Fraktion ebenfalls vorgeschlagen hat
und denen wir zustimmen können.
Allerdings nehmen Sie mit diesem Antrag auch für sich
in Anspruch, ein Modell zum Bildungssparen vorzuschla-
gen, das besser ist als das der Bundesregierung. Da frage
ich mich doch, ob die Kollegen Abgeordneten der Grünen
ihren eigenen Antrag überhaupt richtig gelesen haben.
Denn einige Aspekte Ihres durchaus detailreichen Bil-
dungssparmodells bleiben selbst hinter dem der Koali-
tion eindeutig zurück. Ein Beispiel ist Ihre geforderte
Bildungssparzulage in Höhe der Bauförderung. Wird ein
aktueller Satz von 8,8 Prozent zugrunde gelegt, bedeutet
das nach Ihrem Modell für einen Bürger, der vier Jahre
jährlich 512 Euro spart, gerade einmal eine Bildungs-
sparzulage von 150 Euro. Da brauche ich keinen Ta-
schenrechner, um zu merken, dass sogar das Modell der
Bundesregierung bei einer jährlichen Förderung von ma-
ximal 154 Euro mehr Geld für meine Weiterbildung be-
deutet. Dieses Beispiel zeigt, wie unausgegoren Ihr Kon-
zept und damit auch Ihr Anspruch auf ein besseres
Bildungssparmodell ist.
Nun hat dieser Antrag aber eines mit dem Weiterbil-
dungsengagement vor allem der CDU/CSU gemeinsam.
Da wird deutlich, warum Sie in Hamburg so harmonisch
miteinander können. Denn Ihre Lösung für die Finanzie-
rung des lebenslangen Lernens sehen Sie ebenfalls in der
Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger, und
Sie monieren, dass „der Gedanke, dass Sparen für Bil-
dung sich auszahlt, heute noch zu wenig verbreitet“ ist.
Dass sich Weiterbildung für die einen deutlich mehr lohnt
als für die anderen, scheint bei den Grünen als Erkenntnis
noch nicht angekommen zu sein. Dass folgerichtig dieje-
nigen, die von der Weiterbildung tatsächlich profitieren,
sich gerne weiterbilden, während diejenigen, die nur we-
nig von ihrer Weiterbildung erwarten dürfen, verständli-
25266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Volker Schneider (Saarbrücken)
cherweise auch nur eine geringe Motivation zeigen,
scheint Ihnen ebenfalls unbekannt.
An diesen Tatsachen geht der von den Grünen gefor-
derte „Mentalitätswandel“ völlig vorbei. Wir brauchen
keinen Mentalitätswandel, sondern echte Anreize für die,
für die sich Weiterbildung heute nicht oder zu wenig
lohnt. Wenn Sie weiter wollen, dass neben der Altersvor-
sorge Bildung als ein hochrangiges Sparziel etabliert
wird, kann ich Ihnen nur empfehlen, sich etwas gründli-
cher zu informieren. Schon das Forschungsinstitut für
Bildungs- und Sozialökonomie hat 2007 in seinem Gut-
achten für das BMBF darauf hingewiesen, dass das Spar-
potenzial der Haushalte spätestens seit der Riester-Rente
eigentlich bereits ausgereizt ist. Wo Sie hier noch weitere
Möglichkeiten zum Bildungssparen sehen, erschließt sich
mir nicht.
Außerdem widerspricht diese Finanzierungsform so-
wohl bei der Bildung als auch in der Altersvorsorge
grundweg den Positionen der Linken. Nur wenn wir die
aktuellen Weiterbildungsstrukturen in ihrer Gesamtheit
und ohne zusätzliche Belastungen der Bürgerinnen und
Bürger auf die Ebene eines allgemeinen Erwachsenbil-
dungsförderungsgesetz hin ausrichten, wird der hohlen
Phrase des lebenslangen Lernens endlich etwas Leben
eingehaucht, und zwar so, dass, wie bei Ihrem vorliegen-
den Antrag, für die Bürgerinnen und Bürger nicht nur
heiße Luft herauskommt. Meine Fraktion wird Ihren An-
trag daher mit gutem Gewissen ablehnen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Lebenslanges Lernen wird immer mehr zur Notwen-
digkeit in unserer wissensbasierten Gesellschaft. Wir
Grüne wollen mit der Einführung eines Erwachsenen-
BAföGs die Förderung von Weiterbildungen unabhängig
von Alter oder Berufsgruppe sicherstellen. Zu einer zu-
kunftsgerichteten Weiterbildungspolitik gehört aber
auch, die Eigenverantwortung für Weiterbildung zu stär-
ken. Wir brauchen daher ein umfassendes Konzept, um
privates Weiterbildungssparen zu fördern.
Die von der Bundesregierung beschlossene und am
1. Dezember 2008 in Kraft getretene Weiterbildungsprä-
mie wird diesem Anspruch aber kaum gerecht. Im Gegen-
teil: Sie hat so viele Mängel, dass es höchst zweifelhaft
ist, ob sie überhaupt wirken wird und die Weiterbildungs-
beteiligung tatsächlich erhöht.
So sieht die beschlossene Weiterbildungsprämie zum
Beispiel eine jährliche Maximalförderung von 154 Euro
vor. Nun überlegen Sie sich einmal, welchen Weiterbil-
dungskurs sie für 154 Euro bekommen. Eins ist klar: Eine
umfassende Weiterbildung ist damit kaum finanzierbar.
Mit dieser Regelung bleibt die Anreizwirkung auf wenige
Menschen und kurze Maßnahmen beschränkt.
Hier wird ein grundlegender Konstruktionsfehler of-
fensichtlich: Die Regierung will kein Geld in die Hand
nehmen, um Bildungssparen zu finanzieren. Ein attrakti-
ves Sparmodell ist aber nicht umsonst zu haben. Die Re-
gierung macht Weiterbildung nach Kassenlage. Das ist
Zu Protokoll
schädlich und stärkt nicht gerade das Vertrauen in ein
neues Instrument.
Besonders ungünstig ist, dass die Bundesregierung mit
ihrem Modell keinerlei Impuls in Richtung Bildungsvor-
sorge gibt. Denn das im Rahmen des Vermögensbildungs-
gesetzes angesparte Geld muss nicht explizit für Bildung
eingesetzt, sondern kann für alles Mögliche verwendet
werden. Mit einer solchen Beliebigkeit kann man keinen
Bewusstseinswandel bei den Menschen erreichen. Ein
weiterer Konstruktionsfehler: Von der Entnahmeregelung
über das Vermögensbildungsgesetz profitieren nur Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, andere gehen leer
aus.
Was wir stattdessen brauchen, ist ein Bildungsspar-
projekt, das nicht nur auf eine Weiterbildungsprämie in
Höhe von 154 Euro setzt, sondern Bildungssparkonten
für alle Menschen möglich macht. Darauf haben Sie von
der Großen Koalition mit Ihrem Weiterbildungssparmo-
dell überhaupt nicht geachtet.
Wir Grüne haben einen eigenen Vorschlag für das Bil-
dungssparen. Wir wollen, dass jede und jeder ab 16 Jah-
ren ein Bildungssparkonto eröffnen kann – auch für eine
andere Person, zum Beispiel Kinder oder Enkel. Bei re-
gelmäßigen Einzahlungen gibt es eine staatliche Bil-
dungssparzulage, die mindestens so hoch ist wie die Bau-
sparförderung. Entnahmen sind für zertifizierte
Bildungsangebote möglich. Von unserem Vorschlag pro-
fitieren insbesondere Geringverdiener, weil für sie eine
höhere Sparzulage vorgesehen ist, nämlich 100 Prozent
bei einer Mindesteinlage von fünf Euro im Monat. Im Ge-
gensatz zur Regierung haben wir auch eine verlässliche
finanzielle Grundlage eingeplant: Aus unserer Sicht
sollte für das Bildungssparen die Wohnungsbauprämie
abgeschafft werden.
Außerdem fordern wir, dass bei Riester-Verträgen
nicht nur eine vorübergehende Entnahme von Geld für
Wohneigentum zulässig ist, sondern auch für Bildung.
Damit Bildungssparen ein Erfolg wird, muss es öffent-
lichkeitswirksam beworben werden. Außerdem brauchen
wir eine bessere Bildungsberatung und weitere Anstren-
gungen bei der Zertifizierung von Bildungsangeboten.
Bildungssparen kann dabei immer nur ein Baustein ei-
ner zukunftsgerichteten Weiterbildungspolitik sein. Noch
wichtiger wäre es, endlich ein echtes Erwachsenenbil-
dungsförderungsgesetz zu schaffen, das über das beste-
hende Meister-BAföG weit hinausgeht. Das ist der ent-
scheidende Hebel, um Weiterbildung zu fördern. Doch
hierzu kann sich die Regierung nicht durchringen. Beson-
ders in der Krise ist das fatal; denn hervorragend quali-
fizierte Fachkräfte sind eine der wichtigsten Vorausset-
zungen für Beschäftigungssicherheit und nachhaltiges
Wirtschaftswachstum.
Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Mit dem Ziel „Aufstieg durch Bildung“ hat die Bundes-
regierung Anfang letzten Jahres ihre Qualifizierungs-
initiative gestartet. Über sieben Schwerpunktsetzungen
wollen wir das Lernen im gesamten Lebenslauf und über
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25267
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Parl. Staatssekretär Andreas Storm:
alle Lebensbereiche verbessern. Diese Perspektive des
Aufstiegs wird durch die derzeitige Krise nicht aufgehoben –
im Gegenteil: „Krisenzeiten sind Bildungszeiten“ heißt
es, denn eine nachhaltige Erholung kann es für jede und
jeden einzelnen wie auch für die ganze Gesellschaft nur
geben, wenn wir unsere Stärken weiter ausbauen, wenn
wir das wichtigste Kapital und unseren einzigen nach-
wachsenden Rohstoff weiter pflegen und entwickeln – die
Qualifikationen der Menschen in unserem Land.
Es passt deswegen besonders gut, dass wir im
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, besser bekannt
als „Meister-BAföG“, ab dem nächsten Monat deutliche
Verbesserungen in Kraft setzen: Großzügigere Förderun-
gen, höhere Erlasse im Erfolgsfall, besondere Förderung
von Eltern durch den Kinderbetreuungszuschlag, Honorie-
rung von Existenzgründungen und anderes mehr werden
die klassische Aufstiegsfortbildung noch attraktiver ma-
chen. Insgesamt steigt der im Bundeshaushalt dafür
bereitgestellte Mitteleinsatz in den nächsten Jahren um
rund 60 Prozent.
Darüber hinaus haben wir mit dem Aufstiegsstipendium
ein neuartiges Instrument etabliert, das für beruflich
Qualifizierte einen zusätzlichen Anreiz zur Aufnahme eines
Hochschulstudiums setzt. Bereits ein Jahr nach dem Start
des neuen Programms werden rund 1 500 Stipendiaten
von dieser Förderung profitieren. Das ist ein beachtlicher
Erfolg, der Aufstiegsmöglichkeiten über die Bildungs-
bereiche hinweg erleichtert.
Aber auch unterhalb und neben dem beruflichen Auf-
stieg, dem Erreichen einer weiteren Karrierestufe, ist das
Lernen im Lebenslauf von zunehmender Bedeutung. Für
alle Erwerbstätigen ist die kontinuierliche Fortbildung
eine entscheidende Voraussetzung für ein erfolgreiches
Berufsleben.
Mit der Bildungsprämie unterstützt die Bundesregierung
in mehrfacher Weise die Erwerbstätigen in dem Bemühen,
ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern:
Seit Dezember 2008 können Erwerbstätige mit einem
Prämiengutschein einmal jährlich die Gebühren für
Kurse oder Prüfungen bis zu einer Höhe von 154 Euro
hälftig finanzieren. Dieser Anreiz zielt bewusst auf Erwerbs-
tätige mit niedrigem bis mittlerem Einkommen, weil vor
allem in diesen Gruppen noch hohes Mobilisierungspoten-
zial zu erwarten ist. Von dieser Unterstützung können rund
17 Millionen Erwerbstätige profitieren.
Seit Beginn dieses Jahres ist im Vermögensbildungsge-
setz das sogenannte Bildungssparen verankert, das heißt
Ansparguthaben, das bereits mit der Arbeitnehmerspar-
zulage gefördert wurde, darf auch vor Ende der Sperrfrist
für individuelle berufliche Weiterbildung verwendet wer-
den, ohne dass damit der Anspruch auf die Zulage verlo-
ren geht. Die bildungsökonomische Bedeutung dieser
Neuerung liegt auf der Hand: Wir wünschen uns einer-
seits mehr private Investitionen, wir verhelfen anderer-
seits den Menschen gleichzeitig auch zur notwendigen
Liquidität. Darüber hinaus aber bedeutet das „Bildungs-
sparen“, dass wir erstmals die Weiterbildung als Zweck
für die Verwendung von staatlich gefördertem Anspargut-
haben eingeführt haben.
Zu Protokoll
Als Grundlage für den gerade beginnenden Vertrieb
dieser beiden Finanzierungskomponenten haben wir den
Aufbau eines Netzwerkes von Beratungsstellen voran-
getrieben, in denen sich Bildungsinteressierte neben dem
Prämiengutschein und dem Spargutschein auch Rat und
Unterstützung für die richtige Bildungsentscheidung holen
können. Wir haben schon im Mai 2009 über 300 aktive
Beratungsstellen bundesweit einrichten können. Weitere
rund 100 Stellen sind bereits für die Prämienberatung
ausgewählt und werden nach der notwendigen Schulung
und Einführung der Datenschutzvorkehrungen zur Verfü-
gung stehen. Das heißt, wir haben spätestens im August
ein Netzwerk von deutlich über 400 Beratungsstellen. Die
strukturbildende Bedeutung dieser Entwicklung liegt
gerade darin, dass wir kein neues Netz aufbauen, dessen
Nachhaltigkeit nach Auslaufen der öffentlichen Förderung
gefährdet wäre. Vielmehr setzen wir auf bestehende
Strukturen auf, zumal es mit Blick auf die Angebots- und
Trägervielfalt wichtig ist, dass die Bildungsberatung vor
Ort von ganz verschiedenen Stellen wahrgenommen wird.
Das sind an vielen Orten Volkshochschulen und Kam-
mern – die übrigens auch öffentlich finanziert werden;
das sind aber auch ganz andere Stellen wie Weiterbil-
dungsverbünde, kommunale Stellen oder weitere Anbieter.
In dieser vielgestaltigen Landschaft suchen wir in enger
Absprache mit den Ländern die geeigneten Stellen heraus,
geben ihnen mit der Prämienberatung eine zusätzliche
Finanzierungsquelle und einen gemeinsamen fachlichen
Bezugspunkt. Besonders sinnfällig wird dieses Vorgehen,
wenn – wie in einigen Ländern schon zu sehen – unser
Auftrag mit anderen Beratungsaufträgen im Zusammen-
hang mit nachfrageorientierter Bildungsfinanzierung zu-
sammengelegt wird, etwa zu Qualifizierungsmaßnahmen
während des Bezuges von Kurzarbeitergeld.
Gerade im Zusammenwirken der drei Bausteine hilft
dieses Angebotspaket der Bildungsprämie den Erwerbstäti-
gen: Durch den Anreiz der Prämiengutscheine aktivieren
wir die große Zahl derjenigen, die der Weiterbildung
grundsätzlich positiv gegenüberstehen, aber bislang
noch nicht oder nicht oft genug den Schritt zur Umsetzung
getan haben. Mit dem Bildungssparen verhelfen wir dem
Einzelnen zur notwendigen Liquidität, indem wir millionen-
fach vorhandene Ansparguthaben für Bildungszwecke er-
schließen. Mit der Prämienberatung unterstützen wir die
Nutzerinnen und Nutzer dabei, ihre Eigenverantwortung
sachgerecht wahrnehmen zu können.
Selbstverständlich muss auch die Angebotsseite der
Bildung weiterentwickelt werden. Aber auch dafür ist es
aus unserer Sicht erforderlich, dass die Schlüsselakteure
unterstützt werden. Für den Auf- und Ausbau einer wirk-
samen Bildungsinfrastruktur kommt den Kommunen eine
zentrale Bedeutung zu. Viele Kreise und Städte haben
erkannt: Bildung ist ein entscheidender Standortfaktor. In
dem Programm „Lernen vor Ort“ fördern wir deshalb
mit insgesamt 60 Millionen Euro aus Mitteln des Bundes
und des Europäischen Sozialfonds Projekte, in denen
aufeinander abgestimmte Bildungsangebote das lebens-
begleitende „Lernen vor Ort“ weiterentwickeln – zum
praktischen Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger und
zur Stärkung der kommunalen Bildungsinfrastruktur.
25268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25269
(A) (C)
(B) (D)
Parl. Staatssekretär Andreas Storm:
Und auch hier holen wir ergänzenden Sachverstand
mit ein: Ein derzeit aus 29 Stiftungen bestehender und
eigens gegründeter Stiftungsverbund, dem weitere etwa
80 Stiftungen assoziiert sind, unterstützt die Kommunen
durch Zusammenarbeit und Patenschaften. Die Stiftungen
stellen ihre Kenntnisse und Erfahrungen aus erfolgreichen
Modellprojekten zur Verfügung, aktivieren das bürger-
schaftliche Engagement und stärken die öffentlich-private
Kooperation vor Ort.
Wie sinnvoll dieses Förderangebot ist, zeigt die große
Resonanz auf den Wettbewerb: Es haben sich insgesamt
150 Standorte aus allen Teilen unseres Landes mit bemer-
kenswerten Ideenskizzen an der Ausschreibung beteiligt.
Dies entspricht einem guten Drittel aller bundesdeutschen
Kreise und kreisfreien Städte. Ich freue mich, dass wir am
17. Juni 2009 den besten 40 Kommunen ihre Urkunden
überreichen konnten. Ab September 2009 werden sie zu-
nächst für eine Laufzeit von drei Jahren ihre Projekte
starten. Besonders erfolgreiche und transferfähige Vor-
haben sollen anschließend für zwei weitere Jahre verlängert
werden.
Diese zwei Beispiele machen deutlich, dass die Förde-
rung von Weiterbildung die Akteure und ihre Interessen
berücksichtigen muss, wenn sie effektiv sein will. Deswegen
können wir auch dem vorliegenden Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen nicht folgen.
Mit der Einführung der Bildungsprämie und des „Bil-
dungssparens“ im Vermögensbildungsgesetz, mit einer
weitreichenden Verbesserung und Aufstockung des Meister-
BAföG, mit der erfolgreichen Etablierung der Aufstiegs-
stipendien und nicht zuletzt mit einer massiven Förderung
der Bildungsinfrastruktur durch die Konjunkturprogramme
hat die Bundesregierung gezeigt: Wir meinen es ernst mit
dem Aufstieg durch Bildung. Wir eröffnen neue Chancen
und investieren gezielt in die Grundlage für Wachstum
und Wohlstand in unserem Land, in Bildung und Qualifi-
zierung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13359, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/9349 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben alle Fraktionen bis auf die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen, die dagegen gestimmt hat.
Tagesordnungspunkt 45:
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Akkreditie-
rungsstelle (Akkreditierungsstellengesetz –
AkkStelleG)
– Drucksache 16/12983 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Akkreditierungsstelle (Akkreditie-
rungsstellengesetz – AkkStelleG)
– Drucksachen 16/13126, 16/13404 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
– Drucksache 16/13406 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Zu Protokoll sind die Reden von Georg Nüßlein,
Andrea Wicklein, Elvira Drobinski-Weiß, Paul Friedhoff,
Herbert Schui und Wolfgang Strengmann-Kuhn genom-
men worden.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Bereits in meiner ersten Rede zum Akkreditierungsstel-
lengesetz habe ich auf die sehr zerklüftete Interessenlage
bei dieser Thematik verwiesen. Umso mehr freut es mich,
dass wir heute – nach intensiven Verhandlungen und aus-
giebigen Diskussionen – dieses Gesetz zu einem guten
Ende bringen.
Die EU fordert von uns eine Anpassung der Organisa-
tion der deutschen Akkreditierung an die europäischen
Rahmenbedingungen. Der Stichtag für eine nationale Re-
gelung ist der 1. Januar 2010. Kern der europäischen
Forderungen ist ein einheitlicher Ansprechpartner, aber
auch eine einheitliche Aufsicht über die bestehenden
Prüflabore.
Mit dieser Forderung rüttelt die EU in Deutschland an
seit Jahrzehnten gewachsenen Zuständigkeiten und Kom-
petenzen. Diese Kritik an der EU kann ich mir nicht
verkneifen. Hierzulande führen circa 4 000 Zertifizie-
rungsstellen und Laboratorien – darunter der TÜV –
verschiedenste Prüfungen von Produkten und Dienstleis-
tungen durch. Ihre Befähigung hierzu weisen sie in Akkre-
ditierungsverfahren nach. Die Zuständigkeit für diese
Akkreditierungen ist bisher auf über 20 verschiedene Ein-
richtungen verteilt. Neben Stellen des Bundes und der
Länder sind auch private Akkreditierungsstellen vertre-
ten. Entsprechend bunt ist der Forderungskatalog an eine
Neuorganisation unter den EU-Vorgaben gewesen:
Die EU möchte künftig nur einen einzigen nationalen
Ansprechpartner. Gleichzeitig bestehen die privaten Ak-
kreditierungsstellen zu Recht auf Berücksichtigung ihrer
Interessen. Verschiedene Ministerien plädierten – beson-
ders im Bereich sensibler Produkte und Verfahren – dafür,
eine Behörde zu schaffen, schließlich sei Akkreditierung
eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Im Zuge der Ver-
handlungen sahen die Länder ihre Kompetenzen schwin-
den und beanspruchten die Akkreditierung in Eigenregie,
also mit Landesbehörden.
Mit dem heute zur Verabschiedung anstehenden Ge-
setzentwurf sind wir auf viele der Bedenken und Zweifel
eingegangen. Wir legen die nötigen organisationsrechtli-
chen Grundlagen für den von der EU geforderten einheit-
lichen Ansprechpartner. Geplant ist jetzt die Errichtung
einer nationalen Akkreditierungsstelle in Form einer Ge-
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Georg Nüßlein
sellschaft mit beschränkter Haftung, an der Bund, Länder
und Privatwirtschaft jeweils zu einem Drittel beteiligt
werden. Der Entwurf enthält genaue Regelungen für die
Beleihung einer juristischen Person des Privatrechts mit
den Aufgaben der nationalen Akkreditierungsstelle.
Besonders beschäftigt hat uns in den letzten Wochen
der Protest aus den Reihen der Gesundheitspolitiker und
Verbraucherschützer gegen eine solche Regelung. Anre-
gungen, die sensiblen Bereiche wie zum Beispiel Medizin-
produkte mit besonderer Aufmerksamkeit zu behandeln,
haben wir gerne aufgenommen.
Die zentrale Forderung war, dass nicht nur die ab-
schließende Befugniserteilung, sondern auch die Begut-
achtung – als faktische Überprüfung der Kompetenz der
zu akkreditierenden Stellen – in den Händen der bisher
akkreditierenden, für diesen sensiblen Bereich kompeten-
ten Behörden bleibt. Laut Auskunft unserer Gesundheits-
und Verbraucherschutzpolitiker reichten die allgemeine
Basiskompetenz und auch ein Anhörungsrecht für die
sensiblen Bereiche nicht aus. Gerne sind wir auf diese Be-
denken eingegangen, mussten aber lange ringen, bis wir
zu einer Formulierung fanden, die unser Konstrukt der
verfassungsrechtlich problematischen Organisations-
form der Mischverwaltung nicht zu ähnlich machte.
So haben wir im Änderungsantrag eine Sonderregel
eingeführt, nach der die Akkreditierungsstelle im Einver-
nehmen mit den Behörden, die bereits heute diese Be-
gutachtung durchführen, die Akkreditierung vollziehen
muss. Die bestehende Begutachtungskompetenz geht also
nicht verloren.
Zusätzlich wird ein Akkreditierungsausschuss gebil-
det. Bei der Besetzung dieses Ausschusses muss sicherge-
stellt werden, dass zwei Drittel der Mitglieder aus sach-
und fachkundigen Personen, die Angehörige der die Be-
fugnis erteilenden Behörden sind, berufen werden. Die
Akkreditierungsentscheidung bleibt also unabhängig von
kommerziellen Interessen und materiell in staatlicher
Hand.
Mit diesem nun gefundenen Kompromiss nutzen wir
bei der Begutachtung und Überwachung der hochsensib-
len Bereiche die über Jahre gesammelte Kompetenz von
Behörden, gleichzeitig verbleibt aber die Verantwortung
bei der Akkreditierungsstelle. Somit ist auch weiterhin
der europäischen Forderung nach einem einheitlichen
Ansprechpartner Genüge getan.
Auch den Forderungen der Länder sind wir, so weit es
eben ging, nachgekommen: Am gesetzlich geregelten Be-
reich der Akkreditierung sind Bund und Länder gleichbe-
rechtigt zu je einem Drittel beteiligt. Dieser Struktur trägt
die Beleihung einer gemeinschaftlich getragenen Ein-
richtung Rechnung. Wegen der Betroffenheit der Länder
bedarf die Rechtsverordnung, mit der eine Beleihung vor-
genommen wird, der Zustimmung des Bundesrates.
Um letzte Zweifel nach der Umsetzung des Gesetzent-
wurfs beseitigen zu können, haben wir die Bundesregie-
rung gebeten, für Mitte 2010 einen Bericht zur Praxis der
Akkreditierungsstelle anzufertigen. Gegebenenfalls kann
der Gesetzgeber hier dann auch kurzfristig reagieren.
Zu Protokoll
Lassen Sie mich nach all der Kritik, die wir in unseren
Verhandlungen aus dem Weg räumen mussten, noch auf
ein Schmankerl unseres Akkreditierungsstellengesetzes
eingehen: Wir leisten einen nicht unerheblichen Beitrag
zum Bürokratieabbau, denn in Zukunft werden Doppel-
akkreditierungen entfallen, die bisher an der Tagesord-
nung waren. Deutsche Konformitätsbewertungsstellen
waren häufig bei mehreren Akkreditierungsstellen zuge-
lassen. Wir rechnen hier mit einer Reduzierung der Büro-
kratiekosten in Höhe von circa 280 000 Euro jährlich.
Nach langer Diskussion setzen wir heute die europäi-
sche Verordnung über die Anforderung an Akkreditierung
und Marktüberwachung bei der Vermarktung von Pro-
dukten um. Wir werden zum 1. Januar 2009 über eine na-
tionale Akkreditierungsstelle verfügen. Das bereits
drohende Szenario, dass die hier bei uns ansässigen Kon-
formitätsbewertungsstellen in Zukunft um eine Akkredi-
tierung im Ausland ersuchen müssten, konnten wir mit
dieser Einigung gerade noch abwenden. Dies wäre einer
Blamage für die Exportnation Deutschland gleichgekom-
men.
Herzlichen Dank an alle Beteiligten für Beharrlich-
keit, wo diese geboten war, aber auch für die Diskussions-
und Kompromissbereitschaft, die auch angesichts des
Zeitdrucks und des drohenden Scheiterns unseres Gesetz-
entwurfs wegen der Zerstrittenheit nicht immer selbstver-
ständlich war.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
In sozusagen letzter Minute schließen wir heute das
Akkreditierungsstellengesetz ab. Das hört sich erst ein-
mal technisch an, ist aber ziemlich wichtig. Vereinfacht
gesagt geht es um die „Kontrolle der Kontrolle“.
Akkreditierung ist die Bestätigung, dass ein Labor,
eine Zertifizierungsstelle oder eine Prüfstelle die hinrei-
chende Fachkunde, Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit
besitzt, um bewerten zu können, ob ein konkretes Produkt
sicher ist oder eine Dienstleistung den gesetzlichen Vor-
gaben und technischen Normen entspricht. In vielen Be-
reichen ist eine solche Konformitätsbewertung durch
Zertifizierungsstellen Voraussetzung dafür, ein Produkt
oder eine Dienstleistung überhaupt am Markt anbieten zu
können.
Für uns Sozialdemokraten ist die „Kontrolle der Kon-
trolle“ eine ureigene Staatsaufgabe. Gerade in den sen-
siblen Bereichen Gesundheits- und Verbraucherschutz
muss der Staat seinen Schutzpflichten effektiv nachkom-
men können. Wenn Gammelfleisch auf den Markt kommt
oder Blutkonserven verseucht sind, rufen die Bürgerin-
nen und Bürger zu Recht nach der Politik. Hier muss es
jemanden geben, der die Verantwortung trägt und poli-
tisch dafür geradesteht.
Dass Akkreditierung eine hoheitliche Aufgabe ist,
wurde deshalb auch in der EU-Verordnung über die An-
forderungen an die Akkreditierung festgelegt, auch wenn
der Bundeswirtschaftsminister das ganz am Anfang so
gar nicht wollte. In den Verhandlungen über die EU-Ver-
ordnung wurde auch die Frage diskutiert, ob es eigentlich
eine einzige Stelle sein muss, die die Akkreditierungen
25270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Elvira Drobinski-Weiß
vornimmt, oder ob es ein System von Akkreditierungsstel-
len geben kann, also ein System von kompetenten Behör-
den, die jeweils unter der Aufsicht der Fachministerien
tätig werden. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft ist
es wohl nicht gelungen, diesen für unser föderales deut-
sches System wichtigen Punkt gegenüber der Kommis-
sion verständlich zu machen. Ein Schelm, wer dabei
denkt, es hätte im Interesse des federführenden Wirt-
schaftsministeriums gelegen, alles in einer zentralen
Stelle beim Wirtschaftsministerium zu bündeln. Auch ein
Schelm, wer denkt, dass die deutsche Industrie auf ver-
schiedenen Kanälen und über Personen innerhalb der
Kommission dafür gesorgt haben könnte, dass ein Akkre-
ditierungssystem nach der EU-Verordnung nicht möglich
ist.
Jedenfalls mussten dann gesetzliche Durchführungs-
bestimmungen für die EU-Verordnung erlassen werden.
In den ersten Gesetzentwürfen des Bundeswirtschaftsmi-
nisters wurde vorgeschlagen, die Akkreditierungsstelle
als „wirtschaftsgetragene Stelle“ auszugestalten. Pas-
senderweise stellte ein Vertreter des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie am 20. August 2008 im BMWi
das „Konzept für eine wirtschaftsgetragene Stelle“ vor.
Ein Schelm, wer dabei denkt, der BDI hätte gleich den
ersten Gesetzentwurf mit ausgearbeitet.
Eine wirtschaftsgetragene Stelle nach Vorstellungen
des BMWi und ohne Einwirkungsmöglichkeiten des Staa-
tes beschließen wir heute zum Glück nicht.
Die ursprünglichen Vorschläge des BMWi waren von
einer Liberalisierungsideologie geprägt. Eine Behörden-
lösung, wie sie der Bundesrat ausweislich der Randnum-
mer 21 seiner Stellungnahme vorgeschlagen hat, hätten
wir zwar besser gefunden. Ein Schelm, wer dabei denkt,
dass das Wirtschaftsministerium das wirklich ernsthaft
geprüft hat.
Aber wir sind ja zum Glück nicht dogmatisch, weshalb
grundsätzlich natürlich auch die Beleihung einer GmbH
denkbar ist. Gewährleistet aber muss sein, dass die öf-
fentliche Hand genug Einwirkungsmöglichkeiten besitzt,
damit die staatliche Letztverantwortung gewahrt bleibt.
Wir als Verbraucherpolitikerinnen und -politiker der SPD
können heute zustimmen, weil es uns gelungen ist, genü-
gend Sicherungsseile einzuziehen. Nennen will ich nur,
dass die öffentliche Hand zwei Drittel der Gesellschafter
der GmbH stellt und Stellen nur dann akkreditiert werden
können, wenn ein Einvernehmen zwischen der Akkreditie-
rungsstelle und den kompetenten Behörden hergestellt
wird. Auch ist gewährleistet, dass die Akkreditierung wei-
ter unter der Fachaufsicht der zuständigen Fachministe-
rien erfolgt. Zudem ist es in den Bereichen Gesundheit
und Verbraucherschutz weiterhin möglich, dass die Über-
wachung und Begutachtung der Zertifizierungsstellen in
einheitlicher staatlicher Hand bleibt. Denn im Rahmen
der Überwachung ergeben sich wichtige Hinweise für Be-
gutachtung bzw. Anerkennung. Das vorhandene Fach-
wissen in den Fachbehörden darf nicht verloren gehen,
was aber bei einem Wegfall der Erfahrung aus der Über-
wachungstätigkeit der Fall wäre.
Viel hängt jetzt natürlich davon ab, wie die GmbH kon-
kret ausgestaltet wird, wer die öffentliche Hand in der
Zu Protokoll
Gesellschafterversammlung vertritt und wie die Ent-
scheidungsstrukturen innerhalb der GmbH aussehen.
Wichtig dabei ist, dass auch Verbraucherschutz- und Ge-
sundheitsministerien angemessen vertreten sind. Das
Bundeswirtschaftsministerium konnte uns ja noch keine
Entwürfe für die Satzung der GmbH, die Beleihungsver-
ordnung und den Beleihungsvertrag vorlegen. Und das
ein halbes Jahr, bevor die GmbH ihre Arbeit aufnehmen
soll!
Herr von Guttenberg, ich hoffe, Sie kümmern sich um
Ihren Laden. Mit dem Gesetzgebungsverfahren haben Sie
sich jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Der Regie-
rungsentwurf kam zu spät, weshalb ein ordentliches Ver-
fahren und eine gründliche Prüfung durch die Länder
nicht mehr gewährleistet waren. Das war fast unver-
schämt! Eine Gegenäußerung der Bundesregierung konnte
dann in unsere Beratungen auch nicht mehr einfließen.
Aber bitte seien Sie sich sicher: Wir werden die Arbeit
der Bundesregierung bei der Ausarbeitung der Satzung
der GmbH, der Beleihungsverordnung und des Belei-
hungsvertrages genau beobachten und uns hierüber im
Verbraucherausschuss auch berichten lassen. Wir sind
gespannt, wie sich die Kosten zur Errichtung der GmbH
entwickeln – man hört, Sie haben schon eine Unterneh-
mensberatung hierfür beauftragt; kann das Ministerium
das nicht selber? –, und werden die weiteren Entwicklun-
gen wie immer konstruktiv begleiten. Denn wir sind keine
Liberalisierungsdogmatiker, sondern haben das Wohl un-
serer Verbraucherinnen und Verbraucher und der Men-
schen in unserem Land im Auge.
Andrea Wicklein (SPD):
Das deutsche Akkreditierungswesen steht vor einer
grundsätzlichen Veränderung. Mit dem heute zu verab-
schiedenden Gesetz werden wir eine zentrale deutsche
Akkreditierungsstelle schaffen, die für alle Akkreditie-
rungsverfahren zuständig ist. Die Überprüfung der Qua-
lität von Konformitätsbewertungen der meisten deut-
schen Produkte gibt es zukünftig aus einer Hand. Wir
setzen damit die Vorgabe der Europäischen Union um,
das Akkreditierungswesen als hoheitliche Aufgabe zu de-
finieren.
Auch in der Zukunft werden aber Bund, Länder und In-
stitutionen der Wirtschaft gemeinsam das Akkreditie-
rungswesen in Deutschland tragen. Sie sind an der zu bil-
denden und von der Bundesregierung zu beleihenden
Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu je einem Drittel
vertreten und können ihre Erfahrungen und ihr qualifi-
ziertes Personal in das Unternehmen mit einbringen.
Wir haben bereits bei der Einbringung des Gesetzes
deutlich gemacht, dass dem hohen Akkreditierungsstan-
dard – auch in sensiblen Bereichen wie dem Gesundheits-
sektor und dem Verbraucherschutz – Rechnung getragen
werden muss und dass auch in Zukunft die zentrale Akkre-
ditierungsstelle objektiv und unabhängig bewerten und
beurteilen können muss.
In den Verhandlungen um das Gesetz ist vor allem
deutlich geworden, dass den sensiblen Bereichen – an de-
nen der Staat, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger ein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25271
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Andrea Wicklein
besonderes Interesse haben – besondere Aufmerksamkeit
geschenkt werden muss. Ich denke, wir haben eine Lö-
sung gefunden, die sowohl den europarechtlichen Bestim-
mungen entspricht als auch den Akkreditierungen im Ge-
sundheitsbereich, im Verbraucherschutz und in der
Lebensmittelsicherheit, die aber auch der Sicherheits-
technik besondere Bedeutung beimisst.
Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
haben wir sichergestellt, dass in den sensiblen Bereichen
diejenigen Behörden des Bundes und der Länder beim
Akkreditierungsverfahren Einfluss haben, die bereits
heute fachlich mit diesen Bereichen befasst sind. Die
Fachkompetenz dieser Behörden wird also erhalten und
weiter genutzt. Dies geschieht durch eine Akkreditie-
rungsentscheidung im Einvernehmen mit den Behörden
und über den vorgeschlagenen Akkreditierungsaus-
schuss, in dem Fachexperten aus den Behörden zu zwei
Dritteln vertreten sind.
Wir schaffen mit der nationalen Akkreditierungsstelle
eine wirtschaftsnahe und doch staatsdominierte Stelle,
die durch die Bundesministerien zu beaufsichtigen ist.
Wir gehen als SPD-Bundestagsfraktion davon aus, dass
Gesellschaftsvertrag und Beleihungsvertrag so ausge-
staltet werden, dass den Interessen der Allgemeinheit am
hohen Qualitätsniveau deutscher Produkte und der hohen
Kontrolldichte für sensible Produkte – so zum Beispiel
aus dem Gesundheitssektor – Rechnung getragen wird.
Ein Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des
Gesetzes würden wir uns im nächsten Jahr wünschen.
Die Zeit drängt. Bis zum 1. Januar 2010 muss die deut-
sche nationale Akkreditierungsstelle errichtet sein. An-
sonsten müssten sich deutsche Konformitätsbewertungs-
stellen im Ausland akkreditieren. Das will wohl niemand.
Paul K. Friedhoff (FDP):
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den vorliegenden
Entwurf der Koalitionsfraktionen zu einem Akkreditie-
rungsstellengesetz ab. Lassen Sie mich kurz die Gründe
benennen, die für uns gegen eine Umsetzung der entspre-
chenden EU-Verordnung in dieser Form sprechen.
Die Koalitionsfraktionen haben ohne Not einen zen-
tralistischen, wettbewerbsfernen Ansatz verfolgt. Statt
das bewährte dezentrale System in ein Holdingmodell mit
einer Dachgesellschaft zu überführen, wird ein kosten-
trächtiges Einheitsmodell mit staatlicher Dominanz ge-
schaffen.
Allein zugutezuhalten ist den pragmatischen Kräften
in der Koalition, dass sich das Bundesgesundheitsminis-
terium nicht durchsetzen konnte. Dieses hatte gar eine
neue Behörde gefordert, die noch teurer geworden wäre
als die nun geplante beliehene Einheitsstelle. Mit einer
von der SPD und anderen linken Fraktionen favorisierten
Behörde hätte zudem kaum das privatwirtschaftliche
Know-how erhalten werden können, das in der deutschen
Akkreditierungssparte vorhanden ist.
Vorzuwerfen ist der Bundesregierung nach wie vor,
dass sie es auf der Ebene der Europäischen Union ver-
säumt hat, eine staatsdominierte Einheitslösung zu ver-
hindern. Nun ist es leider zu spät, um die Vorgabe der Ver-
Zu Protokoll
ordnung, „ein Mitgliedstaat, eine Akkreditierungsstelle“,
zu verwerfen.
Auch ist unverständlich, warum die Bundesregierung
nach Erlass der EU-Verordnung im vergangenen Sommer
erst Ende April dieses Jahres die Umsetzung beschlossen
hat. Die Bundesregierung hat damit bis zum letztmögli-
chen Termin gewartet, obwohl Tausende Unternehmen
vom Thema der Akkreditierung betroffen und auf Rechts-
sicherheit angewiesen sind. Schon seit langem fordert die
Wirtschaft mit Recht, die bestehende Unsicherheit auf
dem Gebiet des deutschen Akkreditierungswesens zu be-
enden.
Schon in der ersten Lesung im Mai hat meine Fraktion
hier kritisiert, dass die dringende Vorgabe des Bürokra-
tieabbaus und der Kostenentlastung im Gesetzentwurf
nicht genügend befolgt wird. Wie bereits mit anderen Ge-
setzen bürdet die Bundesregierung den Unternehmen
wieder neue Belastungen auf: Die Bundesregierung
selbst geht davon aus, dass der Wirtschaft Kosten in Höhe
von 2,36 Millionen Euro entstehen werden – für eine zen-
tralistische, staatsdominierte Institution, die eigentlich
bereits auf europäischer Ebene durch die Bundesregie-
rung hätte verhindert oder zumindest effektiver ausge-
staltet werden müssen.
Die FDP-Fraktion lehnt generell die Schaffung weite-
rer zentralistischer Institutionen ab, besonders dann,
wenn Unternehmen und der Verbraucher noch zusätzlich
belastet werden. Deshalb bewerten wir diesen Gesetzent-
wurf der Bundesregierung als falsch, und wir lehnen ihn
ab.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Bei der Errichtung einer nationalen Akkredtitierungs-
stelle geht es scheinbar nur um die Umsetzung einer EG-
Verordnung. Doch auch solche Umsetzungen lassen der
nationalen Politik Spielraum. Die Bundesregierung nutzt
diesen Spielraum, um privatrechtlichen Lösungen einmal
mehr den Vorzug vor öffentlichen Lösungen zu geben.
Statt einer öffentlichen Akkreditierungsstelle wird nun
eine privatrechtlich organisierte errichtet. Es stellt sich
die Frage, warum eine im Gesetz selbst so bezeichnete
hoheitliche Aufgabe von einer privatrechtlichen Institu-
tion übernommen werden sollte. Schließlich müssen
– auch das steht im Gesetz und in der dazugehörigen EU-
Verordnung – Unparteilichkeit und Objektivität bei der
Arbeit der Akkreditierungsstelle gewahrt sein.
Die Akkreditierungsstelle soll die Kompetenz der Kon-
formitätsbewertungsstellen bestätigen, die ihrerseits prü-
fen, ob Produkte oder Dienstleistungen den gesetzlichen
Anforderungen entsprechen und Kalibrierungen, Zertifi-
zierungen und Inspektionen durchführen. Warum ist die
Wirtschaft zu einem Drittel an einer Institution beteiligt,
die den Prüfstellen von Produkten eben diese Kompetenz
bescheinigt? Ist es nicht vorstellbar, dass Konformitäts-
bewertungsstellen nach zu vielen ablehnenden Prüfungen
die erneute Akkreditierung auf Druck der Wirtschaft ver-
weigert werden könnte? Es besteht der Verdacht, dass
hier Prüfstellen ausgemustert werden sollen. Zwar liegt
die Rechtsaufsicht noch beim Wirtschaftsministerium;
warum dann aber nicht gleich eine öffentliche Institu-
25272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25273
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herbert Schui
tion? Das einzige in der Gesetzesbegründung genannte
Gegenargument – Probleme im Personalübergang – je-
denfalls ist offenbar vorgeschoben. Die Vermutung liegt
nahe, dass eine privatrechtliche Lösung bevorzugt wurde,
um der Wirtschaft einmal mehr Einfluss zu garantieren,
und dafür die üblichen ideologischen Gründe vorgescho-
ben wurden.
Es geht um mehr Einfluss der Privatwirtschaft. Wenn
der besondere Zweck der Akkreditierungsstelle in der
Stärkung der deutschen Exportwirtschaft besteht, da
ohne nationale Akkreditierungsstelle, so der Text, „ein
wichtiges Instrument zur Sicherung der Marktstellung
und damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Ex-
portwirtschaft“ entfiele – dann ist die Frage, ob nicht
eine öffentliche Lösung besser gewesen wäre. Es ist mehr
als fraglich, ob das noch im Einklang mit der geforderten
Objektivität und Unparteilichkeit steht. Noch besser wäre
es, die Konformitätsbewertungsstellen, also renommierte
Institutionen wie der TÜV, – wieder in die öffentliche
Hand zurückzuführen. Dann bräuchten sie gar keine zu-
sätzliche Akkreditierung mehr. Auch die Unparteilichkeit
wäre eher gewahrt, da die zu Prüfenden nicht mehr die
Prüfstellen überwachen würden.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN):
Mit den Gesetzentwürfen soll eine nationale Akkredi-
tierungsstelle eingerichtet werden. Es soll also eine
nationale Institution geschaffen werden, die feststellt, wer
feststellen darf, dass Produkte etc. bestimmten Regeln
entsprechen und damit für den gemeinsamen Markt zuge-
lassen werden. Derzeit ist diese Aufgabe auf mehrere
Stellen verteilt. Die Einrichtung der nationalen Akkredi-
tierungsstelle muss bis zum 1. Januar 2010 erfolgen.
Reichlich spät sind die Gesetzentwürfe in den Bundestag
eingereicht worden. Dabei ist lange bekannt, dass die Ak-
kreditierungsstelle bis Anfang nächsten Jahres eingerich-
tet werden muss. Es geht schließlich um die Umsetzung
einer EU-Verordnung. Dass die Bundesregierung erst so
spät agiert, hat einen einfachen Grund: Sie konnte sich
mal wieder nicht einigen. Der Gesetzentwurf sieht nun
eine Beteiligung von Bund, Ländern und Wirtschaft zu je
einem Drittel vor – die sogenannte Drittel-Lösung. Diese
Lösung ist keine Lösung, sondern sie ist das Ergebnis ei-
nes Kompromisses, und zwar eines schlechten Kompro-
misses.
Bei der Drittel-Lösung ist mehr als fraglich, ob sie ver-
nünftig administrierbar ist. Wir befürchten, dass der bü-
rokratische Aufwand sehr hoch ist. Und da stehen wir
nicht alleine. Auch der Nationale Normenkontrollrat hat
in seiner Stellungnahme empfohlen, den bürokratischen
Aufwand bei der Abwägung der Organisationsform zu be-
rücksichtigen. Warum schreibt wohl der Normenkontroll-
rat dies in seiner Stellungnahme? Dafür kann es nur ei-
nen Grund geben. Sie haben bei der Konstruktion dieser
Drittel-Lösung Ihre Hausaufgaben nicht gemacht und
nicht darauf geachtet, was für einen bürokratischen Auf-
wand sie bedeutet. Offensichtlich sind Sie selbst auch gar
nicht davon überzeugt, dass diese Konstruktion sinnvoll
ist. Anders ist nicht zu erklären, dass Sie die Drittel-Lö-
sung schon nach wenigen Monaten auf ihre Funktionali-
tät hin überprüfen wollen.
Wir können es auch einfacher haben! Lassen wir die
Finger von der vermurksten Drittel-Lösung und richten
wir eine öffentliche Behörde ein! Das wäre der einfachste
Weg, und es wäre der richtige Weg. Die Kontrolle der Zu-
gangskontrollen für Produkte und Dienstleistungen zu
dem gemeinsamen Markt ist eine Aufgabe der öffentli-
chen Hand. Eine Beteiligung der Privatwirtschaft an die-
ser Aufgabe ist schlichtweg nicht zielführend.
Die Drittel-Lösung wurde doch nur gewählt, weil der
Bundeswirtschaftsminister Guttenberg dogmatisch die
Linie verfolgt hat, an dieser originär öffentlichen Auf-
gabe die Wirtschaft zu beteiligen. Die Kontrolleure sollen
sich selbst kontrollieren! Ich kann das nicht nachvollzie-
hen.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Guttenberg, ist das
die Lehre, die Sie aus der Wirtschafts- und Finanzkrise
ziehen? Glauben Sie wirklich, dass Sie heute noch jeman-
dem erzählen können, dass die beste Kontrolle der
Märkte und auch die indirekte Kontrolle von der Wirt-
schaft selbst gemacht wird? Die Wirtschaft kann sich
nicht selbst kontrollieren, und sie soll es auch nicht. Das
ist die Lehre aus der Finanzkrise. Und das würde auch
der ordoliberalen Position entsprechen, mit der Sie sich
sonst immer gerne schmücken.
Das Gesetz ist Murks, und deswegen werden wir es ab-
lehnen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13406, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD auf Drucksache 16/12983 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer will dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen? – Wer will dagegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung bei Zustimmung durch die Koalition und Gegen-
stimmen durch die Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, erhebe
sich bitte. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Akkreditie-
rungsstelle. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13406, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 16/13126 und 16/13404 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
25274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lebensleistung von Migrantinnen und Mi-
granten würdigen – Anerkennungsverfahren
von Bildungsabschlüssen verbessern
– Drucksachen 16/11418, 16/13344 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Gesine Multhaupt
Patrick Meinhardt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz (Herborn)
Zu Protokoll genommen sind die Reden von Marcus
Weinberg, Gesine Multhaupt, Sibylle Laurischk, Sevim
Dağdelen und Priska Hinz.
Marcus Weinberg (CDU/CSU):
Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft unseres Lan-
des, und wir alle wissen, dass sich der Wirtschafts- und
Arbeitsmarkt an die internationalen Erfordernisse anpas-
sen muss. Auch und gerade in Zeiten der Krise und ange-
sichts der demografischen Entwicklung und der Chancen
der Globalisierung ist eine qualifizierte Zuwanderung für
die gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbar. Um die-
sen Prozess noch zu beschleunigen, fordern die Antrag-
steller einen Paradigmenwechsel im Anerkennungsver-
fahren von im Ausland erworbenen Kompetenzen und
Qualifikationen.
Die gegenwärtige Situation bei dem Verfahren zur An-
erkennung und Kompetenzfeststellung ausländischer Be-
rufsabschlüsse und -qualifikationen in Deutschland ist
geprägt von einer Unübersichtlichkeit hinsichtlich der
Verfahren und der zuständigen Stellen, einer Vielzahl un-
terschiedlicher Akteure im Bund und in den Ländern so-
wie rechtlichen Lücken für Zuwanderer, die ihr Studium,
ihre Ausbildung im Herkunftsland absolviert haben be-
ziehungsweise dort ausbildungsadäquat gearbeitet ha-
ben. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Zugangs als auch
der Durchführung des Verfahrens.
Unser Ziel ist es, die mitgebrachten Berufsabschlüsse
und -qualifikationen von Zuwanderern in Deutschland
arbeitsmarktfähig und arbeitsmarktgängig zu machen.
Viele der Zugewanderten bringen eine gute berufliche
Qualifikation mit, werden aber – aus formalen Gründen
oder aufgrund fehlender Bewertungsmöglichkeiten – auf
Arbeitsplätzen eingesetzt, die nicht ihren Qualifikationen
entsprechen oder möglicherweise sogar so behandelt, als
seien sie unqualifiziert oder ungelernt. Teilweise sind die
Betroffenen gerade aus diesem Grund auf staatliche
Transferleistungen angewiesen.
Bund und Länder haben den Handlungsbedarf er-
kannt: Der Nationale Integrationsplan, NIP, das bundes-
weite Integrationsprogramm sowie der Integrationsgip-
fel im Oktober 2008 mit der Qualifizierungsinitiative für
Deutschland, QID, „Aufstieg durch Bildung“ haben sich
der Verbesserung der Verfahren zur Anerkennung und
Bewertung ausländischer Berufsabschlüsse und -quali-
fikationen angenommen und arbeiten an deren Verbesse-
rung.
In nächster Zeit werden Bund und Länder entscheiden,
inwieweit bestehende Anerkennungsverfahren auf Perso-
nen mit Migrationshintergrund ausgeweitet werden kön-
nen. Im Ausland erworbene Abschlüsse sollen dann zügi-
ger auf Anerkennung geprüft und gegebenenfalls auch
Teilanerkennungen ausgesprochen werden. Der Bund un-
terstützt bei Teilanerkennungen mit geeigneten Förderun-
gen von Ergänzungs- und Anpassungsqualifizierungen.
Wir können dabei an bereits bestehendes Recht und an
vorhandene Erfahrungen in Deutschland anknüpfen:
Erstens. Die Richtlinie 2005/36/EG zielt bei Unions-
bürgerinnen und -bürgern bei reglementierten Berufen
auf einen Anspruch auf Teilanerkennung beziehungs-
weise einen Anspruch auf eine Anpassungsqualifizierung.
Die Vollanerkennung erfolgt, wenn nach erfolgreich ab-
geschlossener Anpassungsqualifizierung die Gleichwer-
tigkeit gegeben ist.
Zweitens knüpfen sie an die Lissabon-Konvention an,
die die Bewertung ausländischer Hochschulqualifikatio-
nen ermöglicht, um den Zugang zu Hochschulausbildung
und Arbeitsmarkt im Aufenthaltsstaat zu erleichtern.
Drittens. Der § 10 des Bundesvertriebenengesetzes
eröffnet der Gruppe der Spätaussiedlerinnen und -aus-
siedler einen Anspruch auf Durchführung eines Anerken-
nungsverfahrens für reglementierte und nicht reglemen-
tierte Berufe.
Verbände wie die Otto-Benecke-Stiftung, viele Kam-
mern und die Zentralstelle für ausländisches Bildungswe-
sen, ZAB, der Kultusministerkonferenz der Länder leisten
hier bereits wertvolle Arbeit. Sie erstellen – in vielen Fäl-
len ohne gesetzliche Grundlage – gutachterliche Stel-
lungnahmen bzw. informelle Bewertungen. Diese sind im
Einzelfall hilfreich, sie werden jedoch weder flächende-
ckend noch nach einheitlichen Kriterien ausgestellt und
haben nur selten überregionale Gültigkeit.
Die Datenbank ANABIN ist das Akronym für „Aner-
kennung und Bewertung ausländischer Bildungsnach-
weise“. Seit dem Frühjahr 2003 sind „Bewertungsvor-
schläge“ unter „Hochschulzugang“ verfügbar. In der
Datenbank wird seitdem für eine Vielzahl ausländischer
Staaten eine umfangreiche Dokumentation über ihr Bil-
dungswesen, die verschiedenen Abschlüsse und die aka-
demischen Grade sowie deren Wertigkeit von der Zentral-
stelle für ausländisches Bildungswesen beim Sekretariat
der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder
in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut. ANABIN
ist im Zusammenwirken des Hessischen Ministeriums für
Wissenschaft und Kunst, der Zentralstelle für ausländi-
sches Bildungswesen sowie dem Äquivalenzzentrum des
österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft
und Kultur und dem Äquivalenzzentrum des Wissen-
schaftsministeriums Luxemburgs entwickelt worden. We-
sentlicher Inhalt sind Angaben über ausländische Hoch-
schulabschlüsse und -grade, die Voraussetzungen für
ihren Erwerb sowie Hinweise zu ihrer Einstufung im Ver-
hältnis zu deutschen Hochschulabschlüssen und -graden.
(A) (C)
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Marcus Weinberg
Ziel der Datenbank ist es, die zuständigen Ministerien in
den Ländern, die Hochschulen sowie andere für die An-
erkennung ausländischer Hochschulabschlüsse zustän-
dige Behörden über ausländische Hochschulsysteme und
deren Abschlüsse zu informieren.
Eine deutliche Verbesserung der Arbeitsmarktintegra-
tion von Menschen mit Migrationshintergrund ist sowohl
aus sozial- und gesellschaftspolitischen als auch aus
volkswirtschaftlichen Gründen geboten. Auch angesichts
der demografischen Entwicklung und des Rückgangs des
Arbeitskräfteangebots in Deutschland ist es Anliegen von
Politik und Wirtschaft, die Erwerbsbeteiligung von Mi-
grantinnen und Migranten gezielt zu erhöhen und insbe-
sondere zur Verbesserung der Qualifikationsstruktur des
Erwerbspersonenpotenzials mit Migrationshintergrund
beizutragen.
Wir fordern daher erstens gesetzliche Ansprüche auf
ein Anerkennungsverfahren innerhalb einer Frist von
maximal sechs Monaten und zweitens Angebote für An-
passungsqualifizierungen zu schaffen sowie drittens
Clearingstellen einzurichten, die durch den Dschungel
der Anerkennungsstellen und -verfahren in Deutschland
führen.
Gesine Multhaupt (SPD):
„Zuwanderer sind häufiger kriminell, häufiger ar-
beitslos, und sie verlassen viel öfter die Schule ohne Ab-
schluss als Deutsche. Ein Vorurteil? Leider nein! Die Le-
benssituation der rund 15 Millionen Ausländer hat sich in
den letzten Jahren kaum verbessert.“ So fasste ein durch-
aus auf Stimmungsmache und Verkürzung angelegtes
Boulevardblatt dieser Tage das Ergebnis des ersten Mo-
nitoringberichts zusammen, den die Bundesbeauftragte
für Integration, Maria Böhmer, dem Bundeskabinett vor-
gestellt hat.
Dieser erste Integrationsbericht, der auf Daten der
Bundesagentur für Arbeit, der Kriminalstatistik der Län-
der und des Mikrozensus aus den Jahren 2005 bis 2007
beruht, führt uns eindringlich vor Augen, wie dringend
wir gehalten sind, die Anerkennungsverfahren von im
Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen zu verbessern.
Das ist ein Grundpfeiler für die Integration in den Ar-
beitsmarkt und Voraussetzung für die Verwirklichung von
Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft. Es liegt
auch auf der Hand, dass die Lernmotivation bei Kindern
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund steigt,
wenn auch ihre Eltern entsprechend ihren Qualifikatio-
nen und Vorstellungen arbeiten und sich integrieren kön-
nen.
Meine Fraktion hat unter der Federführung von Dr.
Angelica Schwall-Düren mit dem Eckpunktepapier für
eine kohärente Migrationspolitik bereits unverzichtbare
Schritte unternommen. Vor allem haben wir in dem Eck-
punktepapier nochmals unmissverständlich formuliert,
dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Daraus er-
gibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, die Integration
von Migrantinnen und Migranten als staatliche Dauer-
aufgabe wahrzunehmen und noch bestehende Hürden ab-
zubauen. Zur Integration in allen Bereichen gehören
staatliche Maßnahmen, damit den gesetzlichen Vorgaben
Zu Protokoll
zur Integration dann auch das Einverständnis in den
Köpfen der Menschen folgen kann. Wir wissen, dass um-
fassende Integration nur gelingen kann, wenn alles getan
wird, um rassistischen Vorurteilen Einhalt zu gebieten
und die breite Bevölkerung mit der kulturellen, religiösen
und nationalen Vielfalt in unserer Gesellschaft vertraut
zu machen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Bildungs-
politik, und innerhalb dieses Aufgabenfeldes wollen wir
die Anerkennung der im Ausland erworbenen Bildungs-
abschlüsse vorantreiben.
Aus welchen Ländern die Menschen auch immer zu
uns kommen, viele von ihnen haben weitreichende Kennt-
nisse, fundierte Qualifikationen, und sie sind hochmoti-
viert und auf der Suche nach Arbeit, doch sie scheitern
oft, weil sie keine oder keine ihren Fähigkeiten angemes-
sene Beschäftigung finden können. Es gibt – und darüber
ist häufiger geklagt worden – keine statistische Erfassung
von Qualifikationen bei den Einwanderern. Wir können
jedoch unter Berufung auf eine Dissertation an der
Universität Oldenburg aus dem Jahr 2004 davon ausge-
hen, dass in Deutschland geschätzt eine halbe Million
Migrantinnen und Migranten leben, die ihren Berufs-
oder Hochschulabschluss im Ausland erworben haben,
diesen aber hier nicht anerkannt bekommen. Es liegen
uns kaum gesicherte Erkenntnisse darüber vor, welche
Qualifikationsprofile die Migrantinnen und Migranten
aufweisen. Abgesehen von gelegentlichen Zeitungsbe-
richten gibt es auch keine weitreichenden Untersuchun-
gen darüber, welche individuellen Erfahrungen die Be-
troffenen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz gemacht
haben. Es steht zu vermuten, dass die Zuwanderinnen und
Zuwanderer vorwiegend unterhalb ihres in der Heimat
erworbenen Qualifikationsniveaus beschäftigt werden,
meist gelten sie bei uns dann als ungelernte Kräfte. Mi-
granten und Migrantinnen aus Drittstaaten kommen vor-
wiegend aus der Bildungselite ihres Herkunftslandes,
erleben jedoch innerhalb der EU und innerhalb Deutsch-
lands eine soziale Deklassierung. Anders gesagt: Bei den
Migrantinnen und Migranten und deren in der Heimat er-
worbenen Qualifikationen liegen erhebliche Ressourcen,
die nicht länger brachliegen, sondern im Sinne unserer
Wirtschaft genutzt werden sollten. Es ist also ein unver-
zichtbarer Schritt, die im Ausland erworbenen Bildungs-
abschlüsse unbürokratischer und selbstverständlicher als
bisher anzuerkennen, einerseits um die Integration vo-
ranzubringen, andererseits um die Ausübung des erlern-
ten Berufs zu ermöglichen und für den deutschen Arbeits-
markt zu nutzen. Einerseits liegt hierin eine Chance, dem
aufgrund unterschiedlicher Faktoren drohenden Fach-
kräftemangel frühzeitig zu begegnen und vorhandene
Potenziale der hier lebenden Migrantinnen und Migran-
ten zu nutzen, andererseits machen wir mit dieser Aner-
kennung einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung auf
Integration und die selbstverständliche Teilhabe an den
Möglichkeiten unserer Gesellschaft.
Die FDP formuliert hier in ihrem Antrag durchaus
richtige Beobachtungen, etwa die, dass das duale Bil-
dungssystem für Menschen aus anderen Herkunftslän-
dern schwer zu durchschauen sei. Hier möchte ich aller-
dings entgegenhalten, dass es Bildungseinrichtungen wie
etwa die Otto-Benecke-Stiftung und andere gibt, die er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25275
gegebene Reden
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Gesine Multhaupt
fahren und fundiert Beratungsarbeit leisten und wichtige
Nachqualifizierungsprogramme anbieten. Es ist auch be-
kannt, dass unser föderales System zu länderspezifischen
Regelungen geführt hat, worauf die FDP in ihrem Antrag
eingeht.
Migrantinnen und Migranten, die sich um die Aner-
kennung eines Berufsabschlusses oder auch eines Hoch-
schulzertifikats bemühen, müssen sich also mit einer
Vielzahl an unterschiedlichen Vorschriften auseinander-
setzen. Ob die Strapazen eines Anerkennungsprozesses
dann tatsächlich mit den Herausforderungen einer
Mondlandung zu vergleichen sind, wie es darin heißt,
vermag ich nicht zu beurteilen. Ich war noch nicht auf
dem Mond. Mit Blick auf die unterschiedlichen Zustän-
digkeiten innerhalb der Bildungspolitik strebt meine
Fraktion eine Regelung an, in der vor allem das Verfah-
ren der Anerkennung beschleunigt und in der bürokrati-
schen Handhabe einfacher wird. Vorbild kann hier
beispielsweise Dänemark sein, wo die Anerkennung in-
nerhalb von einem Zeitraum von sechs Monaten zu erfol-
gen hat. Das föderale System bringt es mit sich, dass die
einzelnen Abschlüsse jeweils auf Länderebene bewertet
und anerkannt werden. Es besteht ungeachtet unter-
schiedlicher Regelungen auf Länderebene generell Kon-
sens darin, dass es bei der Anerkennung ausländischer
Abschlüsse nicht darum geht, die bei uns geltenden vor-
bildlichen Qualitätsstandards zu unterlaufen und abzu-
schwächen.
Der FDP ist zu attestieren, dass sie mit ihrem Antrag
die Situation durchaus realitätsnah in den Blick nimmt.
Das erwähnte Punktesystem nach kanadischem Vorbild
kann durchaus als Zielvorstellung diskutiert werden.
Gleichwohl lehnen wir den Antrag ab, da er bei allem Re-
spekt gegenüber der Lebensleistung von Migrantinnen
und Migranten die schon eingeleiteten Maßnahmen auf
dem Feld der Integration und Anerkennung ausländi-
scher Abschlüsse außen vor lässt.
Gestatten Sie mir abschließend, nochmals auf den
kürzlich vorgelegten Integrationsbericht der Staats-
ministerin Maria Böhmer zu verweisen. Sie hat aus den
14 Themenfeldern, die dieser Bericht umfasst, eindeutig
herausgearbeitet, dass vor allem im Bildungsbereich
Fortschritte erzielt werden konnten. Demnach sank die
Zahl der ausländischen Schulabbrecher von 17,5 Prozent
im Jahr 2005 auf 16 Prozent 2007. Bei den in Deutsch-
land geborenen Kindern aus Zuwandererfamilien liegt
der Anteil 2007 mit 2,2 Prozent bereits unter dem Niveau
für die Gesamtbevölkerung – 2,3 Prozent. Das zeigt, dass
wir mit den Anstrengungen auf einem richtigen Weg sind.
Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs-
und Hochschulabschlüssen wird auch direkt und indirekt
dazu beitragen, dass die Kinder und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund motivierter lernen werden und die
Möglichkeiten zur Integration und Würdigung der Le-
bensleistungen verbessert werden.
Sibylle Laurischk (FDP):
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat gerade
heute für die Bertelsmann-Stiftung eine repräsentative
Befragung der Zuwanderinnen und Zuwanderer in
Zu Protokoll
Deutschland erstellt. Dr. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied
der Bertelsmann-Stiftung, kommentiert das Ergebnis wie
folgt: „Integration ist aber kein einseitiger Prozess. Wenn
auch noch mehr türkisch- und russischstämmige Zuwan-
derer sich heimisch in Deutschland fühlen sollen, brau-
chen sie mehr Anerkennung – und Chancen, die Zukunft
unseres Landes mitgestalten zu können.“ Dräger weiter:
„Ohne faire Bildungschancen gelingt weder Integration
noch Partizipation.“ Besser kann man nicht ausdrücken,
welche Notwendigkeit in der Verbesserung der Anerken-
nung der Bildungs- und Berufsabschlüsse von Migranten
liegt. Neben den wirtschaftlichen Potenzialen, die nicht
erschlossen werden können, geht es vor allem um Aner-
kennung im persönlichen Sinn, damit die Menschen, die
zu uns kommen, nicht als Menschen ohne Geschichte,
ohne Lebensleistung behandelt werden. Vielfach wird
durch den Verfahrensdschungel dieser Eindruck erweckt.
Dies war auch Thema auf dem letzten Integrationsgip-
fel. Zwischenzeitlich hat die Integrationsbeauftragte
Frau Professor Böhmer eine Informationsseite im Inter-
net geschaltet, auf der gewisse weiterführende Hinweise
für Hilfesuchende in Sachen Anerkennung zu finden
sind – ein bescheidener Anfang. In einer Videobotschaft
Anfang dieses Monats widmet sich Frau Professor
Böhmer der Frage der verbesserten Anerkennung und
spricht sich ausdrücklich für ein Anerkennungsverfahren
„für alle“ und eine zentrale Anlaufstelle aus, die mit ei-
ner gesetzlichen Grundlage geschaffen werden sollen.
Leider vermisse ich in diesem Beitrag die Worte „ich
bringe ein“ und „Rechtsanspruch“, die klarer machen
würden, wie der Vorschlag aussehen soll und wer ihn vor-
legen will. Bei einer Tagung des Arbeitsministeriums am
30. Juni will Minister Scholz Eckpunkte eines Anerken-
nungsgesetzes vorstellen. Grundsätzlich begrüße ich
aber die Ankündigung und freue mich, dass die Regierung
die Vorschläge der Opposition aufgreift – wenn auch zu
spät, um es wirklich umsetzen zu können.
Dabei haben wir die Betroffenen schon viel zu lange im
Zuständigkeitswirrwarr alleine gelassen. Der berechtigte
Stolz auf die eigenen Bildungsleistungen hat uns den
Blick auf die Kompetenzen anderer Bildungssysteme ver-
stellt. Das Kriterium der Gleichwertigkeit der Bildungs-
inhalte soll die zentrale Richtschnur sein, ist aber zum
alleinigen Dogma geworden. Ob Kenntnisse und Fähig-
keiten, die nicht dem bundesdeutschen Curriculum ent-
sprechen, trotzdem als gleichwertig angesehen werden
können, erfordert eine tiefgreifende Bewertung, etwa
durch die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen.
Diese muss dazu aber auch in die Lage versetzt werden.
Dazu fehlt es an qualifizierter Beratung der Zuwande-
rinnen und Zuwanderer, die zuerst einen Rechtsanspruch
auf die Einstufung ihrer Bildungslistungen und dann ei-
nen verlässlichen Bildungsplan benötigen, worin aufge-
zeigt ist, welche ergänzenden Schritte sie bis zum deut-
schen Abschluss unternehmen müssen.
Berichte von Zuwanderern, die in Deutschland ein
ganzes Studium nachholen müssen, obwohl sie dies in ih-
rem Heimatland bereits absolviert haben, müssen der
Vergangenheit angehören. Damit haben wir Zeichen ge-
gen die Integration von Zuwanderinnen und Zuwande-
25276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
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Sibylle Laurischk
rern gesetzt. Wir brauchen hier schleunigst Verbesserun-
gen. Wenn die Bundesregierung einen Gesetzentwurf mit
Substanz vorlegt, werden wir sie dabei unterstützen.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
In das Hohelied der FDP auf das voll „wettbewerbs-
fähige deutsche Bildungs- und Qualifizierungssystem“
kann Die Linke nun wahrlich nicht einstimmen; denn die-
ses deutsche Bildungs- und Qualifizierungssystem ist so-
zial selektiv und ungerecht. Wir halten ein Bildungssys-
tem, in dem Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund
von Sprachschwierigkeiten überproportional oft in eine
Sonderschule überwiesen werden oder trotz gleicher
Leistungen keine Weiterempfehlung erhalten, nicht für
akzeptabel. Kindern und Jugendlichen mit Migrations-
hintergrund bleibt der Zugang zu weiterführenden Schu-
len und Hochschulen weitgehend verwehrt. Nach wie vor
sind sie an Hauptschulen überrepräsentiert, an Realschu-
len und Gymnasien unterrepräsentiert. Es ist skandalös
und nicht hinnehmbar, dass Herkunft und Geldbeutel
über den Bildungs- und damit maßgeblich den Lebens-
weg von Menschen entscheiden. Genau das ist Gegen-
stand der in dieser Woche durchgeführten bundesweiten
Bildungsstreiks, die sich gegen die derzeitigen Zustände
und Entwicklungen im Bildungssystem richten. Man de-
monstriert für einen freien Bildungszugang und die Ab-
schaffung von sämtlichen Bildungsgebühren wie Studien-
gebühren, Ausbildungsgebühren und Kitagebühren.
Dass die FDP derartige Forderungen nicht unter-
stützt, liegt einfach in der Logik, Menschen nur noch auf
ökonomisch interessante Größen zu reduzieren. Genau
diese Logik steckt auch hinter dem Antrag der FDP. Es
geht der FDP nicht so sehr darum, dass durch die Nicht-
anerkennung von Schul-, Hochschul- und Berufsab-
schlüssen für Tausende Menschen in der Bundesrepublik
die Möglichkeit extrem eingeschränkt wird, ein selbstbe-
stimmtes Leben durch ein gesichertes Auskommen zu füh-
ren.
Wie selbstverständlich wird Migrantinnen und Mi-
granten vordergründig die Aufgabe zugesprochen,
Deutschlands demografische Pyramide vom Kopf wieder
auf die Füße zu stellen, um perspektivisch für die alternde
Gesellschaft kulturelle Konsumangebote und ökonomi-
sche Dienstleistungen gewährleisten zu müssen und auch
den deutschen Wirtschaftsstandort in der globalen Kon-
kurrenz zu sichern. Die einen sollen dies tun, indem ihre
Abschlüsse zum Wohle der deutschen Wirtschaft aner-
kannt werden. Die anderen sollen dies tun, indem sie,
nach nationalen Verwertungsgesichtspunkten hierarchi-
siert und nach ihrem sozioökonomischen Nutzwert für die
deutsche Gesellschaft „sortiert“, mittels des im Antrag
geforderten Punktesystems in die Bundesrepublik kom-
men dürfen.
Dass es der FDP nicht um die circa 500 000 Betroffe-
nen an sich geht, beweist allein der Umstand, dass sie den
Antrag der Linken zur erleichterten Anerkennung von im
Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufsab-
schlüssen – Drucksache 16/7109 – erst am 29. Januar
2009 abgelehnt hat. Darin hatte die Linksfraktion zahl-
reiche konkrete Vorschläge, etwa zur Teilanerkennung
Zu Protokoll
und Ergänzungsqualifizierung, zu vereinfachten prakti-
schen Anerkennungsverfahren, zu vereinfachten Ab-
schlussprüfungen usw. gemacht.
Genauso unglaubwürdig wie die FDP sind aber auch
die Regierungsfraktionen und die Integrationsbeauf-
tragte des Bundes Böhmer als Interessenvertretung der
Betroffenen.
Unser Antrag ist bereits vom November 2007. In der
ersten Lesung musste der Kollege Weinberg von der CDU
einräumen, dass das Anerkennungswesen für im Ausland
erworbene Berufs- und Hochschulabschlüsse in Deutsch-
land unübersichtlich ist und verwies wie die Kollegin
Multhaupt von der SPD auf die Absichtserklärungen im
Nationalen Integrationsplan. Bei der Vorstellung der Stu-
die „Brain Waste“ wiederholte Staatsministerin Böhmer
in ihrer Presseerklärung vom 8. Mai 2008 indirekt unsere
wesentlichen Forderungen, indem sie „transparente,
bundesweit vergleichbare und zügige Verfahren zur Aner-
kennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen“
als notwendig erachtete, auf die „künftig alle Zugewan-
derten einen Anspruch haben“ sollten. Das EU-System
der Teilanerkennungen und Anpassungsqualifikationen
solle auf andere Migrantinnen und Migranten übertragen
werden. Fünf Monate später war sie aber immer noch nur
bei guten Vorsätzen und erklärte gegenüber dem „Focus“
vom 28. Oktober 2008, sie wolle den „Anerkennungs-
dschungel lichten“. Dann durften wir bis zum 10. Fe-
bruar 2009 warten, bis uns die nächste Sprechblase der
Staatsministerin Böhmer in Sachen Anerkennungsverfah-
ren erreichte. Gegenüber der „Berliner Zeitung“ äußerte
sie, sie arbeite gemeinsam mit der Bundesregierung an
einer Gesetzesänderung zur Schaffung eines Rechtsan-
spruchs auf Anerkennung von beruflichen Qualifikatio-
nen. Dies wurde dann von ihr im Innenausschuss am
3. März 2009 mit Hinweis auf Anerkennungsverfahren
wie in Dänemark bzw. wie bei Spätaussiedlerinnen und
Spätaussiedlern wiederholt.
Weder haben wir ein den Parlamentarierinnen und
Parlamentariern für Ende des Jahres 2008 zugesagtes
Konzept des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
„zur beruflichen Integration zugewanderter Akademike-
rinnen und Akademiker“ gesehen, „was unter anderem
auch die Optimierung der Anerkennungsverfahren sowie
der Angebote zur fachlichen und sprachlichen Nachqua-
lifizierung“ vorsieht, noch sind den vielen Ankündigun-
gen irgendwelche Taten gefolgt. Auch die heute von der
Staatsministerin sowie von den Ministerien für Wirt-
schaft, für Bildung und vom Innenministerium in Berlin
vorgestellten Eckpunkte zur Anerkennung im Ausland er-
worbener Qualifikationen und Hochschulabschlüsse
müssen als plumpes Wahlkampfmanöver erscheinen, um
von den desaströsen Ergebnissen der Integrationspolitik
der Bundesregierung und insbesondere der Integrations-
beauftragten abzulenken. Die Folgen können seit Jahren
beobachtet werden und sind in vielen Berichten und Stu-
dien wie den Berichten über die Lage der Ausländerinnen
und Ausländer in Deutschland, den Nationalen Bildungs-
berichten oder zuletzt dem Integrationsindikatorenbe-
richt dargestellt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25277
gegebene Reden
25278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Die Staatsministerin wäre auch nicht sie selbst, wenn
ernsthaft die Gefahr bestünde, dass sie ihren diesbezügli-
chen Ankündigungen tatsächlich Taten folgen lässt. Taten
sind wir von Frau Böhmer gewöhnt, wenn es zum Nach-
teil der Migrantinnen und Migranten ist, wie die Ver-
schärfungen bei der Novelle zum Zuwanderungsrecht im
Allgemeinen und beim Ehegattennachzug und bei Ein-
bürgerungen im Konkreten. Insofern mutet dieser für
Frau Böhmer fast „blinde Aktionismus“ dann doch gar
nicht mehr so ungewöhnlich an; denn natürlich können
die geplante Gesetzesänderung bzw. die vorgesehenen
Verfahrensvereinfachungen allerdings erst in der nächs-
ten Legislaturperiode umgesetzt werden. Für die Migran-
tinnen und Migranten kann man nur hoffen, dass dann
nicht mehr Frau Böhmer ihre Interessen vertreten soll.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland ist ein Einwanderungsland – diese Er-
kenntnis hat sich ja zum Glück inzwischen auch bei der
Union herumgesprochen. Doch bei dieser Erkenntnis ist
es leider dann auch weitgehend geblieben – noch immer
fehlt der richtige Rahmen, damit Einwanderung und In-
tegration auch gelingen kann. Dabei bietet die Integra-
tion der Migrantinnen und Migranten große Entwick-
lungschancen für unsere Gesellschaft.
Ein ganz besonderes Integrationshemmnis ist nach wie
vor die völlig mangelhafte Anerkennung ausländischer
Bildungsabschlüsse. Als Einwanderungsgesellschaft set-
zen wir hier die falschen Signale. Es ist notwendig für In-
tegration und Teilhabe an unserer Gesellschaft, ausländi-
sche Bildungsabschlüsse anzuerkennen. Die Leistungen
der Zugewanderten sind auch etwas wert.
Wenn ein Architekt, eine Ärztin oder ein Maschinen-
bauer gezwungen sind, als Taxifahrer, Reinigungskraft
oder Marktverkäuferin zu arbeiten, dann läuft etwas ge-
waltig schief in Deutschland. Es ist nicht sozial, nicht de-
mokratisch, und wir können es uns auch nicht leisten,
solch ein Potenzial zu verschenken. Dies gilt umso mehr
in Zeiten eines sich immer weiter verschärfenden Fach-
kräftemangels. Schon heute suchen viele Betriebe hände-
ringend nach gut ausgebildeten Fachkräften – ein echtes
Wachstumshemmnis. In Zukunft wird sich diese Entwick-
lung noch deutlich verschärfen. Um aber auch in Zeiten
des demografischen Wandels genügend Fachkräfte für
die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zur Verfü-
gung zu haben, müssen wir neben einer grundlegenden
Verbesserung unseres Bildungssystems auch das riesige
Potenzial der gut ausgebildeten Migrantinnen und Mig-
ranten endlich besser nutzen.
Nun hat auch die Bundesregierung erkannt, dass die
langwierige und mangelhafte Anerkennung von ausländi-
schen Bildungsabschlüssen nach wie vor ein großes Pro-
blem darstellt. Allerdings folgten dieser Erkenntnis bis
jetzt leider kaum Taten.
Nach wie vor sind die Anerkennungsverfahren zu kom-
pliziert, zu langwierig und unüberschaubar. Die Akteure
wie Hochschulen, IHKs, Bundesagentur für Arbeit, Bund
und Länder arbeiten immer noch nebeneinander her. In
der Praxis bedeutet dies, dass viele Zugewanderte über
Jahre hier leben und gar nicht wissen, an wen sie sich
wenden sollen, weil es keine effiziente Beratungsstruktur
gibt. Doch anstatt endlich zu handeln, begnügt sich die
Bundesregierung mit wohlfeilen Absichtserklärungen.
Auch ein halbes Jahr nach den Versprechungen vom Bil-
dungsgipfel ist nichts passiert. Frau Staatsministerin
Böhmer hat zwar eifrig Presseerklärungen herausgege-
ben, aber in der Sache ist sie keinen Schritt weitergekom-
men. Sie scheint das Thema nicht besonders ernst zu neh-
men.
Was wir jetzt brauchen, sind modulare Anpassungs-
qualifizierungen für diejenigen, die zwar im Ausland
einen Abschluss erworben haben, aber vielleicht noch
eine Anpassungsqualifizierung brauchen. Es wäre gut,
wenn wir das Ausbildungssystem insgesamt modernisie-
ren würden, weil sich so etwas dann leichter durchführen
ließe. Dabei muss die Nachqualifizierung von Migrantin-
nen und Migranten stärker gefördert werden.
Darüber hinaus muss der DQR endlich ausgestaltet
und eingeführt werden, damit nicht nur die Kompetenzen
der Höchstqualifizierten mit akademischer Ausbildung,
sondern auch derjenigen, die mit anderen Berufsab-
schlüssen ins Land gekommen sind oder noch kommen,
tatsächlich eingestuft werden können. Auch das macht
Anerkennungsverfahren leichter.
Zudem brauchen wir eine verbesserte Beratung der
Individuen und eine grundlegende Reform des Anerken-
nungsverfahrens. Anstatt des existierenden Bürokratie-
dickichts wollen wir eine One-Stop-Agentur als An-
sprechpartner einführen, die eine zügige Prüfung und
Anerkennung gewährleistet.
Solange das Anerkennungsverfahren von ausländi-
schen Bildungsabschlüssen nicht nach diesen Maßgaben
reformiert wird, ist jede politische Willensäußerung
wohlfeil und kann über die Untätigkeit der Großen
Koalition auf diesem Gebiet nicht hinwegtäuschen. So-
lange die Bundesregierung hier ihrer Pflicht weiterhin
nicht nachkommt, stehen Anträge wie der heute vorlie-
gende zu Recht auf der Tagesordnung und werden von uns
Grünen unterstützt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13344, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/11418 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zu-
gestimmt haben Koalition und Linke. Dagegen gestimmt
haben FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Es gab keine
Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 47:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vor-
schriften über das Schulobstprogramm
(Schulobstgesetz – SchulObG)
– Drucksache 16/13111 –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25279
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
– Drucksache 16/13419 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Volker Blumentritt
Hans-Michael Goldmann
Karin Binder
Ulrike Höfken
Hierzu gibt es einen Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Zu Protokoll genommen sind die Reden von Volker
Blumentritt, Wilhelm Priesmeier, Mechthild Rawert,
Edmund Peter Geisen, Karin Binder, Ulrike Höfken und
Ursula Heinen-Esser.
Volker Blumentritt (SPD):
Die Europäische Union möchte den Obst- und Gemü-
severzehr bei Kindern nachhaltig erhöhen. Diesen Ansatz
wird sie mit 90 Millionen Euro gemeinschaftsweit för-
dern. Das begrüße ich im Grundsatz außerordentlich.
Wer gut vorbereitet ist, kann schon ab dem kommenden
Schuljahr 2009/10 die Mittel national in Anspruch neh-
men und den Schülerinnen und Schülern gesundheitlich
auf die Sprünge helfen.
Die Hürden des Brüsseler Programms sind diesmal er-
frischend niedrig gelegt. Der Abruf der Fördermittel ver-
langt jedoch von den Mitgliedstaaten eine Eigenleistung
von 50 Prozent. Nach zähem Ringen ist es sogar gelun-
gen, in wichtigen Punkten Lösungen zu finden, die das
Korsett der Kofinanzierungsfrage etwas offener gestal-
ten. So dürfen nun auch Elternbeiträge oder eine Unter-
stützung der Wirtschaft in die Finanzierung mit einflie-
ßen. Das war wirklich eine Verbesserung. Weiterhin setzt
das Programm die Erarbeitung einer nationalen Umset-
zungsstrategie voraus, die nicht nur Fragen der Finan-
zierung, Logistik und Distribution plausibel machen soll,
sondern auch sogenannte flankierende Maßnahmen er-
läutern muss. Das bedeutet, dass die Kinder in den Schu-
len das Obst und Gemüse nicht nur verzehren sollen, son-
dern ihnen gleichzeitig im Unterricht die wichtige
Bedeutung dieser Maßnahme für ihre gesunde Ernährung
nähergebracht wird.
Deutschland hat im kommenden Schuljahr in Anleh-
nung an die Anzahl der Schülerinnen und Schüler im Al-
ter zwischen sechs und zehn Jahren einen Anspruch auf
voraussichtlich 12,5 Millionen Euro. Jetzt sind wir uns
mit Sicherheit einig, dass wir alles daransetzen sollten,
um diese Millionen aus Brüssel abzugreifen. Tatsache ist,
dass wir heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates zum
Thema beraten und keinen Regierungsentwurf. Das ist
ungewöhnlich und gibt allein genug Zeugnis von den
Querelen der letzten Monate. Alle wollen das Obst, aber
keiner will bezahlen. Zurzeit beschäftigen wir uns noch
mit einem Kompetenzgerangel zwischen Bund und Län-
dern. Der Gesetzentwurf der Länder sieht verständlicher-
weise eine Finanzierung durch den Bund vor. Der Bund
sieht sich hier nicht in der Pflicht, weil Schulen Länder-
sache sind. Die Bundesregierung hätte gut daran getan,
zügig einen eigenen Entwurf vorzulegen. In zweieinhalb
Monaten beginnt das neue Schuljahr.
Frau Aigner, Sie haben dem Schulobstprogramm nicht
wirklich die notwendige Bedeutung beigemessen, sonst
müssten wir jetzt nicht befürchten, zumindest für das kom-
mende Schuljahr, die Chance vertan zu haben. Erklären
Sie das mal den Bürgerinnen und Bürgern. Ihr Engage-
ment für eine gesunde Ernährung von Kindern sollte wohl
anders aussehen. Sie können sich die Schelte mit Ihrem
Vorgänger Herrn Seehofer teilen, der bereits im Vorfeld
wichtige Weichenstellungen versäumt hat. Versuchen wir
jetzt zu retten, was noch zu retten ist.
Die Haltung der Länder ist ebenfalls kontraproduktiv.
Wenn Hoheiten je nach Gusto hin und her geschoben wer-
den, wird das ganze Konstrukt unglaubwürdig. Im Schul-
bereich ist sonst für die Länder die Schwelle des Zumut-
baren oft empfindlich schnell erreicht. Der Bund wird
hier stets auf Distanz gehalten und seine Nichtkompetenz
angemahnt. Wenn der Spieß jetzt komplett umgedreht
wird, gibt es für mich nur eine Interpretation: Hier will
sich jemand drücken. Auch den Ländern sollte die ge-
sunde Ernährung ihrer Schülerinnen und Schüler mehr
am Herzen liegen. Kompromisslösungen wie Mischfinan-
zierungen von Bund und Ländern sind in diesem Fall aus-
geschlossen. Deshalb gibt es hier nur ein „ganz oder gar
nicht“. Wir sehen bei diesem Programm ganz klar die
Länder in der Pflicht. Eine zeitnahe Einigung in diesem
Sinne muss jetzt das Ziel sein.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Gestern lief eine Meldung des Deutschen Fruchthan-
delsverbandes über den Ticker, wonach der Konsum von
frischem Obst in Deutschland weiter rückläufig ist. Das
hat mich wieder einmal in meiner Überzeugung bestärkt,
dass wir unsere Anstrengungen für eine bewusste und
ausgewogene Ernährung auf allen Ebenen verstärken
müssen. Dieses Ansinnen verfolgen die Verbraucher-
schutzpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion im Übrigen
bereits seit rot-grünen Zeiten.
Nach Aussage des Fruchthandelsverbandes ist der
Konsum von gesundem Obst und Gemüse in Deutschland
ausbaufähig. Nach Berechnungen des Interessenverban-
des wurden im Jahr 2008 in Deutschland knapp 157 Ki-
logramm Obst und Gemüse pro Haushalt verzehrt. Das
hört sich in meinen Ohren erst mal sehr viel an. Wenn wir
aber Vergleichszahlen heranziehen, dann bewegen wir
uns im europäischen Vergleich auf einem sehr niedrigen
Niveau. Beispielsweise verzehren die Südeuropäer fast
doppelt so viel frische Lebensmittel wie wir Deutschen.
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für eine aus-
gewogene und gesunde Ernährung pro Person 240 Kilo-
gramm Obst und Gemüse im Jahr. Sie sehen: Wir müssen
uns wirklich strecken, um diese Zielvorgabe zu erreichen.
Unsere Essgewohnheiten werden in der Kindheit fest-
gelegt. Das, was zuhause auf den Teller kommt, erweist
sich als prägend für den Rest unseres Lebens. Was aber
muss passieren, wenn traditionelle Essgewohnheiten in
der Familie nicht mehr richtig vermittelt werden können?
Ich will an dieser Stelle nicht wie mancher Unionskollege
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Wilhelm Priesmeier
über die verlorenen Werte in unserer Gesellschaft weh-
klagen; ich möchte lieber darauf schauen, mit welchen
Anreizen wir erreichen können, dass gerade Kinder und
Jugendliche an eine ausgewogene und gesunde Ernäh-
rung herangeführt werden.
Der Bund übernimmt Verantwortung! Eingebettet in
eine Gesamtstrategie wollen wir vollwertiges und ausge-
wogenes Ernährungsverhalten ganz konkret ausbauen.
Dafür haben wir im Juni 2008 in der Großen Koalition
den „Nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehl-
ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit
zusammenhängenden Krankheiten“ beschlossen. SPD-
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihr damaliger
bayerischer Kabinettskollege haben drei vorrangige
Ziele in ihrem Programm „IN FORM Deutschlands Initia-
tive für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ ge-
nannt. Kinder sollen gesünder aufwachsen, Erwachsene
gesünder leben und alle Bürgerinnen und Bürger von ei-
ner höheren Lebensqualität und einer gesteigerten Leis-
tungsfähigkeit in Bildung, Beruf und Privatleben profitie-
ren. Das sind hohe Zielvorgaben!
Mit insgesamt 15 Millionen Euro für drei Jahre haben
wir aber auch eine finanzielle Basis geschaffen, die sich
sehen lassen kann. Wir unterstützen mit diesen Geldern
die Beratung und Information für eine gesunde Ernäh-
rung und Lebensweise. Wir sorgen dafür, dass sich beste-
hende Angebote besser vernetzen können, und wir stei-
gern den Bekanntheitsgrad wichtiger Initiativen in diesen
Bereichen. Mit den Maßnahmen des Nationalen Aktions-
plans „IN FORM“ wollen wir unterschiedliche Zielgrup-
pen erreichen. Und dazu gehören natürlich in erster Linie
Kinder und Jugendliche.
Wichtig ist mir nun, dass bestehende Programme und
Maßnahmen sinnvoll verknüpft werden. Dadurch lassen
sich Synergien nutzen, und gute Ideen erhalten noch mehr
Schwung. Ein Baustein muss das EU-Schulobstpro-
gramm sein, das bereits seit mehr als einem Jahr auf der
europäischen Agenda steht. Eine zügige und unbürokra-
tische Umsetzung ist das Gebot der Stunde! In den letzten
Wochen konnte ich nur den Kopf schütteln angesichts des
Versuchs des Bundesrates, die Finanzierung des
Schulobstprogramms auf den Bund zu verlagern. Dabei
ist es in diesem Bereich doch eindeutig: Gemeinschafts-
und Bundesrecht müssen die Länder nach Art. 83 des
Grundgesetzes durchführen. Daher muss eine Kofinan-
zierung durch die Länder erfolgen, denn die alleine sind
verantwortlich für die Umsetzung. Ich frage die Vertreter
der Länder: Wer hat den besten Überblick über die Schu-
len und Bildungseinrichtungen? Wer hat die meisten Er-
fahrungen in der Umsetzung des EU-Schulmilchpro-
gramms? Wer kennt die Bedürfnisse der Schulen am
besten? Es ist doch nicht der Bund, sondern es sind die
Länder und Kommunen, die die Gegebenheiten vor Ort
kennen und entsprechend agieren können. Nachdem wir
das nun geklärt hätten, hoffe ich, dass alle Bundesländer
an dem EU-Schulobstprogramm teilnehmen werden. Kin-
der und Jugendliche an gesunde Ernährung heranzufüh-
ren, ist einfach viel zu wichtig.
Zu Protokoll
Mechthild Rawert (SPD):
Jedes fünfte Kind in der EU ist übergewichtig. Das
sind circa 22 Millionen Kinder. In Deutschland sind es
circa 2 Millionen; 800 000 von ihnen leiden unter Adipo-
sitas. Das sind erschreckende Zahlen. Erschreckend ist
auch, dass in Deutschland jedes dritte Kind ohne Früh-
stück zur Schule geht.
Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat das Europäische
Parlament im November 2008 das Schulobstprogramm
für Europa beschlossen. Das Programm hat einen Um-
fang von 90 Millionen Euro und soll im Schuljahr 2009/
2010 beginnen. Jedes Mitgliedsland kann frei entschei-
den, ob es an dem Programm teilnimmt. Es muss dann ei-
nen Eigenanteil von 50 Prozent finanzieren. Mit diesem
Geld könnte ab dem Schuljahr 2009/2010 in der EU je-
dem Kind zwischen sechs und zehn Jahren eine Frucht
pro Woche bezahlt werden.
Aus gesundheits- und sozialpolitischer Sicht ist das
Programm nur zu begrüßen. Denn es soll nicht nur Obst
verteilt werden. Das Programm sieht als Voraussetzung
für die Gewährung der Gemeinschaftsförderung Aufklä-
rungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen und Maßnah-
men zur nachhaltigen Erziehung der Kinder zu gesunder
Ernährung vor. Das heißt, den Kindern soll nicht nur
Obst gegeben werden, sie sollen auch lernen, wie man
sich gesund ernährt. Auch Maßnahmen zum Austausch
empfehlenswerter Praktiken, wie dies zu erreichen ist,
sind Bestandteil des Programms.
Das Programm könnte besonders in Schulen erfolg-
reich sein, die in sozialen Brennpunkten liegen. Denn in
Familien mit niedrigem Einkommen ist der Anteil an Obst
und Gemüse in der Ernährung der Kinder signifikant
niedriger. Auch die Erfahrungen anderer Länder, wie den
USA, zeigen, dass Schulobstprogramme wirken.
Das Gesetz, dass wir heute beraten, muss dennoch ab-
gelehnt werden. Mit dem vom Bundesrat vorgelegten Ge-
setzentwurf sollen dem Bund die Kosten aufgebürdet wer-
den, die eigentlich die Länder zu tragen haben. Die
Zuständigkeit – und damit auch die Finanzierung – fällt
eindeutig in den Aufgabenbereich der Bundesländer.
Denn der Schwerpunkt des Gesetzes liegt nicht, wie vom
Bundesrat in dem Entwurf behauptet, in der Förderung
des Absatzes und der Entlastung des Obstmarktes. Dies
ist eine Verstümmelung der Idee, die hinter dem Pro-
gramm steht.
Ziel des Gesetzes ist es, unsere Kinder besser zu ernäh-
ren. Wir wollen ihnen gesunde Ernährung nachhaltig nä-
herbringen. Wir wollen, dass sozial schwache und ohne
Frühstück in die Schule kommende Kinder ein Stück Obst
bekommen. Kinder sind kein Notfallabsatzmarkt für die
Landwirtschaft. Kinder sind keine Figuren auf dem
Schachbrett der Obstwirtschaft. Dies muss in einem Ge-
setzentwurf deutlich zum Ausdruck kommen, sosehr ich es
als ELVerin auch begrüße, wenn sich eine Win-win-
Situation sowohl für die Landwirtschaft als auch für die
Verbraucher, in diesem Fall unsere Kinder, ergibt.
Das von der Union geführte Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat es
nicht geschafft, das EU-Programm rechtzeitig in einem
25280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Mechthild Rawert
eigenen Gesetzentwurf zu verarbeiten. Frau Aigner und
Herr Seehofer haben es nicht geschafft, den notwendigen
Rahmen für die Länder zu erarbeiten, damit diese das
Programm zum nächsten Schuljahr starten können.
Die SPD will, dass Kinder unabhängig von ihrer so-
zialen Herkunft und dem Einkommen ihrer Eltern ge-
sunde Nahrungsmittel erhalten. Wir unterstützen Pro-
gramme wie dieses, mit dem die Kinder zu gesunder
Ernährung erzogen werden sollen. Und das setzen wir
auch um. Sowohl mit der Strategie zur Förderung der
Kindergesundheit als auch mit der Initiative IN FORM,
Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr
Bewegung, haben wir die Bundesregierung beauftragt,
das Bewegungs- und Essverhalten der Kinder und Ju-
gendlichen nachhaltig zu verbessern.
Wir können nicht zulassen, dass der Bundesrat aus ei-
nem gesundheitlich und sozial höchst sinnvollen Pro-
gramm einen Obstbasar für die Produzenten macht. Und
wir können nicht hinnehmen, dass aufgrund eines zu
langsamen Agierens der Bundesministerin Aigner der
Bund mit 12,5 Millionen Euro geradestehen soll.
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Das Bewusstsein für gesunde Ernährung kann gar
nicht früh genug geweckt werden, denn im Kindesalter
bilden sich die Geschmackspräferenzen und Essgewohn-
heiten aus. Wer schon im Kindesalter regelmäßig frisches
Obst und Gemüse zu sich nimmt, das haben Studien be-
legt, wird diese Gewohnheiten auch im Erwachsenenalter
beibehalten. Umgekehrt zeigt der Ernährungsbericht
2008, dass Kinder und Jugendliche zu wenig pflanzliche
Lebensmittel, insbesondere Gemüse und Obst zu sich
nehmen, gleichzeitig aber viel zu viele fettreiche tierische
Lebensmittel sowie Süßwaren und gezuckerte Getränke
konsumieren. Die Folgen sind schon jetzt sowohl gesund-
heitspolitisch als auch volkswirtschaftlich betrachtet dra-
matisch: In Deutschland sind mittlerweile 20 Prozent der
Kinder übergewichtig, die Tendenz ist steigend. Hält die-
ser Trend auch weiterhin an, wird in etwa 40 Jahren jeder
zweite Erwachsene an Fettleibigkeit, Adipositas, leiden.
Damit steigt auch die Zahl schwerwiegender Folgekrank-
heiten wie Diabetes mellitus Typ 2. Das hat weitreichende
Konsequenzen für unser Gesundheitssystem – in
Deutschland gehen Schätzungen von bis zu 100 Milliar-
den Euro an Behandlungskosten infolge falscher Ernäh-
rung aus.
Natürlich sind für die FDP in erster Linie die Eltern
für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich und aufge-
rufen, für gesunde Ernährungsgewohnheiten zu sorgen.
Aber leider wird auch immer wieder in Studien festge-
stellt, dass vor allem Kinder aus sozial benachteiligten
Familien tendenziell weniger frische und unverarbeitete
Lebensmittel essen, sondern stattdessen zu Fertiggerich-
ten und Fast Food greifen. Meist fehlt schlicht das Wissen
um gesunde Ernährung. Hier können und müssen unsere
Kindergärten und Schulen Abhilfe schaffen.
Genau dies ist das Ziel des von der EU initiierten und
kofinanzierten Schulobstprogramms: Grundschulkindern
zwischen sechs und zehn Jahren soll Wissen über gesunde
Ernährung und Essgewohnheiten vermittelt werden –
Zu Protokoll
theoretisch und ganz praktisch durch die Abgabe von
Obst und Gemüse an Schulen, ähnlich wie es mit dem
Schulmilchprogramm schon seit Jahrzehnten praktiziert
wird. Diese Initiative unterstützt die FDP ganz ausdrück-
lich, denn nur wer genug Wissen hat, kann später als
mündiger Verbraucher vernünftige Entscheidungen tref-
fen und sich gesund ernähren. Ein weiterer positiver Ef-
fekt ist die damit verbundene Unterstützung der heimi-
schen Landwirtschaft: Mit den insgesamt jährlich für das
Programm veranschlagten Mitteln in Höhe von über
25 Millionen Euro könnte der Obst- und Gemüseabsatz
schon signifikant gesteigert werden – in der jetzigen de-
solaten Lage der Landwirtschaft ein äußerst positives Si-
gnal!
In der Finanzierung liegt allerdings auch der Knack-
punkt: Wir als FDP sind aus Subsidiaritätsgründen für
eine föderale Regelung. Bildung ist Ländersache. Die
Länder sollen entscheiden, ob und wie sie an dem Pro-
gramm teilnehmen, denn sie wissen am besten, wie die
Lage vor Ort ist.
Allerdings wissen wir auch, dass für viele Bundeslän-
der das Schulobstprogramm dann nur noch realisierbar
wäre, wenn sich die Eltern finanziell beteiligen würden.
Hier sehen wir den Bund in der Pflicht, er darf sich bei ei-
nem solch wichtigen Thema nicht einfach aus der finan-
ziellen Verantwortung stehlen. Wer 5 Milliarden Euro für
die Abwrackprämie ausgeben kann, der kann auch einen
Beitrag zum Wohle unserer Kinder leisten! Dieses Hick-
hack um die Finanzen muss schnellstmöglich aufgehoben
werden, denn die Leidtragenden sind unsere Kinder.
Deshalb werbe ich abschließend im Namen meiner
Fraktion, der FDP, noch einmal ausdrücklich dafür, die-
ses sinnvolle und in die Zukunft gerichtete Schulobstpro-
gramm im Interesse unserer Kinder schnellstmöglichst
umzusetzen – nicht zuletzt, weil wir sonst EU-Fördermit-
tel in Höhe von jährlich 12,5 Millionen Euro einfach ver-
fallen ließen.
Karin Binder (DIE LINKE):
Das Schulobstprogramm der Europäischen Union
zwingt die Bundesregierung zu seiner Umsetzung, wes-
halb in Deutschland jetzt ein Schulobstgesetz beschlossen
werden soll. Das ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen
Stein, es könnte aber ein kleiner Schritt hin zu einer ge-
sunden, kostenfreien Gemeinschaftsverpflegung für Kin-
der und Jugendliche sein. Darum muss es im Endeffekt
gehen.
Es ist völlig klar, dass das Schulobstprogramm allein
die weitverbreitete Unterversorgung von Kindern und
Jugendlichen mit frischem Obst und Gemüse nicht aus-
gleichen kann. Dazu bedarf es vieler verschiedener Maß-
nahmen. Aber vor allem bedarf es eines gemeinsamen
Willens und gemeinsamer Anstrengungen von Bund und
Ländern, von Gemeinden, gesellschaftlichen Organisatio-
nen und Institutionen. Diese Maßnahmen müssen in einem
Aktionsprogramm gebündelt und auch finanziert werden.
Ich meine damit nicht ein solch unambitioniertes und unter-
finanziertes Programm wie INFORM, bei dem von ohnehin
nur 5 Millionen Euro pro Jahr nicht mal eine Möhre in einer
Schule ankommt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25281
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Karin Binder
Wir haben in dieser Legislaturperiode schon mehrfach
darüber debattiert, welche Folgen ungesunde und unaus-
gewogene Ernährung für jeden und jede Einzelne und auch
für unsere gesamte Gesellschaft hat. Wir haben darüber
gesprochen, welche gesundheitspolitischen und auch
welche finanziellen Herausforderungen Fehlernährung
und Übergewicht nach sich ziehen. Wir streiten immer
wieder darüber, welche Maßnahmen ergriffen werden
sollten oder müssten. Ich erinnere nur an den Dauerbrenner
„Ampel“ bei der Nährwertkennzeichnung. Immerhin be-
steht Einigkeit in allen Fraktionen darüber, dass etwas
passieren muss. Uns allen ist klar, dass gerade bei Kindern
und Jugendlichen großer und dringender Handlungsbedarf
besteht.
Das Wissen um gesunde Ernährung ist heutzutage in
vielen Familien leider ziemlich dürftig. Die Familie ist in
vielen Fällen nicht mehr der Ort, wo Kinder und Jugend-
liche lernen, vernünftig zu essen, ganz abgesehen davon,
dass immer mehr Kinder oft aus purer Armut gleich ohne
Frühstück und auch ohne Pausenvesper zur Schule gehen.
Fragen Sie doch mal in Gegenden mit hoher Arbeitslosig-
keit und niedrigen Einkommen in den Schulen nach: Die
Lehrerinnen und Lehrer dort können Ihnen eine Menge
Kinder benennen, die mit leerem Magen in die Schule
kommen und sich vor lauter Hunger irgendwann nicht
mehr konzentrieren können. Auch gibt es Kinder, die sich
das Schulessen in der Mittagspause nicht leisten können.
Wir müssen dafür sorgen, dass auch diese Kinder und
Jugendlichen eine Chance bekommen. Mit knurrendem
Magen lernt es sich schlecht. Deshalb ist gerade in unserer
Bildungsgesellschaft gesunde Ernährung besonders
wichtig – zu Hause, in der Schule, in den Kindertagesstätten
und überall sonst.
Vor diesem Hintergrund ist dieser kleinliche Streit
zwischen Bund und Ländern, ob das Programm nun eher
der Absatzförderung der nationalen Landwirtschaft oder
der Schulverpflegung dient, nur noch peinlich. Wer bringt
denn nun die andere Hälfte der Kosten zur Kofinanzierung
zum EU-Programm auf? Der Bund oder die Länder? Im
Endeffekt decken die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
die Kosten gemeinschaftlich. Betrachtet man die Summe,
die hier hin- und hergeschoben wird, wird es geradezu
grotesk. Es geht um 12,5 Millionen Euro pro Jahr, herunter-
gerechnet geht es im Jahr um rund 1,50 Euro pro Kind.
Rechnen Sie das bitte einmal in Äpfel oder Birnen um. Sie
erinnern sich, dass gerade „Schutzschirme für Banken“
in Höhe von 480 Milliarden Euro beschlossen wurden?
Skandalös ist auch, dass sich die Bundesregierung beson-
ders ins Zeug gelegt hat, um die Kofinanzierung durch
Dritte in die EU-Verordnung aufzunehmen. Das könnten
Unternehmen sein, aber sehr viel wahrscheinlicher sollen
die Eltern die Kosten decken, damit ihre Kinder in der
Schule oder der Kita das subventionierte Obst bekommen.
Wenn die Eltern das Geld hätten, ihren Kindern das Obst
mitzugeben, dann würden sie das doch tun. Aber es geht
doch gerade darum, die Kinder zu versorgen, die von zu
Hause eben kein Obst mitbekommen. Außerdem: Das
EU-Schulobstprogramm ist mit dem erklärten Ziel der
Absatzförderung aufgelegt worden. Sollen jetzt ausge-
rechnet diese Eltern dann auch noch die Landwirtschaft
kosubventionieren? Das darf ja wohl nicht wahr sein!
Zu Protokoll
Wie gesagt, gute und gesunde Ernährung von Kindern
und Jugendlichen geht uns alle an. Da müssen Bund und
Länder an einem Strang ziehen und ihren Worten und
Sonntagsreden endlich Taten folgen lassen. Man kann
und man muss im Sinne der Schulkinder ein gemeinsames,
ein konzertiertes Programm auflegen. Dafür muss Geld
in die Hand genommen werden, und zwar von beiden Sei-
ten – vom Bund und vom Land. Auch deutlich mehr als die
12,5 Millionen, um die es heute geht, wären vonnöten. Die
12,5 Millionen Euro der Europäischen Union sollten da als
Anreiz und als Anschub verstanden werden. Machen Sie
endlich etwas daraus!
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Zuständigkeitsgerangel der Bundesländer und
der Bundesregierung in Bezug auf die Finanzierung des
Schulobstprogramms ist nicht akzeptabel und darf nicht
zur Verhinderung des Schulobstprogramms führen. Mit
dem Argument der fehlenden Finanzierbarkeit ziehen
sich Bund und Länder aus ihrer bestehenden Verantwor-
tung und tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche
weiterhin gar kein oder, wenn überhaupt, nur ein schlech-
tes Essensangebot an Schulen erhalten. Dabei ist der
Handlungsbedarf mit Blick auf die miserable Ernäh-
rungssituation von Kindern besonders aus finanzschwa-
chen Familien mehr als deutlich.
Der gordische Knoten des Abwälzens von Verantwor-
tung muss endlich durchschlagen werden. Bund und Län-
der müssen ein gezieltes Aktionsprogramm für gesunde
Kinderernährung unter Einbeziehung der EU-Pro-
gramme für Schulobst, -milch und Armenspeisung entwi-
ckeln und dafür einen Finanzierungsplan vorlegen.
Ebenso wollen wir die verbindliche Einführung und Kon-
trolle von guten Qualitätsstandards für die Verpflegung
von Kindergarten- und Schulkindern.
Der Rat der Europäischen Union hat Ende 2008 ein
EU-Schulobstprogramm beschlossen. Das Programm
umfasst die Abgabe von Obst und Gemüse an Kinder im
Alter von sechs bis zehn Jahren. Ab dem Schuljahr 2009/
2010 stehen für Deutschland rund 12,5 Millionen Euro
zur Verfügung. In gleicher Höhe muss dies von den Mit-
gliedstaaten gegenfinanziert werden.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zu diesem Pro-
gramm sieht eine Gegenfinanzierung durch den Bund vor.
Die Regierungskoalition hat dagegen nun die Finanzie-
rung durch die Länder beschlossen. Wir wollen ein um-
fassendes Ernährungsprogramm, das jedem Kind täglich
ein qualitativ gutes Essen kostengünstig zur Verfügung
stellt. Derzeit erhalten nur wenige Kinder in Schulen ein
Essensangebot; in Rheinland-Pfalz sind es nur circa
15 Prozent. Von den Schulträgern gesetzte Qualitätsstan-
dards sind unzureichend.
Folgen einer falschen Ernährung sind 1,9 Millionen
übergewichtige Kinder, von denen 800 000 bereits an
Fettleibigkeit erkrankt sind. Weitere ernährungsbedingte
Folgeerkrankungen wie Diabetes breiten sich wie eine
Epidemie aus. Laut einer aktuellen Studie wird in Europa
von 2005 bis 2020 die Zahl zuckerkranker Kinder unter
15 Jahren um 70 Prozent ansteigen. Bundesweit ent-
stehen durch Fehlernährung Behandlungskosten von
25282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25283
(A) (C)
(B) (D)
Ulrike Höfken
70 Milliarden Euro jährlich. Mit einem drastischen An-
stieg auf 100 Milliarden Euro ist in den nächsten Jahren
zu rechnen.
Ungesunde Ernährung und Mangelernährung sind
meist eng an den Bildungs- und Sozialstatus der Kinder
geknüpft, genauso wie der Gesundheitszustand. Arme
Kinder leben und essen ungesünder als der Durchschnitt.
Dies macht sich bei der Entwicklungsperspektive der
Kinder bemerkbar. Die Kinder lernen schlechter und sind
weniger leistungsfähig. Diese Unterschiede können zu ei-
ner Ausgrenzung aus dem Bildungssystem führen und set-
zen sich fort in einer fehlenden Integrationsfähigkeit auf
dem Arbeitsmarkt.
Ziel einer verantwortungsbewussten Sozial-, Bil-
dungs- und Ernährungspolitik muss es sein, jedem Kind
gleiche Entwicklungsmöglichkeiten unabhängig von sei-
ner sozialen Herkunft zu geben. Daraus ergibt sich für je-
des Kind und jeden Jugendlichen das Recht auf eine ge-
sunde Ernährung.
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz:
Erstens.
Gesunde Ernährung und Bewegung sind Kernanliegen
der Bundesregierung. Mit IN FORM ist es dem BMELV
gelungen, gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium
ein Dach für vielfältige Aktivitäten in diesem Bereich zu
schaffen. Je früher Menschen lernen, sich gesund zu er-
nähren, umso nachhaltiger ist diese Erfahrung und umso
größer die Chance, dass sie dieses Verhalten als Erwach-
sene beibehalten.
Zweitens zum EG-Schulobstprogramm.
Der EG-Agrarrat hat im vergangenen Jahr beschlos-
sen, jährlich 90 Millionen Euro Gemeinschaftsbeihilfe
für ein Schulobstprogramm zur Verfügung zu stellen. Das
Programm wurde explizit mit Hinweis auf eine Erhöhung
des zu geringen Obst- und Gemüseverzehrs von Kindern
und Jugendlichen aufgelegt. Dies begrüße ich sehr. Es
soll in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen
durchgeführt und muss vor allem mit flankierenden Maß-
nahmen begleitet werden, damit es zu einem Erfolg und
nachhaltiger Verhaltensänderung führt.
Von der Gemeinschaftsbeihilfe stehen Deutschland
circa 20 Millionen Euro für das Schuljahr 2009/2010 zur
Verfügung. Die Gemeinschaftsbeihilfe deckt in der Regel
50 Prozent der Ausgaben für das Schulobstprogramm,
der noch fehlende Teil muss aus öffentlichen Mitteln oder
auch durch den privaten Sektor des Mitgliedstaates kofi-
nanziert werden. Die Ausgaben für die obligatorischen
flankierenden Maßnahmen müssen von den Mitgliedstaa-
ten allein getragen werden. In Deutschland brauchen wir
für die Durchführung dieses Programms ein Gesetz. Ich
bin froh, dass der vorliegende Gesetzentwurf vom Bun-
desrat eingebracht wurde. Dies ermöglicht uns, die recht-
liche Grundlage rechtzeitig zu Beginn des kommenden
Schuljahres zu schaffen.
Drittens zur Zuständigkeit der Länder.
In Deutschland fällt die Durchführung des Programms
in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Es ist grund-
sätzlich die Aufgabe der Länder, das Gemeinschafts- und
Bundesrecht durchzuführen. Daraus folgt auch ihre
Finanzierungszuständigkeit.
Viertens zum vorgelegten Gesetzentwurf.
Dieser Gesetzentwurf geht davon aus, dass der Bund
für die Durchführung des EU-Schulobstprogramms zu-
ständig ist und entsprechend auch für alle entstehenden
nationalen Kosten aufkommen soll. Ich will an dieser
Stelle gar nicht auf die weiteren Details eingehen, denn
eines steht fest: So geht es nicht! Wir leben in einem föde-
ralen Staat, in dem die Aufgaben zwischen Bund und Län-
dern klar geregelt sind – auch in Zeiten knapper Kassen.
Nach unserer verfassungsmäßigen Ordnung liegt die
Durchführungs- und Finanzierungszuständigkeit dabei
eindeutig bei den Ländern. Diese sind allein für die
Durchführung des Bundesrechts und damit auch für die
Umsetzung und Kontrolle des Schulobstprogramms zu-
ständig.
Mit den von den Koalitionsfraktionen eingebrachten
Änderungsanträgen stellen wir die Fakten wieder richtig
und ermöglichen einen Gesetzentwurf, der zustimmungs-
fähig ist und den Start des EU-Schulobstprogramms zu
Beginn des neuen Schuljahres ermöglicht.
Wir alle wissen, wie nötig es ist, dass unsere Kinder
von Kindesbeinen an gesundes Ernährungsverhalten ler-
nen, dass sie erfahren, wie frisches Obst und Gemüse
schmecken und welche Früchte zu welcher Jahreszeit reif
sind. Das EU-Schulobstprogramm bietet die Möglichkeit,
viele Kinder zu erreichen und mit frischem Obst und Ge-
müse zu versorgen und zwar dort, wo sie sich aufhalten,
in ihren jeweiligen Lebenswelten, sei es die Kita, die
Schule oder eine andere Bildungseinrichtung.
Wir fördern derzeit ein Modellprojekt des Vereins 5 am
Tag, das bereits Möglichkeiten eines Schulobstpro-
gramms in der Praxis erprobt. Der Zwischenbericht zeigt
ganz deutlich, dass es sehr gut ankommt und die prakti-
sche Durchführung vor Ort keine Probleme bereitet.
Ich weiß sehr wohl, dass auch in den Ländern der
finanzielle Schuh oft drückt, aber bedenken Sie: Es gibt
kaum sinnvollere Investitionen als die in die Gesundheit
unserer Kinder und damit in unsere Zukunft. Wenn die
Länder sich dieser Aufgabe nicht stellen, wird es in
Deutschland kein Schulobstprogramm geben.
Damit das Schulobstprogramm in Deutschland durch-
geführt werden kann, bitte ich um Zustimmung zu den Än-
derungsanträgen der Koalitionsfraktionen. Und ich bitte
die Länder eindringlich, in der nächsten Sitzung des Bun-
desrates dem geänderten Gesetz zuzustimmen, die Ge-
meinschaftsbeihilfe zu nutzen und das EU-Schulobstpro-
gramm durchzuführen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13419, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 16/13111 in der Ausschussfassung anzuneh-
25284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
men. Wer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen und dafür die Hand erheben? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen und die FDP angenommen. Dagegen hat
niemand gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer ist für den Gesetzentwurf
und möchte sich erheben? – Wer ist dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenom-
men.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/13476. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben
Bündnis 90/Die Grünen und Fraktion Die Linke. Die üb-
rigen Fraktionen waren dagegen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Mobilfunkforschung verantwortlich be-
gründen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorge
stärken
– Drucksachen 16/10325, 16/9485, 16/12915 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller (Chemnitz)
Angelika Brunkhorst
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Verbraucherfreundliche Kennzeichnung strah-
lungsarmer Mobilfunkgeräte
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnung von Mobilfunkgeräten
schnell und verbraucherfreundlich durch-
setzen
– Drucksachen 16/3354, 16/4424, 16/5362 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller (Chemnitz)
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Deutsches Mobilfunk Forschungsprogramm
fortsetzen
– Drucksachen 16/4762, 16/6580 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller (Chemnitz)
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Zu Protokoll genommen sind die Reden von Jens
Koeppen, Detlef Müller, Horst Meierhofer, Lutz
Heilmann und Sylvia Kotting-Uhl.
Jens Koeppen (CDU/CSU):
Innerhalb von drei Monaten debattieren wir heute be-
reits ein zweites Mal über die Chancen und Risiken der
Mobilfunktechnologie. Ich freue mich, innerhalb relativ
kurzer Zeit zu diesem wichtigen Thema erneut Stellung
beziehen zu dürfen, und greife dazu gerne die vorliegen-
den Anträge aus den Fraktionen der Opposition auf.
Das Wichtigste vorweg: Die Mobilfunktechnologie
wird von der Bevölkerung intensiv genutzt. Mobil zu tele-
fonieren ist heute eine Selbstverständlichkeit. Im Jahr
2006 kamen auf 100 Menschen 104 Handys, Tendenz stei-
gend. In dem Maße, in dem die Strahlenexposition
zunimmt, vermehren sich auch in der Bevölkerung die
Ängste, die Nutzung von Mobilfunkgeräten könnte mit ge-
sundheitlichen Gefahren verbunden sein. Ich nehme diese
Sorgen sehr ernst.
Gerade weil das so ist, halte ich es für meine Pflicht,
nicht in Hysterie zu verfallen, sondern mich immer wie-
der mit dem Thema kritisch auseinanderzusetzen. Mein
Ziel ist es, der Bevölkerung eine realistische und sachli-
che Einschätzung zu geben. Ich will zur Vorsicht raten,
wo es angebracht ist, und Entwarnung geben, wo diese
wissenschaftlich abgesichert ist. Ich will keine diffusen
Ängste schüren – wie es Die Linke in ihrem Antrag
– Drucksache 16/9485 – tut, sondern aufklären, zur Ver-
(A) (C)
(B) (D)
Jens Koeppen
sachlichung der Debatte beitragen und Unkenntnis besei-
tigen.
Nun zu den Anträgen im Einzelnen. Die Anträge spre-
chen verschiedene Themenkomplexe im Bereich Mobil-
funk an: erstens die Bedeutung des Mobilfunks für
Deutschland.
Das Handy ist aus unserer mobilen Informationsge-
sellschaft nicht mehr wegzudenken. Wollen wir in unse-
rem Land auch in Zukunft international konkurrenzfähige
Produkte anbieten, müssen wir diese Technologien stetig
verbessern und verfeinern. Ihre Entwicklung hat zu vielen
Innovationen in Produktion und Dienstleistung der letz-
ten Jahre beigetragen. Sie leistet einen wesentlichen Bei-
trag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Lan-
des. Über die Hälfte der Industrieprodukte und weit über
80 Prozent der Exportprodukte Deutschland hängen
heute vom Einsatz dieser Technologie ab.
Das Segment Mobilfunk stellt in diesem Zusammen-
hang einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor dar.
Auch Bündnis 90/Die Grünen sieht in der Mobilfunk-
technologie einen „unverzichtbaren Innovationsträger
für Deutschland und Europa“ – Drucksache 16/4424,
Seite 1 –, für die FDP ist der Mobilfunk „ein prägender
Teil der modernen Telekommunikation und fester Be-
standteil im Alltag“ – Drucksache 16/3354, Seite 1 –.
Über die große Bedeutung der modernen IuK-Techno-
logie für unsere Gesellschaft besteht also Einigkeit. Ge-
rade weil die Bedeutung des Mobilfunks für unser Land
nicht groß genug eingeschätzt werden kann, müssen wir
die bestehenden Vorbehalte ernst nehmen und diese er-
gebnisoffen erforschen. Nur so werden wir Risiken immer
besser abschätzen und im besten Fall Ängste ausräumen
können.
Dies bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Deutsches
Mobilfunk-Forschungsprogramm (DMF).
Die Forschungsförderung zu Auswirkungen elektro-
magnetischer Felder ist in den vergangenen Jahren er-
heblich erweitert worden. Die Bundesregierung ist
äußerst engagiert, um mögliche negative Folgen der Mo-
bilfunktechnik zu untersuchen, Gefahren zu erkennen und
zu bannen: Im Juni 2002 hat sie beim Bundesamt für
Strahlenschutz, das erste DMF in Auftrag gegeben, um
abzuklären, ob die geltenden Grenzwerte die Bevölke-
rung in ausreichendem Maße vor Mobilfunkstrahlung
schützen.
Das DMF ist eines der weltweit größten Programme
im Mobilfunkbereich: Im Rahmen des DMF wurden vom
Bundesumweltministerium Mittel in Höhe von 8,5 Millio-
nen Euro für die Forschung mit Schwerpunkt Mobilfunk
zur Verfügung gestellt. Die Mobilfunknetzbetreiber betei-
ligten sich mit weiteren 8,5 Millionen Euro an diesem
Vorhaben, hatten aber keine inhaltlichen Einflussmög-
lichkeiten auf das Programm.
Die Ergebnisse des DMF, die im Mai 2008 präsentiert
wurden, sind beruhigend; das erkennt auch die FPD in
ihrem Antrag – Drucksache 16/10325 – an. Das BfS und
die Strahlenschutzkommission, SSK, haben übereinstim-
mend festgestellt, dass das Forschungsprogramm keine
Zu Protokoll
Erkenntnisse gebracht hat, die die geltenden Grenzwerte
aus wissenschaftlicher Sicht infrage stellen würden: Es
konnten ausdrücklich keine negativen Effekte auf Hor-
mone, Blut-Hirn-Schranke und Fortpflanzung sowie
keine erhöhten Krebsrisiken – zum Beispiel bei Gehirntu-
mor, Kinderleukämie – nachgewiesen werden. Im Bereich
der thermischen Wirkung elektromagnetischer Felder er-
gab eine Untersuchung kein zusätzliches Langzeitrisiko
und kein Krebsrisiko. Ferner konnte die Existenz von
Elektrosensibilität, an der bis zu sechs Prozent der Be-
troffenen zu leiden glauben, ausgeschlossen werden.
Hinweisen möchte ich allerdings auch auf die
Schwachstellen des Programms, die im Antrag der FDP
– Drucksache 16/10325 – korrekt benannt werden: Es be-
steht weiterer Forschungsbedarf in den Bereichen Lang-
zeit und Auswirkungen auf Kinder. Die Bundesregierung
hat die Notwendigkeit verstärkter Forschung auf diesen
Gebieten erkannt und bereits intensiviert. Dies führt
dazu, dass der Antrag der FDP, der grundsätzlich durch-
aus in die richtige Richtung geht, als nicht zeitgemäß
abgelehnt werden muss. Beispielhaft sei in diesem Zu-
sammenhang auch auf die Forderung der FDP zur Ent-
wicklung wirksamer Kommunikationsstrategien verwie-
sen. Hier möchte ich auf das Informationszentrum
Mobilfunk, IZMF, sowie das Portal www.mobilfunk-
baukasten.de aufmerksam machen, in denen bereits
heute, für jedermann zugänglich, sachlich und verbrau-
cherorientiert Informationen zum Thema „Elektromag-
netische Felder/Mobilfunk“ aufbereitet werden. Auch das
BfS stellt seit langem ein umfassendes Informationsange-
bot in Form von Broschüren und Internetauftritten zur
freien Verfügung und behandelt hier umfassend sämtliche
Fragen des Mobilfunks.
Kurz zusammengefasst: Das DMF hat die wissen-
schaftlichen Kenntnisse über die Wirkung elektromagne-
tischer Felder wesentlich verbessert. Insgesamt bieten
die Ergebnisse des DMF keinen Anlass, die Schutzwir-
kung der bestehenden Grenzwerte infrage zu stellen. Die
zu Beginn des DMF bestehenden Hinweise auf mögliche
Risiken konnten nicht bestätigt werden. Neue wissen-
schaftliche Kenntnisse liegen bis heute nicht vor, sodass
die Ergebnisse des DMF weiterhin Gültigkeit besitzen
und an den bestehenden Grenzwerten der 26. BimSchV
festgehalten wird.
Drittens: Mobilfunknetzbetreiber.
Die Bundesregierung betreibt also auch nach Ab-
schluss des DMF weiter Forschung auf dem Gebiet des
Mobilfunks, um die fachlichen Grundlagen zur Risikobe-
wertung in den oben genannten Bereichen weiter zu ver-
bessern. Ich begrüße es, dass die Mobilfunkbetreiber die
über das DMF hinausgehende Forschung weiter finan-
ziell unterstützen. Ferner ist die im Dezember 2001 von
den Mobilfunknetzbetreibern beschlossene freiwillige
Selbstverpflichtung in ihren bisherigen Ergebnissen posi-
tiv zu bewerten. Mit dieser Selbstverpflichtung haben sich
die Mobilfunknetzbetreiber zu nachprüfbaren Verbesse-
rungen in den Bereichen des Verbraucher-, Gesundheits-
und Umweltschutzes verpflichtet, um die Vorsorge im Be-
reich des Mobilfunks zu verstärken. Diese Bemühungen
müssen fortgesetzt werden. Dabei sollte die Branche ein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25285
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Jens Koeppen
besonderes Augenmerk auf die technische Weiterentwick-
lung von Geräten legen, um zukünftig bei reduziertem
Stromverbrauch bzw. reduzierter Strahlung gleiche Leis-
tung zu erhalten. Neue Anwendungen sollten ermöglicht
werden, um das Sorgenpotenzial zu reduzieren. Dieser
Punkt führt mich zum nächsten Themenkomplex, der ab-
schließend die technische Seite der Debatte zum Thema
Mobilfunk beleuchtet.
Viertens: Kennzeichnung von Geräten.
Die FDP fordert in ihrem Antrag – Drucksache 16/3354,
Seite 2 – eine „transparente Strahlenklassifizierung“, da
es bislang „eine deutlich sichtbare und für die Verbrau-
cher verständliche Ausweisung der SAR-Werte auf den
Geräten bzw. den Verpackungen“ nicht gebe. Auch die
Grünen bewerten die Selbstverpflichtung der Mobilfunk-
betreiber „als nicht ausreichend, um eine verbraucher-
freundliche Kennzeichnung strahlungsarmer Handys
durchzusetzen“ und fordern eine „verbraucherfreundli-
che Klassifizierung der Strahlungsintensität von Mobilte-
lefonen“ – Drucksache 16/4424, Seite 1 f –.
Bevor ich auf diese Forderungen eingehe, ist es not-
wendig, einen in diesem Zusammenhang wichtigen Sach-
verhalt zu erläutern: Um die Belastung der Strahlung für
den Körper zu vergleichen, wird der sogenannte SAR-
Wert genutzt. Das ist der Anteil der Sendeleistung, den
das Gewebe aufnimmt. Je kleiner dieser Wert, desto ge-
ringer wird das Gewebe durch die Strahlung erwärmt.
Der empfohlene obere Grenzwert der Weltgesundheitsor-
ganisation liegt bei 2,0 Watt pro Kilogramm. Bei sämtli-
chen modernen Mobilfunkgeräten liegt der Wert zwischen
0,04 und 1,94 Watt pro Kilogramm, also deutlich unter
der zulässigen Obergrenze. Das heißt, in Bezug auf die
gesundheitlichen Risiken macht es keinen Unterschied,
ob ein Handy 0,4 oder 0,7 Watt pro Kilogramm strahlt.
Oder in anderen Worten: Ein niedrigerer Wert würde le-
diglich dazu verführen, ein Gerät als vermeintlich „ge-
sünder“ anzusehen als ein anderes.
Eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht, die den Ge-
danken „gesunder“ und „weniger gesunder“ Handys
aufgreift, würde einen unverantwortlichen Eingriff in die
produzierende Wirtschaft darstellen. Hier würde sugge-
riert, es gebe „gute“ und „böse“ Mobiltelefone. Auf diese
Weise werden Verbraucher in die Irre geführt.
Darüber hinaus orientiert sich die Mobilfunktechnolo-
gie an internationalen Standards. Nationale Einschrän-
kungen würden den weltweiten Vertrieb und Einsatz
dieser Technik erschweren. Dies käme einem Wettbe-
werbsnachteil für Deutschland gleich.
Ferner gebe ich zu bedenken, dass eine neue Kenn-
zeichnungspflicht zu einer weiteren Bürokratisierung
durch noch mehr gesetzliche Regelungen führen würde.
Zur Schaffung weiterer staatlicher Regelungen besteht
aber schon deswegen keine Notwendigkeit, da es ja be-
reits – wie in den beiden Anträgen beschrieben – die
Möglichkeit gibt, über das Gütesiegel „Blauer Engel“
die besondere Verträglichkeit eines Gerätes zu zeigen.
Dass die Industrie bis dato von diesem Gütesiegel kaum
Gebrauch gemacht hat, finde ich angesichts der eben von
mir ausgeführten Sachlage nachvollziehbar. Deswegen
Zu Protokoll
halte ich es für den besseren Weg, die technischen Para-
meter eines Handys – unter anderem den SAR-Wert –
deutlicher und transparenter als bisher auf das Gerät
oder die Verpackung aufzubringen, ohne eine Bewertung
durch ein Kennzeichnungssystem vorzunehmen. Durch
eine solche verbesserte „Sichtbarmachung“ könnte der
Verbraucher die Strahlungsintensität seines Gerätes auf
den ersten Blick erfassen und eigenverantwortlich eine
Bewertung vornehmen.
Zusammenfassend stelle ich fest:
Eine schlussendliche, alles erschöpfende Analyse der
gesundheitlichen Risiken ist nicht bzw. noch nicht mög-
lich. Wer sich in diesem Grund beeinträchtigt sieht, dem
steht es frei, auf ein Mobiltelefon zu verzichten oder Vor-
sichtsmaßnahmen zu treffen – wie verkabelte anstelle von
drahtlosen Systemen zu Hause oder Headsets mit Kabel-
einsatz fürs Handy.
Um die Entwicklungspotenziale der Mobilfunktechno-
logie nicht zu gefährden, müssen wir die Sorgen der
Bevölkerung vor Gesundheitsgefährdung durch elektro-
magnetische Felder ernst nehmen. Wir dürfen nicht zu
unkritisch sein gegenüber einer neuen Technologie, nur
weil sie weit verbreitet und fast unverzichtbar geworden
ist.
Die noch bestehenden Unsicherheiten müssen durch
gezielte Forschung weiter eingegrenzt und die Wissens-
basis verbreitert werden. Kontraproduktiv wirken hier
Anträge wie der der Linken, die eher auf Behauptungen
denn auf wissenschaftlich fundierten Aussagen basieren.
Statt durch Populismus die oft auf Unkenntnis beruhen-
den, diffusen Ängste in Teilen der Bevölkerung vor Mobil-
funk zu schüren, sollten wir unserer Verantwortung ge-
recht werden und zu einer Versachlichung der Debatte
beitragen!
Detlef Müller (Chemnitz) (SPD):
Wir beraten heute abschließend über die Beschluss-
empfehlungen des Umweltausschusses zu den Anträgen
der Fraktion der FDP „Mobilfunkforschung verantwort-
lich begründen“ und der Fraktion der Linken „Mobil-
funkstrahlung minimieren – Vorsorge stärken“. Da wir
bereits in der ersten Lesung im Plenum und im Umwelt-
ausschuss ausführlich über die Anträge debattiert haben,
möchte ich nur kurz die Inhalte der Anträge skizzieren.
Mit dem Antrag der Fraktion der FDP soll die Bundes-
regierung aufgefordert werden, sich für eine weitere For-
schung auf dem Gebiet der nichtionisierenden Strahlung
einzusetzen. So sollen insbesondere Langzeitstudien bei
bestimmten Personengruppen wie Kindern und Schwan-
geren durchgeführt werden. Diese Untersuchungen sol-
len durch das BMU, die Netzbetreiber und zusätzlich im
Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung durch die
Hersteller von Mobiltelefonen finanziert werden. Zudem
fordert der Antrag der FDP eine verbesserte internatio-
nale Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen.
Die Linke zielt in ihrem Antrag darauf ab, die Bundes-
regierung aufzufordern, die in der Sechsundzwanzigsten
Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissions-
schutzgesetzes festgelegten Grenzwerte unter Berücksich-
25286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Detlef Müller (Chemnitz)
tigung der nichtthermischen Wirkungen, der Expositions-
dauer sowie des Vorsorgeprinzips so weit abzusenken, dass
gesundheitliche Beeinträchtigungen ausgeschlossen wer-
den können. Des Weiteren sollen Genehmigungen für Mo-
bilfunksendeanlagen nur befristet erteilt werden.
Des Weiteren beraten wir über die Beschlussempfeh-
lungen für drei ältere Anträge der FDP mit dem Titel
„Verbraucherfreundliche Kennzeichnung strahlungsar-
mer Mobilfunkgeräte“ und der Grünen mit den Titeln
„Kennzeichnung von Mobilfunkgeräten schnell und ver-
braucherfreundlich durchsetzen“ und „Deutsches Mobil-
funkforschungsprogramm fortsetzen“. Diese Anträge
stammen von Anfang 2007, sie sind deutlich vor Beendi-
gung des Deutschen Mobilfunkforschungsprogramms im
Jahr 2008 entstanden und sind nicht mehr aktuell, sodass
wir uns eine Diskussion darüber ersparen können. Sie
sind von der Realität überholt.
Grundsätzlich müssen alle Anträge vor dem Hinter-
grund des stetig wachsenden Gebrauchs von Handys in
unserer Gesellschaft gesehen werden. So gehören heute
neben dem normalen Telefonieren immer neue Funktio-
nen wie Fotografieren, Bilder senden und empfangen, Vi-
deos anschauen, Nachrichten schreiben und lesen, im In-
ternet surfen, Dateien erstellen und verwalten und die
Nutzung als Navigationssystem zum Leistungspaket eines
modernen Handys. Die Handybranche gilt als eine sehr
innovationsorientierte Industrie, die Produktzyklen sind
extrem kurz.
Von Anfang an gab es allerdings in Teilen der Bevöl-
kerung auch kritische Stimmen, ob die Nutzung dieser
Technologie nicht gesundheitliche Schäden durch elek-
tromagnetische Felder hervorrufen könne. Deshalb hat
die Bundesregierung 2001 das Deutsche Mobilfunkfor-
schungsprogramm ins Leben gerufen, um gerade diese
Frage zu klären. Nach Abschluss der Forschungsprojekte
im Jahre 2008 bewerteten sowohl das Bundesamt für
Strahlenschutz als auch die Strahlenschutzkommission
das Mobilfunkforschungsprogramm. Dabei sind beide
unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen,
dass das Mobilfunkforschungsprogramm keine Erkennt-
nisse erbracht hat, die die geltenden Grenzwerte infrage
stellen. Deshalb bedarf es keiner grundsätzlichen Ver-
schärfung der Grenzwerte, die die Linke in ihrem Antrag
fordert.
Obwohl die Ergebnisse also keinen großen Anlass zur
Sorge geben, so sind noch einige offene Fragen zu klären.
So gibt es bisher noch keine Langzeitstudien bei einer
Nutzungsdauer von länger als zehn Jahren und auch
keine Studien, die die Wirkung unterschiedlicher Strah-
lenquellen beinhalten. Des Weiteren existieren keine Stu-
dien, die speziell auf Kinder oder auf Schwangere ausge-
richtet sind.
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die Forschung
auf diesen Gebieten ausgeweitet werden muss. Im Mobil-
funkforschungsprogramm wurden andere Funktechnolo-
gien wie zum Beispiel digitales Fernsehen oder W-LAN
nur am Rande untersucht oder blieben, wie zum Beispiel
neue Hochfrequenztechnologien wie der digitale Behör-
denfunk TETRA-Funk, bestimmte Frequenzbereiche wie
Zu Protokoll
Terahertz oder die Wechselwirkung verschiedener gleich-
zeitiger Anwendungen, gänzlich unberücksichtigt.
Insbesondere die Auswirkungen auf Kinder sind noch
nicht endgültig erforscht. In diesem Bereich sind noch
dringend spezifische Untersuchungen erforderlich, wir
als SPD-Fraktion unterstützen deshalb grundsätzlich das
Anliegen des FDP-Antrages.
Da die Anträge der FDP und der Linken aus dem Jahr
2008 stammen, muss festgehalten werden, dass ein Groß-
teil der Forderungen bereits durch die Bundesregierung
umgesetzt wird. So werden das BMU und das Bundesamt
für Strahlenschutz die Forschung zur weiteren Aufklä-
rung der noch offenen Fragen fortsetzen. Hierzu wurde
ein dreijähriges Forschungsprogramm erstellt. Das Ge-
samtbudget beträgt circa 5 Millionen Euro. Die Finanzie-
rung soll anteilig durch Mittel des BMU – UFOPLAN –
und der Netzbetreiber erfolgen und in derselben Weise
wie das DMF abgewickelt werden. Durch die Bundesre-
gierung werden die Parlamentarier alle zwei Jahre durch
den Bericht zur Mobilfunkforschung über die neuesten
Forschungsergebnisse zeitnah informiert. Dies ist zuletzt
im Dezember 2008 erfolgt, insofern ist der Antrag der
FDP durch die Bundestagsdrucksache 16/11557 bereits
überholt.
Dagegen hat die SPD-Fraktion immer wieder gefor-
dert, dass die Hersteller ihre emissionsarmen Endgeräte
mit dem Blauen Engel kennzeichnen sollen, um für die
Verbraucher im Vorfeld der Kaufentscheidung mehr
Transparenz herzustellen, Da dies auch in den Anträgen
der FDP und der Grünen gefordert wird, unterstützen wir
diese Forderungen.
Wovon wir uns aber deutlich distanzieren, sind Versu-
che, die Bevölkerung durch neue Grenzwertforderungen
zu verunsichern oder regelrecht Ängste zu schüren. Diese
Kritik geht vor allem in Richtung der Linken. Wir können
nicht die angeführten Gründe und Feststellungen teilen.
So geben die im Antrag zur Begründung angeführten Fol-
gen und Risiken des Mobilfunks nicht den heutigen wis-
senschaftlichen Kenntnisstand wieder. Auch für die Be-
hauptung, dass Gefälligkeitsgutachten für die Hersteller
erstellt wurden, fehlt jeder Beweis. Offen bleibt zudem,
warum die Linken die Mobilfunkbetreiber nicht weiter in
die Pflicht nehmen wollen und auch keine finanzielle Be-
teiligung an der Forschung wünschen. So wird das Ver-
ursacherprinzip konterkariert, weil keine finanzielle Be-
teiligung von den Verursachern eingefordert wird.
Ich fasse zusammen: Wir stimmen der Beschlussemp-
fehlung des Umweltausschusses zu, die Anträge abzuleh-
nen. Der Antrag der FDP ist zwar sachbezogen, aber zeit-
lich überholt, die Forderungen des Antrages werden
größtenteils bereits umgesetzt. Die Forderungen im An-
trag der Linken haben keine fundierte Basis und dienen
eher dazu, die Bevölkerung zu verunsichern.
Horst Meierhofer (FDP):
Nach den Beratungen im Ausschuss ist deutlich gewor-
den, dass eine Mehrheit der Fraktionen in diesem Haus
unseren Antrag für inhaltlich stichhaltig und sachbezogen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25287
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Horst Meierhofer
hält. Es ist deshalb unverständlich, dass wir heute über das
ablehnende Votum des Ausschusses debattieren.
Lassen Sie mich Ihnen deshalb nochmals die wichtigsten
Punkte in unserem Antrag vor Augen führen, in der Hoff-
nung, dass das bessere Argument Sie überzeugt. In
Deutschland können wir den Mobilfunk weder aus dem
öffentlichen noch aus dem privaten Leben wegdenken. Es
existieren mittlerweile mehr Handyendgeräte als Ein-
wohner. Rund 11 Prozent der Haushalte setzen nur noch
auf Handys und verzichten gänzlich auf einen Festnetz-
anschluss. Dabei werden die Endgeräte immer leistungs-
fähiger und ersetzen häufig Anwendungen, die bisher einem
Computer, einem Diktiergerät, einem MP3-Player oder
einem Fotoapparat vorbehalten waren. Mobiltelefone
werden somit auch zu einem wichtigen Faktor in einer sich
stetig wandelnden Berufswelt mit zum Teil völlig mobilen
Arbeitsplätzen. Darüber hinaus sind in Unternehmen, die
mittel- oder unmittelbar mit Funktechnologien befasst
sind, über 200 000 Arbeitnehmer beschäftigt. Diese Unter-
nehmen stehen für eine hochinnovative Branche mit sehr
kurzen Innovationszyklen.
Trotz der herausragenden Stellung der Mobilfunktech-
nologie als Wirtschaftszweig und als Anwendung im öffent-
lichen und privaten Leben existieren in Teilen der Bevölke-
rung Vorbehalte gegen mobile Funktechnologien, denen nur
dann begegnet werden kann, wenn die Angst vor Risiken
durch Forschung ausgeräumt wird. Genau in diese Richtung
zielt unser Antrag. Er greift die Ergebnisse des Deutschen
Mobilfunkforschungsprogramms, DMF, auf und formuliert
die richtigen Konsequenzen. Das ist von keiner Fraktion
hier bestritten worden, abgesehen von den Kollegen der
Fraktion Die Linke, die einen ideologisch motivierten und
mit falschen Behauptungen gespickten Antrag eingebracht
haben: Darin fordern sie zum Beispiel die Senkung von
Grenzwerten bei gleichzeitigem Stopp des Ausbaus des
Mobilfunksystems. Das ist in etwa so, als wenn sie die
Wüste bewässern wollten, in Wasserkanälen aber das
Übel sehen. Wenn Sie Grenzwerte senken wollen, müssen
zur Sicherstellung der Abdeckung mehr und nicht weniger
Masten aufgestellt werden. Erklären Sie das bitte mal den
Mobilfunkinitiativen in Ihren Wahlkreisen. Aber nicht nur
das: Sie argumentieren mit zwei Studien, deren Ergebnisse
sich – im Falle der REFLEX-Studie – entweder nicht auf
den Menschen übertragen lassen oder deren Verfasser – wie
im Falle der Studie der Europäischen Umweltagentur –
selbst eingestehen, dass sie über keinerlei Expertise auf
dem Gebiet der elektromagnetischen Felder verfügen.
Das Schlimmste an Ihrem Antrag ist aber die perfide
Argumentation mit Ängsten. Sie reden von „enormen Folgen
für die Lebenserwartung“ und „schwerwiegenden Folgen
für bestimmte Hirnfunktionen“. Das ist wirklich unterste
Schublade, es ist unseriös und schürt Ängste. Wir brauchen
transparente Forschung, paritätische Finanzierung, eine
ausgewogene Risikokommunikation und keine Argumenta-
tion mit Studienergebnissen, für die sich Dutzende Studien
mit gegenteiligen Resultaten zitieren ließen.
Ganz abgesehen davon scheint in Ihrem Antrag auch Ihr
sozialistisches Gedankengut durch: lieber alles gesetz-
lich regeln, als auf den gesunden Menschenverstand zu
setzen. Wollen Sie tatsächlich Mobilfunk- und Schnurlos-
Zu Protokoll
telefone im Anwendungsbereich der 26. BImSchV? Sollen
dann alle Privathaushalte ihre Geräte anmelden? Welchen
Mehrwert für die Gesundheit soll das denn haben? Gleiches
gilt für den von Ihnen geforderten kommunalen Genehmi-
gungsvorbehalt bei Funkmasten. Da schreiben Sie, dass
die Abstimmung zwischen Kommunen und Netzbetreibern
„nur auf freiwilliger Basis“ erfolgt. Wir haben uns mal die
Mühe gemacht und bei den kommunalen Dachverbänden
nachgefragt, wie diese Vereinbarung umgesetzt wird. So-
wohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Land-
kreistag und der Städte- und Gemeindebund haben mir
mitgeteilt, dass sie keine Veränderung dieser Überein-
kunft wünschen, weil sie nämlich gut funktioniert. Warum
Sie deren freiwilligen Charakter kritisieren, ist mir des-
halb völlig schleierhaft.
Kommen wir zu unserem Antrag zurück: Das DMF hat
im Zeitraum von 2002 bis 2007 wichtige Erkenntnisse ge-
liefert. Das sicher Wichtigste ist, dass bei akuter und
chronischer Wirkung der nichtionisierenden Strahlung we-
der unter Laborbedingungen noch in epidemiologischen
Studien gesundheitliche Effekte festgestellt werden konnten.
Dieses Ergebnis ist wichtig und sehr erfreulich, weil es
dazu beiträgt, die weitverbreitete Skepsis gegenüber dieser
Technologie abzubauen bzw. zu entkräften.
Das DMF hatte aber auch seine Schwächen, die zum
Teil im Forschungsdesign lagen. So konnte bestimmten
Fragestellungen nicht nachgegangen werden: Das sind
zum einen Fragen der additiven Wirkung unterschiedlicher
Strahlenquellen wie DECT-Telefone und W-LAN sowie der
Wirkung nichtionisierender Strahlung auf Schwangere,
Kinder und Heranwachsende; zum anderen Langfrist-
studien, die sich aufgrund des kurzen Zeithorizontes nicht
realisieren ließen.
Wenn wir über den Inhalt der Forschung reden, kommen
wir nicht umhin, auch über die Finanzierung zu sprechen.
Wir sind der Meinung, dass es aufgrund der zentralen
wirtschaftlichen Stellung des Mobilfunksektors ein öffent-
liches Interesse an einer transparenten und objektiven
Forschung gibt. Das heißt aber gerade nicht, geschätzte
Kollegen von der Linksfraktion, dass diese ausschließlich
vom Steuerzahler finanziert werden soll. Ich kann über-
haupt nicht verstehen, warum Sie keine Beteiligung der
Mobilfunkbetreiber mehr wünschen. Wir verfolgen einen
anderen Ansatz: Neben den Netzbetreibern müssen wir
endlich auch Mittel und Wege finden, die Endgeräteher-
steller mit einzubeziehen.
Die beste und objektivste Forschung hilft aber nichts,
wenn es uns nicht gelingt, die Ergebnisse einfach und
nachvollziehbar für die Bürger darzustellen. Dazu gehört
auch eine Kennzeichnung strahlungsarmer Mobilfunkge-
räte durch entsprechende Labels. Eine Möglichkeit bietet
der Blaue Engel, der von den Endgeräteherstellern bis
heute leider kaum in Anspruch genommen wird. Ein Drittel
der auf dem Markt befindlichen Geräte erfüllt aber heute
schon die Anforderungen, die das Umweltgütezeichen
stellt. Ich kann die Hersteller deshalb nur aufrufen, ihre
Scheu vor verbraucherfreundlicher Kennzeichnung endlich
abzulegen und ihre Geräte mit dem Blauen Engel kennzeich-
nen zu lassen oder – wie von uns schon 2006 gefordert –
einen eigenen Vorschlag für transparente Labels zu machen,
25288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Horst Meierhofer
denkbar wäre zum Beispiel eine Kennzeichnung analog
der bei Kühlschränken.
Mobilfunk ist ein wichtiger Faktor in Wirtschaft und
Gesellschaft. Es bestehen dennoch Vorbehalte gegen diese
Technologie. Diesen gilt es durch Forschung zu begegnen.
Das DMF hat einen substanziellen Beitrag geleistet, aber
es gibt noch offene Fragen. In den Ausschussberatungen
haben Sie unseren Argumenten inhaltlich zugestimmt. Ich
bitte Sie nun, jenseits von parteitaktischen Überlegungen,
unserem Antrag zuzustimmen.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Das Handy ist aus unserer Gesellschaft nicht mehr
wegzudenken. Wir wollen es auch nicht mehr wegdenken.
Die Mobilfunkindustrie schafft Arbeitsplätze, die Mög-
lichkeiten, die ein Handy bereitstellt, gleichen einem
Computer, und das Handy an sich kann in Notsituationen,
schnell griffbereit, Leben retten!
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Einerseits werden
vermehrt Meldungen laut, dass der Mobilfunk schädlich
für menschliche, aber auch für tierische und pflanzliche
Organismen ist. Es muss doch was dran sein, dass nicht
umsonst nach einer Schätzung des Bundesamtes für
Strahlenschutz derzeit rund 25 000 Menschen regelrecht
auf der Flucht vor Mobilfunksendern sind. Sie schlafen
– zumindest zeitweise – in Kellern, in Wohnwagen, im
Wald oder in einer abgelegenen Zweitwohnung.
Anderereits schlägt das Deutsche Mobilfunkfor-
schungsprogramm sämtliche Warnungen in den Wind und
behauptet, dass keine Gefahr für die Bevölkerung be-
stehe. Die derzeit bestehenden Grenzwerte seien ausrei-
chend. Akute oder chronische Wirkungen gehen von Han-
dys und anderen strahlenden Geräten nicht aus.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
verweisen auf das Deutsche Mobilfunkforschungspro-
gramm. Mit dessen Ergebnis wollen Sie den Bürgerinnen
und Bürgern – ich zitiere – „Ängste nehmen“? Nur, wie
wollen Sie das erreichen? Indem Sie die Bevölkerung un-
terschätzen und für dumm verkaufen?
So fällt doch auf den ersten Blick auf, dass jedenfalls
„akut“ Organismen nicht bedroht sein können. Schauen
Sie sich um, wir müssten ansonsten hier alle der Reihe
nach im Saal umfallen, denn auch hier sind wir der Strah-
lung ausgesetzt. Schauen Sie zur Kontrolle ruhig auf Ihr
Handy!
Und dass vom Mobilfunk keine chronischen Wirkun-
gen ausgehen, ist zu hinterfragen. Sie brauchen kein
Fachmann zu sein, um zu wissen, dass das Wort „chro-
nisch“ aus dem Griechischen chrónos, „die Zeit“, über-
setzt wird und langsam sich entwickelnde oder lang an-
dauernde Erkrankungen bedeutet. Und jetzt lesen Sie
bitte die gesamte Deutsche Mobilfunkstudie. Dort steht
geschrieben, dass neben den Auswirkungen auf Kinder,
Schwangere und ältere Menschen auch Langzeitwirkun-
gen nicht untersucht wurden!
Und Sie wollen ernsthaft behaupten, dass vom Mobil-
funk keine chronischen Erkrankungen ausgehen?! Nicht
wir schüren Ängste. Die Unsicherheit, dass eben nichts
Zu Protokoll
erforscht und geklärt ist, schürt die Ängste der Bürgerin-
nen und Bürger.
Wir wollen Licht ins Dunkel bringen, den Schatten
erhellen. Dazu benötigen wir aber weitere Forschungen
mit transparenten Finanzierungen, die Absenkung der
Grenzwerte unter dem Vorsorgegedanken und Grenz-
werte mit der Berücksichtigung der Pulsung, der bioche-
mischen Einflüsse und der zeitlichen Belastung. Denn wir
müssen dem Vorsorgegedanken Rechnung tragen. Wir,
nicht irgendjemand, wir als Gesetzgeber stehen in der
Pflicht zu reagieren!
Neben unserem parlamentarischen Auftrag, zum
Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger zu handeln, er-
gibt sich auch die Pflicht aus dem internationalen und
dem nationalen Recht. So wird in Art. 174 II EG-Vertrag
normiert, dass die Umweltpolitik der Gemeinschaft zur
Verfolgung unter anderem des Zieles des Schutzes der
menschlichen Gesundheit beitragen und dabei auf ein ho-
hes Schutzniveau abzielen muss. Dabei ist auf die Grund-
sätze der Vorsorge und Vorbeugung zu achten. Auch im
nationalen Recht, insbesondere im Grundgesetz, gibt es
mehrere Artikel, die dem Schutz der menschlichen Ge-
sundheit und dem Vorsorgegedanken Rechnung tragen.
So möchte ich nur Art. 2 II, Art. 14 I und Art. 20 a nennen,
die Sie alle kennen und die ich deswegen nicht in epischer
Breite ausführen möchte. In der Aufzählung ist auch der
etwas fernliegende Art. 13 I GG zu nennen. So umfasst
das Recht auf Achtung der Wohnung auch das Recht, sie
auch unbeeinträchtigt von unsichtbaren oder nicht kör-
perlichen Verletzungen wie Lärm, Immissionen, Gerü-
chen oder ähnlichen Einwirkungen zu nutzen. Dieser
Auslegung schließt sich im Übrigen auch der Europäi-
sche Gerichtshof für Menschenrechte mit seiner Ent-
scheidung vom 3. Juli 2007 zum Thema „Gesundheitsge-
fahren durch Mobilfunkanlagen“ an.
Es muss das Mögliche und Gebotene getan werden, um
schon vorbeugend die Gesundheit zu schützen. In der der-
zeitigen Fassung der 26. BImSchV ist dies jedenfalls nicht
verankert. So vermissen neben mir auch die deutschen
Strahlenschutzbehörden eine – ich zitiere – „ausrei-
chende Rechtsgrundlage für die derzeit unkontrollierte
Strahlenexposition der Bevölkerung“ und halten darüber
hinaus Vorsorgemaßnahmen für „unabweisbar“.
Daher wiederhole ich gerne noch einmal unsere wich-
tigsten Forderungen: die Grenzwertabsenkung unter dem
Gedanken der Vorsorge; die Grenzwertabsenkung unter
Berücksichtigung der Pulsung, der biochemischen Ein-
flüsse und der zeitlichen Belastung; die Fortführung der
unabhängigen Forschung mithilfe transparenter Finan-
zierung; Schutzzonen für Krankenhäuser, Schulen, Kin-
dergärten und Altenheime zu schaffen und die Kennzeich-
nung der Strahlungsintensität auf den Geräten und den
Verpackungen einzuführen.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Bedürfnis der Mehrheit in der Gesellschaft nach
mobiler Kommunikation – möglichst überall und zu jeder
Zeit – ist das Dilemma einer kleinen Minderheit: der
Menschen, die unter Elektrosensibilität leiden. Was dieses
Dilemma angeht, ist es zunächst nicht wichtig, ob der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25289
gegebene Reden
25290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Sylvia Kotting-Uhl
Kausalzusammenhang zwischen Mobilfunk und Elektro-
sensibilität nachgewiesen werden kann. Entscheidend ist,
ob die Betroffenen empfinden, dass ihre Lebensqualität
unerträglich beeinträchtigt wird. Da es europaweit die
Betroffenenverbände der „Mobilfunkgeschädigten“ gibt,
ist auch der Erkenntnisgewinn auf der Ebene des Europa-
parlamentes inzwischen bedeutend. Die Grünen im Europa-
parlament haben im März 2009 beantragt, die Mitglied-
staaten aufzufordern, Elektrosensibilität als Krankheit
anzuerkennen. Wir könnten dem Beispiel Schwedens folgen
und Menschen, die an Elektrohypersensibilität leiden, als
behindert anerkennen, um ihnen einen angemessenen
Schutz und Chancengleichheit zu bieten.
Bisher ging es beim Mobilfunk in erster Linie um den
Ausbau einer schnellen Infrastruktur auch in ländlichen
Gebieten. Bündnis 90/Die Grünen fordern, mit den Bemü-
hungen um eine flächendeckende Bereitstellung der Dienste
gleichzeitig die gesundheitliche Vorsorge auszubauen. Dazu
gehören Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie
die Transparenz für Verbraucher, die in unseren Anträgen
„Deutsches Mobilfunk-Forschungsprogramm fortsetzen“
und „Kennzeichnung von Mobilfunkgeräten schnell und
verbraucherfreundlich durchsetzen“ eine zentrale Rolle
spielen.
Die Wirkung nichtionisierender Strahlung auf Kinder
und Jugendliche einerseits und die Langzeitwirkungen
andererseits sind viel zu wenig bekannt. Für uns Grüne ist
aber auch die Wirkung auf die Umwelt insgesamt, also auch
auf Flora und Fauna, von Bedeutung. Aber Forschungen
alleine helfen den Elektrosensiblen nicht, zumal aufgrund
der Komplexität der Umwelteinwirkungen ein Kausal-
zusammenhang beim Mobilfunk ebenso wenig wie bei-
spielsweise der Kausalzusammenhang zwischen der
Strahlung rund um Atomkraftwerke mit der statistisch
auftretenden erhöhten Leukämierate von Kindern bisher
wissenschaftlich nachweisbar ist. Dass die Unschädlichkeit
ebenso wenig beweisbar ist, befreit die Menschen nicht
von den Beeinträchtigungen, die sie spüren.
Diese Menschen sind wenige, ihnen stehen wirtschaft-
liche Interessen entgegen, und sie haben keine Lobby. Die
freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunkbetreiber hat
nicht das gebracht, was sie versprochen hat. Der bünd-
nisgrüne Ansatz für einen gerechten Interessenausgleich
ist daher vor allem die Stärkung der Mitspracherechte.
Bisher funktioniert die Einbindung der Bürgerinnen und
Bürger vor Ort nur suboptimal. Das Baurecht erlaubt
selbst bei Einigkeit der Anwohnerschaft nur in reinen
Wohngebieten, Sendemasten zu verhindern.
Die öffentliche Standortdatenbank war ein erster guter
Schritt. Wir fordern jetzt zentrale Anlaufstellen für Bürger
und Bürgerinnen, damit die Anwohner über geplante An-
lagen informiert sind und Diskussionsrunden organisieren
können. Nur mit garantierter Bürgerbeteiligung können
wir das Gefühl von Ohnmacht bei den Betroffenen verrin-
gern. Die Minimierung der Strahlenbelastung im Inte-
resse der Allgemeinheit kann beispielsweise über eine
kabelgebundene Grundversorgung befördert werden.
Besonders sensible Bereiche wie Kindergärten oder
Krankenhäuser brauchen auch besonders sensible Maß-
nahmen. Diesbezüglich sind die Vorschläge der Linken nicht
verkehrt. Ich habe aber ein Problem mit ihrer Haltung zu
der Frage, wer die weitere Forschung bezahlen soll. Gemäß
Verursacherprinzip sind die Mobilfunkbetreiber in der
Pflicht, zu zahlen. Das heißt allerdings nicht, dass sie die
Forschungsaufträge auch ausschreiben und abnehmen
dürfen. Auch hier gilt für mich das Vorsorgeprinzip: vor-
ausschauend für eine unabhängige Forschung sorgen –
Gefälligkeitsforschung verhüten!
Technologien sind vor ihrer Einführung auf ihre Folge-
wirkungen hin zu erforschen, nicht erst, wenn wir sie
nicht mehr zurücknehmen können. Überfällig ist auch,
dass wir aufhören, jeden einzelnen Emittenten isoliert zu
betrachten und die kumulative Wirkung zu ignorieren. Da
hat die FDP völlig recht.
Von grundlegender Bedeutung ist Kennzeichnung,
also auch die Kennzeichnung der Strahlungsintensität
beim Handy. Das ist der erste Schritt zum mündigen Bür-
ger, das sehen die Grünen genauso wie die FDP. Beim
Kauf eines Gerätes sollte jedenfalls das oberste Kriterium
ein niedriger Strahlungswert, SAR, sein. Um dies zu er-
leichtern, brauchen wir endlich eine klare Kennzeichnung
der Strahlenwerte. Dem Antrag der FDP widerspreche
ich aber an einer entscheidenden Stelle: beim Feiern der
Lebensretterfunktion des Handys beim Kind. Laut dem
Branchenverband BITKOM besitzt bereits heute jedes
zweite Kind zwischen sechs und zwölf Jahren ein Handy.
Wir wissen nicht, ob die Nutzung von Handys durch die
Strahlungseinwirkung auf den noch nicht fertig ausgebil-
deten Organismus bei Kindern zu gesundheitlichen Risiken
führen kann, zum Beispiel zu Tumorerkrankungen. Nicht
umsonst empfiehlt die französische Umweltbehörde seit
2005 mit einer gezielten Kampagne, auf Handys in Kinder-
händen zu verzichten. Der französische Umweltminister
Jean-Louis Borloo will die Werbung für Kinderhandys
gar gesetzlich verbieten lassen. Solange die Wirkung der
Strahlung auf Kinder nicht erforscht ist, ist das Prinzip
Vorsicht geboten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Tagesordnungspunkt 42 a. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit auf Drucksache 16/12915. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/10325 mit dem Titel „Mobilfunkforschung ver-
antwortlich begründen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung der Koalition und der Linken. Dagegen hat
die FDP gestimmt; Bündnis 90/Die Grünen hat sich ent-
halten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/9485 mit dem Titel „Mobilfunkstrahlung mini-
mieren – Vorsorge stärken“. Wer ist für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die
Koalitionsfraktionen und die FDP haben dafür gestimmt.
Dagegen gestimmt hat die Fraktion Die Linke;
Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25291
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 42 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit auf Drucksache 16/5362. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/3354 mit dem Titel „Verbraucherfreundliche Kenn-
zeichnung strahlungsarmer Mobilfunkgeräte“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben die Koalition und Die Linke.
Dagegen gestimmt hat die FDP; Bündnis 90/Die Grünen
hat sich enthalten.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4424 mit dem Titel „Kennzeichnung von
Mobilfunkgeräten schnell und verbraucherfreundlich
durchsetzen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung der Koali-
tion. Dagegen gestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen;
enthalten haben sich die FDP und die Linke.
Tagesordnungspunkt 42 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Deutsches Mobilfunk For-
schungsprogramm fortsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6580,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4762 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung der Koalition und Ablehnung der Opposi-
tion.
Tagesordnungspunkt 49:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über Rating-
agenturen (inkl. 15661/08 ADD 1 und 15661/08
ADD 2) (ADD 1 in Englisch)
KOM(2008) 704 endg.; Ratsdok. 15661/08
– Drucksachen 16/11517 Nr. A.5, 16/12088 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Albert Rupprecht (Weiden)
Nina Hauer
Frank Schäffler
Albert Rupprecht, Nina Hauer, Frank Schäffler, Axel
Troost und Gerhard Schick haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Ratingagenturen galten lange als unverzichtbarer
Bestandteil des Finanzmarktes. Sie gaben vor, Produkte
auf deren Werthaltigkeit richtig einschätzen zu können.
Sie gaben vor, zwischen risikoreichen und risikoarmen
Investments unterscheiden zu können. Die Finanzmarkt-
krise hat uns aber eines Besseren belehrt. Keineswegs ist
ein sehr gut geratetes Produkt auch sehr gut. Aber: Inves-
titionsentscheidungen von institutionellen und privaten
Anlegern wurden und werden wohl auch in Zukunft nur in
den seltensten Fällen getroffen, ohne dass das Rating der
Emission und des Emittenten beachtet wird und mehr
oder minder starken Einfluss auf die Anlageentscheidung
nimmt.
Betrachtet man die Marktverhältnisse bei Ratingagen-
turen, könnte einem Vertreter der sozialen Marktwirtschaft
angesichts der Konzentration weniger Institutionen angst
und bange werden. Etwa 95 Prozent des Weltmarktanteils
des Ratingmarktes werden von drei großen Ratingagen-
turen beherrscht: von der zu McGraw-Hill Companies
gehörenden Agentur Standard & Poor’s, von Moody’s
und von der in der Hand von europäischen, überwiegend
französischen Investoren befindlichen Ratingagentur
Fitch. Weitere Agenturen jenseits und diesseits des Atlantiks,
ebenso in Deutschland, versuchen, dieses Oligopol der
drei Großen aufzubrechen.
Zu Beginn der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts gab es
die Forderung, nach der die Europäer eine eigene euro-
päisch geprägte Ratingagentur der angloamerikanischen
Vorherrschaft entgegensetzen sollten. Die Idee der Grün-
dung einer europäischen Ratingagentur als Gegenpart zu
den marktbeherrschenden großen drei Ratern wurde damals
von dem früheren Sprecher des Vorstandes der Deutsche
Bank AG Breuer aufgeworfen. Eine Realisierung und damit
ein Anspruch der Europäer, einen eigenen Part zu spielen,
konnten bislang nicht verwirklicht werden. Noch zu unter-
schiedlich scheinen die Interessen allein im europäischen
Raum zu verlaufen.
Bundespräsident Köhler betonte noch in dieser Woche
die Notwendigkeit weiterer Ratingagenturen. Den Spar-
kassen hat er anlässlich deren 200-jährigen Bestehens
aufgetragen, an der Entstehung einer eigenen europäischen
Ratingagentur mitzuwirken. Ich persönlich habe bei
staatlichen Einrichtungen eine Grundskepsis. Aber die
Marktteilnehmer, Banken, Sparkassen, Versicherungen
und Unternehmen, müssten sich doch endlich ihrer Ver-
antwortung bewusst werden und sich für die Entstehung
einer weiteren Ratingagentur einsetzen. Auf der einen
Seite die Macht der Ratingagenturen zu bedauern, auf der
anderen Seite aber nicht die Kraft für ein eigenständiges
Gegenwerk aufzubringen, empfinde ich als unzureichend.
Nicht zu Unrecht bezeichnete der Präsident der Bundes-
anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Sanio in seiner
bekannt markanten Art Ratingagenturen bereits vor ein
paar Jahren noch als die „größte unkontrollierte
Machtstruktur im Weltfinanzsystem“. Endlich muss es zu
einer Regelung kommen. Die Forderungen nach einer
Regulierung für Ratingagenturen, wie sie in diesen Tagen
aufleben, sind ebenso wenig neu. Ein sogenanntes Rating-
wesengesetz auf nationaler Ebene wurde bereits 1992 als
geeignete Maßnahme zur Regulierung der Ratingagenturen
angesehen. In den folgenden Jahren hat es aber der deutsche
Gesetzgeber nicht als eigenständiges Projekt weiterverfolgt.
Ende 2004 wurde schließlich unter maßgeblicher Mit-
wirkung der BaFin und nach Maßgabe eines Antrags des
Bundestags ein international abgestimmter Verhaltenskodex
für Ratingagenturen entwickelt, der auf dem Prinzip der
(A) (C)
(B) (D)
Albert Rupprecht (Weiden)
Selbstregulierung beruht. Die internationale Vereinigung
der Wertpapieraufseher, die IOSCO, erarbeitete ver-
schiedene Vorgaben, die nicht rigide oder formalistisch
sein sollen, sondern vielmehr flexibel, damit sie den ver-
schiedenen rechtlichen und wirtschaftlichen Umständen
angepasst werden können.
Diese Fundamentals für Ratingagenturen regeln die
Qualität des Ratingprozesses, die Überprüfung der Ratings,
die Integrität des Ratingprozesses und die Unabhängigkeit
der Ratingagenturen sowie die Vermeidung von Interes-
senkonflikten der Ratingagenturen und ihrer Mitarbeiter.
Zur Sicherstellung der Vorstellungen sollen die Rating-
agenturen eine Stelle ähnlich der eines Compliance Officers
einrichten. Zudem finden sich Regeln, wie die Rating-
agenturen vertrauliche Informationen der Auftraggeber
handhaben sollen. Hinsichtlich der Methoden und des
Ratingprozesses fordern die Fundamentals Transparenz ein.
Die Ratingagenturen selbst sollen offenlegen, ob und in-
wieweit sie die Vorstellungen der IOSCO Code of Conduct
Fundamentals umgesetzt haben.
Offengeblieben sind die Fragen des Enforcements und
Sanktionen bei Nichteinhaltung des Verhaltenskodexes.
Die Agenturen sind lediglich angehalten, ihre sich selbst
in einem Code of Conduct gestellten Anforderungen zu
erfüllen, ohne dass eine staatliche Aufsichtsstelle einge-
schaltet werden müsste. Auf europäischer Ebene, wo es
nach dem Parmalat-Skandal eine eigene Arbeitsgruppe gab,
um die Transparenz von Ratingagenturen zu bewerten,
einigte man sich darauf, zunächst einmal zu beobachten,
ob die Ratingagenturen den ihnen auferlegten Verhal-
tenskodex einhalten.
CDU und CSU haben früh erkannt und angemahnt,
dass die abwartende Rolle hinsichtlich einer Regulierung
von Ratingagenturen sich nicht bewährt hat. Wir drängen
daher seit langem darauf hin, die Selbstregulierung in
verbindliche Regelungen umzuwandeln. Wir können nicht
dulden, dass bedeutende Investitionsentscheidungen in
einem unkontrollierten Raum getroffen werden, Investi-
tionsentscheidungen, die uns doch alle betreffen.
Bereits im Frühjahr 2008 habe ich ein Positionspapier
formuliert, das folgende Lösungen vorschlägt: Stärkung von
Markt und Wettbewerb, potenziellen Markteintritt erleich-
tern, weltweite Standards im Sinne des Kodexes IOSCO,
Anpassung dieses Kodexes an europäisches und national-
staatliches Recht, Durchsetzung privatrechtlicher Haftung,
Staatssanktionen als Ersatz für fehlende Marktsanktionen,
bessere Qualität im Ratingverfahren, mehr Transparenz
durch Vermeidung von Interessenkonflikten und erweiterte
Offenlegungspflichen und Rolle der Aufsichtsbehörden.
Leider hat Herr Steinbrück damals trotz der Einsicht,
dass die Ratingagenturen mitverantwortlich für die
Finanzkrise sind, auf die freiwillige Selbstregulierung
gesetzt. Wir begrüßen es deswegen, dass Herr Steinbrück
einen Kurswechsel vollzogen hat und auf unsere bzw. die
Brüsseler Position zu 95 Prozent umgeschwenkt ist.
Eine wesentliche Bedeutung haben Ratings etwa nach
den neuen Baseler Eigenkapitalregeln, nach Basel II. Nach
dem Anerkennungsverfahren im Modifizierten Standard-
ansatz entscheiden die nationalen Aufsichtsinstanzen, ob
Zu Protokoll
eine Ratingagentur bestimmte Anforderungen erfüllt,
damit deren Bonitätseinschätzung von den Banken zur
Berechnung der Eigenkapitalunterlegung eines Kredits
herangezogen werden kann. Dieser Prozess läuft in
Deutschland erst an. Aber entsprechend des deutschen
Versicherungsaufsichtsrechts können Ratings bereits seit
Jahren eine Grundlage zur Bewertung von Vermögensan-
lagen bilden und sind daher aufsichtsrechtlich anerkannt.
Versicherungen investieren Gelder von uns allen, als Teil
unserer Lebensversicherungen, als Teil unserer dringend
notwendigen privaten Altersvorsorge. Und sich hierbei
auf Ratings zu verlassen, lässt einen angst und bange
werden.
Wir müssen also aus den Fehlern der Vergangenheit ler-
nen, und zwar ohne Zeitverzug. Am 27. Februar 2009 legte
die tschechische Ratspräsidentschaft einen Kompromiss-
vorschlag für eine europäisch abgestimmte Aufsicht vor. Im
Anschluss an die Verabschiedung des Ratskompromisses
erfolgten Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament,
das eine Reihe von Änderungswünschen einbrachte. Am
23. April 2009 verabschiedeten sowohl das EP in erster
Lesung als auch der Ausschuss der Ständigen Vertreter
– ohne Aussprache – den dabei erzielten Kompromiss.
Die wesentliche Änderung war dabei nach Auskunft der
Bundesregierung die erneute Ausweitung des Geltungs-
bereichs der Richtlinie auf alle Ratingagenturen. Gegen-
wärtig wird der von Rat und Europäischem Parlament er-
zielte Kompromiss in alle EU-Amtssprachen übersetzt.
Sobald dies geschehen ist, wird der Ministerrat die
Verordnung in einer seiner nächsten Sitzungen verab-
schieden.
Mit dem Entschließungsantrag, der auf Drängen von
CDU und CSU weitgehend übereinstimmend im Finanz-
ausschuss verabschiedet wurde, greifen wir die europäische
Entwicklung auf, und wir begrüßen das Bemühen um einen
baldigen Rechtsrahmen. Dabei darf es aber nicht zu einer
Zementierung der bestehenden drei großen Ratingagentu-
ren kommen. Vielmehr bedarf es, wie bereits angemerkt,
weiterer Ratingagenturen. Wettbewerbshindernisse sind
auf jeden Fall zu vermeiden.
Keine Frage, dieser Rechtsrahmen ist dringend not-
wendig. Wir müssen aus den Fehlern der Krise lernen.
Ratingagenturen haben nicht unerheblich mit leichtferti-
gen Ratings von Verbriefungen hierzu beigetragen. Wenn
Ratingagenturen jetzt auch noch dem deutschen Pfand-
briefmarkt mit Abwertungen drohen, wird noch deutlicher:
Wir brauchen endlich eine Aufsicht. Ratingagenturen
können nicht aus dem fernen Übersee mit einem anglo-
amerikanischen Finanzmarktverständnis einfach natio-
nale Besonderheiten beiseitewischen. Ich will hier nicht
einer Einmischung in einzelne Entscheidungen das Wort
reden. Es ist nur deutlich zu machen, dass die Macht der
Ratingagenturen relativiert werden muss. Wir brauchen
eine angemessene Regulierung der Ratingagenturen.
Nina Hauer (SPD):
Die Ratingagenturen haben in großem Umfang zur
Finanzmarktkrise beigetragen. Ihre positiven Bewertun-
gen von undurchschaubaren Finanzprodukten haben teil-
weise völlig falsche Investitionsanreize gesetzt. Die Ar-
25292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Nina Hauer
beitsweise der Agenturen hat bisher oft zur Folge gehabt,
dass die Risiken für die Anleger nicht erkennbar und die
Ratingprozesse nicht transparent genug waren. Daher
war es nötig, strengere Standards für die Ratingagenturen
zu schaffen und Mechanismen zu entwickeln, mit denen
wir sie besser regulieren und überwachen können. Die-
sem Ziel sind wir nun auf EU-Ebene endlich einen großen
Schritt näher gerückt. Im Entschließungsantrag der
Koalition hatten wir den Vorschlag der Kommission prin-
zipiell begrüßt, aber die Bundesregierung auch aufgefor-
dert, sich für Nachbesserung in einigen Punkten einzuset-
zen. Die wichtigsten Neuerungen der Verordnung möchte
ich jetzt kurz vorstellen:
Zunächst einmal ist es uns endlich gelungen, die
Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Ratingagenturen
erstmals unter behördliche Aufsicht gestellt werden. Alle
Agenturen müssen sich nun beim Pariser Ausschuss für
Wertpapiermärkte registrieren. Die freiwilligen Selbst-
verpflichtungen der Agenturen haben einfach keine zu-
friedenstellenden Ergebnisse erbracht, sodass wir froh
sind, dass die neuen Meldevorschriften eine einheitliche
Verbindlichkeit schaffen. Die Überwachung der Agentu-
ren bleibt weiter bei den einzelstaatlichen Aufsichtsbe-
hörden, in unserem Fall also bei der BaFin.
Zweitens haben wir darauf hingewirkt, dass zusätzli-
che Eintrittsbarrieren in den Ratingmarkt vermieden
werden. Dadurch sollen vor allem kleinere und mittel-
ständische Ratingagenturen nicht über die Maßen belas-
tet werden und außerdem so der Wettbewerb unter den
Agenturen gefördert werden. Auf diese Weise kann der
Dominanz der drei großen internationalen Ratingagentu-
ren entgegengetreten werden.
Ein Fortschritt ist außerdem gemacht worden bei der
Gewährleistung der Unabhängigkeit der Ratings. Wir
wollen auf jeden Fall verhindern, dass die Ratingagentu-
ren erst Unternehmen dabei helfen, Finanzprodukte zu
entwickeln, und diese dann auch noch selbst für den
Markt bewerten. Es kann nicht sein, dass Verstrickungen
und Interessenkonflikte ein Rating beeinflussen. Dazu
wurde auch ein gestaffeltes Rotationssystem entwickelt,
das verhindert, dass die Analysten, die die Ratings vor-
nehmen, zu lange ein und dasselbe Unternehmen bewer-
ten dürfen. Außerdem wird es den Agenturen zur Pflicht
gemacht, ihre Ratings und Methoden mindestens einmal
jährlich zu überprüfen.
Ein vierter wichtiger Punkt war die Nutzung von Ra-
tings aus Drittländern: Für die Berechnung ihres Eigen-
kapitals dürfen Banken, Versicherungen und andere regu-
lierte Finanzdienstleister künftig nur noch Ratings von
Agenturen benutzen, die auch in der EU registriert sind.
Aber wir haben auch ein funktionierendes Verfahren ent-
wickelt, das es uns erlaubt, auch die Ratings aus Drittlän-
dern zu verwenden, die den Anforderungen aus der
Verordnung gerecht werden. Dazu müssen die Ratings
prinzipiell den EU-Anforderungen entsprechen. Auch
hier haben wir aber darauf geachtet, dass kleinere, syste-
misch nicht relevante Ratingagenturen aus Drittländern
einen leichteren Marktzutritt erhalten, indem sie von der
Pflicht entbunden sind, eine Niederlassung in der EU zu
besitzen, solange sie einem gleichwertigen Aufsichtssys-
Zu Protokoll
tem unterliegen. Banken und Wertpapierfirmen können
aber weiterhin Aufträge für ihre Kunden ausführen und
Finanzprodukte kaufen, deren Ratingerstellung nicht den
Verordnungsmaßstäben entsprechen. Dadurch können
keine Nachteile und Wettbewerbsverzerrungen für den
Finanzsektor entstehen, wenn er die Bewertungen selbst
nutzt.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung die Vor-
schläge des Finanzausschusses erfolgreich in die EU-
Verordnung eingebracht hat. Der Verordnungsvorschlag
wurde Ende April vom Europäischen Parlament verab-
schiedet, und die Verordnung wird bald in Kraft treten
können. Damit haben wir eine Basis für eine angemes-
sene Regulation der Ratingagenturen geschaffen, die
gleichzeitig Wettbewerbsverzerrungen vermeidet und
mehr Transparenz für Anleger und Investoren schafft.
Frank Schäffler (FDP):
Die Finanzkrise hat den Blick auf die Rolle der Rating-
agenturen gelenkt. Teilweise werden sie dabei als Sün-
denbock missbraucht, um von eigenen Fehlern, beispiels-
weise im Bereich der staatlichen Aufsicht, abzulenken.
Doch es stimmt, die Ratingagenturen sind in der gegen-
wärtigen Finanzmarktkrise mehr als nur die Überbringer
der schlechten Nachrichten: Kredite von Millionen von
Kreditnehmern wurden von Tausenden von Finanzdienst-
leistern zu Paketen geschnürt, die von wenigen Invest-
mentbanken mit den Urteilen von nur drei Ratingagentu-
ren versehen über Hunderte von Banken an Tausende von
institutionellen Anlegern in Fonds und anderen Finanz-
produkten vertrieben wurden, die schließlich in den De-
pots von Millionen von Anlegern landeten.
Die Fehleinschätzungen der führenden US-amerikani-
schen Agenturen, die am Nadelöhr des Verbriefungs-
fadens sitzen, mussten sich in dieser Kette der Abhängig-
keiten zu gewaltigen Fehlallokationen von Kapital
multiplizieren. Doch gerade die Kreise, die Ratingagen-
turen nun zu den allein Schuldigen an der Krise machen
wollen, drohen die regulatorische Keule zu schwingen
und damit Marktmechanismen zu verhindern. Wir brau-
chen als Konsequenz der Krise gerade nicht weniger oder
gar staatliches Rating, sondern wir brauchen mehr Wett-
bewerb im Ratingmarkt, wir brauchen eine Ratingkultur
in Deutschland und in Europa.
Um neben den Großagenturen auch kleinen und mitt-
leren Wettbewerbern den Marktzugang nicht zu versper-
ren, enthält die Verordnung nun eine Proportionalitäts-
klausel, der zufolge Ratingagenturen mit weniger als
50 Beschäftigten von Verpflichtungen der Verordnung
freigestellt werden können. In Erwägungsgrund 27 heißt
es ausdrücklich: „Auch sollte das Auftreten neuer Ak-
teure auf dem Markt für Ratingagenturen gefördert wer-
den.“
Genau daran werden wir die Verordnung messen müs-
sen: Führt sie wirklich zu mehr Wettbewerb oder stärkt
sie vielleicht nur das bestehende Oligopol, indem die do-
minierenden Agenturen nun auch noch ein staatliches
Gütesiegel erhalten? Als Liberale wünschen wir uns auf
europäischer Ebene mehr Öffnung. Die Festlegung auf
ein verbindliches Geschäftsmodell für Ratingagenturen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25293
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Frank Schäffler
wäre verkehrt: Gleich, ob Emittenten, Anleger oder
Dritte für die Kosten tiefgreifender Analysen aufkommen,
die in Ratingagenturen tätigen Analysten sind immer
auch Interessenkonflikten ausgesetzt. Interessenkonflikte
dürfen durch Festlegung des Gesetzgebers auf ein be-
stimmtes Modell nicht geleugnet, sondern müssen durch-
schaubar gemacht und gemanagt werden.
Nur wenn Emittenten künftig für alle Finanzinstru-
mente sicherstellen, dass sich Anleger anhand von min-
destens zwei unabhängigen Ratings beim Kauf und Ver-
kauf über die Anlage informieren können, werden die
Lücken in der Informationskette geschlossen und Anlage-
alternativen wirklich vergleichbar gemacht. Ziel ist es,
für den Anleger transparent zu machen, für wie wahr-
scheinlich es qualifizierte Analysten halten, dass ein
Finanzinstrument die vom Emittenten geweckten Erwar-
tungen erfüllt. Zugleich ist diese Forderung auch ein
wichtiges Element zur Schaffung einer Ratingkultur, die
durch mehr Wettbewerb die Ratingagenturen zu besseren
Leistungen anspornt und Fehlurteile zutage fördert.
Doch wenn wir die richtigen Lehren aus der Finanz-
krise ziehen wollen, dann dürfen wir den Blick auch nicht
nur auf die Ratingagenturen verengen. Wir müssen un-
sere Finanzaufsicht in Deutschland grundlegend neu auf-
stellen. Hauptziel der BaFin ist es, ein funktionsfähiges,
stabiles und integres deutsches Finanzsystem zu gewähr-
leisten. Bankkunden, Versicherte und Anleger sollen dem
Finanzsystem vertrauen können. An dieser Aufgabe ist
die BaFin in der gegenwärtigen Krise gescheitert. Die
wirklich großen Probleme wurden nicht von ihr selbst,
sondern von Dritten entdeckt.
Die BaFin ist durch eine kompetente, durchsetzungs-
fähige und politisch unabhängige Aufsichtsbehörde zu er-
setzen. Ihre Zuständigkeit muss sich explizit auf alle
Finanzmarktinstitutionen – und nicht nur die Banken,
sondern auch Ratingagenturen usw. – erstrecken. Diese
umfassende Finanzaufsicht wäre aufgrund ihrer Glaub-
würdigkeit der Deutschen Bundesbank zuzuordnen.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Viele Stimmen sind sich einig, dass eine Reform von
Ratingagenturen dringend geboten ist. Ratingagenturen
haben die Krise angeheizt, indem sie zweifelhafte Wert-
papiere mit Bestnoten versahen und am Verkauf kräftig
mitverdienten. Die Forderung, Ratingagenturen zu regu-
lieren, ist weit älter als die heutige Krise. Jetzt kommt es
darauf an, nicht halbherzig ein löchriges Konstrukt zu
stricken. Es geht darum, effektiv zu regulieren. Das ist der
Maßstab, an dem ich den europäischen Vorschlag messe.
Und es ist der Maßstab für zwei Forderungen, die wir der
Bundesregierung für internationale Verhandlungen mit-
geben.
Ein Hauptaugenmerk des europäischen Vorschlags
liegt darin, Interessenkonflikte zu vermeiden: So sollen
Ratingagenturen sich darauf beschränken zu bewerten,
statt zugleich zu beraten. Auch sollen sie transparenter
werden und ihre Bewertungskriterien detaillierter offen-
legen. Vor allem soll ein stärkerer Wettbewerb der
Ratingagenturen ihre Qualität verbessern. Deshalb will
man kleinere Ratingagenturen nicht überdurchschnittlich
Zu Protokoll
belasten und zusätzliche Eintrittsbarrieren vermeiden.
Die Bundesregierung stimmt dem europäischen Vor-
schlag zu. Vor allem bekräftigt sie, den Wettbewerb zwi-
schen Ratingagenturen fördern zu wollen. An entschei-
dender Stelle liegt hier ein entscheidender Denkfehler.
Warum? – Die Bundesregierung geht von folgendem Bild
aus: Ein Kunde oder eine Kundin sucht nach einem hoch-
wertigen Produkt. Wer sich raten lässt, sucht aber gerade
nicht in erster Linie ein hochwertiges Produkt, sondern er
sucht eine möglichst gute eigene Bewertung. Die Konse-
quenz daraus: Ein verstärkter Wettbewerb von Rating-
agenturen verstärkt tendenziell das Buhlen um Kund-
schaft durch wohlwollende Bewertungen. Das ist das
Gegenteil der erklärten Absicht. Denn es verschlechtert
die Qualität der Ratings.
Weitaus effektiver ist es – so unser erster Appell an die
Bundesregierung –, sich für öffentlich-rechtliche Agentu-
ren einzusetzen. Ganz wie bei Notaren kann eine Gebüh-
renordnung erlassen werden. Die Gebühren richten sich
nach Art und Umfang der zu bewertenden Papiere. Die
Gefahr von Gefälligkeitsgutachten wäre gebannt, wenn,
wer sich raten lässt, eine Umlage in einen Fonds zahlt.
Direkte Zahlungen an die Agenturen hingegen zementie-
ren finanzielle Abhängigkeiten, statt Interessenkonflikte
zu beseitigen. Spätestens im Kundengespräch rutscht
dann auch die verordnete Trennung von Bewertung und
Beratung in eine Grauzone.
Ich komme zu unserem zweiten Appell an die Bundes-
regierung: Folgen Sie der Empfehlung des Bundesrates
und treten Sie für einen europäischen Finanz-TÜV ein:
Erst eine Zulassungsstelle, die neue Finanzinstrumente
wie Medikamente gründlich prüft, kann Risiken über-
schaubar und bewertbar machen. Das muss die erste Ver-
kehrsregel sein: Wir brauchen klare Mindeststandards
für Wertpapiere. Das gilt für die Verbraucherfreundlich-
keit. Und es gilt für das potenzielle Risiko für die Gesamt-
wirtschaft. Beides sind die blinden Flecke der Rating-
agenturen. Ohne diese Mindeststandards schicken wir
undurchschaubare Risiken um die Welt – versehen mit
dem Gütesiegel von Ratingagenturen. Da ich über Min-
deststandards rede, ergänze ich: Wenn Staaten bessere
Bewertungen erhalten, weil das Arbeitsrecht und die Ge-
werkschaften schwach sind, dann müssen wir auch Stan-
dards für Ratingkriterien vereinbaren. Wenn, was aus
Anlegersicht mehr Ertrag verspricht, die Demokratie un-
terwandert wird, haben wir dringenden Handlungsbedarf.
Wettbewerb ist aus unserer Sicht in diesem Fall das
denkbar falsche Instrument, um die Ratingkultur zu ver-
bessern. Deshalb lehnt die Linke den europäischen Vor-
schlag ab. Stattdessen fordern wir Sie auf, sich inter-
national stark zu machen für öffentlich-rechtliche
Agenturen und für einen Finanz-TÜV.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ratingagenturen spielen eine Schlüsselrolle in der Fi-
nanzmarktkrise und haben wesentlich zu ihrem Ausbruch
beigetragen. Ihre allzu positiven Noten für riskante Pa-
piere haben vor allem viel institutionellen Anlegern die
Illusion von Sicherheit verschafft. Zudem haben die Ra-
tingagenturen auch nach Ausbruch der Krise an ihren po-
25294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25295
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Gerhard Schick
sitiven Bewertungen festgehalten und damit falsche Si-
gnale an die anderen Marktteilnehmer ausgesandt.
Der Grundfehler ihrer Arbeit: Die Entwicklung der
Vergangenheit wurde einfach fortgeschrieben, Preisstei-
gerungen bei US-Immobilien und geringe Ausfallraten
bei Hauskrediten wurden als gegeben angenommen. Das
hat sich als gewaltiger Fehler herausgestellt. Die syn-
chrone Fehleinschätzung der drei Agenturen beruhte
auch darauf, dass alle drei in etwa die gleichen mathema-
tischen Modelle benutzten.
Ein anderer, viel wichtigerer Fehler wurde allerdings
lange vor diesen Entwicklungen von der Politik gemacht:
Es wurde zugelassen, dass die drei wichtigsten Rating-
agenturen weltweit ein Oligopol bildeten. Senkt eine von
ihnen den Daumen bei der Bewertung eines Anlagepro-
dukts, hat das massive Auswirkungen, die von anderen
Marktteilnehmern nicht mehr korrigiert werden können.
Denn es gibt nur zwei weitere Agenturen und nicht wie
sonst in einer funktionierenden Marktwirtschaft eine Viel-
zahl von Marktteilnehmern, die durch ihre Signale Irrtü-
mer einzelner ausgleichen können. So spielen jetzt in der
Krise, nachdem sie einmal von den Ratingagenturen rich-
tig wahrgenommen wurde, die Ratingagenturen eine ver-
stärkende Rolle. Je weiter sie in der Krise den Daumen
senken, desto größer wird der Abschreibungsbedarf der
Banken, Versicherungen und Fonds, und desto stärker
verschlechtern sich Ratings. Schon eine einzelne Agentur
hat hier immense Auswirkungen.
Deswegen ist es richtig, dass in dem heute vorliegen-
den Dokument explizit auf Eintrittsbarrieren im Rating-
markt hingewiesen wird, die es zu beseitigen gilt. Zusätz-
liche Anbieter von Ratingdienstleistungen müssen eine
Chance bekommen, damit der Markt seine Rolle sinnvoll
übernehmen kann. Wie diese Markteintrittsbarrieren be-
seitigt werden sollen, bleibt allerdings unklar. Im von der
Regierungskoalition vorgelegten und von der FDP mitge-
tragenen Entschließungsantrag liegt der inhaltliche
Schwerpunkt auf einem besseren Zutritt für weitere Rating-
agenturen. Er thematisiert aber überhaupt nicht die von
verschiedenen Expertinnen und Experten beim Fachge-
spräch des Finanzausschusses geäußerte Möglichkeit der
Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Ratingagentur. Ak-
tuell haben wir es mit klarem Marktversagen zu tun. Wir
müssten uns sehr viel mehr darum kümmern, wie dieses
Marktversagen überwunden werden kann. Eine öffent-
lich-rechtliche Ratingagentur wäre sicherlich ein sinn-
voller Weg dorthin.
Ein zweiter Weg zur Überwindung des Marktversa-
gens wäre die Stärkung der EU-weiten Finanzaufsicht,
die ohnehin notwendig ist. Bezüglich der Ratingagentu-
ren stellt ihr Ausbau eine Ergänzung zu öffentlich-recht-
lichen bzw. mehr privaten Ratingagenturen dar.
Ratingagenturen haben faktisch die Rolle von Aufse-
hern übernommen, die über die Qualität von Finanz-
dienstleistungen entscheiden. Weil ihr Einfluss dabei zu
groß geworden ist, konnten die Noten der Ratingagentu-
ren auch diese verheerende Wirkung auslösen. Hier gilt
es, ein Ungleichgewicht wieder ins Lot zu rücken und den
Aufsehern eine stärkere Rolle zuzuweisen.
Ratingagenturen sollen Informationsasymmetrien zwi-
schen Verkäufer und Käufer von Schuldtiteln verringern.
Die mittlerweile verabschiedete EU-Verordnung zu den
Ratingagenturen sieht eine Reihe von wichtigen Verbes-
serungen für die Arbeitsqualität der Agenturen vor: Of-
fenlegung von Interessenkonflikten, Angaben zur Metho-
denwahl und zu den Annahmen der Bewertungsmodelle
oder der Zwang, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rotie-
ren zu lassen, damit sie nicht zu lange für den selben Kun-
den tätig sind.
Wir bleiben skeptisch, ob die neuen Regeln genügen.
Die Sanktionsmöglichkeiten sind immer noch ungeklärt,
und auch die Überwachung durch die nationalen Behör-
den und nicht durch eine EU-Stelle – beim europäischen
Ausschuss für Wertpapieraufsicht CESR müssen sich die
Ratingagenturen nur registrieren lassen – sehen wir sehr
kritisch. So geht der Entschließungsantrag sicher in die
richtige Richtung. Für einen wirklichen Neuanfang an
den Finanzmärkten müsste aber gerade auch bei den Ra-
tingagenturen mehr geschehen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/12088, in Kenntnis der Unterrichtung eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt
haben Koalition und FDP. Die Linke war dagegen,
Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 44:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Irmingard Schewe-
Gerigk, Birgitt Bender, Priska Hinz (Herborn),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Hungern in der Überflussgesellschaft – Maß-
nahmen gegen die Magersucht ergreifen
– Drucksachen 16/7458, 16/13418 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Renate Gradistanac
Sibylle Laurischk
Diana Golze
Irmingard Schewe-Gerigk
Zu Protokoll haben ihre Reden gegeben Elisabeth
Winkelmeier-Becker, Marlene Rupprecht, Ina Lenke,
Diana Golze und Irmingard Schewe-Gerigk.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Bereits in der ersten Lesung zum Antrag der Grünen
waren sich die Berichterstatter darin einig, dass insbe-
sondere die Magersucht, aber auch jede andere Form von
Mangel- und Fehlernährung ein sehr ernst zu nehmendes
Problem darstellt. Laut einer Studie des Robert Koch-
Institutes hat jeder Zweite in Deutschland Übergewicht.
(A) (C)
(B) (D)
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Gleichzeitig hat die Zahl der unterernährten Erwachse-
nen in den vergangenen Jahren stetig zugenommen, wo-
bei insbesondere junge Mädchen, aber auch immer mehr
junge Männer unter Magersucht leiden. Das deutsche
Institut für Ernährungsmedizin und Diätetik gibt an, dass
in Deutschland fast 4 Millionen Menschen unter gefähr-
lichem Untergewicht leiden.
Zu dem insgesamt sehr komplexen Thema haben wir
eine öffentliche Expertenanhörung durchgeführt mit dem
Ziel, mehr Aufmerksamkeit zu schaffen und zusammen
mit den Experten über Lösungen und Wege nachzuden-
ken, wie den betroffenen Menschen geholfen werden
kann. Zunächst wurde uns bescheinigt, dass das Krank-
heitsbild Magersucht in den letzten Jahrzehnten zuge-
nommen habe. Momentan sei hier allerdings die Plateau-
phase erreicht, man rechne also mit keinem weiteren
Anstieg. Anders verhalte es sich jedoch beim Krankheits-
bild Übergewicht. Hier sei ein weiterer Anstieg zu erwar-
ten.
Die Ursachen hierfür – so wurde uns von den Sachver-
ständigen einstimmig bestätigt – beruhen immer auf ei-
nem Bündel sowohl biologischer als auch psychosozialer
und gesellschaftlicher Ursachen. Sie sind nicht nur auf
ein durch Schlankheit geprägtes Schönheitsideal zurück-
zuführen. Es geht bei der Magersucht nicht nur und gene-
rell um Verfolgung eines Schönheitswahns, wir haben es
mit einer schwerwiegenden psychischen Krankheit zu
tun, die die jungen Menschen im Kampf gegen den eige-
nen Körper beherrscht. Letztendlich liegt der Zunahme
der Magersucht ein gesellschaftlicher Wandel zugrunde,
der weit über ein überzogenes Schönheitsideal hinaus-
geht. Dies zeigt sich zum einen durch eine ständige Ver-
fügbarkeit von Nahrung einerseits und den Verlust an Re-
gulation durch gemeinsame Familienmahlzeiten zum
anderen. Die familiären Strukturen und die soziale Ein-
bettung von Kindern und Jugendlichen gehen zunehmend
verloren. Zudem beruhen Essstörungen im Kern immer
auf einer Schwächung des Selbstwertgefühls. Das Selbst-
wertgefühl in diesem Umfeld speist sich zunehmend aus
externalen Bewertungen. Das Gefühl für den eigenen
Körper wird ersetzt durch die Bewertung der Figur und
die Gesamtheit menschlicher Fähigkeiten durch die Be-
wertung einzelner Leistungen. Die Experten sehen die
Herausbildung von chronischen Krankheiten – dazu zäh-
len Magersucht und andere Essstörungen – immer im Zu-
sammenhang mit sozialem Status und Bildung. Die Ex-
perten sprechen von multifaktoriellen Ursachen für
Essstörungen. Deshalb müssen auch die Maßnahmen auf
dieses multifaktorielle Krankheitsbild zugeschnitten sein.
In der Anhörung am 13. Mai wurde insgesamt von den
Experten bestätigt, dass insbesondere innerhalb der Ge-
sundheitsberufe eine große Sensibilisierung der Mitar-
beiter stattgefunden habe. Es gibt auch sehr gute Ange-
bote von Beratungsstellen, die oft sehr professionell sind
und über Medien/Internet gut erreichbar sind. Das Pro-
blem liegt häufig bei den Betroffenen selbst. Betroffene
würden zu spät auf Beratungsangebote zugehen. In eini-
gen Regionen fehlen allerdings auch ausreichende Be-
ratungs- und Therapieangebote. Wenn eine Patientin
deshalb viele Monate warten muss, bis sie einen Thera-
pieplatz bekommt, ist das sicher nicht hinnehmbar. Die
Zu Protokoll
nicht rechtzeitige Inanspruchnahme der Hilfsangebote
durch die Risikogruppen wurde von den Experten als Pro-
blem angesehen.
Die Kampagne „Leben hat Gewicht“ der drei Minis-
terien Gesundheit, Familie, Bildung ist, das haben die
Sachverständigen bestätigt, ein guter Einstieg, das Pro-
blem bekannt zu machen und auf Informationsmöglich-
keiten und Hilfe hinzuweisen. Gleichzeitig wurde der
13. Kinder- und Jugendbericht „Mehr Chancen für ge-
sundes Aufwachsen – gesundheitsbezogene Prävention
und Gesundheitsförderung“ gelobt, insbesondere weil
hier auf die Ganzheitlichkeit von Familie, Gesundheit
und Bildung abgezielt wird.
Ich möchte an dieser Stelle besonders das Engagement
von Professor Mayer von der Klinik Hochried hervorhe-
ben. Er weist auf die Wichtigkeit der Vernetzung der In-
stitutionen Jugendamt, Schule und Arzt vor Ort hin. Ihm
ist es durch persönliches Engagement gelungen, diese
Vernetzung so auszugestalten, dass eine optimale Zusam-
menarbeit auf kommunaler Ebene stattfinden kann. Hier
ist der Transport von der Ministerebene auf die kommu-
nale Ebene in hervorragender Weise gelungen. Ich
wünschte mir, dass dieses Modell Nachahmer findet.
Insgesamt habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir
durch die Kampagne „Leben hat Gewicht – gemeinsam
gegen den Schlankheitswahn“, erstmals gestartet im De-
zember 2007, also etwa zeitgleich mit dem heute bespro-
chenen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ei-
niges hinsichtlich Sensibilisierung und Vorbeugung
gegen Magersucht bewirkt haben. Die Initiative setzt sich
zusammen mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen
– auch Modewelt und Medien sind mit einbezogen – für
Prävention und Aufklärung ein. Insbesondere Erzie-
hende, Ärzte und vor allem Eltern müssen in der Lage
sein, Warnsignale zu deuten und so früh wie möglich ge-
zielt gegenzusteuern. Hierbei helfen leicht zugängliche
Informationen über das Krankheitsbild ebenso wie gute
Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Gleichzeitig gilt
es, die Medienkompetenz der Kinder und Jugendlichen zu
stärken und gegen extreme Internetseiten vorzugehen.
Dies wurde uns von der Sachverständigen von jugend-
schutz.net anschaulich bestätigt. Hier bietet uns das Ju-
gendschutzgesetz ausreichend Möglichkeiten, jugendge-
fährdende Seiten schließen zu lassen. jugendschutz.net
sorgt dann gleichzeitig dafür, dass die betroffenen Mäd-
chen nicht allein gelassen werden, sondern Hilfsangebote
wahrnehmen können, sodass diese sogenannten Pro-
Ana-Seiten zur Platzhalterseite für Hilfs- und Beratungs-
angebote umgewandelt werden.
Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend hat das Thema in verschiedenen Maßnahmen
querschnittsmäßig aufgenommen und über das Bundes-
gesundheitsministerium stehen unter anderem Internet-
adressen und andere Beratungsangebote zur Verfügung.
Das Bundesbildungsministerium hat zudem – wie im An-
trag der Grünen gefordert – Gelder über 7 Millionen
Euro zur Entwicklung von Leitlinien und für weitere For-
schung zur Verfügung gestellt. Die Experten haben uns
bestätigt, dass es mittlerweile gelungen sei, mit allen Be-
teiligten, also mit Medizinern, Psychologen und Pädago-
25296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Elisabeth Winkelmeier-Becker
gen zusammen, Leitlinien zu entwickeln, die auch in der
Praxis implementiert werden können.
Abschließend möchte ich noch kurz etwas sagen zum
Brief der Chefredakteurin der britischen „Vogue“ an die
führenden internationalen Designer, in dem sie die De-
signer aufruft, umzudenken. Dass sich die Chefredakteu-
rin des einflussreichsten Modemagazins so deutlich ge-
gen viel zu kleine Kleidergrößen äußert, sehe ich als
Hoffnungszeichen, dass auch vonseiten der Medien Ein-
fluss ausgeübt werden kann.
Ich denke, dass vonseiten der Bundesregierung und
auch vonseiten des Gesetzgebers die wesentlichen Hand-
lungsempfehlungen umgesetzt worden sind. Die Exper-
tenanhörung hat uns gezeigt, dass Magersucht und
Essstörungen immer auch im Kontext mit gesamtgesell-
schaftlicher Entwicklung zu sehen und zu behandeln sind.
Mit den genannten Initiativen und Maßnahmen sind
wir meines Erachtens auf einem richtigen Weg. Darüber
hinaus sehe ich im Augenblick keinen konkreten Hand-
lungsbedarf für den Bundesgesetzgeber. Wir sind aber gut
beraten, wenn wir dieses Problem weiter im Auge behal-
ten und uns nach einiger Zeit nochmals genau ansehen,
ob die bisherigen Maßnahmen, unter anderem die Selbst-
verpflichtung der Modebranche und die Kampagne „Le-
ben hat Gewicht“ mit ihren verschiedenen Ansätzen bei
Forschung, Prävention und konkreten Hilfen zur Lösung
des Problems tatsächlich beitragen können.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Es ist ein Verdienst dieses Antrags, dass er den Impuls
gegeben hat, sich auch im Parlament mit dem Thema Ess-
störungen zu befassen.
Verharmlosungen, wenn es um die Gesundheit junger
Menschen geht, sind unbedingt zu vermeiden. Die dank
dem Antrag zustande gekommene Anhörung mit namhaf-
ten Expertinnen und Experten hat gezeigt, wie komplex
das Thema ist. Kausale Schuldzuweisungen greifen zu
kurz. Eine Verteufelung der Medien oder der Modeindus-
trie bringt uns nicht weiter. Familie, Schule und soziales
Umfeld sind sowohl hinsichtlich der Anfälligkeit für eine
Essstörung maßgeblich als auch für die Erfolgssaussich-
ten im Falle einer Therapie nach Ausbruch der Krank-
heit.
Eine besonders interessante Erkenntnis, die ich aus
der Anhörung gewonnen habe, betrifft die Heilungschan-
cen der Magersucht. Hat die Krankheit vor wenigen Jah-
ren noch als unheilbar gegolten, geht man inzwischen da-
von aus, dass ein Drittel der Betroffenen geheilt werden
kann, ein Drittel ist stark rückfallgefährdet, und einem
weiteren Drittel kann leider nicht geholfen werden. Aus
der Anhörung ging auch hervor, dass die Mitwirkung der
Eltern bei der Therapie von zentraler Bedeutung ist.
Was kann nun die Politik tun? Wir sollten nicht so ver-
messen sein zu glauben, wir könnten da allein mit Geset-
zen etwas tun. Wir können auf das Thema aufmerksam
machen und wir können Rahmenbedingungen schaffen.
Und Initiativen und Kampagnen starten. Insbesondere
das Gesundheitsministerium – namentlich die Ministerin
Ulla Schmidt – arbeitet hier vorbildlich.
Zu Protokoll
Die Kampagne „Leben hat Gewicht“, die vom Ge-
sundheitsministerium, dem Familienministerium und dem
Verbraucherschutzministerium gemeinsam im Dezember
2007 ins Leben gerufen wurde, hat schon eine Vielzahl
der Forderungen des Antrags erfüllt. In ihr engagieren
sich Persönlichkeiten aus Politik, der Mode-, Werbe- und
Medienbranche, der Medizin und Wissenschaft sowie Be-
troffenenverbände. Das BMG hat eine Vielzahl von Ak-
tionen gestartet. Diese reichen von Jugendevents über
Fachkongresse bis hin zur telefonischen Beratung und
der Einrichtung einer eigenen Internetseite.
In Zusammenarbeit mit dem Verbraucherschutzminis-
terium hat das Gesundheitsministerium im Juni 2008 „IN
FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung
und mehr Bewegung“ gestartet. Dieser Nationale Ak-
tionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewe-
gungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängen-
den Krankheiten wurde gemeinsam mit Ländern und
Kommunen erarbeitet. Doch solange in allen Bereichen
des täglichen Lebens ein für die allermeisten unerreich-
bares Schönheitsideal des Schlankseins vorherrscht, wer-
den wir auch mit den besten Kampagnen und Aktionen
nicht so viel erreichen können, wie wir das gerne möch-
ten.
Dieses übersteigerte Schlankheitsideal lässt sich auf
alle Alltagssituationen herunterbrechen. Dicke oder auch
nur nicht ganz schlanke Menschen werden oft mit Vorur-
teilen konfrontiert, herablassend behandelt. In jeder Zeit-
schrift gibt es Diäten; im Fernsehen sind alle dünn. Wenn
nun Mädchen, und noch immer sind es in der großen
Mehrheit Mädchen, die Essstörungen entwickeln, sich
üblicherweise in der schwierigen Zeit der Pubertät in-
frage stellen, dann ist es heute leider völlig normal, dass
sie ihren Selbstwert in einem kausalen Zusammenhang
mit ihrem Aussehen und ihrem Körpergewicht sehen.
Es geht darum, jungen Mädchen zu ermöglichen, ein
positives Selbstbild zu entwickeln und klarzustellen, dass
dies unabhängig vom Körpergewicht ist. Der Wert eines
Menschen bemisst sich nicht nach seinem Aussehen und
schon gar nicht nach seinem Körpergewicht. Dünne Men-
schen sind auch nicht schöner als dicke. Diese eigentlich
banale Erkenntnis setzt sich hoffentlich bald in der Ge-
sellschaft durch.
Die Politik kann hier nur Rahmenbedingungen setzen
und auf Eltern, Schule und Medien hoffen, dass endlich
ein Umdenken stattfindet, dem Schlankheitswahn ein
Ende gesetzt wird und eine Atmosphäre entsteht, in der
sich die jungen Menschen gesund entfalten können. Hof-
fentlich haben wir dazu ein paar Anstöße geben können.
Ina Lenke (FDP):
Anorexia Nervosa – die erzwungene Appetitlosigkeit –
ist ein wachsendes gesundheitliches Problem in unserer
Gesellschaft. Es ist gut, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Thema zur Sprache bringt.
Die Krankheit Magersucht ist mehr als ein Randgrup-
penproblem. Denn die Bedeutung des superschlanken
makellosen Körpers hat sich zu einem gesellschaftlichen
Schönheitsideal gewandelt. Junge Mädchen glauben, sie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25297
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Ina Lenke
müssten einem fiktiven Schönheitsideal nacheifern, um
erfolgreich und beliebt zu sein. Dass die Fotos in den Me-
dien mit großem technischen Aufwand retuschiert wer-
den, sagt ihnen niemand. Aus einer anfänglich vermeint-
lich harmlosen Diät kann schnell eine zwanghafte Sucht
nach dem perfekten Körper werden. Dies darf nicht igno-
riert werden.
Nicht nur das gesellschaftlich etablierte Schönheits-
ideal ist ein Auslöser für massive Essstörungen. Vielmehr
ist es das Zusammenspiel psychisch-körperlicher Pro-
bleme und des übertriebenen Schönheitsideals, das diese
Krankheit entstehen lässt. Das ständige Bemühen,
schlank zu sein und nicht „dick“ zu werden, fungiert hier
als Kontrollinstrument des eigenen Lebens und des All-
tags.
Welche Folgen hat das für die überwiegend weiblichen
Betroffenen? Magersucht ist die dritthäufigste chronische
Erkrankung im Jugendalter bei Mädchen, jedes 100. bis
200. Mädchen ist betroffen; Magersucht hat die höchste
Sterblichkeit von allen seelischen Erkrankungen, 10 bis
15 Prozent überleben die Krankheit nicht; Magersucht
hat gravierende Konsequenzen, 25 Prozent der Betroffe-
nen werden keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können;
es bestehen schlechte Heilungschancen, und es treten
Zwangs- und Angsterkrankungen, Depression und Pho-
bien auf.
Wenn die Erkrankung verharmlost und ignoriert wird,
hat das für die Erkrankten verheerende Folgen. Durch
rechtzeitiges Gegensteuern und frühzeitige Hilfen kann
den Mädchen und den Jungen geholfen werden. Große
Verantwortung tragen die Eltern. Sie müssen genau hin-
schauen, wenn ihr Kind auffällig an Gewicht verliert und
nur noch wenig isst.
Was können wir politisch tun? Neue Therapiestudien
initiieren, die genauen Aufschluss über Heilungsmetho-
den geben; Destigmatisierung von Betroffenen und Ange-
hörigen; Förderung der Früherkennung und Prävention,
das bedeutet konkret, dass medizinisches Fachpersonal
stärker geschult werden muss; Schulung von Erziehern
und Lehrern, um frühzeitig Anzeichen einer Essstörung
zu erkennen und Hilfe anzubieten; Sensibilisierung der
Gesellschaft durch Aufklärung, hier leistet die Bundes-
zentrale für gesundheitliche Aufklärung bereits sehr gute
Arbeit; Aufklärung über die im Internet verbreitete „Pro
-Anaorexia-Bewegung“, die eindeutig zu einer Verharm-
losung und Verherrlichung der Magersucht beiträgt.
Wichtig ist es, so viele Akteure wie möglich ins Boot zu
holen. Die Mode- und Kosmetikindustrie sind in der
Pflicht, ebenso die Werbestrategen, auf die Problematik
aufmerksam zu machen. Der Kosmetikhersteller Unilever
hat mit der Produktlinie „Dove“ gezeigt, dass es funktio-
nieren kann, erfolgreich gegen den Mainstream zu wer-
ben. Statt mit untergewichtigen Models arbeitet der Kon-
zern mit normalgewichtigen Frauen, und das offenbar
mit großem Erfolg.
Aber was ist eigentlich aus der Initiative „Leben hat
Gewicht“ geworden, die im letzten Jahr durch die Minis-
terinnen so werbewirksam vermarktet wurde? Die Forde-
rung der Ministerin Schmidt nach einem Kodex gegen
Zu Protokoll
den Schlankheitswahn für die Modeindustrie ist bislang
ins Leere gelaufen. Nach wie vor sehen die Mode- und
Modelverbände in Deutschland nur einen geringen
Handlungsbedarf für eine Selbstverpflichtung. Sie beru-
fen sich auf firmeninterne Vereinbarungen, die Kollektio-
nen nicht in zu kleinen Konfektionsgrößen zu entwerfen.
Das reicht nicht! Gerade in dieser Woche hat die Chefin
der britischen Modezeitung „Vogue“ der internationalen
Modeindustrie vorgeworfen, die Konfektionsgrößen noch
mehr zu verkleinern, sodass nicht einmal die dünnsten
Models in die Kreationen passen. Die Modeschöpfer soll-
ten dieser fatalen Entwicklung endlich ein Ende machen.
Das sollte Chefsache des deutschen Modedesigners Karl
Lagerfeld werden.
Zum Schluss: Wir wissen, es ist ein Trugschluss
„schlank gleich glücklich“. Wir müssen alle am Ball blei-
ben, dass alle schlankheitsverherrlichenden Medien und
Schlankheitsprodukte kritisch betrachtet werden, stärker
über die Risiken des Magerwahns aufklären. Wir müssen
im familiären Umfeld Warnsignale schneller wahrneh-
men und das Selbstwertgefühl junger Menschen stärken.
Die FDP unterstützt grundsätzlich die Forderungen
des Antrags. An diesen Zielen muss auch in der nächsten
Wahlperiode weiter gearbeitet werden.
Diana Golze (DIE LINKE):
In den vergangenen Jahren hat sich die Rolle, die
krankhafte Essstörungen oder Essstörungen mit Krank-
heitsfolge in der öffentlichen Wahrnehmung spielen, sehr
zugunsten der Betroffenen verändert. Die Anhörung, die
der Familienausschuss zu diesem Thema durchgeführt
hat, machte aber auch eines deutlich: Die Ursachen von
Essstörungen sind vielfältig und nicht ausschließlich in
falschen Vorbildern zu suchen. Maßgeblich ist vielmehr
eine komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen,
psychosozialen und soziokulturellen Faktoren. Aufgrund
dieser vielfältigen Ursachen, die zu Magersucht und Ess-
störungen führen können, bedarf es komplexer Antwor-
ten. Einfache Informationskampagnen und Aufklärung
allein reichen nicht. Doch gerade hierauf setzt der Antrag
der Grünen.
Ihre Forderungen hinsichtlich der Mode-, Werbungs-
und Medienindustrie dürften ähnlich geringe Wirkung
haben. Hier setzen die Grünen auf Sensibilisierung der
Medien und Selbstverpflichtung der Modeunternehmen
und Modelagenturen. Doch die Sensibilisierung der Me-
dien wird so lange ohne nennenswerte Konsequenzen
bleiben, solange immer noch in der Mode-, Werbe- und
Medienindustrie die Möglichkeit besteht, mit Schlank-
heitswahn und Diätangeboten einen höheren Gewinn zu
erzielen. Die Erfahrungen mit Selbstverpflichtungserklä-
rungen zeigen, dass diese nicht ausreichen.
Für Menschen, die von einer Essstörung betroffen
sind, müssen wir den Raum und die Atmosphäre schaffen,
damit sie sich äußern können. Grundsätzlich ist eine an-
gemessene, qualitativ hochwertige und wohnortnahe Ver-
sorgung zu gewährleisten. Hierfür benötigen wir aber
auch mehr verlässliche Daten. Wir wissen beispielsweise
zu wenig darüber, ob sich die Situation von Männern
dramatisch verändert hat. Dies wäre wichtig, um ge-
25298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Diana Golze
schlechtsspezifische Beratungs- und Behandlungsange-
bote weiterentwickeln und ausbauen zu können.
Eine besonders wichtige Bedeutung kommt der Ge-
sundheitsförderung und Prävention zu. Denn die thera-
peutischen Erfolgsaussichten sind nach wie vor gering.
Der größte Teil aller Präventionsprogramme setzt auf
Aufklärung und Information. Doch diese haben nur eine
geringe gesundheitliche Wirkung. Der Alltag und die
Realität der Menschen werden ausgeblendet, die Ursa-
chen nicht angegangen. Längst überfällig ist es, flächen-
deckend Angebote zu verankern. Wichtig sind Ansätze,
die die Lebens- und Sozialkompetenz fördern. Menschen
müssen bereits in jungen Jahren gestärkt werden, damit
sie angemessen auf psychische Belastungen und Anforde-
rungen reagieren können.
Um die Menschen zu erreichen, benötigen wir Kon-
zepte, die in den Lebenswelten der Menschen ansetzen,
also beispielsweise in Kindertagesstätten und Schulen.
Damit diese Ziele erreicht werden, bedarf es eines Prä-
ventionsgesetzes. Dies wäre ein langfristiger, dauerhafter
und flächendeckender Ansatz. Wir bedauern daher sehr,
dass auch in dieser Legislaturperiode das Präventionsge-
setz gescheitert ist, obwohl CDU/CSU und SPD dieses in
ihrem Koalitionsvertrag angekündigt haben; dies vor al-
lem vor dem Hintergrund, dass die Koalitionsfraktionen
ja immer nach den Mitteln, die dem Bund bei dieser
Frage zur Verfügung stehen, gesucht haben. Das hätte ein
wirkungsvolles Gesetz im Sinne der Betroffenen werden
können, wenn es denn gewollt gewesen wäre.
Auch an einer anderen Stelle hätten Sie durchaus
reagieren können, und dies sogar mit der Rückendeckung
des Bundessozialgerichtes. Denn aus der Anhörung
konnte man mitnehmen, dass zur Prävention von Ess-
störungen vor allem gemeinsames und gesundes Essen
und eine entsprechende Esskultur sehr wichtig sind. An
dieser Stelle hätten Sie dafür sorgen können, dass allen
Kindern und allen Familien ein gesundes Essen möglich
gemacht wird. Unsere Forderung an Sie lautet: Gestalten
Sie den Kinderregelsatz endlich so, dass auch die Fami-
lien im ALG-II-Bezug ohne Not für ihre Kinder ein gesun-
des, abwechselungsreiches und ihren Entwicklungspha-
sen entsprechendes Essen kaufen bzw. zubereiten können.
Helfen können Sie zum Beispiel auch, indem Sie die
Mehrwertsteuer für Schulessen von 19 Prozent wieder auf
7 Prozent senken. Die Briefe, die im Januar dieses Jahres
in die Briefkästen vieler Familien flatterten, brachten
dort nicht nur Unmut, weil durch die Maßnahme des Bun-
desfinanzministers das Familienbudget, das ohnehin
schon klamm ist, noch mehr strapaziert wird. Sie brach-
ten auch Unmut, weil damit genau dieses wichtige Essen
für Kinder, insbesondere für Kinder aus finanziell nicht so
gut gestellten Familien, immer weniger bezahlbar wird.
Den Initiativen, die mit ihren Kampagnen für mehr Be-
wusstsein für gesundes Ernährungsverhalten werben und
ja auch von den Koalitionsfraktionen eingeladen wurden,
müssen solche Handlungen wie einen Schlag ins Gesicht
empfinden. Warmes, gesundes und regelmäßiges Mittag-
essen ist besonders für Kinder und Jugendliche und ihre
Entwicklung bzw. ihre Gesundheit wichtig. Der Weg zu ei-
nem kostenlosen Mittagessen sieht anders aus.
Zu Protokoll
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Die Ursachen einer Essstörung sind vielfältig. Aber
wir wissen, dass neben biologischen, psychosozialen und
soziokulturellen Faktoren das gesellschaftliche Schön-
heitsideal eine wichtige Rolle spielt. Körperliche Attrak-
tivität ist gerade für Frauen ein wesentliches Attribut.
Vorbild sind hier häufig die extrem dünnen Models aus
Mode und Werbung. Magersucht ist eine Frauenkrank-
heit: Sie betrifft zu über 90 Prozent Mädchen und junge
Frauen und nur selten junge Männer. Doch auch bei Jun-
gen findet mehr und mehr ein körperbezogener Normie-
rungswahn statt.
Wenn wir alle körperlichen und seelischen Krankhei-
ten vergleichen, ist Magersucht die dritthäufigste chroni-
sche Erkrankung im Jugendalter. Magersucht hat mit
10 bis 15 Prozent die höchste Sterblichkeit von allen psy-
chischen Erkrankungen. Diese Krankheit ist nicht auf die
Jugendzeit begrenzt. Die Konsequenzen für die Betroffe-
nen sind auch in den folgenden Jahren, manchmal ein Le-
ben lang, gravierend. Neueste Untersuchungen aus
Schweden zeigen, dass 25 Prozent der Magersüchtigen
später aufgrund von seelischen Problemen erwerbslos
sind.
National wie auch international gibt es viel zu wenige
Therapiestudien. Auch die Forscherinnen und Forscher
wissen bisher nicht, wie sie der Krankheit ausreichend
begegnen können. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass
langfristige Studien kontinuierlich finanziert werden.
Zurzeit wird sehr viel Geld für die Altersforschung aus-
gegeben. Auch wenn die Gruppe der alten Menschen im-
mer größer wird, brauchen wir neben der Altersfor-
schung auch verstärkt Gesundheitsforschung für Kinder
und Jugendliche.
Die Folgen der Magersucht sind auch im Erwachse-
nenalter zu spüren: Seelische Erkrankungen, Depressio-
nen, Angst- und Zwangserkrankungen, aber auch körper-
liche Beeinträchtigungen wie Osteoporose sind typische
Spätfolgen. Ärztinnen und Ärzte sowie Personen aus an-
deren Gesundheitsberufen müssen stärker geschult wer-
den. Obwohl viele Betroffene in medizinischer Behand-
lung sind, wird oftmals das Lebensbedrohliche der
Störungen nicht erkannt.
Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, pädagogische Fach-
kräfte in der Kinder- und Jugendarbeit müssen besser in-
formiert werden. Auch hier gibt es Forschungsbedarf.
Wie können die Betroffenen und ihr soziales Umfeld rich-
tig angesprochen werden? Frontalveranstaltungen in der
Schule sind nach aktueller Kenntnis eher kontraproduktiv
als hilfreich. Wir brauchen mehr Forschung zu Präven-
tion und Therapie. Gezielte Präventionsarbeit kann im
besten Fall das Schlimmste verhindern. Sie muss recht-
zeitig bei den Mädchen ansetzen, die ein niedriges Selbst-
wertgefühl haben. Denn diese sind besonders gefährdet,
später eine Essstörung zu entwickeln. Eine frühe Behand-
lung kann hier von entscheidender Bedeutung sein.
Im Bereich der Therapie wurde bereits vielfach von
der stationären stärker auf die tagesklinische Behand-
lung umgestellt. Dadurch können auch Familien besser
einbezogen werden. Aber der Bedarf ist größer. Hierfür
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25299
gegebene Reden
25300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Irmingard Schewe-Gerigk
sind neue Konzepte erforderlich, wie sie beispielsweise
von Professor Herpertz-Dahlmann am Universitätsklini-
kum Aachen entwickelt wurden.
Die vom Frauenministerium initiierte Kampagne
„Leben hat Gewicht“ war ein erster Schritt, um der Ge-
sellschaft zu zeigen, dass die Politik die Krankheit
Magersucht ernst nimmt. Damit effektive Behandlung
und Forschung möglich sind, müssen sich zukünftig nicht
nur die beteiligten Ministerien besser vernetzen, sondern
auch die Akteurinnen und Akteure auf der Arbeitsebene.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie auf
eine Selbstverpflichtung der Modeunternehmen und Mo-
delagenturen hinwirkt, keine Verträge mit untergewichti-
gen Models abzuschließen und diese nicht in ihre Kar-
teien aufzunehmen. Diese Maßnahme dient nicht zuletzt
dem Schutz der Models. Magersüchtige Models gehören
nicht auf den Laufsteg, sondern in eine Therapie.
Es ist in den letzten zehn Jahren gelungen, die Sterb-
lichkeit bei Magersucht zu senken. Dies ist ein Ergebnis
der verbesserten Vorgehensweise bei dieser Erkrankung.
Die Investition in die Forschung zeigt also bereits Fort-
schritte bei der Behandlung und der Genesung. Darauf
dürfen wir uns aber nicht ausruhen. Es ist dringend er-
forderlich, kontinuierlich und dauerhaft die Krankheit
Magersucht zu erforschen. Die Politik muss die Verant-
wortung hierfür mit tragen. Ich fordere Sie daher auf, un-
seren Antrag zu unterstützen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/13418, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/7458 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür hat die Koalition gestimmt, dagegen
Bündnis 90/Die Grünen und die FDP. Die Linke hat sich
enthalten.
Zusatzpunkt 9:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Gesamt-
energieeffizienz von Gebäuden (Neufassung)
(inkl. 15929/08 ADD 1 bis 15929/08 ADD 7)
(ADD 1 und ADD 3 bis ADD 7 in Englisch)
KOM(2008) 780 endg.; Ratsdok. 15929/08
– Drucksachen 16/12188 Nr. A.26, 16/13412 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Uwe Vogel
Es wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu ge-
ben. – Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-
gen Volkmar Uwe Vogel, Rainer Fornahl, Patrick
Döring, Heidrun Bluhm, Peter Hettlich und Karin
Roth.1)
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13412, in Kenntnis der Unterrichtung
durch die Bundesregierung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen bei Zustimmung der Koalition und
der FDP. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Tagesordnungspunkt 46:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue effiziente Strukturen in der Arbeitsver-
waltung – Auflösung der Bundesagentur für
Arbeit
– Drucksachen 16/2684, 16/12353 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Paul Lehrieder, Katja Mast, Dirk Niebel, Kornelia
Möller und Brigitte Pothmer haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Seit Jahren ist es Ihr Ziel, die Bundesagentur für Ar-
beit aufzulösen, liebe Kollegen von der FDP. Das hat sich
bei Ihnen fast schon zu einer manischen Idee entwickelt.
Stattdessen wollen Sie eine Agentur, die nur noch das Ar-
beitslosengeld auszahlt, und Jobcenter, die eine umfas-
sende Betreuung gewährleisten und alle Kompetenzen,
die zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit notwendig
sind, koordinieren sollen.
Gerade beim Übergang vom SGB-III-Bezug in den
SGB-II-Anspruch ist die Kenntnis der Agentur hinsicht-
lich der Vermittlungsmöglichkeiten insbesondere in über-
regionaler Hinsicht bei dem Vorschlag der FDP nicht
mehr gewährleistet. Gerade die bundesweite Vernetzung
der Agenturen für Arbeit und die in vielen Vermittlungs-
fällen gezeigte Mobilität der Bewerber würde beim Mo-
dell der FDP eine Vielzahl von Potenzialen und Vermitt-
lungschancen schlicht brachliegen lassen.
Ihre Aufgaben erledigt die Bundesagentur für Arbeit
bereits jetzt sehr kompetent. Wir müssen dabei immer be-
denken, dass wir es bei der Umstrukturierung der Ar-
beitsverwaltung mit einem tiefgreifenden Systemwandel
zu tun haben. Die Bundesagentur mit ihrer neuen Struktur
braucht vor allem Zeit, sich zu bewähren. Sie taugt nicht
als Projektionsfläche für Ihre Kritik an der Arbeitsmarkt-
politik der Bundesregierung.
Der Umbau der Arbeitsverwaltung zur heutigen Bun-
desagentur für Arbeit hat im Januar 2004 begonnen. Aus
1) Anlage 40
(A) (C)
(B) (D)
Paul Lehrieder
einer Bundesbehörde mit festgefahrenen Strukturen hat
sich eine Serviceagentur entwickelt, die auf die Bedürf-
nisse der von ihr zu betreuenden Kunden ausgerichtet ist.
Auch der Bericht zur Evaluierung der Hartz-Gesetze
kommt zu dem Schluss, dass Transparenz, Effizienz und
Wirtschaftlichkeit der Arbeit der BA deutlich gesteigert
wurden. Im Zentrum der BA-Reform stand das Modell des
Kundenzentrums, das den Kundenstrom in den Arbeits-
agenturen systematisch steuern und die Beratungs-
leistung verbessern soll. Tatsächlich wurde die Vorgabe,
mindestens 60 Prozent der arbeitnehmerorientierten Ver-
mittlungskapazitäten für Beratungsgespräche bereitzu-
stellen, dem Bericht zufolge bereits im März 2006 fast er-
reicht.
Um die Arbeitsabläufe flüssiger zu gestalten und die
Kundenzufriedenheit zu steigern, hat die Bundesagentur
für Arbeit zudem 52 Servicecenter eingerichtet, die sich
mit den Problemen der Bürger auseinandersetzen. Da-
durch werden bei den Vermittlern Kapazitäten frei, die für
die Integration der Kunden in den Arbeitsmarkt zur Ver-
fügung stehen. Die 3 000 Mitarbeiter der Servicecenter
nehmen die telefonischen Anfragen für 480 Arbeitsagen-
turen auf und leisten damit einen besseren und schnelle-
ren Dienst, als wenn jeder Arbeitsuchende bei seiner zu-
ständigen Agentur anrufen müsste wie früher. Damals
mussten BA-Kunden mehrmals versuchen, um ihre Ar-
beitsagentur direkt zu erreichen.
Die von der FDP geforderte Zerlegung und Kommu-
nalisierung der BA hingegen bringt weder eine höhere
Effizienz, noch hilft sie, die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Erfahrungen in den Niederlanden und Großbritannien
haben gezeigt, dass für eine volkswirtschaftlich effiziente
Ausgestaltung der Arbeits- und Sozialverwaltung eine
einheitliche Anlaufstelle dringend geboten ist. Für die
Steuerungsfähigkeit der Arbeitsmarktpolitik der öffentli-
chen Hand ist eine zentrale Einheit notwendig. Auch der
Deutsche Städte- und Gemeindebund ist der Auffassung,
dass die Kommunen einen Großteil der Aufgaben der BA
nicht ersetzen könnten.
Sie werden mir sicherlich zugestehen, dass der Umbau
der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur im Zuge
der Arbeitsmarktreformen eine so notwendige wie an-
spruchsvolle Angelegenheit war. Dass nicht immer alles
so läuft, wie wir uns das vielleicht wünschen, liegt auf der
Hand. Aber wir haben es mit einem lernenden System zu
tun.
Aus diesem Grund hat die Bundesregierung auch das
Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente auf den Weg gebracht, das am 5. Dezember
2008 gegen die Stimmen der Opposition von der Mehrheit
des Deutschen Bundestages angenommen wurde.
Wenn Sie es mit Ihrer Forderung, die Arbeitsverwal-
tung effektiver zu gestalten, wirklich ernst meinen wür-
den, wären Sie damals über Ihren Schatten gesprungen
und hätten mit uns gestimmt. In Ihrem Antrag beklagen
Sie schließlich auch eine unübersehbare Fülle arbeits-
marktpolitischer Instrumente.
Genau darum ging es der Bundesregierung in ihrem
Gesetz: die Bundesagentur für Arbeit schlagkräftiger
Zu Protokoll
aufzustellen, gerade weil wir nicht wissen, wie sich die
Finanz- und Wirtschaftskrise letztlich auf den Arbeits-
markt auswirken wird. Ziel des Gesetzes ist, vorhandene
Instrumente, sofern sie unwirksam sind, abzuschaffen.
Dazu gehören zum Beispiel die Jobrotation, der Einglie-
derungszuschuss bei Neugründungen, der Arbeitgeberzu-
schuss zur Ausbildungsvergütung und vieles andere mehr.
Bereits zuvor hat die Bundesregierung die Arbeitsagentu-
ren von der Pflicht entbunden, Personal-Service-Agentu-
ren einzurichten. Auch die Regelung zur Ich-AG lief be-
reits zum 30. Juni 2006 aus. Stattdessen hat die
Bundesregierung in Verbindung mit dem Überbrückungs-
geld ein neues Instrument, den Gründungszuschuss, ge-
schaffen, das die Zielgruppe erreicht, die es erreichen
soll.
Andere Instrumente wiederum haben sich bewährt. Sie
werden fortentwickelt und zum Beispiel im Vermittlungs-
budget zu einem neuen Instrument zusammengefasst. Da-
mit verfolgen wir keinen Selbstzweck. Wir reduzieren die
Zahl der Instrumente nur, um dem Ziel näher zu kommen,
die Vermittlung zu verbessern und den Arbeitsuchenden
noch wirksamer helfen zu können.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetz den Ar-
beitsvermittlern vor Ort zudem mehr Entscheidungsspiel-
raum eingeräumt. Hier wird das Vermittlungsbudget eine
zentrale Rolle einnehmen. Mit ihm wird eine ganze Reihe
von Leistungen zusammengefasst, die bisher in einer
Reihe von Einzelvorschriften geregelt wurden. Natürlich
ist die Zentrale in Nürnberg gut beraten, die neuen Hand-
lungsspielräume ihrer Arbeitsvermittler auch zuzulassen.
Dann werden diese dem einzelnen Arbeitsuchenden auch
etwas anbieten können, was genau zu ihm passt. Natür-
lich wird der Vermittler nur dann erfolgreich sein, wenn
der Arbeitsuchende selbst zu eigenen Anstrengungen be-
reit ist. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ wird auch in
Zukunft zentral für uns sein.
Außerdem wollen wir mit dem Gesetz zur Neuausrich-
tung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erreichen,
dass die Mittel der BA wirtschaftlich eingesetzt werden
und dass mit dem Geld der Beitragszahler verantwor-
tungsvoll und sorgsam umgegangen wird.
So wird die BA in die Lage versetzt, ihren arbeits-
marktpolitischen Aufgaben noch besser nachzukommen.
Sie werden schon bemerkt haben, liebe Kollegen von den
Liberalen: Unsere Reform der Arbeitsverwaltung ist ge-
tragen von den Prinzipien Freiheit und Verantwortung –
Freiheit für die Arbeitsvermittler, um vor Ort passgenau
helfen zu können, und die Verantwortung, die die BA für
die verausgabten Mittel, aber auch für jeden Einzelnen
der von ihnen zu vermittelnden Kunden trägt. Wir gehen
einen Weg, der nicht über die Leiche der BA führt, son-
dern sie zu einem schlagkräftigen Instrument der Arbeits-
marktpolitik macht, und ich hoffe, dass Sie ihn eines Ta-
ges mitgehen werden.
Katja Mast (SPD):
Unliebsame Erfahrungen mit Behörden wie der Ar-
beitsagentur hat jeder von uns schon gemacht. Deswegen
gleich deren Abschaffung zu fordern, ist populistisch. Auf
diesen Zug springt jedoch die FDP aus ganz durchsichti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25301
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Katja Mast
gen Gründen. Beschäftigt man sich mit den möglichen Al-
ternativen zur Bundesagentur für Arbeit, so wird schnell
deutlich: Mit der einfachen Forderung nach einer Ab-
schaffung ist es nicht getan, zumal die FDP keine echte
Antwort für die Beschäftigten gibt.
Die FDP beispielsweise will an die Stelle einer Be-
hörde gleich mehrere setzen. Ein solcher Vorschlag ge-
rade von den selbst ernannten Kämpfern für weniger Bü-
rokratie ist schon sehr erstaunlich. Mehr Bürokratie, ein
erheblicher Verwaltungsaufwand und unzählige Abstim-
mungsprozesse wären vielmehr die Folge. Auch zeigen
ausländische Erfahrungen mit einer Privatisierung der
Arbeitslosenversicherung, dass sich so Kosten nicht ein-
sparen lassen. Und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
taugt eine reine Organisationsreform auch nicht.
Bisher konnte mir auch noch niemand schlüssig erklä-
ren, wieso eine Abschaffung der Bundesagentur für Ar-
beit und eine Übertragung ihrer Kompetenzen alleine auf
die örtliche Ebene die Lösung sein soll. Fakt ist, dass die
Betroffenheit von Hilfebedürftigkeit und Langzeitarbeits-
losigkeit regional sehr stark variieren. Kommunen in
strukturschwachen Gebieten würden den Problemen al-
leine nicht Herr werden. Soziale Brennpunkte würden
sich selbst überlassen. Eine Entsolidarisierung der Re-
gionen wäre das Ergebnis. Selbstverständlich sind die
Kommunen aufgrund ihrer Problemnähe ein wichtiger
Akteur. Richtig ist aber auch, dass diese naturgemäß nur
einen lokalen Marktüberblick haben können. Die Vermitt-
lung von Arbeitskräften in andere Regionen setzt ein zen-
trales Netzwerk mit großen Ressourcen voraus.
Die Verfassung gibt der Politik vor, einheitliche Le-
bensverhältnisse sicherzustellen. Nur eine Bundesagen-
tur für Arbeit kann überregional vermitteln und Arbeits-
losen in der ganzen Republik einheitliche Rechte und
Pflichten garantieren. Ingenieure in Cottbus müssen von
Stellenangeboten in Stuttgart wissen. Jugendliche ohne
Schulabschluss müssen überall das Recht auf Qualifizie-
rung haben. Alleinerziehende müssen eine Anlaufstelle
für Geldleistungen, Beratungen und Kinderbetreuung ha-
ben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die ideologi-
schen Grabenkämpfe der Verfechter einer Zerschlagung
der Bundesagentur nicht weiterhelfen. Man muss nicht
gleich das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man ihm
helfen will.
Wir haben mit den Gesetzen für moderne Dienstleis-
tungen am Arbeitsmarkt einen anderen Weg beschritten.
Wir bauen die Bundesagentur für Arbeit zu einem moder-
nen Dienstleister am Arbeitsmarkt um. Unser politisches
Ziel ist es, aus ihr die weltbeste Arbeitsvermittlung zu ma-
chen. Sie erhält eine neue Struktur, und wir stärken den
Handlungsspielraum der Akteure vor Ort, so beispiels-
weise durch das Vermittlungs- und Aktivierungsbudget,
das wir in dieser Legislaturperiode neu eingeführt haben.
Gleichzeitig haben wir das Recht so vereinfacht, dass die
Mitarbeiter mehr Zeit für die Menschen haben und sich
weniger um Verwaltung kümmern müssen. Und wir ver-
meiden die Nachteile einer Zerschlagung. Unser Ziel ist
eine Bundesagentur, die erster Dienstleister am Ort für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber
Zu Protokoll
ist. Wir haben dieses Ziel noch nicht erreicht, befinden
uns aber auf einem guten Weg. Wenn es nach der SPD-
Bundestagsfraktion gegangen wäre, hätten wir auch noch
in dieser Legislaturperiode die Neustruktur der Jobcen-
ter beschlossen.
Bedauerlich ist, dass die Diskussion um die beste
Struktur der Agenturen für Arbeit vielfach nicht ehrlich
geführt wird. Oft geht es nur vordergründig um die Neu-
organisation der Bundesagentur für Arbeit. Faktisch sind
jedoch die vollständige Abschaffung der Hilfen für Ar-
beitsuchende und eine Entsolidarisierung der Arbeitslo-
senversicherung gemeint. Das Konzept der FDP ist hier-
für ein schlagender Beweis. Wer beispielsweise die
berufliche Weiterbildung streichen will, muss den Leuten
erklären, wie man den steigenden Anforderungen in der
Arbeitswelt Rechnung tragen will.
Abenteuerlich ist auch die Vorstellung, man könne
über die Einführung von Wahltarifen den Arbeitslosen
besser helfen. Faktisch würde dies jedoch den Abschied
von der solidarisch finanzierten Arbeitslosenversiche-
rung bedeuten. Soziale Kälte wäre das Ergebnis. Wer dies
will, muss dies auch sagen. Alles andere ist unehrlich.
Gerade an dem Beispiel der beruflichen Weiterbildung
lässt sich deutlich machen, welche Risiken mit einem sol-
chen Vorschlag verbunden sind. Von Arbeitslosigkeit be-
troffen sind vor allem Geringqualifizierte. Sie finden
vergleichsweise schwer wieder in das Arbeitsleben.
Gleichzeitig hat dieser Personenkreis fast immer kaum
finanziellen Spielraum für Zusatzversicherungen. Dies
macht deutlich, dass gerade die Schwächsten von Wahl-
tarifen am meisten benachteiligt würden. Damit würde
das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nicht gelöst,
sondern verschärft.
Die FDP gibt keine Antworten auf die drängenden
Zukunftsfragen: Wie können wir die Übergänge von Aus-
bildung, Pflege- und Erziehungszeiten in den Beruf ge-
stalten? Wie können wir lebensbegleitendes Lernen orga-
nisieren, und zwar über die gesamte Lebensspanne?
Wir Sozialdemokraten wollen mehr von unserer Ar-
beitslosenversicherung, nicht weniger wie die FDP. Wir
wollen vorsorgende Arbeitsmarktpolitik, die Bildung und
Qualifizierung fördert und nicht verhindert. In unserem
Regierungsprogramm haben wir mit der Weiterentwick-
lung der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversiche-
rung ein modernes Konzept für das lebensbegleitende
Lernen vorgelegt. Die Arbeitsversicherung reagiert nicht
erst bei Arbeitslosigkeit, sondern davor im Job durch Bil-
dungsangebote. Auch das knüpft an die Arbeitsmarkt-
reformen der Schröder-Regierung an. Die Zukunft liegt in
einer Jobvorsorge für alle zwischen 15 und 67. Der Er-
halt der Beschäftigungsfähigkeit durch neue Chancen des
ständigen Dazulernens ist das Leitbild des SPD-Kon-
zepts.
Unsere Vision von der Zukunft der Bundesagentur für
Arbeit setzt hier an. Denn wenn wir mehr Bildung in der
Arbeitswelt organisieren wollen, brauchen wir einen Ak-
teur vor Ort, der weiß, welche Qualifikation zu einem Job
führt. Das kann die Agentur für Arbeit mit dem Sachver-
stand der Vermittlerinnen und Vermittler, aber auch mit
ihrer lokalen Vernetzung in der Wirtschaft und den Wei-
25302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Katja Mast
terbildungsakteuren. Im Gegensatz zur FDP halten wir
dadurch an unserem Ziel der Vollbeschäftigung fest und
geben gleichzeitig eine zukunftsorientierte Antwort für
die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit.
Zur Finanzierung der Arbeitsversicherung wollen wir
Sozialdemokraten Langzeitkonten nutzen und zusätzliche
Mittel für Bildung bereitstellen. Viele Instrumente der ak-
tiven Arbeitsmarktpolitik, die von uns Sozialdemokraten
eingeführt worden sind, haben den Weg zu diesem Kon-
zept bereitet, beispielsweise das Programm WeGebAU,
bei dem gerade ältere Arbeitnehmer gefördert werden,
der Ausbildungsbonus oder das Recht, den Hauptschul-
abschluss ein Leben lang nachholen zu können. Das alles
sind Bausteine einer vorsorgenden Arbeitsmarktpolitik,
die die FDP privatisieren und damit indirekt abschaffen
will.
Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt doch
eins ganz deutlich: Wir müssen uns durch mehr Bildung
und Ausbildung für die Zukunft rüsten. Wir müssen es
schaffen, den Wohlstand aller durch gute Bildung zu er-
halten. Uns Sozialdemokraten geht es um die Gesell-
schaft und die Arbeit von morgen, um Wohlstand und so-
ziale Sicherheit für das nächste Jahrzehnt. Und deshalb
ist es gut, wenn Sozialdemokraten in der Regierung Ar-
beitsmarktpolitik und Bildungspolitik verbinden.
Dirk Niebel (FDP):
Wir haben seit Jahren gute Gründe, die Auflösung der
Bundesagentur für Arbeit und eine Neuordnung ihrer
Aufgaben zu fordern. Wir erkennen an, dass sich der Vor-
sitzende Frank-Jürgen Weise sehr bemüht hat, seine Be-
hörde zu einem modernen Dienstleister umzustrukturie-
ren und zukunftsfähig zu machen. Man kann es aber
drehen und wenden, es ist ihm nicht gelungen.
Die positive Entwicklung der Arbeitslosenzahlen im
letzten Jahr war durch den konjunkturellen Aufschwung
bedingt. Weder Bundesregierung noch Bundesagentur
haben dazu beigetragen. Noch immer werden zahlreiche
Personengruppen in der offiziell registrierten Arbeitslo-
senzahl nicht aufgeführt. Dazu gehörten bis vor kurzem
die Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
Arbeitslose in Personal-Service-Agenturen, jetzt sind es
immer noch Teilnehmer an Trainings- und Weiterbil-
dungsmaßnahmen, Ein-Euro-Jobber und zuletzt Arbeits-
lose, die von privaten Arbeitsvermittlern betreut werden.
Etwa 1,6 Millionen Menschen werden in beschäftigungs-
politischen Maßnahmen geparkt. Ihre Aussichten auf
Integration in den ersten Arbeitsmarkt und eine sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigung, die sie von Trans-
ferleistungen unabhängig macht, haben sich nicht ver-
bessert.
Die Arbeitslosenstatistik bildet also bei weitem nicht
das Ausmaß der Unterbeschäftigung ab. Wenn ehrlich ge-
rechnet wird, sind es mindestens 5 Millionen Arbeitslose.
Dazu kommt noch die sogenannte stille Reserve
derjenigen, die gern arbeiten würden, aber sich nicht ar-
beitsuchend gemeldet haben. Die Auswirkungen der welt-
weiten Finanzkrise sind auf dem Arbeitsmarkt noch nicht
so spürbar wie befürchtet.
Zu Protokoll
Bei der BA sind im SGB III etwa 37 400 Mitarbeiter im
weiteren Sinn mit der Vermittlung von Kurzzeitarbeitslo-
sen beschäftigt, im engeren Sinn etwa 13 800 Arbeits-
vermittler. Für 2008 beträgt die Vermittlungsquote in
ungeförderte Beschäftigung 11,7 Prozent, das sind
4,6 Arbeitslose pro Person und Jahr im weiteren und
12,4 Arbeitslose pro Arbeitsvermittler und Jahr im enge-
ren Sinn. Das kann man beim besten Willen nicht erfolg-
reich nennen.
Viele Langzeitarbeitslose brauchen eine umfassende
Betreuung und Beratung, um Lösungen für individuelle
Vermittlungshemmnisse zu finden und dann eine Beschäf-
tigung aufnehmen zu können. Sie sind ja nicht ohne
Grund länger als ein Jahr arbeitslos. Aus unserer Sicht
müssen Arbeitslose vorrangig in neue sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung gebracht werden, damit
sie von den Transferleistungen unabhängig werden, und
ihnen soll auch mehr Geld zur Verfügung stehen, als wenn
sie nur Transferleistungen beziehen.
Noch immer wurden viele Mängel, die aus der Einfüh-
rung der Grundsicherung für Arbeitsuchende entstanden
sind, nicht beseitigt. Die erzwungene Kooperation zwi-
schen der BA und den Kommunen funktioniert nicht. Die
Anreize für die Arbeitsaufnahme auf dem ersten Arbeits-
markt sind zu gering. Die Sozialgerichte werden weiter-
hin von Klagen überflutet, bei denen es zum großen Teil
um wenige Euro geht. Die Kosten sind höher als vor der
Einführung des Arbeitslosengeldes II. Die arbeitsmarkt-
politischen Instrumente sollten auf ihre Wirksamkeit
überprüft und auf wenige Maßnahmen reduziert werden,
aber der neue Katalog ist weniger flexibel und deshalb
nicht effizienter als der alte.
Wir haben immer betont, dass aus unserer Sicht die
Kommunen besser in der Lage sind, auf regionale Beson-
derheiten des Arbeitsmarktes zu reagieren und mit indivi-
duellen Problemen umzugehen, als die zentralistisch
organisierte Bundesagentur für Arbeit. Trotz kleiner Er-
folge ist diese Mammutbehörde nach unserer Überzeu-
gung nicht wirklich reformierbar.
Wir fordern einen verantwortungsvollen Umgang mit
den Mitteln der Beitragszahler und eine Anpassung an
die Bedürfnisse der Arbeitslosen, Arbeitgeber und Arbeit-
suchenden. Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt
und die Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigung müssen Vorrang haben.
Wir schlagen vor, die BA aufzulösen und ihre Aufgaben
in einem Dreisäulenmodell neu zu ordnen: in einer Versi-
cherungsagentur, die das Arbeitslosengeld auszahlt und
Wahlfreiheit bei den Tarifen einräumt, in einer kleinen
Arbeitsmarktagentur für überregionale und internatio-
nale Aufgaben, die in einer Datenbank über die Profile
aller Arbeitsuchenden und aller gemeldeten offenen Stel-
len verfügt und damit die Transparenz am Stellenmarkt si-
cherstellt, sowie in kommunalen Jobcentern, in denen die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Dienstleis-
tungsangebot auf die individuellen Problemstellungen
der Arbeitsuchenden, aber auch die Bedürfnisse der Ar-
beitgeber bedarfsgerecht eingehen können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25303
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Dirk Niebel
Nur bei einer Auflösung der BA werden die Vielzahl
von behördeninternen Vorschriften und auch die Selbst-
verwaltung, die ihrer Verantwortung nicht gerecht ge-
worden ist, außer Kraft gesetzt. Dann sind Personalver-
schiebungen möglich, die ansonsten durch arbeits- und
dienstrechtliche Vorschriften verhindert werden. Dabei
soll das Personal im Grundsatz der Aufgabe folgen, da-
mit die erworbenen Kompetenzen nicht verloren gehen.
Die Vermittlung und Qualifizierung von Arbeitsuchenden
kann parallel auch von privaten Anbietern übernommen
werden.
Die klare Trennung zwischen Arbeitslosenversiche-
rung und Vermittlungs- und Qualifizierungstätigkeiten ist
für uns von zentraler Bedeutung. Der Arbeitgeberanteil
zur Arbeitslosenversicherung soll steuerfrei an die Ar-
beitnehmer ausgezahlt werden. Die Leistungen der Versi-
cherungsagentur sollen das Risiko des Einkommensver-
lustes für einen Zeitraum von zwölf Monaten absichern.
Die Arbeitslosenversicherung ist eine reine Risikoversi-
cherung, also eine Art Ausfallbürgschaft der Versicher-
tengemeinschaft zur Sicherung des Lebensstandards für
einen klar begrenzten Suchzeitraum. Eine generelle Ver-
längerung der Bezugszeiten bei langen Beitragszeiten
schafft erneut Anreize zur Frühverrentung. Das wollen
wir nicht, denn je länger die Zeiten der Arbeitslosigkeit
sind, desto schlechter werden die Chancen auf einen
neuen Job. Im Rahmen der vorgesehenen Wahltarife kann
allerdings individuell auf die Bedürfnisse der Versicher-
ten eingegangen werden.
Um Menschen aller Altersstufen besser in den Ausbil-
dungs- und Arbeitsmarkt zu integrieren, braucht
Deutschland eine Steuer-, Wirtschafts-, Tarif- und Ar-
beitsmarktpolitik, die zu mehr Wachstum und damit mehr
Arbeitsplätzen führt. Kontraproduktive Schutzbestim-
mungen, die sich zum Beispiel für ältere Arbeitnehmer in
der Kündigungsschutzgesetzgebung oder auch im Sozial-
gesetzbuch im Hinblick auf den Vorruhestand finden,
müssen deshalb abgebaut werden. Alle Arbeitsuchenden
müssen eine reelle Chance bekommen, am Arbeitsmarkt
zu partizipieren.
Weil wir wollen, dass möglichst viele Menschen ihren
Lebensunterhalt durch eigene Arbeit finanzieren können,
sorgen wir auch für den erforderlichen Rahmen. Das
zeigt einmal mehr: Die FDP ist die Partei der sozialen
Verantwortung.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Der heute zur Debatte stehende FDP-Antrag zeigt ers-
tens: Es ist Wahlkampf! Zweitens: Auf dem Gebiet der Ar-
beitsmarktpolitik gibt es bei den Liberalen seit Jahren ei-
nen Denkstillstand – von konzeptionellen Innovationen
keine Spur! Sogar die einzelnen Formulierungen in ihrem
Wahlprogramm, dem sogenannten Deutschlandpro-
gramm der FDP von Mitte Mai, sind vielfach die gleichen
marktradikalen wie noch vor drei Jahren aus Ihrem An-
trag – und dies, obwohl sich mit der Finanz- und Wirt-
schaftskrise die Rahmenbedingungen für Arbeitsmarkt-
politik gravierend veränderten, das Marktversagen ganz
offensichtlich wurde.
Zu Protokoll
Allerdings ging die FPD damals mit den Hartz-Refor-
men deutlich schärfer ins Gericht. Sie wollte gar eine er-
neute Reform des Arbeitsmarktes. Heute stimmen ihre
Aussagen – aus erklärlichen Gründen – mit denen der
CDU/CDU deutlich stärker überein als damals. Von rigo-
roser Auflösung der Bundesagentur für Arbeit ist – auch
aus Rücksicht auf Wählerinnen und Wähler – kaum noch
die Rede. Nun sollen die Aufgaben der Bundesagentur
Aufgaben in einem wenig praktikablen Dreisäulenmodell
zugeordnet werden.
Geblieben ist mit Blick auf den Wunschkoalitionspart-
ner CDU/CSU das Festhalten an einer Arbeitsmarktpoli-
tik der Sanktionen und viel zu niedrigen Grundsiche-
rungsleistungen. Eine Staffelung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I nach der vorhergegangenen Be-
schäftigungsdauer wird kategorisch abgelehnt. Geblie-
ben ist natürlich die strikte Ablehnung von Mindestlöh-
nen. Mehr Privatisierung und mehr Markt in der
Arbeitsmarktpolitik sowie noch stärkere Beitragssatzsen-
kung bleiben ständige Forderungen der FDP. Leider sind
das genau jene erfolglosen Rezepte, deren bisherige Um-
setzung in Regierungspolitik die krisenhafte Entwicklung
unserer Gesellschaft mit ständiger massenhafter Freiset-
zung von Arbeitskräften vorangetrieben hat. Insofern
kann man die im Antrag zur Schau getragene Sorge um
den Arbeitsmarkt kaum als redliches Anliegen akzeptie-
ren. Das wird auch daran deutlich, dass Sie von den Li-
beralen immer wieder den Eindruck vermitteln, allein mit
Arbeitsmarktpolitik könne man die Arbeitslosigkeit zu-
rückdrängen. Die Erwerbslosigkeit wird 2010 voraus-
sichtlich jene Dimension erreichen, die 2002 Grund für
die unseligen Hartz-Gesetze gewesen ist. Nun kommen
Sie wieder mit den alten Rezepten! Schützenhilfe leistet
dabei die Große Koalition, die sich einer dem Grundge-
setz entsprechenden Organisation der Grundsicherung
bisher verweigert hat. Wenn es die FDP wirklich ernst
meinte mit einem spürbaren Abbau von Arbeitslosigkeit,
insbesondere von Langzeitarbeitslosigkeit, dann müsste
sie in erster Linie an nachhaltiger Beschäftigungspolitik
ansetzen und nicht an der Auflösung der BA. Denn nur
über Beschäftigungspolitik mit Elementen wie Stärkung
der Binnennachfrage, Arbeitszeitverkürzung, Ausbau öf-
fentlicher Dienstleistungen können jene neuen Arbeits-
plätze entstehen, die wir für den Abbau der Erwerbslosig-
keit und zur Zurückdrängung von Armut brauchen. Die
Linke schlägt dazu ein Zukunftsinvestitionsprogramm zur
Sicherung und Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen
mit den Schwerpunkten Bildung, Gesundheit, Umwelt,
kommunale Daseinsvorsorge vor. Erst auf dieser Basis
kann Arbeitsmarktpolitik mit Vermittlung und beruflicher
Weiterbildung sowie ihren spezifischen Instrumenten an-
setzen. Den Begriff „Beschäftigungspolitik“ sucht man
bei der FDP allerdings vergeblich – sowohl im Antrag
wie auch im Wahlprogramm. Schließlich fordert die FPD
die Übertragung der Verantwortung für die Arbeits-
marktpolitik auf die Jobcenter bei den Kommunen. Das
ist – im Zusammenhang mit der Auflösung der BA – nichts
anderes als die völlige Kommunalisierung von Arbeits-
marktpolitik! Eine von gesamtgesellschaftlichen Interes-
sen geleitete Kontrolle und Gestaltung von Arbeitsmarkt-
politik würde völlig aufgegeben.
25304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Kornelia Möller
Die Linke setzt sich für ein anderes Modell von Ar-
beitsmarktpolitik und ihrer Organisation ein und fordert
entsprechende Veränderungen: Statt Auflösung der BA
wollen wir die Bündelung der Verantwortung für die Ar-
beitsmarktpolitik im Rahmen einer einheitlichen Organi-
sation. Dies entspricht unserem Konzept der Herstellung
eines einheitlichen Rechtskreises für die Arbeitsmarktpo-
litik mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Erwerbs-
losen und damit der Überwindung der Trennung der ge-
genwärtigen Rechtskreise. Das bedeutet einen konkreten
Schritt zur Überwindung von Hartz IV! Als einheitliche
Organisation kann historisch und logisch sowie vom Be-
schäftigten- und Erfahrungspotenzial her nur die BA in-
frage kommen – allerdings eine Bundesbehörde, die
grundsätzlich verändert werden muss, weg von der ein-
seitigen betriebswirtschaftlichen Ausrichtung und weg
von einem schädlichen Beamtenzentralismus. Beides hat
auch die Denkweisen vieler Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter in einer falschen Richtung geprägt! Hin zur Wie-
derherstellung des sozialen und verteilungspolitischen
Auftrags der Arbeitsbehörde einschließlich der Stärkung
ihrer Selbstverwaltung – und das in Verbindung mit einer
gesetzlichen und verfassungssicheren Regelung des Zu-
sammenwirkens der BA mit den Kommunen und den üb-
rigen lokalen Arbeitsmarktakteuren im Interesse der von
Erwerbslosigkeit Betroffenen! Dies muss Inhalt eines
neuen Reformschrittes für den Arbeitsmarkt werden.
Denn: Arbeitslosigkeit ist in all ihren Facetten ein ge-
samtgesellschaftliches Problem und muss deshalb von ei-
ner einheitlichen Institution bearbeitet werden, die in der
Lage ist, sowohl gesamtgesellschaftlichen Erfordernis-
sen Rechnung zu tragen wie auch regionale Bedingungen
und Besonderheiten zu berücksichtigen. Verstärkt wird
diese Notwendigkeit durch die erheblichen strukturellen
und regionalen Disproportionen des Arbeitsmarktes, die
weitere Deregulierung des europäischen und internatio-
nalen Arbeitsmarktes sowie die wachsende Dynamik der
Arbeitsmarkt- und Qualifikationsentwicklung. All dem
wird mit einer Kommunalisierung der Arbeitsmarktpoli-
tik, wie sie die FPD vorsieht, in keiner Weise Rechnung
getragen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der vorliegende Antrag der FDP-Fraktion hat mehr
als zweieinhalb Jahre unberührt in den Tiefen des Parla-
ments geschlummert, und ich für meinen Teil hätte nichts
dagegen gehabt, wenn das so weitergegangen wäre. Mit
dem Ende der Wahlperiode hätte sich die Sache dann von
alleine erledigt. Doch die Kolleginnen und Kollegen von
der FDP hatten kein Erbarmen mit uns. Also will ich Ih-
nen begründen, warum wir Grünen Ihren Antrag ableh-
nen.
Abgesehen von weiteren Nebensächlichkeiten fordert
die FDP im Wesentlichen: die Abschaffung der Bundes-
agentur für Arbeit und anstatt dessen erstens die Neu-
gründung unter anderem einer Bundesversicherungs-
agentur, die zweitens Wahltarife anstelle des
Arbeitslosengelds I anbietet; die Aufhebung der Parität
durch Auszahlung des Arbeitgeberanteils an den Beiträ-
gen zur Arbeitslosenversicherung an die Arbeitnehmer;
die Übertragung der Trägerschaft im SGB II komplett an
Zu Protokoll
die Kommunen anstelle der bisherigen Arbeitsgemein-
schaften aus örtlichen Agenturen für Arbeit und Kommu-
nen bei weiterer Finanzierung des Arbeitslosengelds II
aus Bundesmitteln; die Aufhebung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes und damit die Abschaffung jegli-
cher Regulierung von Leiharbeit.
Meine Damen und Herren von der FDP, das ist alles
harter Tobak. Das zeige ich Ihnen an vier Beispielen.
Erstens. Sie wollen an die Stelle der Bundesagentur
außer einer Bundesversicherungsagentur mindestens
zwei weitere Behörden stellen. Das sind eine private Ver-
mittlungsagentur und eine Agentur für überregionale und
internationale Aufgaben. Das Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung und die Fachhochschule der Bun-
desagentur sollen privatisiert werden. Für mich ist das
eine Multiplikation von Bürokratie, die dem von der FDP
geltend gemachten Ziel der Effizienz diametral entgegen-
steht. Resultat des Ganzen: Die Schnittstellenprobleme
würden zunehmen, Zuständigkeiten vernebelt und da-
rüber hinaus würden auch noch zusätzliche Personal-
und Verwaltungskosten entstehen. Das unterstützen wir
selbstverständlich nicht.
Zweitens. Ihre öffentliche Versicherungsagentur soll
die aktive Förderung nach Wahltarifen organisieren. Das
bedeutet, dass sich diejenigen, die wenig verdienen und
sich nur einen Basistarif leisten können, auch weniger ge-
fördert würden. Dabei sind gerade häufig sie diejenigen,
die von Qualifizierung am meisten profitieren würden.
Diejenigen mit hohem Einkommen könnten sich dagegen
mit höheren Tarifen umfassender absichern. Das Solidar-
prinzip bei der Förderkomponente der Arbeitslosenversi-
cherung wäre aufgehoben, Ungleichbehandlung und eine
Klassengesellschaft bei Arbeitslosigkeit die Folge. Auch
das ist mit uns Grünen nicht zu machen.
Drittens. Die von Ihnen vorgeschlagene flächende-
ckende Kommunalisierung der Trägerschaft der Grund-
sicherung hat mindestens zwei Haken. Erstens: Nicht alle
Kommunen wollen sich mit der Verantwortung der Trä-
gerschaft der Grundsicherung von Ihnen zwangsbeglü-
cken lassen. Zweitens: Seit der Föderalismusreform I ist
nach Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes keine Aufgabenzu-
weisung des Bundes an die Kommunen mehr möglich.
Der von Ihnen vorgeschlagene Weg funktioniert also
nicht mehr, jedenfalls nicht ohne eine Grundgesetzände-
rung. Dafür haben Sie aber keine Unterstützung der Län-
der. Die setzen – wie wir Grünen – auf das Nebeneinander
von kommunalen Lösungen und von Arbeitsgemeinschaf-
ten in der Trägerschaft der Grundsicherung.
Viertens. Die Leiharbeit braucht nicht weniger und
schon gar nicht gar keine Regulierung, sie braucht mehr
Regeln. Die Attraktivität von Leiharbeit soll sich aus ih-
rer hohen Flexibilität, insbesondere um kurzfristig Auf-
tragsspitzen zu bewältigen, speisen. Keineswegs aber
– und darauf zielen offensichtlich Ihre Vorschläge, Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP – soll Leiharbeit ein
Instrument sein, mit dem Lohn- und Sozialdumping in
großem Stil vorangetrieben werden. Wir Grünen wollen
dahingegen die Gleichbehandlung von Leiharbeitnehme-
rinnen und -nehmern und Stammbelegschaften vom ers-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25305
gegebene Reden
25306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Brigitte Pothmer
ten Tag an und treten deshalb für spürbare Verbesserun-
gen in diese Richtung an.
Das sind vier gewichtige Gründe gegen den Antrag
der FDP, die nur einen Schluss zulassen, nämlich Ableh-
nung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/12353, den Antrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/2684 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken. Die FDP
hat dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkte 52 a und b:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der Friedensmission der
Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) auf
Grundlage der Resolution 1590 (2005) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen vom
24. März 2005 und Folgeresolutionen
– Drucksache 16/13395 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope-
ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlage
der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra-
tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
und Folgeresolutionen
– Drucksache 16/13396 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Hier wird ebenfalls vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu nehmen. – Damit sind Sie einverstanden. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-
gen Jürgen Herrmann, Brunhilde Irber, Ursula Mogg,
Marina Schuster, Heike Hänsel, Kerstin Müller und
Gernot Erler.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 16/13395 und 16/13396 an die in der Tages-
1) Anlage 41
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 48:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen in der De-
mokratischen Republik Kongo unverzüglich
wirksam bekämpfen
– Drucksachen 16/9779, 16/11250 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer (Lübeck)
Brunhilde Irber
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)
Zu Protokoll gehen die Reden von Anke Eymer,
Brunhilde Irber, Marina Schuster, Hüseyin-Kenan Aydin
und Kerstin Müller.
Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU):
Seit Jahren kommt die Region des Ostkongo nicht zur
Ruhe. Immer wieder entbrennen militärische Konflikte
trotz des internationalen Engagements und der inter-
nationalen Friedensmission MONUC.
Die unterschiedlichsten militärischen Gruppierungen
sind in zahllose Konflikte involviert. Die Lage ist verwor-
ren, undurchsichtig und explosiv. Der Osten des Landes
versinkt wieder in Gewalt.
Trotz der Gefangennahme von General Nukunda
kommt die Region nicht zur Ruhe. Hilfsorganisationen
warnen eindringlich, dass die FDLR-Hutu-Miliz dabei
ist, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Die FDLR, die
durch die kongolesischen und ruandischen Regierungs-
truppen gemeinsam zurückgedrängt worden war, übt
massiv Vergeltung an der Zivilbevölkerung. Seit Beginn
des Jahres sollen bis zu 300 000 Bewohner aus ihren
Dörfern vertrieben worden sein oder vor den Milizen
flüchten. Allerdings, ein nicht unwesentlicher Teil der
Plünderungen und Gewalttaten sollen auch auf das
Konto der schlecht versorgten kongolesischen Regie-
rungstruppen gehen.
Leidtragende ist seit je die Zivilbevölkerung. Straf-
und Racheaktionen für militärische Offensiven eines
Gegners werden an Dorfbewohnern verübt. Hinrichtun-
gen, Brandschatzungen, Vertreibungen und die gezielte
sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen gehören mit
zur grausamen Tagesordnung. Kinder, Frauen und Mäd-
chen sind ganz offensichtlich auch in diesem Krieg die
schwächsten Elemente und eine gezielt ausgesuchte Op-
fergruppe für eine perfide Kriegstechnik. Internationale
Beobachter mahnen allerdings, dass sich alle beteiligten
Kombattanten – offenbar auch die kongolesischen Regie-
(A) (C)
(B) (D)
Anke Eymer (Lübeck)
rungstruppen – an Übergriffen auf Frauen und Mädchen
beteiligten oder Kindersoldaten einsetzen.
Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang, dem
nicht genügend Beachtung geschenkt wird, ist die medizi-
nische und psychologisch-soziale Betreuung der Frauen
und Mädchen, die zu Opfern der Gewalt geworden sind.
Sie leiden jahrelang an einem Trauma und werden zudem
oft in ihren Dörfern und Familien stigmatisiert und aus-
gegrenzt.
Die Spannungen zwischen ethnischen Gruppen und
der Regierung der Demokratischen Republik Kongo wa-
ren in der Vergangenheit immer wieder Anlass für kriege-
rische Übergriffe. Schon während des Völkermordes der
Hutus an den Tutsi in Ruanda vor 15 Jahren setzten Hutu-
Milizen sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen als
gezieltes Mittel ein. Auch die aktuellen Menschenrechts-
verletzungen und Gräueltaten an Frauen sind Früchte
dieses schweren Erbes, das seit 1994 nicht nur auf
Ruanda, sondern auch auf den Grenzgebieten im Ost-
kongo lastet, wo sich viele ehemalige Flüchtlinge aus
Ruanda aufhalten.
Neben diesen ungelösten ethnischen Spannungen ist
der Zugriff auf die wirtschaftlich äußerst ergiebigen Roh-
stoffreserven des Ostkongo ein wesentlicher Konflikt-
grund. Der Zugriff auf die Rohstoffreserven der Region
ist sowohl Motor als auch Motiv für die Gewaltexesse in
der Region. 10 Prozent der weltweiten Kupfervorkommen
und mehr als ein Drittel aller Kobaltvorkommen liegen
im Kongo. Der Handel mit den meist illegal abgebauten
Rohstoffen versorgt die bewaffneten Gruppen im Kongo
mit umgerechnet fast 150 Millionen US-Dollar jährlich,
ein Geldstrom, ohne den die meisten Milizen schon lange
ausgetrocknet wären.
Es ist ein internationaler Schwarzmarkt, der auch in
Friedenszeiten kaum zu kontrollieren ist. Die internatio-
nalen Begehrlichkeiten sind groß. Die im Kongo abge-
bauten Erze und Metalllegierungen sind für die moderne
Technik in jedem Laptop, Handy oder Fahrzeug mit
Hybridantrieb unverzichtbar. Der relativ leichte Abbau
im Kongo erlaubt niedrige Preise, bei denen andere Erz-
fördergebiete nicht mithalten können. In besonderer Kri-
tik steht das chinesisch-kongolesische Abkommen zum
Rohstoffabbau.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Bedarf an
Rohstoffen schlagartig abrutschen lassen. Länder wie die
Republik Kongo, deren verschuldete Regierungen kaum
gegensteuern können, leiden besonders unter den wirt-
schaftlichen Folgen. Anders als viele andere Länder kann
der Kongo aber nicht auf Geldhilfen des IWF bauen. Der
Internationale Währungsfonds erwartet erst eine Revi-
dierung der umstrittenen Kreditverträge, die der Kongo
mit der Volksrepublik China geschlossen hat.
Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise ist
eine schwere Belastung für die kongolesische Wirtschaft,
die nach Jahren der Diktatur mit einem Wirtschafts-
wachstum gerechnet hatte. Das Ausbleiben von Investi-
tionsprojekten im Bergbau und der Verlust von zahllosen
Arbeitsplätzen sind weitere Faktoren, die es unwahr-
scheinlich machen, dass die Regierung in Kinshasa auf
Zu Protokoll
absehbare Zeit die notwendige Kontrolle in den östlichen
Provinzen erringen kann.
Massen ohne Arbeit verstärken den Flüchtlingsdruck
und die Situation der ohnehin schon gepeinigten Zivilbe-
völkerung. Auch die Zusammenhänge zwischen der welt-
weit schwierigen Wirtschaftslage und dem schwindenden
Respekt vor Menschenrechten ist ein wichtiger Aspekt
dieses Konfliktes im Kongo.
Wie schon in der Debatte im vergangenen November
muss ich auch heute bezweifeln, dass sich im vorliegen-
den Antrag, der sich mit der verzweifelten Lage der
Frauen und Mädchen im Ostkongo befasst, in ausrei-
chendem Maß mit der komplexen Gesamtsituation der
Eskalation auseinandergesetzt wird. Eine umfassende
politische Lösung für die gesamte Region unter entschie-
denen internationalem Einsatz ist unverzichtbar. Das
eigentliche Problem scheint mir zu sein, wie die Partiku-
larinteressen der vielen Beteiligten endlich in den Griff
bekommen werden können.
Zwar wird in dem vorliegenden Antrag im Kern die
Tatsache richtig beschrieben, dass sexualisierte Gewalt
gegen Frauen im Ostkongo zu einem der abscheulichsten
Mittel der Kriegsführung geworden ist. Aber die Lage ist
weit umfassender, auch wenn die noch ausstehende Lö-
sung diese besondere Gefährdungssituation von Frauen
mit zu lösen hat.
Brunhilde Irber (SPD):
Über ein halbes Jahr ist es nun her, dass wir hier im
Deutschen Bundestag über die beispiellose brutale
sexualisierte Gewalt gesprochen haben, der Frauen und
Mädchen im Osten der Demokratischen Republik Kongo
ausgesetzt sind. In diesem halben Jahr wurden unsere
Hoffnungen auf ein Ende des endlos scheinenden Kon-
fliktes erneut enttäuscht.
Obwohl es nach dem überraschenden Friedensschluss
zwischen Regierung und diversen Rebellengruppen An-
fang 2009, Verhaftung von CNDP-Führer Nkunda sowie
einer konzertierten kongolesisch-ruandischen Militär-
aktion gegen die FDLR-Milizen eine gewisse Beruhigung
der Lage gab, hat sich die Hoffnung auf einen dauerhaf-
ten Frieden nicht erfüllt. Nach dem Abschluss der Mili-
täraktion kehrten die in der Kivu-Region verbliebenen
Milizen teilweise in ihre alten Stellungen zurück und
drangsalieren seitdem erneut die Zivilbevölkerung. Ei-
nige Beobachter sprechen sogar von einer Verschlimme-
rung der Situation, da die vormals bekämpfte CNDP jetzt
offiziell Teil der kongolesischen Armee ist und nun Orte
erreichen kann, die sie vorher nicht erreichen konnte.
Massive Fluchtbewegungen in Nord-Kivu sind die Folge.
Beobachter sprechen von mehr als 300 000 Menschen,
die seit Anfang des Jahres ihre Dörfer verlassen haben.
Statt Frieden herrscht nach wie vor das Recht des Stärke-
ren.
Unter diesen Bedingungen macht es wenig Sinn, ge-
genüber der kongolesischen Regierung auf die Einhal-
tung der VN-Resolution 1325 zu pochen, die den Schutz
der Frauen vor Übergriffen einfordert. Schließlich liegt
die Ursache der Gewalt gegen Frauen vor allem darin,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25307
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Brunhilde Irber
dass es keinen funktionierenden kongolesischen Staat
gibt, welcher die Einhaltung der VN-Resolution durch-
setzten könnte. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die kon-
golesische Armee wird von vielen internationalen
Beobachtern als Teil des Problems betrachtet und für
Plünderungen und Vergewaltigungen verantwortlich ge-
macht. Notwendig ist daher neben der Reform des Mili-
tärs, der Bezahlung und Ausstattung der Soldaten auch
eine Sensibilisierung der Soldaten und die Schaffung ei-
nes Unrechtsbewusstseins. Dies ist jedoch nicht mit eini-
gen wenigen Unterrichtsstunden in kurzer Zeit zu schaf-
fen. Der Aufbau einer funktionierenden Polizei und eines
nicht korrupten Justizsystems sind weitere dringliche
Aufgaben zur Herstellung von Sicherheit und Gerechtig-
keit. Darüber hinaus gibt es nur einen Weg, um die Lage
der Frauen zu verbessern: eine politische Lösung des
Konfliktes.
Die Bundesregierung wirbt daher auch weiterhin für
Gespräche zur Umsetzung des 2002 in Pretoria geschlos-
senen Friedensvertrags. Diese Bemühungen werden nach
wie vor von einem breiten Katalog von Hilfsmaßnahmen
flankiert, der Hilfen zum Staatsaufbau ebenso umfasst
wie die Finanzierung der VN-Mission MONUC. Die De-
mokratische Republik Kongo ist eines der Schwerpunkt-
länder der deutschen humanitären Hilfe. Sie ist bereits
heute das Land, welches nach Afghanistan die umfas-
sendste Unterstützung von Deutschland erhält.
Bereits im letzten Jahr habe ich mich mit meiner Kol-
legin Bärbel Kofler erfolgreich dafür eingesetzt, dass der
50 Millionen Euro umfassende Friedensfonds ausgezahlt
wird. Darüber hinaus sind für dieses und das kommende
Jahr mehr als 50 Millionen Euro für die technische
– GTZ – und finanzielle – KfW – Kooperation eingeplant.
Auch international setzt sich Deutschland massiv für eine
Stabilisierung des Kongo ein. So steuerte Deutschland im
vergangenen Jahr mit 67,5 Millionen Euro den drittgröß-
ten Beitrag zur Finanzierung von MONUC bei. Im Rah-
men des zehnten Europäischen Entwicklungsfonds ist
Deutschland sogar der größte Geber. Deutschland leistet
zudem erhebliche finanzielle Unterstützung am Multi-
Country Demobilization and Reintegration Program der
Weltbank.
Das Auswärtige Amt hat für Hilfsmaßnahmen in der
Ostregion der DR Kongo 2008 insgesamt 7,15 Millionen
Euro für 19 Hilfsprojekte bereitgestellt. Dieses Jahr wur-
den bereits drei Projekte der humanitären Nothilfe im
Wert von 700 000 Euro realisiert. Die Betreuung von Bin-
nenflüchtlingen und die medizinische Notversorgung ste-
hen dabei im Vordergrund.
2008 hat das Auswärtige Amt mit Schwerpunkt in der
krisengeschüttelten Ostregion der DR Kongo insgesamt
19 humanitäre Hilfsprojekte unterstützt. Seit 2003 stellte
das Auswärtige Amt für humanitäre Hilfsprojekte in der
DR Kongo damit über 23 Millionen Euro zur Verfügung.
Die 2008 geförderten Projekte kamen schwerpunktmäßig
Binnenvertriebenen und Rückkehrern zugute. Seit Anfang
dieses Jahres leistet die Missionszentrale der Franziska-
ner aus Mitteln des Auswärtigen Amts Überlebenshilfe
für Flüchtlinge und Binnenvertriebene in Nord- und Süd-
Kivu in den Regionen Goma, Minova und Kalehe. Die
Zu Protokoll
Caritas versorgt Binnenvertriebene in der krisengeschüt-
telten Nordprovinz Oriental mit lebensnotwendigen Be-
darfsgegenständen, und die Ärzte ohne Grenzen leisten
mithilfe des Auswärtigen Amts medizinische Basisversor-
gung in der Provinz Katanga. Weitere Projekte sind in
Vorbereitung.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, BMZ, stellte für die DR
Kongo im Jahr 2008 Mittel in Höhe von 6,75 Millionen
Euro für Projekte der entwicklungsorientierten Not- und
Übergangshilfe bereit. Für dieses Jahr plant das BMZ,
entsprechende Projekte mit 7,5 Millionen Euro zu för-
dern. Die Unterstützung von Frauen als besonders vom
Krieg Betroffene spielt in der Konzeption und Durchfüh-
rung des Friedensfonds eine wesentliche Rolle. Sie wer-
den mit einer Vielzahl von Projekten direkt gefördert, die
aufgrund der fehlenden staatlichen Strukturen vor Ort
von einer Vielzahl privater Hilfsorganisationen durchge-
führt werden. Für diese privaten Helfer ist die sexuelle
Gewalt längst ein zentrales Thema.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle einen kleinen Über-
blick über diese Projekte vermitteln. So unterstützt der
EED über seinen Partner HEAL-Africa das Krankenhaus
und die Gesundheitsdienste in Goma und hält diese trotz
der derzeitigen Krise für Patienten offen. Der arbeits-
intensive Wiederaufbau der Infrastruktur wird so organi-
siert, dass auch Frauen von den Beschäftigungsmöglich-
keiten profitieren. Mindestens 30 Prozent aller Personen,
die hier eingestellt werden, sind Frauen. Begleitend dazu
werden in manchen Teilprojekten Alphabetisierungs- und
Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen und Kinder ange-
boten.
Auch die Förderung von Landwirtschaft im Rahmen
einkommenschaffender Maßnahmen kommt im Kongo
direkt den – oftmals verwitweten – Frauen zugute. Im
Rahmen des Projektes der Deutschen Welthungerhilfe in
Nord-Kivu werden Frauengruppen direkt durch Klein-
tierzucht und Mikroprojekte unterstützt. Hinzu kommen
Projekte des BMZ, die eine indirekte Förderwirkung für
Frauen haben: So hat der Wiederaufbau der Gesund-
heitszentren in Süd-Kivu einen direkten Beitrag zur Müt-
tergesundheit geleistet. Hier findet in Zusammenarbeit
mit Frauenverbänden HIV/Aids-Aufklärung und psycho-
logische Beratung statt.
Die Rehabilitierung ländlicher Wege verbessert die Si-
cherheitssituation der Frauen ebenso wie ihren Zugang
zu Vermarktungsmöglichkeiten. Darüber hinaus werden
durch den Wiederaufbau der Schulen die Einschulungs-
quoten von Mädchen erhöht und damit gleichberechtigter
Zugang zu Bildung geschaffen.
In Anbetracht der zentralen Position, die private
Hilfsorganisationen im Osten des Kongo schon jetzt für
die Zivilbevölkerung und gerade die Frauen einnehmen,
müssen wir alles daransetzen, die Arbeit dieser Organi-
sationen zu unterstützten. Hilfsorganisationen können
– Hand in Hand mit den Menschen vor Ort – ein zivilge-
sellschaftliches Netz bilden, das die fehlenden staatlichen
Strukturen wenigstens in Ansätzen ersetzt. Der Aufbau
und die Förderung dieser zivilgesellschaftlichen Struktu-
ren scheint mir zurzeit das wichtigste und nachhaltigste
25308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Brunhilde Irber
Mittel zu sein, um den Menschen vor Ort zu helfen. Ich
fordere die Bundesregierung daher auf, sich weiterhin für
eine politische Lösung des Konfliktes einzusetzen und
darüber hinaus den Aufbau der Zivilgesellschaft in der
DR Kongo durch die Unterstützung privater Hilfsorgani-
sationen zu fördern.
Marina Schuster (FDP):
Es war ein Tabubruch, als der Film „Anonyma“ letztes
Jahr in die deutschen Kinos kam. Die Geschichte einer
Vergewaltigung in Berlin kurz nach der Kapitulation griff
ein lange verdrängtes Thema auf – und zeigte doch das
Schicksal Hunderttausender Frauen im letzten Weltkrieg.
Viele Frauen leiden bis heute unter ihren Traumatisierun-
gen, ohne jemals über ihr Schicksal gesprochen zu haben.
Vergewaltigungen als psychologisches Mittel der
Kriegsführung sind leider kein neues Phänomen. Gerade
mal 60 Jahre ist es her, dass unser Land dies selbst erfah-
ren musste. Das verpflichtet uns, den Mantel des Schwei-
gens zu heben, wenn Frauen Opfer von sexueller Gewalt
werden, egal wo dies passiert.
Der Blick in den Kongo zeigt, dass die körperliche und
seelische Zerstörung von Frauen seit Jahren zum teufli-
schen Instrumentenkasten der Konfliktparteien gehört;
dies in einem Ausmaß, das wir uns heute – Gott sei Dank –
kaum noch vorstellen können. Seit Mitte der 90-er-Jahre
ist der Kongo Schauplatz grausamer Konflikte, die nach
Schätzungen der VN bisher mehr als 5 Millionen Todes-
opfer und 1,5 Millionen Flüchtlinge gefordert haben. Of-
fiziell herrscht seit drei Jahren Frieden, doch der ist im
Osten des Landes nie angekommen. Nach wie vor durch-
streifen schlecht bezahlte, über die Jahre verrohte Kämp-
fer durch die Dörfer. Allein in der Region Süd-Kivu gab es
nach Angaben der UNO im vergangenen Jahr fast 17 000
Vergewaltigungen. Doch die Dunkelziffer dürfte um ein
Vielfaches höher liegen. Denn aus Angst und Scham
schweigen viele Frauen.
Niemand hindert die Täter an ihren Greueltaten. Die
Hauptstadt Kinshasa ist fern. Funktionsfähige rechts-
staatliche Strukturen und ein Justizsystem, das die Täter
zur Verantwortung zieht, existieren nicht.
Wir müssen an dieser Stelle ein Zeichen setzen. Sexua-
lisierte Gewalt, wie sie im Kongo in besonders abscheu-
licher Weise den Alltag der Frauen bestimmt, ist eine bei
Weitem unterschätzte Gefahr für einen dauerhaften Frie-
den. Das kann uns nicht kaltlassen! In dieser Überzeu-
gung unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen mit Nachdruck. Gerade weil
Frauen oft die Leidtragenden in Krisen sind, sind sie
auch der Schlüssel, wenn es darum geht, Frieden und Ver-
söhnung zu erreichen.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass eine dau-
erhafte Verbesserung der Lage nur durch ein Ende der
Kampfhandlungen möglich sein wird. Schien die Verhaf-
tung des Rebellenführers Nkunda erst als ein Hoffnungs-
schimmer für die ganze Region, gehen die Kämpfe nun
unvermindert weiter. Nach Abzug der ruandischen Trup-
pen wird die Bevölkerung von Vergeltungsakten der
Hutu-Rebellen heimgesucht.
Zu Protokoll
Ich muss leider wieder darauf hinweisen: Hier rächt
sich auch die mangelnde Aufmerksamkeit der EU und der
Bundesregierung hinsichtlich der Lage im Ostkongo. Als
wir vor drei Jahren deutsche Soldaten zur Sicherung der
Wahlen nach Kinshasa geschickt haben, hat die FDP im-
mer betont: Freie Wahlen können nur der erste Schritt
Richtung Demokratie sein. Eine dauerhafte Stabilisie-
rung ist damit noch lange nicht erreicht. Doch die Bun-
desregierung hat die Krise aus den Augen verloren – oder
die Augen verschlossen, ich weiß es nicht. Jedenfalls ig-
norierte sie eindeutige Warnzeichen für eine Verschlech-
terung der Lage. Auch hier verlangen wir von der Bun-
desregierung keine Wunder. Aber es kann nicht sein, dass
Millionen Euro aus deutschen Steuergeldern für die Ab-
sicherung von Wahlen ausgegeben werden und dann das
Land sich selbst überlassen wird. Das ist kein nachhalti-
ges Handeln!
Wir müssen uns Gedanken machen über eine bessere
Unterstützung der EU-Missionen EUPOL und EUSEC.
Der Kongo braucht mehr Hilfe für den Aufbau eines funk-
tionierenden Justizsystems, eines beherrschbaren Mili-
tärs und einer vertrauenswürdigen Polizei. Nur so lassen
sich rechtsfreie Räume bekämpfen, die so vielen Frauen
zum Verhängnis werden. Und wir dürfen nicht vergessen:
Auch die VN-Friedenstruppen im Kongo sind völlig über-
fordert. Der Leiter von MONUC hat gar verkündet, dass
er die Zivilbevölkerung nicht mehr schützen kann.
In meiner Kleinen Anfrage zum Sudan habe ich die
Bundesregierung gefragt: Welche Strategie haben Sie für
die beiden EU-Missionen? Existieren dabei spezielle
Projekte zur Abwehr von sexueller Gewalt? Inwiefern
schließt der Dialog mit der kongolesischen Regierung
auch Frauenrechte mit ein? Inwiefern wird auch das
MONUC-Personal speziell geschult und an den Brenn-
punkten eingesetzt?
Auch der vorliegende Antrag greift genau diese Fra-
gen auf: Vergewaltigungen sind kein geringfügiges Fehl-
verhalten, sondern Verbrechen mit desaströsen Langzeit-
folgen für die Betroffenen und die nach Frieden
strebenden Gesellschaften. Wir müssen helfen, dass diese
Botschaft in den Köpfen vor Ort ankommt, und die kon-
golesische Regierung dazu drängen, zugesagte Maßnah-
men auch wirklich umzusetzen. Und klar ist auch: Diese
Sensibilisierung muss einhergehen mit einer politischen
Komponente, muss an die Ursachen herangehen.
Ich finde, die Bundesregierung bleibt in beiden Punk-
ten weit hinter den Erwartungen zurück. Und darum ap-
pelliere ich an Sie, auch vor dem Hintergrund unserer ei-
genen Geschichte: Eine Kultur des Schweigens ist die
falsche Antwort! Ich fordere Sie somit auf: Helfen Sie,
den Kampf für die geschundenen Frauen stärker in den
Friedensmissionen zu verankern. Und nutzen Sie Ihren
Einfluss auf die kongolesische Regierung, dass die Täter
endlich zur Verantwortung gezogen werden.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE):
In diesem Monat sind die Kämpfe im Kongo zwischen
Regierungsarmee und Rebellen wieder neu aufgeflammt.
Eine neue und gefährliche Entwicklung ist, dass sich Teile
der Regierungstruppen gegen die UN-Truppe wenden,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25309
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Hüseyin-Kenan Aydin
weil ihnen ihr Sold nicht ausgezahlt wird. Wieder sind
zahlreiche Menschen auf der Flucht. Die Rückführung
und Reintegration der nach UN-Schätzungen mindestens
1,35 Millionen Binnenvertriebenen allein in den Kivu-
Provinzen Ituri und Orientale bleiben akut gefährdet. Die
Gewalt gegen Frauen und Kinder hört nicht auf.
An keinem Ort der Welt werden derzeit die Menschen-
rechte von Frauen in größerem Ausmaß verletzt als im
Osten Kongos. Es handelt sich nicht mehr um einen
Krieg, es geht um sexuellen Terrorismus in seiner un-
menschlichsten Form. Schätzungen des UN-Menschen-
rechtsrates gehen davon aus, dass allein im Jahr 2008
rund 100 000 Frauen vergewaltigt, versklavt und ver-
stümmelt wurden. Die Berichte übersteigen das Vorstell-
bare an Grausamkeit, und sie haben nichts mit einem kul-
turellen Phänomen zu tun.
Jede fünfte Patientin der Organisation „Ärzte ohne
Grenzen“ gibt an, zwischen zwei Tagen und mehreren
Jahren entführt gewesen zu sein. Die Menschen werden
willkürlich von jeder Partei beschuldigt, die jeweils an-
dere zu unterstützen, und müssen immer mit Vergeltungs-
schlägen rechnen. In einigen Dörfern ist Gewalt bei Kin-
dern unter fünf Jahren die Haupttodesursache. Frauen ist
nach der Zeit der Folter und der Gefangenschaft auch die
Rückkehr in ein normales Leben verwehrt. Sie werden
schwanger, mit HIV/Aids infiziert oder von ihren Ehe-
männern und Familien verstoßen. Sie wissen nicht mehr,
wohin sie gehen sollen. Die Überlebenden dieser Gewalt
brauchen medizinische Versorgung, psychosoziale Be-
treuung und ökonomische und politische Unterstützung.
Doch nur ein Bruchteil der Überlebenden hat Zugang
dazu.
Der Antrag der Grünen aus dem Jahr 2008 gilt in sei-
ner Relevanz und Brisanz noch genauso am heutigen Tag,
und das ist tragisch. Mit dem „Achten Bericht der Bun-
desregierung über ihre Menschenrechtspolitik“ ver-
pflichtet sich die Bundesregierung, Menschenrechte von
Frauen weltweit zu stärken. Auch im Entwicklungspoliti-
schen Aktionsplan für Menschenrechte wird deutlich for-
muliert: „Der Einsatz von Vergewaltigungen in bewaffne-
ten Konflikten ist ein Kriegsverbrechen.“ Die jüngste
UNO-Resolution zur Mandatsverlängerung von MONUC
– S/RES/1856 – bekräftigt erneut die Umsetzung der Re-
solutionen 1325 (2000) und 1820 (2008). Dennoch hat
die Bundesregierung bislang keinen eigenen nationalen
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 vor-
gelegt.
Die Linke hat die Bundesregierung wiederholt aufge-
fordert, sich bilateral im Gespräch mit den Regierungs-
vertretern sowie im Rahmen von EU und UNO für ein
Ende der Gewalt einzusetzen. Eine Aufstockung der
UNO-Truppen trifft nicht den Kern des Problems. Um
dauerhaft Frieden im Ostkongo zu sichern, muss ein um-
fassender politischer Vermittlungsprozess gestartet wer-
den. Dazu müssen AU, UNO, EU, westliche und afrikani-
sche Regierungen Druck auf die Anführer auf beiden
Seiten ausüben.
Die Zivilbevölkerung muss einen hohen Preis für die
militärische Befriedung zahlen. Fast die Hälfte der Ver-
gewaltiger sind Mitglieder des Militärs oder einer Miliz,
Zu Protokoll
berichtet „Ärzte ohne Grenzen“. Straftäter werden zum
größten Teil weder ermittelt noch zur Verantwortung ge-
zogen. Auch Soldaten der MONUC haben sich dieser Ver-
brechen schuldig gemacht. Zuletzt wurden im August
2008 indische Blauhelme der „sexuellen Ausbeutung und
des sexuellen Missbrauchs“ von zum Teil minderjährigen
Prostituierten beschuldigt. Die Null-Toleranz-Richtlinie
der UN wird nicht eingehalten. Es herrscht ein unglaub-
licher Mangel an Aufklärungs- und Präventionskampa-
gnen unter Offizieren und Soldaten, geschweige denn die
Anerkennung, dass Gendersensibilität im Kongo notwen-
dig ist für das Überleben der Frauen.
Umso unverständlicher ist es, dass in dem von der
Bundesregierung 2008 eingerichteten Friedensfonds
Maßnahmen, die speziell auf die Bedürfnisse der
schwersttraumatisierten Frauen und Mädchen zuge-
schnitten sind, nicht explizit vorgesehen sind. Die Angst
vor sozialer Ausgrenzung verhindert, dass die Betroffe-
nen reguläre Hilfsangebote annehmen. Doch die Umset-
zung der Resolution 1325 fordert genau das: Frauen und
Männer müssen an Friedensprozessen und beim Wieder-
aufbau gleichermaßen beteiligt werden. Daher haben wir
erneut eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung ge-
richtet, um deutlich zu machen: Die Frauen im Kongo
brauchen dringend unsere Hilfe. Wir müssen mit allen
möglichen zivilen Maßnahmen die Frauen und ihre Kin-
der unterstützen, uns auf die Seite der Opfer stellen.
Die Grünen gehen in ihrem Antrag auf wichtige zivile,
politische und soziale Instrumente ein. Umso mehr be-
dauern wir, dass unserem Änderungsantrag, militärische
Maßnahmen auszuschließen, nicht zugestimmt wurde. In
einem Land, das so durchzogen ist von sexueller Gewalt,
können militärische Mittel nicht eingesetzt werden.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor genau einem Jahr hat der UNO-Sicherheitsrat die
Resolution 1820 verabschiedet. Sie brandmarkt erstmals
sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen und Gefahr
für Frieden und Sicherheit und ruft die internationale
Gemeinschaft zu deren Bekämpfung auf. Doch in der ak-
tuellen Vorausschau des UNO-Sicherheitsrates zum Kongo
lesen wir: „… die Mitglieder des Sicherheitsrates zeigten
derzeit wenig Interesse am Kongo … eine Kongo-Müdig-
keit scheint sich breit zu machen ….“
Wie passt das zusammen? Der Alltag Hunderttausen-
der Kongolesinnen und Kongolesen ist noch immer von
Gewalt geprägt, vor allem von brutalster sexualisierter
Gewalt. Tag für Tag werden Dutzende Frauen und Mädchen
vergewaltigt. Im Jahr 2008 sind laut UNO-Menschen-
rechtsrat über 100 000 Frauen vergewaltigt worden. Auch
2009 setzt sich das Grauen fort, besonders im Ostkongo.
Viele neue Opfer hat die gemeinsame Militäroperation
von Kongo und Ruanda „Unsere Einheit“ gegen die
Hutu-Miliz FDLR gefordert. Ich sehe zwar grundsätzlich
die Notwendigkeit, dass die Hutu-Milizen bekämpft werden,
aber so, wie diese Militäraktion die Sache angegangen
ist, hat sie die FDLR nicht wirksam bekämpft und zu ei-
nem humanitären Desaster geführt. An die 800 000 Men-
schen sind nach Angaben von OCHA jetzt auf der Flucht,
darunter viele Frauen und Kinder. Ohne Schutz sind sie
25310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25311
(A) (C)
(B) (D)
Kerstin Müller (Köln)
leichte Beute. Vor allem sind sie den brutalen FDLR-
Schergen hilflos ausgeliefert. Sie setzen Vergewaltigung
gezielt als Kriegswaffe ein, um Frauen körperlich und
seelisch zu vernichten und Familien und Gemeinschaft zu
zerstören. Genau aus diesem Grund sprechen Frauenor-
ganisationen wie Medica Mondiale schon lange von ei-
nem „Femizid“, von schwersten Menschenrechtsverlet-
zungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Monika Hauser, Trägerin des Alternativen Friedens-
nobelpreises, fragt offensichtlich zu Recht: Warum setzen
sich wichtige Männer und Frauen in New York zusammen,
um Resolutionen zu formulieren, deren Inhalte sie nicht
bereit sind umzusetzen? Ohne die gezielte Bekämpfung
sexualisierter Gewalt kann es keinen Frieden im Kongo
geben. Diese unerträglichen Menschenrechtsverbrechen
müssen ein Ende haben. Die Staatengemeinschaft muss
endlich ihre Verpflichtungen aus den Resolutionen 1820
und 1325 umsetzen, damit Frauen und Mädchen nicht
weiter in Todesangst leben, damit sie mehr Unterstützung
erhalten und damit sie an Frieden und Gerechtigkeit
glauben können. Deshalb finde ich es sehr bedauerlich,
dass allein die FDP-Fraktion unserem Antrag zustimmen
will, obwohl es in der Sache eigentlich einen breiten Kon-
sens gibt.
Die Aufstockung von MONUC ist schon seit Dezem-
ber 2008 beschlossen. Doch noch immer ist keiner der
zusätzlichen 3 000 Soldaten und Polizisten im Kongo.
Indien überlegt jetzt sogar, seine Soldaten insgesamt
zurückzuholen. Und die Bundesregierung verteidigt
vehement ihre Position, dass die EU und Deutschland die
MONUC personell nicht stärker unterstützen sollen.
Sie haben 2006 die Wahlen aufwendig mit Soldaten ab-
gesichert. Ich frage Sie, wozu, wenn Sie jetzt auf halber
Strecke stehen bleiben. Sorgen Sie dafür, dass MONUC
die Menschen endlich besser schützen kann. Nach der
Mandatserweiterung vom Dezember 2008 sollte MONUC
unabhängiger von der kongolesischen Armee operieren.
Nach der Operation „Unsere Einheit“ arbeitet MONUC
stattdessen noch enger mit der kongolesischen Armee zu-
sammen. Die drangsaliert aber noch immer die Bevölke-
rung, weil sie völlig unzureichend ausgebildet ist und oft
monatelang keinen Sold aus Kinshasa erhält. Der Frust
der Armee entlädt sich immer wieder in Schießereien,
auch gegen Angehörige der MONUC. Die EU-Ausbil-
dungsmissionen für Armee und Polizei, EUSEC und
EUPOL, haben daran kaum etwas geändert. Die Missio-
nen sind mangels Personal völlig überfordert, um ge-
schlechtersensibel ausbilden zu können. Sie haben ihre
Hausaufgaben nicht gemacht. Das Modell Liberia zeigt
uns: Viel mehr weibliche Polizisten sind nötig. Entsenden
Sie endlich mehr Personal, auch mehr weibliches Perso-
nal.
Die Hoffnung auf dauerhaften Frieden schwindet.
Eine Demobilisierung von Kämpfern findet nicht statt.
Nach dem Abkommen vom März müssen die ehemaligen
Nkunda-Rebellen nicht etwa ihre Waffen abgeben, sondern
sie werden einfach in die Armee eingegliedert; darunter
sind viele Kindersoldaten, 40 Prozent davon sind Mäd-
chen, die immer wieder vergewaltigt werden. Auch das
Problem der FDLR ist noch immer nicht gelöst. Auch für
sie gibt es keine attraktiven Demobilisierungsangebote.
Hier muss sich die Bundesregierung mehr engagieren.
Hinzu kommt, dass die antidemokratische Regierungs-
führung Kabilas Frieden verhindert. Willkür und Korrup-
tion auf allen Ebenen prägen das System Kabila. Der
Entsendung eines UNO-Sonderberichterstatters für Men-
schenrechte erteilte Kabila eine klare Absage.
Der Kongo fährt im Rückwärtsgang zurück in die Zeit
Mobutus. Stehlen Sie sich nicht aus der Verantwortung,
indem Sie sich auf den Wiederaufbau des Flughafens in
Goma und den deutschen Friedensfonds zurückziehen.
Üben sie Druck auf Kabila aus für Reformen. Unterstützen
Sie mit Fachkräften vor Ort Polizei, Armee und Justiz.
Unterstützen Sie tatkräftig die kommende schwedische
Ratspräsidentschaft bei ihrem Engagement gegen sexua-
lisierte Gewalt im Kongo. Die Bekämpfung sexualisierter
Gewalt muss Schwerpunktthema Ihres Friedensfonds
werden und besonders den engagierten kleinen Hilfs-
organisationen unbürokratischen Zugang zu den Geldern
gewähren.
Ohne Gerechtigkeit für die Opfer, ohne ein Ende der
Straflosigkeit kann es keinen Frieden geben. Doch die
Justiz im Kongo ist diesbezüglich weiterhin blind, besonders
gegenüber hochrangigen Armeeoffizieren, die für brutale
Gewaltexzesse und Vergewaltigungen verantwortlich
sind. Mit Appellen allein können Sie Kabila nicht zum
Kurswechsel bewegen. Reden Sie nicht nur, handeln Sie
endlich.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11250, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9779 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung der Koali-
tion und Ablehnung der Opposition.
Zusatzpunkt 10 und Tagesordnungspunkt 67 j:
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Bär, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Monika Griefahn,
Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Medien- und Onlinesucht als Suchtphänomen
erforschen, Prävention und Therapien fördern
– Drucksache 16/13382 –
67 j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Grietje Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin
25312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Medienabhängigkeit bekämpfen – Medien-
kompetenz stärken
– Drucksachen 16/7836, 16/11371 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Dr. Petra Sitte
Undine Kurth (Quedlinburg)
Hier wird vorgeschlagen, die Reden ebenfalls zu Pro-
tokoll zu nehmen. – Sie sind damit einverstanden. Es han-
delt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Dorothee Bär, Monika Griefahn, Jürgen Kucharczyk,
Christoph Waitz, Lothar Bisky und Grietje Staffelt.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/13382 mit dem Titel „Medien- und Onlinesucht als
Suchtphänomen erforschen, Prävention und Therapien för-
dern“. Wer stimmt für den Antrag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen. Dafür hat
die Koalition gestimmt, dagegen Bündnis 90/Die Grü-
nen. FDP und Linke haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 67 j. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Medien-
abhängigkeit bekämpfen – Medienkompetenz stärken“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/11371, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7836 abzu-
lehnen. – Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben ge-
stimmt die Koalitionsfraktionen, dagegen die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die FDP hat sich
enthalten.
Tagesordnungspunkt 50:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Alexander Bonde, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen stra-
tegisch nutzen
– Drucksachen 16/11761, 16/12138 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
Ulrike Flach
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
1) Anlage 42
Zu Protokoll gehen die Reden von Jochen-Konrad
Fromme, Bernhard Brinkmann, Otto Fricke, Herbert
Schui und Kerstin Andreae.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat diesen An-
trag vor dem Hintergrund der jüngsten Geschehnisse bei
der Deutschen Telekom AG, der Deutschen Bahn AG und
der Deutschen Post AG eingebracht. Zudem verweist sie
auf Managementprobleme bei der KfW-Bankengruppe
und den Landesbanken. Sie weist darauf hin, dass der
Bund bisher beim Umgang mit den Kontrollrechten aus
seinen Beteiligungen keine Strategie verfolge und bislang
die Schulung von Aufsichtsratsmitgliedern und Vertretern
auf Hauptversammlungen versäumt habe, folgert daraus,
dass der Staat bei seinen Beteiligungen seiner besonde-
ren Verantwortung nicht gerecht wird, und fordert des-
halb, dass sich der Staat als Aktionär zu den Problemen
wie Überwachungsskandalen, unausgereiften Rationali-
sierungskonzepten oder Fehlinvestitionen bei den Unter-
nehmen, an denen er beteiligt ist, verantwortungsbewuss-
ter zu verhalten habe. Dieses Vorhaben ist an sich nicht
falsch; aber der vorgeschlagene Weg ist nicht zweckmä-
ßig bzw. dadurch überholt, dass wir konkrete Vorhaben
verfolgen, was ich gleich noch genauer ausführen werde.
Natürlich kann man die Vorgänge bei den genannten
Unternehmen nicht gutheißen, und auch mir wäre es lie-
ber, das wäre alles so nicht passiert. Die Frage ist jedoch:
Was kann man ändern, und sind die Vorschläge in dem
vorliegenden Antrag die richtigen? Die CDU/CSU-Frak-
tion ist der Meinung, dass dies nicht der Fall ist und lehnt
den Antrag daher aus mehreren Gründen ab.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellt insgesamt
zwölf Forderungen an die Bundesregierung, die zwar zum
Teil sogar positive Anregungen enthalten, im Ergebnis
aber entweder nicht praktikabel oder schlicht überflüssig
sind.
Einleitend und grundsätzlich möchte ich anmerken,
dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist; das
wurde schon vielfach festgestellt. Daher sollte er sich
grundsätzlich nicht aktiv am Markt beteiligen, sondern
nur die Regeln vorgeben. Eine staatliche Einflussnahme
wie jetzt in der Finanzkrise sollte tunlichst eine Aus-
nahme bleiben und sobald wie möglich wieder beendet
werden. Auch unabhängig von der Finanzkrise sollte die
Devise gelten, dass sich der Staat von allen Firmenbetei-
ligungen trennt, wenn die Beteiligung nicht aus strategi-
schen Gründen, zum Beispiel aus Gründen der Standort-
sicherung, erforderlich ist. Es ist immer besser, wenn sich
der Staat so weit wie möglich aus dem operativen Ge-
schäft im Markt heraushält. Das ist das Modell der sozia-
len Marktwirtschaft, welches sich sehr bewährt hat.
Nun aber direkt zu dem Antrag: Nicht praktikabel ist er
deshalb, weil meines Erachtens auch mit den aufgestell-
ten Forderungen die eingangs genannten Vorgänge bei
den Unternehmen mit an Sicherheit grenzender Wahr-
scheinlichkeit nicht hätten verhindert werden können.
Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen. Es klingt zu-
nächst gut und vernünftig, wenn gefordert wird, die Auf-
sichtsräte auf ihre Aufgaben vorzubereiten und sie ent-
(A) (C)
(B) (D)
Jochen-Konrad Fromme
sprechend zu schulen. Allerdings kann man nur das
schulen, was man auch kennt und weiß oder womit man
zumindest rechnen muss. Die Vorgänge in den betroffenen
Unternehmen hat doch im Vorfeld niemals jemand ernst-
haft zu erahnen vermocht. Wie soll man dann jedoch je-
manden darauf schulen? Man hätte im Prinzip hellsehe-
rische Fähigkeiten vermitteln müssen und das – da sind
wir uns wohl einig – ist nicht möglich.
Außerdem ist der Antrag überflüssig; denn wie sich
aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Wahrneh-
mung der Aufsichts- und Kontrollfunktion des Staates als
Anteilseigner“ aus dem Dezember letzten Jahres ergibt,
ist der Staat in der Angelegenheit nicht untätig, sondern
es gibt diverse Regelungen, die genau die Intention des
hier vorliegenden Antrages haben. Schon in der Vorbe-
merkung der Bundesregierung in der Antwort heißt es:
Unternehmen mit Bundesbeteiligung werden wie
Unternehmen mit privater Anteilseignerstruktur ge-
führt und überwacht. Dies ist der Ansatz der seit
Jahrzehnten bewährten privatwirtschaftlich orien-
tierten Beteiligungsführung des Bundes.
So erfolgt die Auswahl der Mitglieder von Überwa-
chungsorganen auf der Grundlage der sogenannten Be-
rufungsrichtlinien aus den „Hinweisen für die Verwal-
tung von Bundesbeteiligungen“.
Bei börsennotierten Unternehmen mit Bundesbeteili-
gung gelten zudem die Empfehlungen und Anregungen
des Deutschen Corporate Governance Kodex. In dessen
Präambel heißt es:
Der vorliegende Deutsche Corporate Governance
Kodex stellt wesentliche gesetzliche Vorschriften
zur Leitung und Überwachung deutscher börsenno-
tierter Gesellschaften (Unternehmensführung) dar
und enthält international und national anerkannte
Standards guter und verantwortungsvoller Unter-
nehmensführung. Der Kodex soll das deutsche Cor-
porate Governance System transparent und nach-
vollziehbar machen. Er will das Vertrauen der
internationalen und nationalen Anleger, der Kun-
den, der Mitarbeiter und der Öffentlichkeit in die
Leitung und Überwachung deutscher börsennotier-
ter Gesellschaften fördern.
Außerdem gibt es aufseiten der Bundesregierung und
des Parlaments verschiedene Bemühungen, in den Fra-
gen, die der vorliegende Antrag betrifft, Änderungen her-
beizuführen.
Zum einen erarbeitet die Bundesregierung derzeit ei-
nen „Public Corporate Governance Kodex des Bundes“.
Diesen hat das Bundeskabinett am 13. Mai 2009 verab-
schiedet, und er bildet den Kern der neuen „Grundsätze
guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Be-
reich des Bundes“. Dieser Kodex richtet sich an nicht-
börsennotierte Unternehmen mit Bundesbeteiligungen.
Leitlinie des Kodexes ist es, die Verantwortungssphären
von Vorständen, Aufsichts- und Anteilseignergremien
klar zu benennen und die Unternehmensorgane zur öf-
fentlichen Erklärung zu verpflichten. Schwerpunkte im
Kodex sind die Verbesserung der Arbeitsstrukturen und -
Zu Protokoll
prozesse in den Unternehmen und eine klarere Bestim-
mung der Rolle des Bundes als Anteilseigner. Dazu ist er
im Hinblick auf die Vorbildfunktion des Bundes teilweise
strikter gefasst als die Standards der Privatwirtschaft.
Die Koalitionsarbeitsgruppe Haushalt im Deutschen
Bundestag befasst sich zurzeit mit diesen Vorschlägen zur
Beteiligungsverwaltung, die noch vor der Sommerpause
umgesetzt werden sollen.
Zum anderen hat der Bundestag in der heutigen Sit-
zung dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandvergü-
tung zugestimmt. Dieses Gesetz wurde aufgrund der Fi-
nanzkrise eingebracht, weil man erkannt hatte, dass von
kurzfristig ausgerichteten Vergütungsinstrumenten feh-
lerhafte Verhaltensanreize ausgehen können, die dazu
führen, dass das nachhaltige Wachstum des Unterneh-
mens aus dem Blick verloren wird, und die dazu verleiten,
unverantwortliche Risiken einzugehen. Ziel des Gesetzes
ist es daher, die Anreize in der Vergütungsstruktur für
Vorstandsmitglieder in Richtung einer nachhaltigen und
auf Langfristigkeit ausgerichteten Unternehmensführung
zu stärken. Zugleich sollen die Verantwortlichkeit des
Aufsichtsrats für die Ausgestaltung der Vorstandvergü-
tung gestärkt und konkretisiert werden sowie die Trans-
parenz der Vorstandvergütung gegenüber den Aktionären
und der Öffentlichkeit verbessert werden. Sie sehen also:
Es kann in diesen wichtigen Fragen niemandem Untätig-
keit vorgeworfen werden.
Darüber hinaus sorgen natürlich auch die schon be-
stehenden gesetzlichen Regelungen dafür, dass die Vor-
stände und Aufsichtsräte von sich aus einer ordnungsge-
mäßen Ausübung ihres Amtes verpflichtet sein sollten: So
haften Vorstände deutscher Unternehmen nach § 93 Ak-
tiengesetz für eine ordnungsgemäße Unternehmensfüh-
rung, und bei Sorgfaltspflichtverletzungen machen sie
sich schadenersatzpflichtig. Daneben kommen auch
Straftatbestände wie die Untreue infrage. Gleiches gilt
für Aufsichtsratsmitglieder, denen im Falle von Sorgfalts-
pflichtverletzungen vergleichbare Folgen drohen. Natür-
lich schließt das alles nicht aus, dass Vorstände und Auf-
sichtsräte auch Fehler begehen. Fehler gehören leider
zum Leben dazu und diese werden sich durch alle vorbeu-
genden Maßnahmen niemals ganz verhindern lassen. Un-
ternehmerische Tätigkeiten sind nun einmal auch immer
mit dem Risiko von Verlusten verbunden.
Allerdings weigere ich mich auch, alle Vorstände und
Aufsichtsräte unter den Generalverdacht zu stellen, sie
würden nicht ordnungsgemäß arbeiten. Damit würden
wir nämlich denjenigen, die gute Arbeit für ihr Unterneh-
men leisten – das ist in meinen Augen die große Mehrheit –
bitteres Unrecht tun.
Ich bin zudem der Meinung, dass man Aufsichtsrat
oder Vorstand nicht lernen kann. Die dafür erforderli-
chen Fähigkeiten muss sich jeder im Laufe seines Berufs-
lebens erarbeiten. Ich denke, dass für diese Aufgaben ne-
ben fachlichen Kenntnissen auch einfach eine gewisse
Lebenserfahrung notwendig ist. Wenn es mit ein paar
Schulungen getan wäre, könnten wir ja eine Ausbildung
oder einen Studiengang schaffen, der mit dem Abschluss
„Vorstand“ oder „Aufsichtsrat“ endet. Dass es so ein-
fach nicht ist, leuchtet wohl allen ein.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25313
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Jochen-Konrad Fromme
Im Ergebnis lehnt die CDU/CSU-Fraktion den Antrag,
auch wenn er positive Anregungen enthält, ab, da die von
Bündnis 90/Die Grünen geforderte Entwicklung von sozi-
alen und ökologischen Kriterien für eine Unternehmens-
politik des Bundes sachfremd sind. Wie ich dargestellt
habe, haben wir konkrete Vorhaben in der Umsetzung.
Der Entschließungsantrag könnte dagegen keine Wir-
kung entfalten, weil er selbst bei einem positiven Be-
schluss in der vorletzten Sitzungswoche dieser Legisla-
turperiode der Diskontinuität zum Opfer fallen würde.
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass der von der
Fraktion Bündnis 90 /Die Grünen heute erneut zur Bera-
tung anstehende Tagesordnungspunkt auf einer Antwort
der Bundesregierung beruht, die anlässlich einer Kleinen
Anfrage bereits ausführlich behandelt worden ist. Inso-
fern hat sich an meinen Ausführungen anlässlich der Be-
ratung am 12. Februar 2009 nichts Nennenswertes geän-
dert. Bereits der Ausgangspunkt dieser Anfrage und der
heute gestellte Antrag gehen nach Auffassung der SPD-
Fraktion von unzutreffenden Annahmen und falschen Tat-
sachen aus. Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich
machen.
Erstens. Die Aussage, es gebe massive Probleme im
Management von Unternehmen mit bedeutenden staatli-
chen Beteiligungen, ist weit hergeholt und trifft nicht zu.
Unternehmerisches Handeln ist nicht per se erfolgreich,
sondern auch mit dem Risiko von Verlusten verbunden.
Wer etwas anderes behauptet und dabei die Deutsche
Post AG, die Deutsche Telekom oder die Deutsche Bahn
AG als pauschale Gründe für das Versagen des Staates
aufführt, handelt unverantwortlich und fahrlässig; denn
gerade in den aktuellen Fällen erfolgt eine Aufarbeitung
und Überprüfung auch durch die Aufsichtsräte des Unter-
nehmens.
Der Staat übt wie jeder private Anteilseigner seine
Funktionen aus. Er hat bei der Kontrolle seiner Beteili-
gungen nicht versagt, sondern er verhält sich nach Ak-
tien- und Beteiligungsrecht sehr verantwortungsbewusst
und korrekt. Auch hier hat der hehre Grundsatz Gültig-
keit: Wo Menschen tätig sind, passieren auch Fehler. Feh-
lerfrei ist jedenfalls niemand.
Die Unternehmen mit Bundesbeteiligungen werden
wie Unternehmen mit privater Anteilsstruktur geführt,
und das ist auch gut so. Dies ist der richtige Ansatz der
seit Jahrzehnten bewährten privatwirtschaftlich orien-
tierten Beteiligungsführung. Der Bund kann hier auch
nur den Einfluss geltend machen, der ihm aufgrund sei-
ner Beteiligung zusteht – nicht mehr und auch nicht we-
niger.
Der Bund verfolgt mit seinen Beteiligungen keine
übergeordnete Konzernstrategie, denn der Staat ist nicht
Unternehmer im Wettbewerb auf verschiedenen Märkten.
In einer marktwirtschaftlichen Ordnung soll er sich nach
Auffassung meiner Fraktion grundsätzlich nicht an in-
dustriellen oder sonstigen erwerbswirtschaftlichen Un-
ternehmen beteiligen, es sei denn, dieses dient, wie § 65
BHO sagt, zur Erfüllung einer wichtigen Aufgabe des
Bundes. Die aktuellen Ereignisse, die in der internationa-
Zu Protokoll
len Finanzkrise begründet sind, bedürfen einer gründli-
chen Prüfung. Das wird durch die Bundesregierung auch
gewährleistet. Darüber hinaus gilt für den Umgang mit
den aus Bundesbeteiligungen entstehenden Kontrollrech-
ten seit langem eine Grundlage, die auch über das Inter-
net einsehbar ist. Hier gibt es viele „Hinweise für die Ver-
waltung von Bundesbeteiligungen“.
Auch der populistische Hinweis, die vom Bund ge-
wählten oder entsandten Mitglieder von Überwachungs-
organen seien nicht ausreichend qualifiziert und müssten
darüber hinaus regelmäßig geschult werden, geht völlig
ins Leere. Wie bei jedem privaten Anteilseigner, ist es im
Interesse des Bundes, nur entsprechend qualifizierte Per-
sonen in Aufsichtsräte zu berufen oder in Hauptversamm-
lungen zu entsenden. Aus diesem Grund wurden die
bereits seit 1959 bestehenden und auch im Internet ein-
sehbaren „Berufungsrichtlinien für die Besetzung von
Gremien“ eingeführt und fortentwickelt. Dort sind auch
die Kriterien – insbesondere fachliche Qualifikation;
keine Interessenskonflikte – und Entscheidungswege dar-
gelegt.
Bei Bundesbeteiligungen sehen diese Regeln auch vor,
dass bei der Besetzung von Aufsichtsräten keine Bundes-
bediensteten berücksichtigt werden sollen, die bereits
drei Aufsichtsratsmandate haben. Dieser Ansatz ist damit
enger gefasst als im „Deutschen Corporate Governance
Kodex“, DCKG. Die Qualifikation der Aufsichtsräte etc.
beruht auf Ausbildung, erfolgreichem beruflichen Werde-
gang und einer entsprechenden Persönlichkeit, nicht auf
Schulungen. Man kann „Aufsichtsrat“ meines Erachtens
nicht erlernen, man muss aber bereit sein, sich das
„Handwerkszeug“ anzueignen. Gleichwohl werden
Schulungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen angebo-
ten.
Der Bund ist kein Konzern. Angesichts der Bandbreite
der Unternehmen, die von Forschungseinrichtungen wie
dem Deutschen Primatenzentrum über die Finanzagentur
bis hin zu Minderheitsbeteiligungen in der Telekommuni-
kation reichen, sind einheitliche uniforme Strategien we-
der sinnvoll noch möglich. Die Unternehmensplanung
und -organisation – wie etwa Investitions- und Standort-
politik, Datenschutz, technische Kontrolle bei Maschinen
und Geräten – ist zudem grundsätzlich Aufgabe des Vor-
stands bzw. der Geschäftsleitung. Diese Maßnahmen
werden, soweit rechtlich vorgesehen, mit den Überwa-
chungsorganen und/oder der Anteilseignerversammlung
abgestimmt.
Besonderheiten aus der Umsetzung der Konjunkturpa-
kete sind für jedes Unternehmen einzeln durch die zustän-
digen Unternehmensorgane zu beurteilen. Eine Änderung
des Haushaltsrechts mit Blick auf die Kontrollfunktion
des Parlaments ist nicht erforderlich. Das operative Ge-
schäft organisationsprivatisierter oder teilprivatisierter
Gesellschaften mit Bundesbeteiligung fällt nach gelten-
der Verfassungslage in die alleinige Zuständigkeit der
Unternehmen selbst. Diese Trennung ist mit Blick auf
klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten wichtig
und hat sich bewährt.
Soweit Informationen, die den Zuständigkeitsbereich
der Regierung und zugleich die Rechte der Unternehmen
25314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
gegebene Reden
(A) (C)
(B) (D)
Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
betreffen, erbeten werden, können diese mit Einverständ-
nis der Betroffenen in Verfahren, die die Vertraulichkeit
sichern, auch dem Parlament oder den zuständigen Aus-
schüssen zur Kenntnis gegeben werden. Geheimhaltungs-
pflichten stehen einer parlamentarischen Kontrolle nicht
entgegen, sondern sind ihr notwendiger und fester Be-
standteil.
Meine Ausführungen haben deutlich gemacht, dass
der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen nicht zielgerichtet ist und daher, wie im Bericht
des Haushaltsausschusses auf Drucksache 16/12138 vom
4. März 2009 aufgeführt, abgelehnt werden muss .
Otto Fricke (FDP):
Der Antrag der Grünen zeigt mal wieder eindrucks-
voll, wie dicht Licht und Schatten beieinander liegen kön-
nen.
Die Intention verbesserter Kontrollmechanismen und
einer höheren Qualität in den Aufsichtsgremien bei im
Bundesbesitz befindlichen Unternehmen bzw. bundessei-
tiger Beteiligung ist vor dem Hintergrund der verlustrei-
chen Fälle IKB und KfW nachvollziehbar. Ein derartiges
generelles Anliegen ist also zu unterstützen. In diesem Zu-
sammenhang müssen jedoch einige grundsätzliche Dinge
offensichtlich noch einmal klargestellt werden.
Die vornehme Aufgabe des Staates ist der verantwor-
tungsvolle Umgang mit Steuergeldern. Unter diesen Be-
griff fallen aber faktisch auch die Beteiligungen des Bun-
des an Unternehmen, da diese Form von Volksvermögen
den Bürgern und nicht etwa einer Regierung gehört.
Hinzu kommt, dass der Staat eben auch kein Unternehmer
ist und niemals sein wird. Die Folgen der Staatswirtschaft
müssen auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer noch im-
mer von den Steuerzahlern in ganz Deutschland geschul-
tert werden.
Generell hat sich der Staat also aus jedweden Beteili-
gungen an privaten Unternehmen herauszuhalten. Muss
er sie aber dennoch eingehen, so ist gleichzeitig Vorsorge
für eine baldige Beendigung einer solchen Beteiligung zu
treffen. Im Englischen würde man hier von einer Exit-
Strategie sprechen.
Die FDP hat die Privatisierung der ehemals großen
Staatsbetriebe Post, Lufthansa und Bundesbahn damals
angestoßen und vorangetrieben. Der von mir hochver-
ehrte und leider viel zu früh verstorbene ehemalige Bun-
deswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt war treibende
Kraft bei der Privatisierung derartig großer Unterneh-
men. Ist der Staat aber – aus was für Gründen auch im-
mer – gezwungen, Unternehmensbeteiligungen vorüber-
gehend zu halten, dann stellt sich die Frage nach dem
Umgang mit seinen aus diesen Beteiligungen erwachsen-
den Aufsichtsrechten. Hier sollten nach meiner Überzeu-
gung zwei Grundregeln beachtet werden.
Die eine lässt sich mit den Worten der Schadens- und
Gefahrenabwehr umschreiben. Hierunter ist zu verste-
hen, dass über das Aufsichtsmandat nach Möglichkeit
verhindert werden muss, dass die Staatsbeteiligung auf-
grund von Missmanagement an Wert verliert und letztlich
ein Schaden für den Steuerzahler daraus entsteht. Bei die-
Zu Protokoll
ser Frage sind die ersten vier Forderungen der Antrag-
steller durchaus als hilfreich zu begrüßen, weil hierdurch
mehr Transparenz und Professionalität und weniger
Missbrauch und Nachlässigkeiten bei der Mandatsaus-
übung zu erwarten sein werden.
Nach der anderen Grundregel darf der Staat jedoch
nur minimal in unternehmerische Entscheidungen hi-
neinregieren. Er hat sich jede Form der Wettbewerbsver-
zerrung und unnötigen Einflussnahme zu versagen. Der
Staat ist kein Unternehmen und wird auf diesem Gebiet
langfristig immer zum Schaden der Steuerzahler versa-
gen. Die vornehmlich bei sozialdemokratischen Politi-
kern immer wieder durchkommende Versuchung, Unter-
nehmer zu spielen, muss daher mit aller Entschiedenheit
verhindert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion haben
wir daher gerade einen Antrag zur Abschaffung der So-
zialisierung und zu einer entsprechenden Änderung des
Grundgesetzes gestellt.
Dass nun die Grünen auch nicht frei von dieser Versu-
chung sind, zeigen sie mit den weiteren Forderungen in
ihrem Antrag deutlich. Im Bereich des Corporate Gover-
nance Kodex die Anwendung von ökologischen und so-
zialen Kriterien für die Unternehmenspolitik zu fordern,
zeigt eindrucksvoll, dass man hier eine grüne Suppe mit-
kochen möchte, die ganz eindeutig gegen den Grundsatz
der maximalen Heraushaltung bei unternehmerischen
Entscheidungen verstößt. Oder sollen Unternehmen viel-
leicht über staatliche Beteiligungen verpflichtet werden,
nur noch Jute statt Plastik zu kaufen?
Insgesamt ist es ein Antrag mit etwas Licht, aber auch
viel ideologischem Schatten. Der Schattenteil des An-
trags jedoch hat auch sein Gutes, zeigt er doch eindrucks-
voll, wie wenig die Grünen von einer gut funktionieren-
den sozialen Marktwirtschaft und der schlanken, aber
harten Rolle des Staats in einer solchen verstehen.
Als FDP im Deutschen Bundestag werden wir uns aus
diesem Grunde enthalten.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Die Grünen fordern die Bundesregierung in ihrem An-
trag auf, die Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen
strategisch zu nutzen. Das hört sich zunächst vernünftig
an. Die Bundesregierung ist jedoch bestrebt, genau das
nicht zu tun. So hat sie bei der Commerzbank ein Vielfa-
ches ihres Wertes bezahlt und sich damit lediglich ein
Viertel der Anteile gesichert. Anstatt nun mit der Com-
merzbank die Kreditvergabe wiederzubeleben und zum
Beispiel Arcandor die benötigten Kredite zu verschaffen,
arbeitet die Bank weiter wie zuvor. Von strategischer Nut-
zung kann keine Rede sein.
Gleiches gilt für die im Antrag erwähnten Bundesbe-
teiligungen bei der Post, bei der Telekom und bei der
Bahn. Bei allen Unternehmen handelt es sich um Berei-
che der Daseinsvorsorge. Doch anstatt sich für die
Erhaltung oder den Ausbau der Daseinsvorsorge zu
engagieren, setzen sich die Vertreter des Bundes für eine
Maximierung des Profits ein, um die weitere Privatisie-
rung voranzutreiben. Die Folge sind ausgedünnte Bahn-
streckennetze oder die Schließung vieler Postfilialen in
kleinen Ortschaften.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25315
gegebene Reden
25316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herbert Schui
Die Kernforderung des Antrags ist daher unterstüt-
zenswert. Gleiches gilt für viele weitere Forderungen, wie
die Schulung von Aufsichtsräten, die Begrenzung der Auf-
sichtsratsmandate auf vier pro Person, die Einbeziehung
des Bundestages bei der Entsendung von Aufsichtsräten
oder die Lockerung der Geheimhaltungspflichten. So
hätte der Bund besser vorbereitete, besser kontrollierbare
Aufsichtsräte.
Die Forderungen gehen insgesamt allerdings nicht
weit genug. Der Bund braucht nicht nur besser vorberei-
tete Aufsichtsräte, er braucht auch Aufsichtsräte, die in
seinem Interesse handeln. Die Aufsichtsräte müssen da-
her generell dem Gemeinwohl verpflichtet werden und
nicht mehr dem Unternehmenswohl.
Im Verlauf des Antrages entsteht der Eindruck, die
Grünen drückten sich vor so einer Entscheidung. Sie for-
dern lediglich eine „nachvollziehbare Strategie“ und ein
„verantwortungsbewusstes Verhalten“ des Staates als
Aktionär. Die entscheidende Frage bleibt hier offen: Wie
genau soll sich der Staat denn verhalten? Die Grünen
schließen zudem direkte Eingriffe ins operative Manage-
ment explizit aus. Aber genau das ist nötig, wie an den
oben genannten Beispielen deutlich wird: Ohne direkte
Eingriffe wird das Interesse des Bundes an einer flächen-
deckenden Breitbandversorgung, an einem gut ausgebau-
ten Schienennetz oder einer flächendeckenden Präsenz
von Postfilialen nicht verwirklicht. Der Wettbewerb, auf
den die Bundesregierung setzt, um diese Ziele zu errei-
chen, funktioniert nicht. Der Bund selbst muss dafür sor-
gen. Dafür kann er entweder Gesetze erlassen oder, so er
im Besitz der Unternehmen ist, einfach dementsprechend
handeln.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Immer wieder geraten Unternehmen im staatlichen
Besitz, mit staatlicher Mehrheit bei den Anteilen oder mit
maßgeblicher staatlicher Beteiligung in die Schlagzeilen.
Die Medien berichten über die Überwachungsskandale
bei der Telekom und der Deutschen Bahn. Rationalisie-
rungsmaßnahmen der Telekom bei den Servicecentern
führen in zahlreichen Regionen zu starken Protesten. Die
Deutsche Bahn ist mit den Problemen beim ICE-Einsatz
in der Kritik. Die Deutsche Post AG musste nach den Ver-
lusten auf dem US-Paketmarkt ihre Gewinnerwartungen
drastisch reduzieren. Managementprobleme bei der KfW
und den Landesbanken haben sowohl die Medien als
auch Bund und Länder stark beschäftigt. Dabei drängt
sich die Frage auf, ob der Staat bei der Kontrolle seiner
Beteiligungen versagt. Auch bei dem Banken-Rettungs-
paket ist ein ähnliches Versagen zu befürchten, da der
Bund auch dort auf verbindliche Vorgaben für die Ge-
schäftspolitik der Banken verzichtet und eine aktive Rolle
als Anteilseigner ausschließt.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage zum Beteiligungsmanagement des Bundes zeigt:
Der Bund verfolgt beim Umgang mit seinen Beteiligun-
gen keine Strategie und versäumt die Schulung von Auf-
sichtsratsmitgliedern und Vertretern auf Hauptversamm-
lungen.
In seinen Antworten stellt das Finanzministerium fest:
„Eine gesonderte Vorbereitung der Mitglieder von Über-
wachungsorganen oder der Vertreter in den Anteils-
eignerversammlungen erfolgt bislang nicht.“ Stattdessen
werden sie mit dieser Aufgabe alleingelassen: Die Kon-
trollrechte des Bundes werden nicht genutzt, um Verbes-
serungen bei der Unternehmensführung zu erreichen.
Die massiven Probleme im Management von Unter-
nehmen mit bedeutenden staatlichen Beteiligungen oder
Mehrheitsbeteiligungen wie Telekom, Deutsche Bahn
oder Deutsche Post haben die Bundesregierung nicht zu
einer Änderung dieser Haltung bewegen können, im Ge-
genteil. Sie hat aus den Fehlern der Vergangenheit nichts
gelernt und wird diese auch bei den weiteren Maßnahmen
zur Bewältigung der Finanzmarktkrise fortschreiben:
„Aus den aktuellen Entwicklungen in der Wirtschaft und
der Finanzwelt sind derzeit keine Anhaltspunkte ersicht-
lich, auf Grund deren strategische Überlegungen zu tref-
fen sind.“
In unserem offenen Brief an Finanzminister Steinbrück
vom 28. November haben die grünen Abgeordneten
Kerstin Andreae, Alexander Bonde und Christine Scheel
diese Fehlhaltung kritisiert. Das Schweigen des Finanz-
ministers zu diesem und die unentschlossenen Antworten
auf unsere Kleine Anfrage zeigen: Die Bundesregierung
wird ihrer Verantwortung bei den Bundesbeteiligungen
nicht gerecht – und wird weiter nicht strategisch mit die-
sen Beteiligungen umgehen. Die nächsten Skandale
durch Missmanagement sind vorprogrammiert. Gerade
in Zeiten massiver staatlicher Interventionen gegen die
Wirtschaftskrise müsste es aber ein nachvollziehbares
Konzept dafür geben, was der Staat in den Unternehmen
als Anteilseigner erreichen will.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12138, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11761 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung der Koalition.
Dagegen hat Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. FDP
und Linke haben sich enthalten.
Zusatzpunkt 11:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN
Erwerbsminderungsrente gerechter gestal-
ten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25317
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Absicherung für
risiko verbessern
– Drucksachen 16/12
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter W
Ihre Reden zu Protokoll w
einverstanden sind – das i
Weiß, Gregor Amann, Hein
und Irmingard Schewe-Geri
So kommen wir zur Abst
empfehlung des Ausschusse
Drucksache 16/13355. Der
Nr. 1 seiner Beschlussempf
Antrags der Fraktion Bündn
sache 16/12865. Wer stimmt
lung? – Die Gegenprobe!
ommen. Dafür haben alle
er Fraktion Bündnis 90/Die
stimmt hat; Enthaltungen
usschuss die Ablehnung des
auf Drucksache 16/10872.
ussempfehlung? – Die Ge-
Die Beschlussempfehlung
at dagegen gestimmt, sonst
ungen gab es keine.
ss unserer heutigen Tages-
hene Nacht weiterhin.
tzung des Deutschen Bun-
Juni 2009, 9 Uhr, ein.
n.
.01 Uhr)1) Anlage 43
das Erwerbsunfähigkeits-
865, 16/10872, 16/13355 –
eiß (Emmendingen)
ürden gern geben, wenn Sie
st anscheinend so –: Peter
rich Kolb, Volker Schneider
gk.1)
immung über die Beschluss-
s für Arbeit und Soziales auf
Ausschuss empfiehlt unter
ehlung die Ablehnung des
is 90/Die Grünen auf Druck-
für diese Beschlussempfeh-
– Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angen
Fraktionen gestimmt außer d
Grünen, welche dagegen ge
gab es keine.
Unter Nr. 2 empfiehlt der A
Antrags der Fraktion der FDP
Wer stimmt für diese Beschl
genprobe! – Enthaltungen? –
ist angenommen. Die FDP h
alle Fraktionen dafür; Enthalt
Damit sind wir am Schlu
ordnung.
Genießen Sie die angebroc
Ich berufe die nächste Si
destages auf Freitag, den 19.
Die Sitzung ist geschlosse
(Schluss: 1
Berichtigung
224. Sitzung, Seiten 24829 (Anlage 37) und 24841
(Anlage 42) Ergebnisse der namentlichen Abstimmun-
gen: Der Abgeordnete Manfred Kolbe (CDU/CSU) hat
nicht mit Nein gestimmt, sondern sich enthalten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25319
(A) (C)
(B) (D)
dere Menschen tritt in den Hintergrund und wird sogar
als Bevormundung abqualifiziert.Zimmermann, Sabine DIE LINKE 18.06.2009
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.06.2009
Dr. Bisky, Lothar DIE LINKE 18.06.2009
Dreibus, Werner DIE LINKE 18.06.2009
Eichel, Hans SPD 18.06.2009
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 18.06.2009
Goldmann, Hans-
Michael
FDP 18.06.2009
Hintze, Peter CDU/CSU 18.06.2009
Höger, Inge DIE LINKE 18.06.2009
von Klaeden, Eckart CDU/CSU 18.06.2009
Kolbow, Walter SPD 18.06.2009
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 18.06.2009
Lenke, Ina FDP 18.06.2009
Link (Heilbronn),
Michael
FDP 18.06.2009
Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 18.06.2009
Meierhofer, Horst FDP 18.06.2009
Menzner, Dorothée DIE LINKE 18.06.2009
Merz, Friedrich CDU/CSU 18.06.2009
Reichel, Maik SPD 18.06.2009
Dr. Scheer, Hermann SPD 18.06.2009
Schily, Otto SPD 18.06.2009
Schirmbeck, Georg CDU/CSU 18.06.2009
Steppuhn, Andreas SPD 18.06.2009
Wittlich, Werner CDU/CSU 18.06.2009
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den
– Antrag: Gesetzliche Überregulierung der
Patientenverfügung vermeiden
– Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
rung des Betreuungsrechts
– Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung
der Patientenverfügung im Betreuungsrecht
(Patientenverfügungsgesetz – PatVerfG)
– Entwurf eines Gesetzes zur Klarstellung der
Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
(Patientenverfügungsverbindlichkeitsgesetz –
PVVG)
– Antrag: Patientenverfügungen neu regeln –
Selbstbestimmungsrecht und Autonomie
von nichteinwilligungsfähigen Patienten stär-
ken
(Tagesordnungspunkt 6)
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich werde heute sowohl dem von den Kolleginnen und
Kollegen der Gruppe Göring-Eckardt, Bosbach, Röspel,
Fricke und mir vorgelegten Gesetzentwurf wie auch dem
vom Kollegen Hubert Hüppe vorgelegten Antrag zu-
stimmen. Die einzige für mich tragbare Alternative zur
Verabschiedung des genannten Gesetzentwurfes ist der
Verzicht auf eine gesetzliche Regelung und damit die
Beibehaltung der derzeitigen höchstrichterlichen Recht-
sprechung. Die anderen vorgelegten Gesetzentwürfe
werden meiner Ansicht nach weder der Verwirklichung
des Selbstbestimmungsrechts noch dem Schutz von
Patientinnen und Patienten vor Übergriffen Dritter ge-
recht.
Der vom Kollegen Stünker und anderen vorgelegte
Gesetzentwurf wurde immer wieder mit dem Argument
beworben, durch ihn würde das Selbstbestimmungsrecht
der Patienten gestärkt werden, und zwar dadurch, dass er
alle Patientenverfügungen – ungeachtet, wie sie zu-
stande gekommen sind – streng verbindlich machen
würde. Ich halte es für falsch, diese Illusion zu nähren,
und für eine Gefahr für den Schutz und die Würde des
Einzelnen am Lebensende.
Die Debatte um die Verbindlichkeit von Patientenver-
fügungen ist die Folge zunehmender Möglichkeiten der
modernen Medizin, und sie ist das Ergebnis sich ändern-
der gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Wir haben in
diesem Zusammenhang den Versuch erlebt, den Begriff
der Selbstbestimmung umzudeuten. An die Stelle des für
sich selbst, aber auch für andere verantwortlichen Indivi-
duums tritt die Vorstellung eines vollständig autonomen
Menschen. Die Sorge um und die Verantwortung für an-
25320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Wir wissen aus der Praxis, dass viele Patientenverfü-
gungen aus Angst vor einem künstlich verlängerten,
qualvollen Leben bzw. Sterbeprozess einerseits und in
Unkenntnis verantwortlich eingesetzter medizinischer
Möglichkeiten andererseits entstehen. Unkenntnis und
Angst sind schlechte Ratgeber, wenn es um Entschei-
dungen über das eigene Sterben geht. Dies gilt umso
mehr, weil die Erfahrung lehrt, dass sich ein vorab
geäußerter bzw. verfügter Wille nicht selten unter den
Bedingungen eines konkreten Krankheits- und Lei-
denserlebnisses ändert. Deshalb ist eine einfühlsame,
fachkompetente Beratung und Reflexion nicht nur not-
wendig, sondern für mich auch ein Beitrag zur Stärkung
der Selbstbestimmung. Mir ist es unerklärlich, warum
eine solche Beratung – anders als in anderen Fragen des
Alltagslebens – gerade bei einer der schwierigsten und
elementarsten Entscheidung, nämlich der Beendigung
des eigenen Lebens, als Überbürokratisierung und An-
griff auf die Selbstbestimmung abgetan wird.
Neben der Frage der Selbstbestimmung ist aber die
Stärkung der Zuwendung und Fürsorge durch andere
Menschen und damit insbesondere die Stärkung des Vor-
sorgebevollmächtigten, der durch den Betroffenen be-
stimmt wird, von besonderer Bedeutung.
Vor allem die sich im Gesetzentwurf des Kollegen
Stünker und anderer manifestierende Vorstellung der
Selbstbestimmung atmet ein grundsätzliches Misstrauen
gegenüber diesem fürsorglichen und mitmenschlichen
Handeln anderer. Die Sorge um und die Verantwortung
für andere Menschen tritt in den Hintergrund und wird
sogar als Bevormundung abqualifiziert. Ich möchte wei-
terhin in einer Gesellschaft leben, in der diese Zuwen-
dung als etwas Positives, als Selbstverständlichkeit gilt.
Wolfgang Spanier (SPD): Hiermit ziehe ich meine
Unterschrift unter dem „Gruppenentwurf eines Patien-
tenverfügungsgesetzes“ der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, René Röspel und anderer zurück.
Ich möchte in meinem Abstimmungsverhalten frei
sein. Nach sechs Jahren Debatte ist für mich entschei-
dend, dass der Deutsche Bundestag heute eine gesetzli-
che Regelung zur Patientenverfügung beschließt. Dies
möchte ich mit meiner Stimme sicherstellen.
Rolf Stöckel (SPD): Bis jetzt haben über 10 Millio-
nen Menschen in Deutschland eine Patientenverfügung
für den Fall, dass sie sich selbst nicht mehr zu medizini-
schen Behandlungen äußern können, verfasst. Patienten,
Angehörige, viele Ärzte und Richter fordern einhellig
eine gesetzliche Regelung des Umgangs mit Patienten-
verfügungen, um endlich mehr Rechtssicherheit zu be-
kommen. Im Sinne einer von der Verfassung garantier-
ten Würde und Selbstbestimmung als auch einer
verantwortlichen Fürsorge gegenüber Menschen in der
letzten Phase ihres Lebens. Gegen Bevormundung und
Situationen von Patientinnen und Patienten in Kliniken
und Pflegeheimen, die oft eine unwürdige, sinnlose und
medizinisch eigentlich nicht verantwortbare Lebensver-
längerung oder künstliche Zwangsernährung aus wirt-
schaftlichen Gründen bedeuten.
Die Kolleginnen und Kollegen, überwiegend aus den
Reihen der CDU/CSU, die mit einschränkenden und un-
sachgemäßen Kriterien die Wirksamkeit von Patienten-
verfügungen substanziell einschränken oder gar eine
gesetzliche Regelung im Betreuungsrecht aus faden-
scheinigen Gründen verhindern wollen, handeln nicht
nur gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung, son-
dern gegen die Auffassung fast aller Sachverständigen
und Fachleute, die in den vielen Jahren der Anhörungen
und Debatten im Deutschen Bundestag mit großer Mehr-
heit eine praktikable gesetzliche Regelung für unbedingt
notwendig erklärt haben.
Es ist meines Erachtens ein Skandal, dass im 21. Jahr-
hundert Funktionäre der Union, der Ärzteverbände und
einzelner Trägerorganisationen im Pflege- und Klinikbe-
reich ihre ökonomischen und juristischen Interessen ge-
gen einen aufgeklärten Verbraucher- und Patienten-
schutz durchsetzen wollen.
Mit der Debatte und Abstimmungen über vier Grup-
penanträge hat die Koalition aus CDU/CSU und SPD ge-
gen den Koalitionsvertrag verstoßen, in dem sie eine ge-
setzliche Regelung der Patientenverfügungen vereinbart
hat. Es geht dabei nicht um die ethischen Auffassungen
der Mitglieder des Bundestages, sondern um die Veranke-
rung im Betreuungsrecht und den Rechtsweg über das
Vormundschaftsgericht im Falle des Dissenses und Kon-
fliktes zwischen Betreuenden und medizinisch Verant-
wortlichen. Es geht darum, dem Patientenwillen Geltung
zu verschaffen und Missbrauch vorzubeugen. Dem wird
der Entwurf der Kollegen Stünker, Kauch, Montag und
anderer, den auch ich unterstütze und mit erarbeitet habe,
gerecht. Für die Patientenverfügungen und ihre Interpreta-
tion durch Betreuende und Ärzte ist allein die ethische
Auffassung des einzelnen Verfügenden von Belang.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Josef Göppel, Dr. Georg
Nüßlein, Jens Koeppen, Norbert Schindler und
Cajus Caesar (alle CDU/CSU) zur Abstimmung
über die Beratung des Antrags: Zurückweisung
des Einspruchs des Bundesrates gegen das Ge-
setz zur Änderung der Förderung von Biokraft-
stoffen (Zusatztagesordnungspunkt 5)
Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom
17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders
CO2 sparende Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-
Energien-Richtlinie lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefrei-
ung und -begünstigung als Förderinstrument der Mit-
gliedstaaten ausdrücklich zu.
Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
ropäischen Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit
dem Antrag „Klimafreundliche Biokraftstoffe stärken“
vom 12. Februar 2009 versuchten wir, den Einsatz von
Pflanzenöl und Biodiesel im öffentlichen Nahverkehr
steuerfrei zustellen, für den Lkw-Güterverkehr einen
Steuernachlass von 50 Prozent des normalen Mineralöl-
steuersatzes zu erwirken und den Biotreibstoff E 10
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25321
(A) (C)
(B) (D)
– Beimischung von 10 Prozent Ethanol zu Ottokraftstof-
fen – für den Verkauf an öffentlichen Tankstellen zuzu-
lassen.
Die Steuerbefreiung von Pflanzentreibstoffen im öf-
fentlichen Nahverkehr würde einen verlässlichen Markt
bis zu 1,1 Milliarden Liter pro Jahr schaffen. Die Ab-
grenzung zu anderem öffentlichen und privaten Verkehr
könnte zielgenau nach § 56 Energiesteuergesetz erfol-
gen. Die Kommunen würden durch diesen Schritt beim
Klimaschutz unterstützt. Regionale Wirtschaftskreis-
läufe würden gestärkt.
Die Steuerbegünstigung des Speditionsgewerbes
würde den Tanktourismus in das europäische Ausland
eindämmen. Mindereinnahmen durch einen geringeren
Steuersatz würden so durch Mehreinnahmen schnell aus-
geglichen.
Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
keit, den Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten
von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
Zudem könnte jeder Fahrzeughalter auf Grundlage der
Angaben des Herstellers selbst entscheiden, ob er dieses
Angebot annimmt.
Der Gesetzentwurf verletzt nämlich auch den Vertrau-
ensschutz der Bürger in den Staat. Die vollständige Steu-
erbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislatur-
periode bis 2009 gesetzlich festgelegt worden. Durch
das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wur-
den zahlreiche mittelständische Unternehmen in den
Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare ge-
setzliche Vorgabe investiert hatten. Das können und wol-
len wir nicht hinnehmen.
Der Bundesrat hat am 12. Juni 2009 mit der Mehrheit
seiner Stimmen Einspruch gegen den Einigungsvor-
schlag des Vermittlungsausschusses zur Biokraftstoffför-
derung eingelegt. Der Vermittlungsausschuss hatte den
Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages am
10. Juni 2009 unverändert bestätigt. Die Forderungen
der Länder nach Steuererleichterungen für Biodiesel und
Pflanzenölkraftstoffe sowie einer Erhöhung des geplan-
ten Mindestanteils von Biodiesel an fossilem Diesel blie-
ben damit unberücksichtigt.
Wir unterstützen aus oben genannten Gründen die
Vorschläge des Bundesrats und werden deshalb der Zu-
rückweisung seiner Vorschläge nicht zustimmen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Axel Berg und
Dr. Hermann Scheer (beide SPD) zur Abstim-
mung über die Beratung des Antrags: Zurück-
weisung des Einspruchs des Bundesrates gegen
das Gesetz zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen (Zusatztagesordnungspunkt 5)
Bei der Abstimmung zum Gesetz zur Änderung der
Förderung von Biokraftstoffen – Bundestagsdruck-
sache 16/11131 – habe ich gegen den Entwurf gestimmt
und meine Gründe in einer persönlichen Erklärung abge-
geben. Diese Gründe gelten für mich immer noch. Die
Biokraftstoffpolitik halte ich für inkonsistent. Durch das
ständige Auf und Ab der Quoten und die Erhöhung der
Besteuerung haben wir viele Millionen Euro an Förder-
geldern in den Sand gesetzt.
Der Bundesrat hat – meines Erachtens zu Recht – den
Vermittlungsausschuss angerufen und versucht, die Bio-
kraftstoffbranche zu retten. Die Argumente, dass es so-
wohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll ist, die
mittelständische Industrie in Deutschland zu schützen,
unterstütze ich ebenfalls. Die Einwände und Änderungs-
vorschläge des Bundesrates haben daher meine Unter-
stützung. Der Vermittlungsausschuss ist ohne Ergebnis
auseinandergegangen, und daher ist der Einspruch des
Bundesrates nur konsequent.
Da ich schon bei der ersten Abstimmung gegen den
Gesetzentwurf zur Änderung der Förderung von Bio-
kraftstoffen gestimmt habe und sich nichts verändert hat,
bleibt mir in diesem Fall keine andere Wahl als mich er-
neut gegen den Entwurf zu stellen. Die Absenkung der
Quote und die Erhöhung des Steueranteils vernichten
eine ganze Branche. Das kann ich und will ich nicht zu-
lassen, deshalb stimme ich auch heute gegen den Antrag
auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Nina Hauer (SPD) zur
Abstimmung über die Beratung des Antrags:
Zurückweisung des Einspruchs des Bundes-
rates gegen das Gesetz zur Änderung der För-
derung von Biokraftstoffen (Zusatztagesord-
nungspunkt 5)
Nach wie vor habe ich erhebliche inhaltliche Beden-
ken gegen das Gesetz. Deshalb habe ich mich – in Aner-
kennung einer Mehrheitsentscheidung meiner Fraktion –
bei der Beschlussfassung im Finanzausschuss und im
Plenum des Deutschen Bundestages über den Gesetzent-
wurf auch der Stimme enthalten.
Bei der Abstimmung über den Einspruch des Bundes-
rates werde ich aus grundsätzlichen Erwägungen für des-
sen Zurückweisung stimmen. Einer destruktiven Blo-
ckade von Gesetzen, die das Parlament mit Mehrheit
verabschiedet hat, durch den Bundesrat werde ich als Mit-
glied des Deutschen Bundestages nicht die Hand reichen.
Anlage 6
Erklärung
der Abgeordneten Anita Schäfer (Saalstadt)
(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
über die Zurückweisung des Einspruchs des
Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung
der Förderung von Biokraftstoffen (Zusatzta-
gesordungspunkt 5)
Ich habe versehentlich mit „Ja“ gestimmt. Mein Vo-
tum lautet: „Nein“.
25322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Manfred Grund, Uwe
Schummer, Manfred Kolbe, Dr. Michael
Luther, Rita Pawelski, Cajus Caesar, Ingrid
Fischbach, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Alois
Karl, Veronika Bellmann und Willi Zylajew
(alle CDU/CSU) zur Abstimmung über
– den Entwurf eines Gesetzes zur Angemes-
senheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)
– den Antrag: Professionalität und Effizienz
der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen
verbessern
– den Antrag: Exzesse bei Managergehältern
verhindern
(Tagesordnungspunkt 7)
Den von den Regierungsfraktionen eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Angemessenheit der Vorstandsvergü-
tung, VorstAG, unterstützen wir; wir stimmen ihm zu.
Leider ist aber im Gesetzentwurf eine Begrenzung der
steuerlichen Abzugsfähigkeit von Managervergütungen
nicht vorgesehen, was wir bedauern.
Aus folgenden Gründen hätten wir eine solche Be-
grenzung für sinnvoll gehalten: Zwar lehnen wir eine
staatlich festgelegte Grenze von Gehältern strikt ab, aber
ein wirksames Instrument zur Rückführung überhöhter
Managervergütungen ist es, den Finanzierungsanteil der
öffentlichen Hand in Gestalt der steuerlichen Abzugsfä-
higkeit von Managervergütungen – Einkünfte aus nicht-
selbstständiger Arbeit – zu beschränken. Eine solche nur
noch beschränkte steuerliche Abzugsfähigkeit von Ma-
nagervergütungen ist mit der Systematik des deutschen
Steuerrechts vereinbar, findet in zahlreichen Staaten mit
einer marktwirtschaftlichen Ordnung statt und entspricht
einem weit verbreiteten Gerechtigkeitsempfinden unse-
rer Bevölkerung und stärkt das Prinzip der Eigenverant-
wortung in der Marktwirtschaft.
Erstens. Vereinbarkeit mit der Systematik des deut-
schen Steuerrechts: Der gesamte Betriebsausgaben-/
Werbungskostenbegriff im deutschen Steuerrecht wird
vom Angemessenheitsprinzip geprägt. § 4 Abs. 5 Satz 1
Nr. 7 EStG schließt den unangemessenen Teil der Auf-
wendungen vom Steuerabzug aus, weil dieser Teil ver-
deckt privat veranlasst ist. Beispielsweise kann ein
Rechtsanwalt mit 80 000 Euro Jahresumsatz sich keinen
Picasso für 200 000 Euro in die Kanzlei hängen oder ei-
nen Rolls-Royce fahren und diese Aufwendungen jeweils
als Betriebsausgabe abziehen. Zahlreiche Vorschriften des
deutschen Steuerrechts enthalten Pauschalierungen von
Betriebsausgaben/Werbungskosten, so beispielsweise
der Arbeitnehmer-Pauschbetrag, die Pendlerpauschale,
der Sparer-Pauschbetrag oder Obergrenzen wie bei-
spielsweise bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit von
Versicherungen oder der doppelten Haushaltsführung.
Jeder Gesellschafter, der gleichzeitig Vorstandsmit-
glied oder Geschäftsführer seiner Gesellschaft, einer
Aktiengesellschaft oder GmbH, ist, darf für seine
Vorstands- oder Geschäftsführertätigkeit nur ein ange-
messenes Gehalt beziehen, ansonsten liegt eine ver-
deckte Gewinnausschüttung im Sinne von § 8 Abs. 3
Satz 2 KStG der Körperschaft vor. Die Finanzverwal-
tung korrigiert in diesen Fällen den zu niedrigen Gewinn
der Körperschaft, weil hier überhöhte Gehaltszahlungen
an Anteilseigner zu Unrecht als Betriebsausgabe abgezo-
gen wurden. Zahlt die Körperschaft an einen Gesell-
schafter neben einem festen Gehalt eine erfolgsabhän-
gige Vergütung (Umsatzvergütung, Tantiemen), so legen
Rechtsprechung und Finanzverwaltung starre Grenzen
an, wonach eine gewinnabhängige Tantieme höchstens
25 Prozent der Gesamtbezüge und höchstens 50 Prozent
des Jahresüberschusses betragen darf.
Gemäß § 10 Nr. 4 KStG ist „die Hälfte der Vergütun-
gen jeder Art, die an Mitglieder des Aufsichtsrats, Ver-
waltungsrats, Grubenvorstands oder andere mit der
Überwachung der Geschäftsführung beauftragte Perso-
nen gewährt werden“, nicht abzugsfähig. Vergütungen
im Sinne des § 10 Nr. 4 KStG sind alle Leistungen, die
vom steuerpflichtigen Unternehmen an die mit der Über-
wachung der Geschäftsführung beauftragten Personen
als Entgelt für die vereinbarte Überwachung erbracht
werden. Erfasst sind Leistungen „jeder Art“, also bei-
spielsweise auch Sachleistungen, Tantiemen, Options-
rechte, Ruhegehälter sowie die Übernahme von Prämien
für Versicherungen.
Zweitens. Internationale Bezugsfälle: In den USA re-
gelt Section 162(m) des Internal Revenue Code (I.R.C.),
dass bestimmte Arbeitnehmervergütungen nur bis zu ei-
ner Höhe von 1 Million US-Dollar steuerlich absetzbar
sind („certain excessive employee remuneration“).
Betroffen sind „publicly held corporations“, in etwa
vergleichbar mit deutschen börsennotierten Aktienge-
sellschaften. Erfasst werden Arbeitnehmer, die als Di-
rektor oder Vorstandsvorsitzender tätig sind oder zu den
vier höchstbezahlten leitenden Mitarbeitern des Unter-
nehmens gehören. Vergütung umfasst auch Sach- oder
andere geldwerte Leistungen.
Das japanische Steuerrecht unterscheidet zwischen
normalen Arbeitnehmern und „company officers“. Die
an die normalen Arbeitnehmer gezahlten Löhne und Ge-
hälter, Boni und Altersruhegelder können uneinge-
schränkt als Betriebsausgaben steuerlich geltend ge-
macht werden. Die Vergütungen von „company officers“
gelten hingegen nur als steuerlich zu berücksichtigende
Betriebsausgaben, wenn sie im Branchenvergleich nicht
unvernünftig überhöht sind. Zu den „company officers“
zählen unter anderem Vorstandsmitglieder, Rechnungs-
legungsberater, Treuhänderkontrolleure, Wirtschaftsprü-
fer, Insolvenzverwalter sowie Arbeitnehmer, deren Fa-
milie mehr als 50 Prozent der Aktien des Unternehmens
halten und die in das Management des Unternehmens
eingebunden sind.
In den Niederlanden sind die Bezüge von Vorstands-
mitgliedern und Geschäftsführern abzugsfähig, soweit
sie angemessen sind, auch wenn sie vom Gewinn abhän-
gig sind. Dies gilt grundsätzlich auch für Aufsichtsrats-
vergütungen. Bei Aufsichtsratsmitgliedern, die wesent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25323
(A) (C)
(B) (D)
lich an dem Unternehmen beteiligt sind (mindestens
5 Prozent), sind die Bezüge nur bis zu einer Höhe von
1 815 Euro voll absetzbar, der Rest nur zu 50 Prozent;
der gesamte abzugsfähige Betrag darf aber 9 076 Euro
nicht überschreiten.
Nach Informationen aus dem BMF streben die Nie-
derlande als erstes Land der Eurozone eine gesetzliche
Regelung zur Begrenzung der steuerlichen Absetzbar-
keit von Managergehältern und -abfindungen an.
Drittens. Prinzip der Eigenverantwortung in der
Marktwirtschaft: Eine solche beschränkte steuerliche
Abzugsfähigkeit von Managervergütungen entspricht ei-
nem weit verbreiteten Gerechtigkeitsempfinden unserer
Bevölkerung. Das derzeitige Verhalten vieler Manager
wird weder in den USA noch in Deutschland von der
Bevölkerung weiter toleriert. Die teilweise zum Aus-
druck kommende Gier und Rücksichtslosigkeit ist geeig-
net, die soziale Marktwirtschaft zu diskreditieren. Die
Politik kann nicht nur ständig Betroffenheitserklärungen
abgeben, sondern hat die Möglichkeit, gesetzgeberisch
zu handeln, und muss diese im Interesse der eigenen
Glaubwürdigkeit auch nutzen.
Mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz sowie sei-
nen Folgegesetzen haben wir bis zu 480 Milliarden Euro
– Geld des Steuerzahlers – für die Finanzmarktstabilisie-
rung eingesetzt. Der finanzielle Eigenbeitrag des für die
Finanzkrise hauptsächlich verantwortlichen Manage-
ments tendiert bisher dagegen gegen null; teilweise wer-
den sogar noch Bonuszahlungen ausgeschüttet. Auch
dies ist in der Bevölkerung nicht mehr vermittelbar. Eine
Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Ma-
nagervergütungen und die daraus sich ergebenen Steuer-
mehreinnahmen wären daher endlich ein kleiner Eigen-
beitrag der Hauptverantwortlichen und würden dem
Prinzip der Eigenverantwortung in der Marktwirtschaft
gerecht werden.
Anlage 8
Erklärung
des Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrü-
cken) (DIE LINKE) zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung: Professionalität und
Effizienz der Aufsichtsräte deutscher Unterneh-
men verbessern (Tagesordnungspunkt 7 b)
Hiermit erkläre ich im Namen meiner Fraktion Die
Linke, dass unser Votum „Enthaltung“ lautet.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Jerzy Montag, Kai Gehring,
Grietje Staffelt, Monika Lazar, Wolfgang
Wieland, Winfried Nachtwei, Silke Stokar von
Neuforn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Uschi Eid,
Bärbel Höhn, Ute Koczy, Claudia Roth (Augs-
burg), Hans-Christian Ströbele und Undine
Kurth (Quedlinburg) (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpor-
nographie in Kommunikationsnetzen (Tages-
ordnungspunkt 9)
Die Herstellung und Verbreitung von Bildern und Fil-
men über Vergewaltigung und anderen schwersten Miss-
brauch von Kindern gehören zu den widerwärtigsten
Straftaten. Aber auch der Besitz solchen Materials ist zu
Recht strafbar. Die Opfer erleiden physische und psychi-
sche Schäden, mit denen sie ihr ganzes Leben lang zu
kämpfen haben. Auch die Darstellung und Verbreitung
im Internet ist Teil des Missbrauchsgeschehens. Es muss
Ziel staatlichen Handelns sein und bleiben, gegen diese
schwersten Straftaten national wie international vorzu-
gehen. Im Vordergrund müssen dabei die Verhinderung
von Missbrauch, die Beschlagnahmung und Vernichtung
kinderpornografischen Materials, die Verfolgung der Tä-
ter und die intensive Hilfe für die Opfer stehen.
Das Internet ist und war noch nie ein rechtsfreier
Raum. Aus diesem Grund wird gegen die Anbieter und
Nutzer kinderpornografischer Inhalte auch jetzt schon
vorgegangen. Dies führt auch dazu, dass Angebote dau-
erhaft aus dem Netz entfernt werden, sodass sie auch auf
Umwegen nicht mehr zugänglich sind, und dass gegen
die Hersteller, Verbreiter und Besitzer Strafverfahren
eingeleitet werden.
Die deutsche Internetwirtschaft arbeitet mit ihrer Ein-
richtung der freiwilligen Selbstkontrolle (FSM) bereits
seit vielen Jahren daran, die Verbreitung dieser schreck-
lichen Inhalte zu unterbinden. Im Rahmen der internatio-
nalen Zusammenarbeit zwischen Beschwerdestellen und
Behörden über das internationale Beschwerdestellen-
Netzwerk INHOPE ist es in den vergangenen Jahren im-
mer wieder gelungen, umfangreiche Verfahren einzulei-
ten und eine Vielzahl von Beschuldigten zu ermitteln.
Aber auch Kinderschutzvereine kämpfen erfolgreich
gegen Kinderpornografie im Internet: Bei einem Versuch
der Organisation CareChild wurden die Anbieter von
20 Seiten mit mutmaßlichen Kinderpornografie-Seiten
wegen dieser Inhalte angesprochen. Innerhalb von drei
Tagen wurden 16 Angebote entfernt, bei drei weiteren
wurde der Nachweis erbracht, dass es sich nicht um Kin-
derpornografie handelt.
Auch das staatliche Vorgehen gegen Kinderpornogra-
fie im World Wide Web hat in der Vergangenheit Erfolge
gebracht. Kinderpornografische Angebote wurden auf-
gespürt, ihre Entfernung verfügt und Strafverfahren
eingeleitet. Und es gibt jetzt schon das Mittel der richter-
lichen Sperrverfügung im Einzelfall, mit der Internet-
zugangsanbieter gezwungen werden können, durch tech-
nische Maßnahmen den Zugang ihrer Kunden zu
bestimmten Internetangeboten zu verhindern.
Das Internet ist kein rechtsfreier, aber auch kein bür-
gerrechtsfreier Raum. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung
der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen wer-
den nun aber täglich umfassende Sperrlisten vom Bun-
deskriminalamt eigenständig erstellt.
Die Wirksamkeit der geplanten Maßnahme wird von
Experten stark angezweifelt, und es besteht aus techni-
schen Gründen die Gefahr des sogenannten „over-blo-
25324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
cking“; es werden fast unvermeidlich auch gar nicht zur
Sperrung vorgesehene Inhalte verborgen.
Die Bundesregierung zielt nach eigenen Angaben mit
dem Gesetzentwurf vor allem auf Zufallsnutzer und Ge-
legenheitskonsumenten. Zufallstreffer und die gelegent-
liche Nutzung durch Uneingeweihte sind aber auch
heute schon unwahrscheinlich. Denn die Anbieter von
Suchmaschinen filtern ihrerseits illegale Inhalte heraus
und verzichten auf die Auflistung von Links, die im
Rahmen der Arbeit der Jugendschutzbehörden als nicht
für Kinder und Jugendliche geeignet eingestuft werden.
Neben diesen grundsätzlichen Erwägungen zur Ge-
eignetheit und Effizienz des Gesetzes stellt sich für uns
entscheidend die Frage nach dem bürgerrechtlichen
Flurschaden.
Die Liste wird vom Bundeskriminalamt erstellt und
geheim gehalten. Dies ist, bei aller Notwendigkeit, den
Missbrauch solcher Listen zu verhindern, in einem
Rechtsstaat jedoch ein nicht akzeptables Mittel zur Prä-
vention von Straftaten. Bisher schon können Zugangs-
erschwerungen für Webseiten nach einem entsprechen-
den Verfahren im Einzelfall richterlich angeordnet
werden. Das ist ein rechtsstaatliches Vorgehen und der
Schwere des Eingriffs in die Kommunikationsfreiheit
angemessen.
Das Gesetz bürdet zudem dem Bundesdatenschutzbe-
auftragten eine Kontrollaufgabe auf, die seine Unabhän-
gigkeit infrage stellt und die dieser selbst als den Aufga-
ben seines Amtes wesensfremd ablehnt.
Für das Gesetz gibt es keine gesetzgeberische Zustän-
digkeit des Bundes. Außer im Bereich des internationa-
len Terrorismus hat das Bundeskriminalamt keine Kom-
petenz der Gefahrenabwehr.
Der Aufbau einer umfassenden Sperrinfrastruktur bei
den Internetzugangsanbietern zur Umsetzung der vom
Bundeskriminalamt erstellten Liste birgt die Gefahr, zu-
künftig auch zur Sperrung anderer missliebiger oder an-
geblich strafbarer Inhalte verwendet zu werden. Das
Gesetz als solches ermöglicht noch nicht eine verfas-
sungswidrige Inhaltszensur, aber wir sind gegen die
Schaffung von Infrastrukturen, die dazu möglicherweise
in Zukunft missbraucht werden können.
Das Gesetz ist ein bürgerrechtlich schädlicher, unver-
hältnismäßiger und weitgehend unwirksamer Weg zur
Bekämpfung von Kinderpornografie.
Deshalb stimmen wir dem Gesetz nicht zu.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Wolfgang Spanier (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Bekämpfung der Kinderpornographie in
Kommunikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 9)
Selbstverständlich unterstütze ich das Ziel des Geset-
zes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommu-
nikationsnetzen, auch wenn seine Wirkungen wahr-
scheinlich nur begrenzt sind. Grundsätzlich bin ich auch
damit einverstanden, dass für diesen begrenzten Bereich
das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses einge-
schränkt wird.
Wenn das Parlament ein Grundrecht der Bürgerinnen
und Bürger einschränkt, ist es allerdings unabdingbar,
dass eine unabhängige Kontrolle der Exekutive gewähr-
leistet ist. Das in § 9 vorgesehene Expertengremium soll
diese Kontrollfunktion ausüben. Das Gesetz sieht vor,
dass die Mehrheit der Mitglieder die Befähigung zum
Richteramt haben muss. Die bloße Befähigung zum
Richteramt gewährleistet nach meiner Auffassung aber
nicht die notwendige Unabhängigkeit. Diese wäre nur
dann gewährleistet, wenn Richter für dieses Kontrollgre-
mium benannt werden. Damit würde die Unabhängigkeit
des Gremiums gestärkt.
Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsge-
richt dieses Gesetz überprüfen und sich mit der Unab-
hängigkeit des Kontrollgremiums befassen wird.
Weil ich grundsätzlich dieses Gesetz befürworte, aber
in diesem entscheidenden Punkt begründete Zweifel
habe, enthalte ich mich der Stimme.
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Christine
Scheel, Priska Hinz (Herborn), Kerstin Müller
(Köln), Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe,
Dr. Thea Dückert, Katrin Göring-Eckardt,
Hans-Josef Fell und Cornelia Behm (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämp-
fung der Kinderpornographie in Kommunika-
tionsnetzen (Tagesordnungspunkt 9)
Kinderpornografie ist eine der widerlichsten Formen
von Kriminalität. Man macht Geschäfte mit dem sexuel-
len Missbrauch von Kindern, traumatisiert sie und zer-
stört Lebenswege. Die Verbreitung von kinderpornogra-
fischem Material ist ein Straftatbestand und muss
deshalb mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verhindert
werden. Das gilt für alle Verbreitungswege. Deshalb ist
es grundsätzlich richtig, eine gesetzliche Grundlage für
die Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet zu
schaffen.
Trotzdem ist die Kritik an dem vorliegenden Gesetz-
entwurf berechtigt, wie sie auch in dem bündnisgrünen
Entschließungsantrag zu diesem Gesetz formuliert ist. In
vielen Punkten teilen wir die kritische Bewertung des
Gesetzentwurfs: Er erfüllt die Kriterien des Rechtsstaats
nur unzureichend, der Datenschutz ist nicht hinreichend
gewährleistet, und er birgt die Gefahr, dass unsere Me-
dienordnung aus der Balance gerät. Schwere Bedenken
hat auch der Datenschutzbeauftragte der Bundesregie-
rung geäußert, der die ihm zugedachte Aufgabe als we-
sensfremd für sein Amt einstufte. Das Gesetz ist zudem
technisch unzureichend, nicht sachgerecht und zu wenig
spezifisch auf die Notwendigkeiten im Kampf gegen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25325
(A) (C)
(B) (D)
Kinderpornografie und sexuelle Ausbeutung von Kin-
dern in Kommunikationsnetzwerken ausgerichtet.
Dennoch sagen wir ganz klar: Kinderpornografie im
Internet ist mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu be-
kämpfen. Auch ausländische Seiten mit kinderpornogra-
fischem Inhalt müssen konsequent aus dem Internet ent-
fernt werden, so wie dies bereits mit deutschen Seiten
nach rechtsstaatlichem Verfahren geschieht. Es kann
auch gute Gründe geben, Internetseiten mit Kinder-
pornografie zu sperren. Unser Ziel ist die Löschung
solcher Seiten und, wenn dies nicht möglich ist, die
Sperrung des Zugangs. Kinderpornografie fügt den be-
troffenen Kindern schwerste Verletzungen zu und trau-
matisiert sie oftmals fürs Leben. Das dürfen wir nicht
zulassen.
In der Vergangenheit hat das staatliche Vorgehen ge-
gen Kinderpornografie im World Wide Web Erfolge
gebracht. Kinderpornografische Angebote wurden auf-
gespürt, ihre Entfernung verfügt und Strafverfahren ein-
geleitet. Und es gibt das Mittel der richterlichen Sperr-
verfügung, mit dem Internetzugangsanbieter gezwungen
werden können, durch technische Maßnahmen den Zu-
gang ihrer Kunden zu bestimmten Internetangeboten zu
verhindern. Dieses Mittel soll weiterhin angewendet und
schneller eingesetzt werden. Deutlich ist jedoch auch,
dass mit den sich rasch entwickelnden technischen Mög-
lichkeiten und der kriminellen Energie der Täter neue
Handlungsfelder im Kampf gegen sexuelle Ausbeutung
von Kindern entstanden sind, und dieser Herausforde-
rung wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht
gerecht.
Daher können wir diesem Gesetz nicht zustimmen
und werden uns enthalten.
Dennoch müssen wir alle daran arbeiten, Kinderpor-
nografie auch aus dem Internet zu verbannen. Der
Kampf gegen Kinderpornografie und Ausbeutung von
Kindern darf jedoch nicht bei den gesetzlichen Regelun-
gen im Internet stehen bleiben. Wir brauchen und for-
dern einen nationalen Aktionsplan auf allen Ebenen so-
wie die bessere Ausstattung aller zuständigen Behörden
mit Personal und Sachmitteln.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Kinderpornographie in Kom-
munikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 9)
Ich stimme dem Gesetz zu, nicht ohne grundsätzliche
Bedenken in den Fragen der Effizienz, des möglichen
Einstiegs in die Etablierung eines „Zensurmechanismus“
und der Sicherstellung der rechtsstaatlichen Überprüfun-
gen.
Dennoch glaube ich, dass auch das Internet nicht ohne
Regeln bleiben kann, die zumindest den Versuch unter-
nehmen, Rechtsverstöße zu verhindern. Dazu wird es
eine intensive, ernsthafte und ruhige Debatte in den
nächsten Jahren geben müssen.
Ich nehme die massiven Bedenken der „Internetge-
meinde“ sehr ernst und bedanke mich für die vielen Ge-
spräche und Anregungen. Viele davon sind von der SPD
aufgenommen und zumindest teilweise in den Gesetz-
entwurf eingefügt worden.
Im Gegensatz zum Gesetz zur „Onlinedurchsuchung“
geht es hier um eine einfachgesetzliche Regelung. Sie
kann also mit einfacher Mehrheit im Deutschen Bundes-
tag korrigiert werden, wenn wir Erfahrungen mit dem
Gesetz gemacht haben und mögliche neue Erkenntnisse
vorliegen.
Zur heutigen Zustimmung veranlasst mich insbeson-
dere, dass das Gesetz automatisch zum 31. Dezember
2012 außer Kraft tritt und damit ein „Zwang“ zur Über-
prüfung besteht, dass die BKA-Liste von einem unab-
hängigen Gremium beim Datenschutzbeauftragten über-
prüft wird und durch dieses auch verändert werden kann,
dass gegen die Aufnahme in die Sperrliste auf dem Ver-
waltungsrechtsweg vorgegangen werden kann.
Kinderpornografie ist ein schlimmes Verbrechen und
muss mit den Mitteln des Rechtsstaates umfassend be-
kämpft werden. Das ist so. Ich hätte mir aber gewünscht,
dass das Gesetzesvorhaben in einer ruhigeren Form hätte
diskutiert werden können. Die Versuche, die Kritiker des
Gesetzes – auch in manchen Medien – zu verunglimp-
fen, haben der Debatte geschadet.
Ich erwarte, dass neben diesem jetzt vollzogenen
Schritt ernsthaft geeignete Maßnahmen zur Verhinde-
rung der Verbreitung von Kinderpornografie diskutiert
und umgesetzt werden.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Ulrich Kelber (SPD) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Kinderpornographie in Kom-
munikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 9)
Die Bekämpfung von Kinderpornografie, der Schutz
der missbrauchten Kinder und die strafrechtliche Verfol-
gung der Täter und Händler ist dringend geboten und
muss in allen Formen verstärkt bekämpft werden, mit al-
len rechtsstaatlichen Mitteln. Der vorliegende Gesetz-
entwurf dient diesem Ziel nach meiner festen Überzeu-
gung kaum und eröffnet Möglichkeiten einer Aufsicht
im Internet, die ich für höchst bedenklich halte, weil
ohne Not und zu weitgehend in die Grundrechte des
Fernmeldegeheimnisses und der Informationsfreiheit
eingegriffen wird.
Ich erkenne an, dass es meinen Fraktionskolleginnen
und -kollegen in den Beratungen gelungen ist, den Ur-
sprungsentwurf des Gesetzes, der nach meiner Überzeu-
gung schlicht verfassungswidrig war, deutlich zu verbes-
sern und so zu gestalten, dass er rechtsstaatliche
Standards einhält. Dem eigentlichen Ziel, der Bekämp-
25326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
fung von Kinderpornografie, dient er aber nach wie vor
nicht; immer noch befördert er „wegsehen statt han-
deln“.
Kriminelle, die solche Inhalte verbreiten, ansehen und
speichern wollen, können die angedachten Sperren leicht
umgehen, indem sie ihren Browser auf einen DNS-
Proxy im Ausland umstellen, zu kleinen Providern
wechseln oder schlicht die Ziffern der IP-Adressen ein-
geben. Ins reale Leben übertragen würde dieses Gesetz
ungefähr wie folgt wirken: Wenn ein Polizist in einem
Kiosk kinderpornografisches Material sieht, soll er das
Straßenschild abschrauben, damit niemand mehr den Ki-
osk findet. Tatsächlich gibt es aber immer noch Straßen-
karten, Navigationsgeräte und Nachbarn, die jedem sa-
gen bzw. zeigen können, wo der Kiosk ist. Die
Stammkunden finden den Weg ohnehin. Zur Bekämp-
fung von Kinderpornografie wäre es notwendig, dass der
Polizist den Kioskbesitzer festnimmt, das Material be-
schlagnahmt, die Vertriebswege recherchiert und alle
Kunden, die Zwischenhändler und den Produzenten
ebenfalls verfolgt und festnimmt.
Notwendig zur tatsächlichen Bekämpfung von Kin-
derpornografie auch im Internet wären aus meiner Sicht
Schwerpunktstaatsanwaltschaften, eine weitere Verbes-
serung der internationalen Zusammenarbeit von Polizei
und Staatsanwaltschaften, öffentlicher Druck auf Provi-
der, die sich weigern, Server mit solchen Inhalten abzu-
schalten, und öffentlicher internationaler Druck auf sol-
che Staaten, die nicht intensiv bei der Bekämpfung von
kinderpornografischen Inhalten in ihren Netzen mitar-
beiten. Die letzten Tage und Wochen haben gezeigt, dass
auch bei ausländischen Providern schnell eine Löschung
solcher Webseiten und Inhalte erreicht werden kann.
Dies muss forciert werden. Der Gesetzentwurf setzt die
postulierte Lösung „löschen vor sperren“ nicht konse-
quent um.
Das Sperren von Internetseiten greift in die Grund-
rechte des Fernmeldegeheimnisses und der Informa-
tionsfreiheit ein und bedürfte von daher einer ordentlichen
richterlichen Überprüfungsmöglichkeit. Die Kontrolle
der BKA-Sperrlisten durch das neu eingeführte Exper-
tengremium entspricht nach meiner Auffassung nicht
diesem Grundsatz.
Auch wenn das Gesetz nun ausdrücklich nur für die
Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischen
Inhalten gelten soll und dies durch die Namensgebung
dokumentiert wird, wird mit diesem Gesetz ein Tor zur
Sperrung weiterer unliebsamer Internetseiten geöffnet,
wie die Forderungen von Politikern aus CDU und CSU
zeigen, die zum Beispiel auch Onlinespiele und Tausch-
börsen sperren wollen. Wie bei der Verwendung der
Mautdaten wird sich auch hier zeigen: Pfade, die einmal
begangen wurden, können schnell zu Straßen oder gar
Autobahnen werden.
Da sich meine Fraktion mit großer Mehrheit dennoch
für diesen so veränderten Gesetzentwurf ausgesprochen
hat und das Gesetz auf drei Jahre befristet ist, stimme ich
zu, da ich diese Entscheidung zwar für falsch, nicht aber
für eine Gewissensfrage halte.
Anlage 14
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen)
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Be-
kämpfung der Kinderpornographie in Kommu-
nikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 9)
Kinderpornografie ist eine der widerlichsten Formen
von Kriminalität. Sie macht Geschäfte mit dem sexuel-
len Missbrauch von Kindern, traumatisiert sie und zer-
stört Lebenswege. Die Verbreitung von kinderpornogra-
fischem Material ist ein Straftatbestand und muss
deshalb mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt wer-
den. Das gilt für alle Verbreitungswege. Deshalb ist es
grundsätzlich richtig, eine gesetzliche Grundlage für die
Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet zu
schaffen.
Trotzdem ist die Kritik an dem vorliegenden Gesetz-
entwurf berechtigt. In vielen Punkten teile ich die kriti-
sche Bewertung des Vorhabens: Es erfüllt die Kriterien
des Rechtsstaats nur unzureichend, der Datenschutz ist
nicht hinreichend gewährleistet, und es birgt die Gefahr,
dass unsere Medienordnung aus der Balance gerät.
Schwere Bedenken hat auch der Datenschutzbeauftragte
der Bundesregierung geäußert, der die ihm zugedachte
Aufgabe als wesensfremd für sein Amt einstufte. Beson-
ders schwer wiegen die verfassungsrechtlichen Beden-
ken, die in der Anhörung zum Gesetzentwurf formuliert
worden sind.
Das Gesetz ist zudem technisch unzureichend und zu
wenig spezifisch auf die Notwendigkeiten im Kampf ge-
gen Kinderpornografie und sexuelle Ausbeutung von
Kindern in Kommunikationsnetzwerken ausgerichtet.
Kinderpornografie im Internet ist mit allen rechtsstaatli-
chen Mitteln zu bekämpfen. Auch ausländische Seiten
mit kinderpornografischem Inhalt müssen konsequent
aus dem Internet entfernt werden, so wie dies bereits mit
deutschen Seiten nach rechtsstaatlichem Verfahren ge-
schieht. Es kann auch gute Gründe geben, Internetseiten
mit Kinderpornografie zu sperren: Kinderpornografie
fügt den betroffenen Kindern schwerste Verletzungen zu
und traumatisiert sie oftmals fürs Leben. Das dürfen wir
nicht zulassen!
So argumentiert Unicef in seinem Report 2009 zum
Stopp der sexuellen Ausbeutung: „Eine gesetzliche Ver-
ankerung des Access Blocking führt zumindest zu einer
Erschwernis des Zugangs und verdeutlicht vor allem die
gesellschaftliche Ächtung der Herstellung, der Verbrei-
tung und des Konsums von Kinderpornografie.“
In der Vergangenheit hat das staatliche Vorgehen ge-
gen Kinderpornografie im World Wide Web Erfolge ge-
bracht. Kinderpornografische Angebote wurden aufge-
spürt, ihre Entfernung verfügt und Strafverfahren
eingeleitet. Und es gibt das Mittel der richterlichen
Sperrverfügung, mit dem Internetzugangsanbieter ge-
zwungen werden können, durch technische Maßnahmen
den Zugang ihrer Kunden zu bestimmten Internetange-
boten zu verhindern. Dieses Mittel soll weiterhin ange-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25327
(A) (C)
(B) (D)
wendet und schneller eingesetzt werden. Deutlich ist
jedoch auch, dass mit den sich rasch entwickelnden tech-
nischen Möglichkeiten und der kriminellen Energie der
Täter neue Handlungsfelder für den Kampf gegen
sexuelle Ausbeutung von Kindern entstanden sind, und
dieser Herausforderung wird der Gesetzentwurf der
Bundesregierung nicht gerecht.
Die Zielsetzung des von der Regierungskoalition vor-
gelegten Gesetzentwurfs teile ich voll und ganz. Aller-
dings geben Art und Ausführung des Gesetzes kaum An-
lass zu der Hoffnung, dass es die selbst gesetzten Ziele
erreichen wird. In der Abwägung, dass es verfassungs-
rechtliche Bedenken gibt, der Datenschutzbeauftragte in
seinem Auftrag entfremdet und das vorgegebene Ziel
kaum erreicht wird, enthalte ich mich bei dem von den
Koalitionsfraktionen vorgelegten Gesetzentwurf.
Anlage 15
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Monika Griefahn, Klaus
Hagemann, Ewald Schurer, Peter Friedrich,
Dr. Lale Akgün, Marco Bülow, Gabriele
Frechen, Christian Carstensen, Ursula Mogg,
Dr. Rainer Tabillion, Gabriele Hiller-Ohm,
Gustav Herzog, Dr. Reinhold Hemker, Johannes
Jung (Karlsruhe), Christoph Pries, Klaus Uwe
Benneter, Helga Kühn-Mengel, Gabriele
Lösekrug-Möller, Gregor Amann, Swen Schulz
(Spandau), Florian Pronold, Lydia Westrich,
Katja Mast, Petra Heß, Hilde Mattheis, Ute
Kumpf, Angelika Graf (Rosenheim), Gabriele
Fograscher, Ulla Burchardt, Waltraud Lehn,
Lothar Binding (Heidelberg), Dr. Eva Högl,
Kurt Bodewig, Jella Teuchner, Dr. Axel Berg,
Elke Ferner, Christel Humme und Petra Merkel
(alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpor-
nographie in Kommunikationsnetzen (Tages-
ordnungspunkt 9)
Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD „Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikations-
netzen“ in der mit der Beschlussempfehlung geänderten
Fassung bei der Beratung in zweiter und dritter Lesung
zu, obgleich wir folgende Bedenken zu Protokoll geben:
Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der geänderten
Fassung zu, weil die SPD-Bundestagsfraktion sich mit
ihrer Forderung nach einer grundlegenden Überarbeitung
des ursprünglichen Gesetzentwurfes in den Verhandlungen
auf ganzer Linie durchgesetzt hat. Mit der neuen gesetzli-
chen Regelung bekämpfen wir nicht nur die Verbreitung
kinderpornografischer Inhalte im Internet, sondern
schützen zugleich Internetnutzer, sichern rechtsstaatliche
Grundsätze und ermöglichen ein transparentes Verfahren.
Dabei begrüßen wir insbesondere, dass die SPD fol-
gende rechtsstaatliche Grundsätze in den Verhandlungen
durchsetzen konnte:
Erstens. Verankerung des Subsidiaritätsprinzips: Lö-
schen vor Sperren: Die Aufnahme in die Sperrliste des
BKA erfolgt nur, soweit zulässige Maßnahmen, die auf
eine Löschung der Internetseiten mit kinderpornografi-
schen Inhalten abzielen, keinen Erfolg haben.
Zweitens. Kontrolle der BKA-Liste und Rechtsschutz-
möglichkeiten Betroffener: Beim Datenschutzbeauftragten
des Bundes wird ein unabhängiges Gremium bestellt,
dessen Mitglieder mehrheitlich die Befähigung zum
Richteramt haben müssen. Das Gremium kontrolliert die
BKA-Liste regelmäßig und kann sie jederzeit einsehen
und korrigieren, soweit die Voraussetzungen für eine
Sperrung nicht vorliegen. Es wird verankert, dass gegen
die Aufnahme in die Sperrliste der Verwaltungsrechtsweg
gegeben ist. Anders als es der Bundesbeauftragte für den
Datenschutz und die Informationsfreiheit heute erklärt
hat, wird mit diesem Gremium keine Kontrollbehörde
geschaffen, die die Unabhängigkeit seiner Behörde infrage
stellt. Vielmehr soll die Unabhängigkeit der Institution
des Beauftragten für den Datenschutz und die Informa-
tionsfreiheit die Unabhängigkeit des Gremiums zur Prü-
fung der Sperrliste beim BKA stärken und zur Wahrung
der Informationsfreiheit beitragen.
Drittens. Datenschutz: Das Gesetz dient ausschließlich
der Prävention. Verkehrs- und Nutzungsdaten, die aufgrund
der Zugangserschwerung bei der Umleitung auf die
Stoppmeldung anfallen, dürfen nicht für Zwecke der
Strafverfolgung verwendet werden. Damit wird auch
ausgeschlossen, dass sich durch Spammails fehlgeleitete
Nutzer und Nutzerinnen einem Ermittlungsverfahren
ausgesetzt sehen könnten. Zudem ist keine Speicherung
personenbezogener Daten bei den Internetprovidern
mehr vorgesehen.
Viertens. Spezialgesetzliche Regelung mit Befristung:
Zur eindeutigen Klarstellung, dass nur eine Sperrung von
Internet-Seiten mit Kinderpornografie ermöglicht wird,
nicht jedoch von anderen Inhalten, werden die wesentlichen
Regelungen in einem neuen Zugangserschwerungsgesetz
statt im Telemediengesetz verankert. Zudem tritt das Gesetz
automatisch zum 31. Dezember 2012 außer Kraft, sodass
in jedem Falle die vorgesehene Evaluation auszuwerten
ist, auf deren Basis endgültig entschieden werden kann.
Zusätzlich haben wir eine Bestimmung aufgenommen,
die ausschließt, dass die neu geschaffene Infrastruktur
zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche genutzt
werden kann.
Mit diesen Änderungen wird auch den wesentlichen
Forderungen des Bundesrates, der Sachverständigenan-
hörung und der Netzcommunity Rechnung getragen.
Dennoch bleiben natürlich grundsätzliche Bedenken ge-
gen den Aufbau einer entsprechenden Sperrinfrastruktur
bestehen, die – bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen
im Deutschen Bundestag – auch zu anderen Zwecken als
der Sperrung kinderpornografischer Inhalte genutzt werden
könnte. Hier waren gerade aus der Unionsfraktion in den
vergangenen Tagen und Wochen Forderungen bekannt
geworden, diese Sperren auch für Computerspiele,
Glückspiele, extremistische Inhalte oder gar Urheber-
rechtsverletzungen anzuwenden. Hierzu erklären wir,
dass eine Ausweitung der Sperrinfrastruktur für andere
Zwecke für uns grundsätzlich ausgeschlossen ist.
25328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Schließlich bleibt bei der Abwägung der Zustimmung zu
diesem Gesetz auch der Umstand zu berücksichtigen, dass
die entsprechende Sperrinfrastruktur aufgrund der abge-
schlossenen Verträge zwischen BKA und Internetprovidern
bereits aufgebaut wird. Diese Verträge beinhalten keinen
hinreichenden Grundrechtsschutz und verfahrensrechtliche
Sicherungen und sind deshalb höchst problematisch. Wir
sehen es als unsere Pflicht als Abgeordnete an, solche
weitgehenden, intransparenten und verfassungsrechtlich
schlicht unzulässigen Verträge zulasten Dritter durch
eine gesetzliche Grundlage abzuschwächen und ihre ne-
gative Wirkung zu reduzieren.
Anlage 16
Erklärung
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung
zu dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen
(Tagesordnungspunkt 9)
Die Fraktion Die Linke erklärt ihre Zustimmung.
Anlage 17
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrü-
cken) (DIE LINKE) zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Waf-
fengesetzes (Tagesordnungspunkt 13 a)
Die Fraktion Die Linke stimmt dem Gesetzentwurf
der FDP zur Änderung des Waffengesetzes zu (Drucksa-
che 12663).
Anlage 18
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Detlef Müller (Chemnitz)
(SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. September
2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Königreich Dänemark über eine Feste
Fehmarnbeltquerung (Tagesordnungspunkt 17)
Bei der bevorstehenden Abstimmung über den Bau
einer festen Verbindung über den Fehmarnbelt werde ich
mit Nein stimmen.
Durch den Bericht des Bundesrechnungshofes vom
30. April 2009 sind neue und wesentliche Kritikpunkte
und Risiken vor allem finanzieller Natur dargestellt wor-
den. Gerade im Hinblick auf die Kosten der künftigen
Hinterlandanbindung in Deutschland, zu der Deutsch-
land laut Staatsvertrag verpflichtet ist, äußert sich der
Bericht des BRH sehr kritisch und sieht erhebliche Ge-
fahren für zukünftige Bundeshaushalte. Allein die Tatsa-
che, dass die der Kostenkalkulation zugrunde liegenden
Zahlen aus dem Jahr 2002 stammen, lässt eine erhebli-
che Kostensteigerung erwarten.
Auch nach der öffentlichen Anhörung des Deutschen
Bundestages am 6. Mai 2009 bleiben diese und andere
Fragen ungeklärt. Es sind durch den Vortrag eines Ver-
kehrsexperten sogar neue Fragen aufgetaucht, die das
Projekt zusätzlich infrage stellen. So werden nach An-
sicht des Verkehrsexperten in der Anfangsphase nur
5 100 Fahrzeuge und 44 Züge täglich über die Brücke
fahren. Damit wären die geplante Brückenschnellstraße
und die zweigleisige Bahnstrecke nur zu zehn Prozent
ausgelastet. Dagegen geht Dänemark von 7 700 Fahr-
zeugen pro Tag nach der Eröffnung aus. Fünf Jahre spä-
ter sollen es bereits 10 300 Fahrzeuge sein. Auf diesen
aus meiner Sicht zu optimistischen Prognosen gründet
sich das gesamte dänische Finanzierungsmodell. Auch
diese deutlichen Abweichungen bei der Kalkulation des
zukünftigen Verkehrsaufkommens konnten in der Anhö-
rung nicht aufgeklärt werden.
Ein anderer wichtiger Aspekt für meine ablehnende
Haltung ist für mich als zuständiger Berichterstatter im
Umweltausschuss, dass durch die geplante 19 km lange
Brücke zusätzliche Gefahren für die Schiffssicherheit
auf der Ostsee und für die Umwelt entstehen. Es ist nahe-
liegend, dass der Bau einer Brücke mit 70 Betonpfeilern
in einer der mit 66 000 Schiffsbewegungen meistbefah-
renen Wasserstraßen der Welt aus Gründen der Schiffs-
sicherheit zu einem zusätzlichen Kollisionsrisiko führt,
zumal ein Großteil der Schiffe Einhüllentanker sind, die
Öl aus Kaliningrad transportieren und deren Kollisions-
risiko mit der Brücke ein unverantwortliches Risiko nicht
nur für die Ostseestrände und den Tourismus darstellt.
Darüber hinaus würde der Bau der Brücke den für die
Ostsee lebenswichtigen Sauerstoffaustausch weiter behin-
dern, Fischbestände, die letzten knapp 1 000 Schweins-
wale sowie Millionen Watt- und Wasservögel auf der
„Vogelfluglinie“ gefährden.
Diese Gründe sprechen aus meiner Sicht für die Ab-
lehnung des Gesetzentwurfes.
Anlage 19
Erklärungen nach § 31 GO
der Abgeordneten Bettina Hagedorn,
Dr. Margrit Wetzel, Dr. Wolfgang Wodarg,
Christian Kleiminger, Monika Griefahn,
Dr. Hermann Scheer, Iris Hoffmann (Wismar),
Gabriele Hiller-Ohm, Detlef Müller (Chemnitz),
Dirk Manzewski, Dr. Lale Akgün, Brunhilde
Irber und Martin Burkert (alle SPD) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 3. September 2008 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Kö-
nigreich Dänemark über eine Feste Fehmarn-
beltquerung (Tagesordnungspunkt 17)
Am 18. Juni 2009 wird der Deutsche Bundestag ab-
schließend über oben genannten Vertrag abstimmen. Wir
lehnen eine Abstimmung zum jetzigen Zeitpunkt ab und
werden dem Gesetz deshalb nicht zustimmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25329
(A) (C)
(B) (D)
Der Vertrag soll in Deutschland noch vor der parla-
mentarischen Sommerpause beraten werden. Für eine
derart kurzfristige Entscheidung besteht weder eine ge-
setzgeberische Notwendigkeit, noch liegen laut Bundes-
rechnungshofbericht vom 30. April 2009 alle dafür
notwendigen Kosten und Informationen als Entschei-
dungsgrundlage vor.
In Art. 23 Abs. 4 des Staatsvertrags heißt es: „Um
sicherzustellen, dass die Feste Fehmarnbeltquerung so
bald wie möglich zur Nutzung fertiggestellt werden kann
nach Art. 1, werden die Vertragsstaaten diesen Vertrag
nach Maßgabe des jeweils geltenden innerstaatlichen
Rechts der Vertragsstaaten vorläufig anwenden.“ Vorläu-
fige Untersuchungen wurden von Dänemark und
Deutschland seitdem bereits beauftragt und können auch
ohne Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag un-
gehindert fortgeführt werden – eine Verschiebung der
Abstimmung gefährdet das Projekt in keinster Weise,
sondern ist dem Respekt der Abgeordneten und ihrem
Anspruch auf eine begründete Abstimmung in Kenntnis
der wichtigen Grundlagen geschuldet.
Der Verweis auf die in Dänemark bereits erfolgte Ab-
stimmung ist irreführend: Dort wurde im März 2009 im
Parlament zunächst nur ein Planungsgesetz verabschie-
det und erst später – nach Vorlage der konkreten Zahlen
und Fakten – wird ein Baugesetz verabschiedet. In
Deutschland jedoch entscheidet das Parlament nur ein-
mal – und kann die Entwicklung danach grundsätzlich
nicht mehr beeinflussen.
Wir halten eine Abstimmung noch vor der Sommer-
pause für unverantwortlich. Wesentliche Kritikpunkte
und Risiken vor allem finanzieller Natur hat der Bundes-
rechnungshof (BRH) in seinem Bericht vom 30. April
2009 dargestellt. Diese werden wir im Folgenden bei-
spielhaft zusammenfassen.
Erstens. Der Staatsvertrag verpflichtet Deutschland,
die Hinterlandanbindung mit kalkulierten Gesamtkosten
von 840 Millionen Euro zu bauen. Ob diese Zahl realis-
tisch ist, musste schon im September 2008 bezweifelt
werden, als der „Bericht zur Preisentwicklung bei Groß-
bauprojekten des Bundes“ aus dem Bundesverkehrsmi-
nisterium Kostensteigerungen bei Großprojekten von
60 bis 100 Prozent in den letzten drei Jahren offenbarte.
Die der Kostenkalkulation für die Feste Fehmarnbelt-
querung zugrunde liegenden Zahlen stammen aber aus
dem Jahr 2002. Der BRH dazu: „Unter Einrechnung der
vom Bundesministerium selbst erwarteten Kostensteige-
rung von mindestens 60 Prozent ergeben sich Projekt-
kosten (Anm.: für die Schienenhinterlandanbindung)
von rund 1,7 Milliarden Euro.“
Zweitens. Weitere Risiken sieht der BRH darin, dass
durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zu-
sätzliche Kosten entstehen können: „Obwohl die Kosten
für die feste Verbindung als solche nach dem Staatsver-
trag allein von Dänemark zu tragen sind, birgt dieser
Vertrag erhebliche Unsicherheiten für künftige Bundes-
haushalte. So enthält er Klauseln, welche die Vertragspar-
teien unter nur unpräzise formulierten Voraussetzungen zu
Nachverhandlungen – auch über die Kostentragung –
verpflichten.“
Drittens. Erst im Juni 2008 wurde mit der Planung der
Schienenhinterlandanbindung begonnen, eine Vorpla-
nung wird voraussichtlich Ende 2009/Anfang 2010 vor-
liegen. BRH dazu: „Ohne eine Festlegung der genauen
Streckenführung und der zugehörigen Kosten geht der
Bund durch den unterzeichneten Staatsvertrag nicht kal-
kulierte Verpflichtungen ein.“ Darüber hinaus fehlt eine
verbindliche Vereinbarung mit der Deutschen Bahn über
den Ausbau der Hinterlandanbindung: „Der Bund ver-
pflichtet sich im Staatsvertrag zum Ausbau der Hinter-
landanbindung, ohne dass die DB Netz AG an den
Staatsvertrag oder in einer Finanzierungsvereinbarung
an dessen Ziele gebunden ist. Deshalb ist zu befürchten,
dass die DB Netz AG aufgrund ihres geringen Eigeninte-
resses künftig weitere finanzielle Zugeständnisse vom
Bund einfordern wird.“
Viertens. Zur mangelhaften Einbindung der Parla-
mentarier auf deutscher Seite resümiert der Bericht:
„Der Bundesrechnungshof hält die Art der Darstellung
der Kosten gegenüber dem Parlament für nicht angemes-
sen. Diese Vorgehensweise des Bundesministeriums
(Anmerkung: für Verkehr) wird weder der Bedeutung
dieses internationalen Vorhabens noch dem Anspruch an
eine transparente Information des Gesetzgebers ge-
recht.“ Und weiter: „Der Bundesrechnungshof hält ab-
schließend daran fest, dass eine transparente aktuelle In-
formation des Parlaments über die aus jetziger Sicht zu
erwartenden finanziellen Belastungen geboten ist.“
Neben den haushalterischen Risiken sehen wir auch
große Gefahren für jeweils über 600 Arbeitsplätze beim
Fährunternehmen Scandlines in Puttgarden und Meck-
lenburg-Vorpommern. Zurzeit verkehrt im Fehmarnbelt
eine „schwimmende Brücke“ zuverlässig im halbstündli-
chen Takt – die Fähren sind nur zu 40 Prozent ausgelas-
tet und verfügen noch über große Kapazitäten.
Nicht auszugleichende Gefahren entstehen durch die
geplante 19 km lange Brücke für die Schiffssicherheit
auf der Ostsee und für die Umwelt. Wir halten den Bau
einer Brücke mit 70 Betonpfeilern in einer der mit
66 000 Schiffsbewegungen meistbefahrenen Wasserstra-
ßen der Welt aus Gründen der Schiffssicherheit für un-
verantwortlich, zumal ein Großteil der Schiffe Einhül-
lentanker sind, die Öl aus Kaliningrad transportieren und
deren Kollisionsrisiko mit der Brücke ein unverantwortli-
ches Risiko nicht nur für die Ostseestrände und den Tou-
rismus darstellt. Eine Brücke würde den für die Ostsee le-
benswichtigen Sauerstoffaustausch weiter behindern,
Fischbestände und die letzten knapp 1 000 Schweinswale,
die im Fehmarnbelt ihre „Kinderstube“ haben, sowie
Millionen Wasservögel auf der „Vogelfluglinie“ gefähr-
den. Einige dieser Probleme könnten durch den Bau ei-
nes Tunnels statt einer Brücke zumindest gemildert wer-
den – aber Dänemark entscheidet erst in circa zwei
Jahren, ob die Querung in Form einer favorisierten Brü-
cke oder eines – mindestens 1,2 Milliarden Euro teure-
ren – Tunnels erfolgen soll. Aktuell verkehren auf dieser
Strecke circa 6 000 Fahrzeuge täglich, Verkehrsprogno-
sen gehen für 2025 von circa 10 500 Fahrzeugen aus –
eine Zahl, für die in Deutschland üblicherweise nicht
einmal eine Ortsumgehung gebaut wird.
25330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Ohne ausreichende Kenntnis der Kosten, des Designs
und der Risiken können wir eine Ratifizierung des
Staatsvertrags zum jetzigen Zeitpunkt nicht verantwor-
ten.
Anlage 20
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zu dem Vertrag vom 3. September 2008 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich Dänemark über eine Feste Feh-
marnbeltquerung (Tagesordnungspunkt 17)
Ulrich Adam (CDU/CSU): Der Bundesrechnungs-
hof, BRH, hat in seinem Bericht nach § 88 Abs. 2 BHO
zur festen Verbindung über den Fehmarnbelt mit Hinter-
landanbindung vom 30. April 2009 dringend von einer
Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zum jetzi-
gen Zeitpunkt abgeraten und zahlreiche Prüfungspunkte
aufgeworfen. So heißt es unter anderem in dem Bericht
des Bundesrechnungshofes:
Obwohl die Kosten für die feste Verbindung als sol-
che nach dem Staatsvertrag allein von Dänemark zu
tragen sind, birgt dieser Vertrag erhebliche Unsi-
cherheiten für künftige Bundeshaushalte. So enthält
er Klauseln, welche die Vertragsparteien unter nur
unpräzise formulierten Voraussetzungen zu Nach-
verhandlungen – auch über Kostentragung – ver-
pflichtet. Hinzu kommt, dass das Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zwar
angibt, die Kosten der deutschen Hinterlandanbin-
dung seien bekannt, diese jedoch für das Parlament
nicht aktuell und transparent im Entwurf des Ver-
tragstextes darstellt. … Auf Grundlage der Studie
aus dem Jahr 2006 mit Preisstand 2002 geht der
Bundesrechnungshof für die Schienenhinterland-
anbindung bis Hamburg von 1 092 Millionen Euro
aus. Unter Einrechnung der vom Bundesministe-
rium selbst erwarteten Kostensteigerung von min-
destens 60 Prozent ergeben sich Projektkosten von
rund 1,7 Milliarden Euro. Hierbei nicht berücksich-
tigt sind zusätzliche Kosten im Knoten Hamburg
und für den zweistufigen Ausbau des Teilstücks
von Lübeck nach Puttgarden.
Weiter heißt es:
Für die Hinterlandanbindung der Straße empfiehlt
der Bundesrechnungshof, angesichts der geringen
Verkehrsprognose die Wirtschaftlichkeit der beab-
sichtigten Ausbaus kritisch zu überprüfen.
Die Kritik des Bundesrechnungshofes verbietet in
Anbetracht der aktuellen wirtschaftlichen Lage und der
Haushaltslage des Bundes eine abschließende Be-
schlussfassung des Deutschen Bundestages zum jetzigen
Zeitpunkt.
Darüber hinaus wurde vom „Aktionsbündnis gegen
eine Feste Fehmarnbeltquerung“ wegen Verstoßes gegen
das europäische Gemeinschaftsrecht Beschwerde bei der
EU-Kommission, eingegangen am 25. Mai 2009, einge-
legt. Als Grund wird unter anderem angeführt, dass ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik
Deutschland und das Königreich Dänemark einzurei-
chen sei, da das Projekt nicht – wie geschehen – in
einem bilateralen Staatsvertrag einer dänischen Pla-
nungsgesellschaft zugeschlagen werden könne, sondern
europaweit ausgeschrieben hätte werden müssen. Eine
Zustimmung des Deutschen Bundestages zum Staatsver-
trag wäre demnach EU-rechtswidrig.
Aus diesem Grund kann ich dem Gesetzesentwurf
nicht zustimmen.
Susanne Jaffke-Witt (CDU/CSU): Der Bundesrech-
nungshof, BRH, hat in seinem Bericht nach § 88 Abs. 2
BHO zur festen Verbindung über Fehmarnbelt mit Hin-
terlandanbindung vom 30. April 2009 dringend von ei-
ner Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zum
jetzigen Zeitpunkt abgeraten und zahlreiche Prüfungs-
punkte aufgeworfen. So heißt es unter anderem in dem
Bericht des Bundesrechnungshofes:
Obwohl die Kosten für die feste Verbindung als sol-
che nach dem Staatsvertrag allein von Dänemark zu
tragen sind, birgt dieser Vertrag erhebliche Unsi-
cherheiten für künftige Bundeshaushalte. So enthält
er Klauseln, welche die Vertragsparteien unter nur
unpräzise formulierten Voraussetzungen zu Nach-
verhandlungen – auch über Kostentragung – ver-
pflichtet. Hinzu kommt, dass das Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zwar
angibt, die Kosten der deutschen Hinterlandanbin-
dung seien bekannt, diese jedoch für das Parlament
nicht aktuell und transparent im Entwurf des Ver-
tragstextes darstellt. Auf Grundlage der Studie aus
dem Jahr 2006 mit Preisstand 2002 geht der Bun-
desrechnungshof für die Schienenhinterlandanbin-
dung bis Hamburg von 1 092 Millionen Euro aus.
Unter Einrechnung der vom Bundesministerium
selbst erwarteten Kostensteigerung von mindestens
60 Prozent ergeben sich Projektkosten von rund
1,7 Milliarden Euro. Hierbei nicht berücksichtigt
sind zusätzliche Kosten im Knoten Hamburg und
für den zweistufigen Ausbau des Teilstücks von Lü-
beck nach Puttgarden.
Weiter heißt es:
Für die Hinterlandanbindung der Straße empfiehlt
der Bundesrechnungshof, angesichts der geringen
Verkehrsprognose die Wirtschaftlichkeit des beab-
sichtigten Ausbaus kritisch zu überprüfen.
Als Mitglied des Haushaltsausschusses und des Rech-
nungsprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages
stimme ich den vom BRH vorgetragenen Argumenten
zu.
Aus diesem Grund kann ich dem Gesetzentwurf nicht
zustimmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25331
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 21
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Eckhardt Rehberg (CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. September
2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Königreich Dänemark über eine Feste
Fehmarnbeltquerung (Tagesordnungspunkt 17)
Der Bundesrechnungshof (BRH) hat in seinem Be-
richt nach § 88 Abs. 2 BHO zur festen Verbindung über
den Fehmarnbelt mit Hinterlandanbindung vom 30. April
2009 dringend von einer Beschlussfassung des Deut-
schen Bundestages zum jetzigen Zeitpunkt abgeraten
und zahlreiche Prüfungspunkte aufgeworfen. So heißt es
unter anderem in dem Bericht des Bundesrechnungsho-
fes:
Obwohl die Kosten für die feste Verbindung als sol-
che nach dem Staatsvertrag allein von Dänemark zu
tragen sind, birgt dieser Vertrag erhebliche Unsi-
cherheiten für künftige Bundeshaushalte. So enthält
er Klauseln, welche die Vertragsparteien unter nur
unpräzise formulierten Voraussetzungen zu Nach-
verhandlungen – auch über Kostentragung – ver-
pflichtet. Hinzu kommt, dass das Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zwar
angibt, die Kosten der deutschen Hinterlandanbin-
dung seien bekannt, diese jedoch für das Parlament
nicht aktuell und transparent im Entwurf des Ver-
tragstextes darstellt. Auf Grundlage der Studie aus
dem Jahr 2006 mit Preisstand 2002 geht der Bun-
desrechnungshof für die Schienenhinterlandanbin-
dung bis Hamburg von 1 092 Millionen Euro aus.
Unter Einrechnung der vom Bundesministerium
selbst erwarteten Kostensteigerung von mindestens
60 Prozent ergeben sich Projektkosten von rund
1,7 Milliarden Euro. Hierbei nicht berücksichtigt
sind zusätzliche Kosten im Knoten Hamburg und
für den zweistufigen Ausbau des Teilstücks von Lü-
beck nach Puttgarden.
Weiter heißt es:
Für die Hinterlandanbindung der Straße empfiehlt
der Bundesrechnungshof, angesichts der geringen
Verkehrsprognose die Wirtschaftlichkeit des beab-
sichtigten Ausbaus kritisch zu überprüfen.
Die Kritik des Bundesrechnungshofes verbietet in
Anbetracht der aktuellen wirtschaftlichen Lage und der
Haushaltslage des Bundes eine abschließende Be-
schlussfassung des Deutschen Bundestages zum jetzigen
Zeitpunkt.
Darüber hinaus wurde vom „Aktionsbündnis gegen
eine feste Fehmarnbeltquerung“ wegen Verstoßes gegen
das europäische Gemeinschaftsrecht Beschwerde bei der
EU-Kommission, eingegangen am 25. Mai 2009, einge-
legt. Als Grund wird unter anderem angeführt, dass ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik
Deutschland und das Königreich Dänemark einzurei-
chen sei, da das Projekt nicht – wie geschehen – in
einem bilateralen Staatsvertrag einer dänischen Pla-
nungsgesellschaft zugeschlagen werden könne, sondern
europaweit hätte ausgeschrieben werden müssen. Eine
Zustimmung des Deutschen Bundestages zum Staatsver-
trag wäre demnach EU-rechtswidrig.
Aus diesem Grund kann ich dem Gesetzentwurf nicht
zustimmen.
Anlage 22
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Arnold Vaatz (CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zu dem Vertrag vom 3. September 2008 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich Dänemark über eine Feste Feh-
marnbeltquerung (Tagesordnungspunkt 17)
Ich stimme dem Gesetzesentwurf in der Erwartung
zu, dass der Deutsche Bundestag in den folgenden Jah-
ren belastbare Rahmenbedingungen schafft, die dazu
führen, die Verkehrsverbindung Gedser–Rostock auf ho-
hem Niveau nachhaltig zu etablieren.
Anlage 23
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Erika Ober (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 25)
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arz-
neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, Druck-
sachen 12256 und 16/12677, stimme ich nicht zu.
Mit Änderungsantrag acht auf Ausschussdrucksache
16 (14) 0570 vom 16. Juni 2009 wurde am 17. Juni 2009
eine grundlegende Änderung des bisherigen Entwurfs
mit Mehrheit beschlossen. Diese Änderung bezieht sich
auf die Einbeziehung von Rechenzentren bei der Ab-
rechnung ärztlicher Leistungen im Rahmen von Verträ-
gen nach §§ 73 b, 73 c und 140 a SGB V.
Der Zwang für Krankenkassen, bis zum 30. Juni 2009
Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung mit entspre-
chenden Gemeinschaften abschließen zu müssen, schafft
bereits Ungleichgewichte im System und konterkariert
die Bemühungen um einen fairen Systemwettbewerb.
Die Folge für Hessen sind Probleme für die EHV (Er-
weiterte Honorarverteilung), ein nur in Hessen bestehen-
des, umlagefinanziertes Rentensystem.
Diese Fehlentwicklung wird dadurch verstärkt, dass
mit dem Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften weitere Ungleichgewichte
– wenn auch zeitlich befristet – geschaffen werden.
Nach meiner Auffassung hätte bei Erhalt der ursprüngli-
chen Regelung des § 73 b SGB V die gesetzgeberische
Möglichkeit bestanden, private Abrechnungsstellen ent-
sprechend den Vorgaben des Urteils des Bundessozialge-
richts vom 10. Dezember 2008 – AZ B 6 KA 37/07 R –
25332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
mit der Abrechnug betrauen zu können. Mit Hinweis
darauf, dass Bedenken des Bundesdatenschutzbeauftrag-
ten nicht bestehen, wird jetzt erneut eine Regelung ge-
schaffen, die einem fairen Systemwettbewerb zwischen
Kollektiv- und Selektivverträgen widerspricht.
Eine Schwächung der Selbstverwaltung ohne Schaf-
fung eines geeigneten Instrumentes als Folgelösung ist
ein Nachteil für die gesamte ambulante Versorgung, so-
wohl im hausärztlichen als auch im fachärztlichen Be-
reich. Eine strukturell nachhaltige Lösung für die ambu-
lante und stationäre Versorgung wie auch eine ehrliche
Finanzierungslösung werden durch den in dieser Form
vorgesehenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arz-
neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, 16/12256
und 16/12677, nicht erreicht.
Anlage 24
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Eike Hovermann (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 25)
Ich lehne das oben genannte Gesetz mit folgenden
Begründungen ab:
Erstens. Die 15. AMG-Novelle führt die aus meiner
Sicht falschen Weichenstellungen des GKV-Wettbe-
werbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) weiter fort, wel-
ches ich seinerzeit abgelehnt hatte.
Zweitens. Beide Gesetze – damit auch die 15. AMG-
Novelle – schwächen die Selbstverwaltung, insbeson-
dere aufseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen, ohne
dass geeignete Instrumente für die Sicherstellung der
ambulanten Versorgung geschaffen worden sind.
Drittens. Damit wird auch die Rolle des Gemeinsa-
men Bundesausschusses (G-BA), was in Sonderheit die
ambulant tätigen Ärzte anbelangt, langsam ad absurdum
geführt. Die Ersatzvornahmen werden kontinuierlich
steigen müssen.
Viertens. Eine ehrliche und strukturell-nachhaltige
Finanzierungsdebatte, die dringend einer gesetzgeberi-
schen Lösung bedarf, wird weiterhin komplett ausge-
blendet; gemeint ist die seit Jahren größer werdende
Scherenbildung zwischen wachsenden Ausgabenvolu-
mina (demografischer Wandel, medizintechnischer Fort-
schritt) auf der einen Seite und gleichzeitig auf der ande-
ren Seite wegbrechenden GKV-Einnahmevolumina und
Steuereinnahmen aller öffentlichen Hände, die an der
Finanzierung des Gesundheitswesens teilhaben (siehe
zum Beispiel duale Finanzierung). Dass diese Scheren-
bildung durch die Finanz- und Arbeitsmarktkrise ver-
schärft wird, muss meines Erachtens nach nicht weiter
ausgeführt werden.
Fünftens. Die 15. AMG-Novelle bleibt in alten, ge-
wohnten Lösungsritualen, die à la longue weder Pla-
nungssicherheit noch Investitionsbereitschaft der betrof-
fenen Player erhöhen können.
Ich bitte darum, meine Ablehnungserklärung ins
Plenarprotokoll aufzunehmen.
Anlage 25
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Hans Georg Faust und
Dr. Rolf Koschorrek zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arznei-
mittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Ta-
gesordnungspunkt 25)
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arznei-
mittelrechtlicher und anderer Vorschriften (AMG-No-
velle), Drucksachen 16/12256 und 16/12677, stimme ich
nicht zu.
Mit Änderungsantrag 8 auf Ausschussdrucksache
16 (14) 0570 vom 16. Juni 2009 wurde am 17. Juni 2009
eine grundlegende Änderung des bisherigen Entwurfs
mit Mehrheit beschlossen. Diese Änderung bezieht sich
auf die Einbeziehung von Rechenzentren bei der Ab-
rechnung ärztlicher Leistungen im Rahmen von Verträ-
gen nach §§ 73 b, 73 c und 140 a Fünftes Buch Sozialge-
setzbuch (SGB V).
Bereits in meiner persönlichen Erklärung nach § 31
zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisations-
strukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV-OrgWG) habe ich dargelegt, dass die damalige
Veränderung des § 73 b SGB V Probleme aufwerfen
wird. Insbesondere der Zwang für Krankenkassen, bis
zum 30. Juni 2009 Verträge zur hausarztzentrierten Ver-
sorgung mit entsprechenden Gemeinschaften abschlie-
ßen zu müssen, schafft Ungleichgewichte im System
und konterkariert die Bemühungen um einen fairen Sys-
temwettbewerb.
Diese Fehlentwicklung wird nach meiner festen
Überzeugung dadurch verstärkt, dass mit dem Gesetz
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor-
schriften (Drucksachen 16/12256 und 16/12677) weitere
Ungleichgewichte, wenn auch zeitlich befristet, geschaf-
fen werden. Nach meiner Auffassung hätte es auch bei
Erhalt der ursprünglichen Regelung des § 73 b SGB V
die gesetzgeberische Möglichkeit gegeben, private Ab-
rechnungsstellen entsprechend den Vorgaben des Urteils
des Bundessozialgerichtes vom 10. Dezember 2008 (Ak-
tenzeichen B 6 KA 37/07 R) mit der Abrechnung be-
trauen zu können. Jetzt wird aber mit Hinweis darauf,
dass Bedenken des Bundesdatenschutzbeauftragten nicht
bestehen, erneut eine Regelung geschaffen, die einem
fairen Systemwettbewerb zwischen Kollektiv- und Se-
lektivverträgen widerspricht. Sowohl die notwendige
Transparenz, als auch die aufsichtsrechtlichen Regelun-
gen und die Überprüfung durch zuständige Institutionen
entsprechen nicht dem Niveau einer Körperschaft öffent-
lichen Rechts. Im Übrigen hat auch das Bundessozial-
gericht in seinem oben angegebenen Urteil ausführlich
dargelegt, dass die Sozialdaten bei Pflicht-GKV-Versi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25333
(A) (C)
(B) (D)
cherten einen über das übliche Maß hinausgehenden Da-
tenschutz genießen.
Dass eine Befristung ein – wie auch der Stellung-
nahme des Bundesministeriums für Gesundheit vom
15. Juni 2009 zu den Formulierungshilfen zu Ände-
rungsantrag 8 zu entnehmen ist – späteres Prüfen und
Nacharbeiten grundsätzlich möglich machen soll, ändert
nichts an der Tatsache, dass sich mit dieser gesetzlichen
Vorgabe der an sich wünschenswerte Wettbewerb im
System der ärztlichen Leistungserbringer negativ ver-
zerrt und dadurch eine geordnete, den Patienteninteres-
sen dienende zukünftige gesetzgeberische Gestaltung
weiter erschwert wird.
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Erster
Integrationsindikatorenbericht (Tagesordnungs-
punkt 11)
Dr. Lale Akgün (SPD): Wir diskutieren heute über
den ersten Integrationsindikatorenbericht der Bundes-
regierung. Der Bericht ist in der letzten Woche erschie-
nen. Für die einen ist er ein Beweis dafür, dass die Inte-
gration vorangekommen ist. Die Schulleistungen hätten
sich verbessert, die Schulabbrecherquote habe sich ver-
ringert – darauf haben Sie, Frau Böhmer, hingewiesen.
Die Opposition hingegen sagte, dass eben keine nen-
nenswerten Fortschritte bei der Integration der Zuge-
wanderten erzielt worden seien. Und beides mit Verweis
auf ein und dieselben Zahlen aus dem Integrationsindi-
katorenindex. Das aber war der übliche Schlagabtausch,
von dem wir eigentlich wegkommen sollten.
Das Wichtigste ist für mich zunächst einmal, dass wir
jetzt zum ersten Mal überhaupt einen Bericht zum Stand
der Integration in den Händen halten, der wissenschaftli-
chen Kriterien entspricht. Und das begrüße ich. Deshalb
möchte ich zuerst einmal Ihnen, Frau Staatsministerin
Böhmer, zu dem Bericht gratulieren und mich bei Ihnen
bedanken. Auch wenn das Indikatorenset noch Verbesse-
rungs- und Weiterentwicklungspotenzial enthält, so ist
der Bericht vom wissenschaftlichen Standpunkt her sehr
ordentlich gemacht.
Mit dem Wissenschaftszentrum Berlin hat sich die
Bundesregierung einen exzellenten und international an-
gesehenen Partner ins Boot geholt. Ich wünsche mir,
dass wir nun alle zwei Jahre einen solchen Bericht erhal-
ten und damit wirklich vergleichen können, was sich mit
den Jahren geändert hat. Es stimmt zwar, die Zahlen, die
verwendet werden, sind nicht neu. Wir wissen schon
lange, dass die Arbeitslosenquote der Menschen mit Mi-
grationshintergrund doppelt so hoch ist wie die der Ein-
heimischen. Wir wissen auch, dass Migrantenkinder in
der Schule sehr viel schlechter abschneiden als Kinder
ohne Migrationshintergrund. Wir wissen, dass das Ein-
kommen der Migranten geringer ist als das der Deut-
schen ohne Migrationshintergrund und auch, dass sie
weniger Wohnraum zur Verfügung haben.
Aber wir wussten bisher nicht, warum. Und das ist
der springende Punkt. Genau an dieser Stelle gibt uns
der Bericht wichtige und vor allem richtige Antworten.
Denn: Diese Studie ist von ganz anderem Kaliber als die
Studie des Berlin-Institutes, die vor einigen Monaten
veröffentlicht wurde. Das Berlin-Institut hat dieselben
Daten genommen, aber sie in völlig vereinfachender
Weise ausgewertet und ist damit zu falschen Aussagen
gekommen. Der Integrationsindikatorenbericht ist auf-
grund der durchgeführten multivariaten Datenanalyse
unter Hinzuziehung des Ansatzes der Lebenslagen viel
genauer und viel detaillierter.
Der Bericht zeigt sehr deutlich, dass eine simple Ein-
gruppierung nach ethnischen Kategorien – so nach dem
Motto: Türken sind schlechter integriert als Italiener,
Spanier besser als Marokkaner – weder haltbar noch
zielführend ist. Weder haltbar noch zielführend. Und für
die Formulierung von Politik sogar gefährlich.
Der Integrationsindikatorenbericht analysiert hinge-
gen sehr genau, in welchen Bereichen Unterschiede zwi-
schen Einheimischen und Migranten bestehen und wo
nicht. Und er gibt Antworten auf die Frage, wo die Un-
terschiede sich auf sozioökonomische Unterschiede zu-
rückführen lassen und in welchen Bereichen tatsächlich
die Variable Migrationshintergrund einen Einfluss hat.
Damit ergibt sich ein viel differenzierteres Bild von
der Gruppe der 15 Millionen Eingewanderten und ihrer
Nachkommen – von denen eben nicht alle integriert wer-
den müssen, wie Sie das öfters behaupten, Frau Böhmer.
Aus diesem sehr differenzierten Bild der Gruppe der Zu-
gewanderten und ihrer Probleme lassen sich auch sehr
treffsichere Schlussfolgerungen für das politische Han-
deln ziehen.
Und hier bin ich leider mit meinem Lob am Ende.
Denn, liebe Frau Böhmer, der analytische Teil der Studie
macht deutlich, dass die Integrationspolitik der letzten
vier Jahre in die komplett falsche Richtung gegangen ist.
Es tut mir leid, das so deutlich sagen zu müssen: in die
komplett falsche Richtung. Die Politik hat mit Integra-
tionsgipfel und Islamgipfel in den letzten Jahren vor al-
lem auf symbolische Maßnahmen gesetzt, die wenig be-
wirkt haben. Der Integrationsgipfel musste ein zahnloser
Tiger bleiben, er hatte keine eigenen Befugnisse und
kein eigenes Budget. Dazu kommt, dass der Integra-
tionsgipfel auch negative Folgen hatte. Die in den letzten
Jahren verfolgte Politik für Eingewanderte hat ganz ein-
deutig zu Ethnisierung und zu Kulturalisierung geführt.
Der Bericht zeigt: Für die Integration – die nichts an-
deres meinen kann als strukturelle Assimilation, also die
Angleichung der Lebensverhältnisse der Zugewanderten
an die Lebensverhältnisse der Einheimischen – sind die
harten Politikfelder wichtig. Und hier ist sehr wenig ge-
schehen in den letzten Jahren. Schule, Ausbildung, Ar-
beit – das sind die Bereiche, in denen Migranten
schlechter abschneiden als Einheimische, unabhängig
von ihrem sozialen Hintergrund und allein aufgrund ih-
res Migrationshintergrunds.
In anderen Bereichen ist das nicht der Fall. Nehmen
wir den Bereich Gesundheit. Hier spielt der Migrations-
25334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
hintergrund keine Rolle. Wenn man die sozioökonomi-
schen Faktoren, also die Lebenslagen der Migranten in
die Analyse einbezieht, dann wird deutlich: Migranten
sind genauso häufig krank wie Deutsche. Ein Bauarbei-
ter mit Migrationshintergrund ist genauso krank wie ein
deutscher Bauarbeiter. Und eine deutsche Lehrerin ge-
nauso gesund oder krank wie eine türkische oder russi-
sche Lehrerin.
Zugespitzt bedeutet das: Wir können sofort alle Pro-
jekte, die sich spezifisch um die Gesundheit von Migran-
ten kümmern, beenden, und damit wäre nichts verloren.
Wir sollten also aufhören, für irgendwelche Orchideen-
projekte der kultursensiblen Altenhilfe, Gesundheits-
pflege für Migranten u.s.w. unser Geld auszugeben. Und
auch darüber uns die Köpfe heißzureden auf Gipfeln.
Das Geld und die vielen Worte können wir uns sparen.
Wir brauchen vor allem strukturelle Maßnahmen in
den Bereichen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Hier sind die größten Defizite zu verzeichnen, die tat-
sächlich auf den Migrationshintergrund zurückzuführen
sind und nicht auf die sozioökonomische Faktoren. Die
Betonung liegt dabei auf „strukturell“.
Ich kann hier nur auf einige Punkt eingehen, die er-
klären, wieso Migranten in diesem Bereich schlechter
abschneiden. Besonders wichtig scheint der Faktor Spra-
che zu sein. Der Bericht zeigt eindeutig, dass wir mit den
verpflichtenden Sprachkursen für Neuzugewanderte, an
denen auch Menschen teilnehmen können, die schon
länger in Deutschland sind, genau richtig liegen. Diese
Sprachkurse müssen wir weiter ausbauen und verbes-
sern. Das heißt auch, mehr Geld in die Hand zu nehmen,
zum Beispiel für die Honorare der Lehrerinnen und Leh-
rer. Wir müssen auch noch stärker als bisher in frühkind-
liche Sprachförderung investieren. Der Bericht zeigt
auch, wie wichtig für die Sprachförderung interethnische
soziale Kontakte sind. Es ist wichtig, dass Kinder mit
und ohne Migrationshintergrund möglichst lange ge-
meinsam lernen. Aus diesem gemeinsamen Lernen kön-
nen und werden sich tragfähige Beziehungen entwi-
ckeln.
Diese sozialen Kontakte sind wichtig für den Sprach-
erwerb, aber auch für den weiteren Lebens- und Berufs-
weg. Das heißt, dass wir das dreigliedrige Schulsystem
abschaffen müssen.
Was den Bereich der Ausbildung anbelangt, so müs-
sen wir über den Ausbau überbetrieblicher Ausbildung
nachdenken und uns fragen, ob unser Ausbildungssys-
tem diskriminierende Elemente enthält. Migranten ha-
ben auch bei gleicher Qualifikation schlechtere Chancen
auf dem Arbeitsmarkt als Einheimische – auch hier müs-
sen wir aktiv werden.
Das sind die Knackpunkte, und hierauf muss sich die
Politik der nächsten Jahre konzentrieren. Schule, Ausbil-
dung, Arbeit: Das ist nicht kompliziert und auch leicht
zu merken. Ich wünsche mir, dass wir diese Schlussfol-
gerungen des Berichts ernst nehmen und jetzt nicht ein-
fach sagen: Ach ja, schön, dass wir so einen Bericht ha-
ben, jetzt können wir ihn ins Regal stellen und so weiter
machen wie vorher. Genau das ist nämlich die Lehre des
Berichtes: Mehr vom Selben können wir nicht gebrau-
chen.
Wir brauchen stattdessen eine Neujustierung der Poli-
tik für Zugewanderte. Institutionell bedeutet das: Der
Dirigent oder die Dirigentin muss endlich wieder dort
platziert werden, wo die Musik spielt. Ist ja klar: Wenn
ihn die Musiker nicht sehen, kann ein Dirigent so viel di-
rigieren wie er will – es wird nichts nützen.
Das heißt: Der- oder diejenige, die von Regierungs-
seite für Integration zuständig ist, muss auch dort ange-
siedelt sein, wo über die wichtigen Dinge entschieden
und nicht nur geredet wird. Der oder die Integrationsbe-
auftragte gehört ins Bundesministerium für Arbeit und
Soziales. Sie oder er muss dort mit zusätzlichen Befug-
nissen und mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden.
In enger Abstimmung mit dem Bildungsministerium und
den Ländern kann sie oder kann er dann die wirklich
wichtigen Fragen angehen.
Das ist nicht nur ein frommer Wunsch, sondern ein
dringender Appell. Es geht dabei nicht nur um 15 Millio-
nen Zugewanderte, sondern um den Zusammenhalt der
gesamten Gesellschaft.
Sibylle Laurischk (FDP): Die Vorlage des ersten In-
tegrationsindikatorenberichts bietet die Gelegenheit,
eine Bilanz der Integrationspolitik dieser Legislatur-
periode zu ziehen.
Die Integrationspolitik hat in der Öffentlichkeit mehr
Aufmerksamkeit bekommen als in der vergangenen Le-
gislaturperiode. Dies lag zum einen an den Vorgängen in
Frankreich im Herbst 2005, die schlagartig klargemacht
haben, dass die Integrationspolitik von einem Orchide-
enthema zu einer Zukunftsfrage geworden ist. Zum an-
deren lag es an der deutlich verbesserten Außendarstel-
lung der Integrationsbeauftragten, auch möglich
gemacht durch die Ansiedelung im Kanzleramt und dem
Geschick der Kanzlerin, Integrationspolitik mit Integra-
tionsgipfeln zu verkaufen.
Der Nationale Integrationsplan hat deutlich gemacht,
dass alle politischen Ebenen sich um Integration küm-
mern müssen. Es gibt Selbstverpflichtungen, zum Bei-
spiel der Kommunen und Landkreise, womit zumindest
ein Handeln der einzelnen Ebenen eingefordert werden
kann. Die zweite Frage ist, ob wir das Richtige tun. Die
Integrationskurse wurden ausgeweitet, leiden aber an
Unterfinanzierung, exzessiver Bürokratie und strukturel-
len Fehlern. Sie berücksichtigen das individuelle Leis-
tungsniveau der Teilnehmer zu wenig – wie auch, erhal-
ten doch die Träger der Kurse zu wenig Mittel, um die an
sie gestellten Anforderungen umzusetzen. Dies wird auf
dem Rücken der Lehrer in solchen Sprachkursen abgela-
den, deren Bezahlung ihrer Ausbildung und ihren Quali-
fikationen geradezu spottet. Zusätzlich werden jetzt
noch höhere Anforderungen verlangt.
Die mit Jahresbeginn bestehenden berufsbezogenen
Sprachkurse nach den Integrationskursen starten sehr
verhalten und sind mit Konstruktionsfehlern behaftet,
die ihre Wirksamkeit massiv einschränken. Letztes Jahr
hat man diese Art der Förderung durch die Arbeitsver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25335
(A) (C)
(B) (D)
waltung abgeschafft, um sie durch das neue Programm
zu ersetzen. Bis jetzt gibt es gerade einmal 62 neue
Kurse – von Ersatz kann hier wohl keine Rede sein. Da-
mit vertun wir die Chance, dass diejenigen, die Integra-
tionskurse erfolgreich abschließen, danach keine Förde-
rung mehr erfahren, um an einen für sie adäquaten
Arbeitsplatz zu gelangen. Hier muss dringend nachge-
steuert werden. Oder sehen Sie diese Kurse etwa/eigent-
lich als überflüssig an?
Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass die
Bundesregierung zwar Gipfel ausrichtet, aber in ihrer
Breite immer noch nicht das Bild vermittelt, dass sie in
allen Bereichen wirklich verstanden hat, wie wichtig In-
tegrationspolitik ist. Wer nur einen kurzen Blick auf die
uns bevorstehende demografische Entwicklung wirft,
kann an der Notwendigkeit einer gesteuerten Zuwande-
rung Hochqualifizierter keinen Zweifel mehr haben.
Wenn wir hoffentlich bald aus der Wirtschaftskrise
herauskommen, wird uns der Fachkräftemangel umso
stärker belasten. Hier wird seit Jahren an Detailfragen
wie Mindesteinkommen von Hochqualifizierten herum-
gedoktert, anstatt endlich ein stimmiges Konzept in An-
griff zu nehmen. Die Vorschläge hierzu, auch von mei-
ner Fraktion, liegen auf dem Tisch.
Die Bundesregierung hat es bisher nicht erreicht, die
Potenziale derjenigen, die schon hier sind, zu nutzen.
Verbesserungen bei der Anerkennung ausländischer Bil-
dungs- und Berufsabschlüsse sind nicht erfolgt, der
Verfahrensdschungel ist nicht gelichtet. Wer heute noch
glaubt, wird könnten es uns noch leisten, Akademiker als
Taxifahrer oder Küchenhilfen zu beschäftigen, hat
Grundlegendes nicht verstanden.
Besseren Integrationsmaßnahmen steht die stärkere
Einbindung in unsere Gesellschaft gegenüber. Nur auf die
Einbürgerung zu verweisen, reicht nicht aus, wenn der
Wunsch nach einem stärkeren Engagement der Zuwande-
rer geäußert wird. Und auf der einen Seite Integrationsgip-
fel zu veranstalten und den Willen zur Einbindung zu si-
gnalisieren, gleichzeitig aber im Ausländerrecht neue
Hürden aufzubauen und den Generalverdacht zum
grundlegenden Prinzip zu machen, enttäuscht Migranten
und lässt am guten Willen der Bundesregierung zwei-
feln.
Als Fazit lassen sie mich sagen, dass durch den Inte-
grationsplanprozess gute Ansätze gezeigt wurden, aber
auch klar wurde, dass es an einer stringenten Integra-
tions- und Migrationspolitik fehlt. Dies scheint mir auch
der Grund zu sein, warum wir kaum echte Verbesserun-
gen der Situation erreicht haben. Die FDP will dies än-
dern.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Nach der Vorstel-
lung des Ersten Integrationsindikatorenberichts lesen
sich die Schlagzeilen zahlreicher Zeitungen wie folgt:
Die Süddeutsche Zeitung konstatiert „Kaum Fortschritte
bei Integration von Ausländern“, der Kölner Stadtanzei-
ger titelte mit „Integration kommt kaum voran“, Die
Welt weißt es scheinbar besser und schreibt „Integration
kommt nicht voran“ und der Kommentar „Bittere Wahr-
heiten“ von Mariam Lau in Die Welt stellt gleich den
Pappkameraden, den muslimischen Pater Familias auf,
der seinem Sohn klarmachen müsse, „dass es falsch ist,
dem Schulkameraden zu fünft ein Handy wegzunehmen,
auf ihn einzustechen oder eine Party im Jugendheim zu
terrorisieren“. Leichtsinniger als dieser Kommentar
kann man kaum ausländerfeindliche oder islamfeindli-
che Ressentiments und Klischees bedienen und den ge-
sellschaftlichen Frieden gefährden. Überdies sind die
meisten Kommentare und Artikel zum Integrationsindi-
katorenbericht verfehlt. Sowohl im Anschreiben der Be-
auftragten der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration, Frau Maria Böhmer, als auch in
der Einleitung im Bericht auf Seite 3 wird darauf verwie-
sen, dass es um die Integrationspolitik der Bundesregie-
rung geht, die klare Indikatoren brauche. Es geht also da-
rum, zu bewerten, ob die Politik der Bundesregierung
imstande ist, die Menschen in die Gesellschaft zu inte-
grieren, das heißt die Teilhabe von Migrantinnen und
Migranten in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Dies ist nach dem erneuten katastrophalen Befund im
Bericht nicht der Fall. Zuverlässig ist man auch, wenn
man regelmäßig versagt. Das scheint jedenfalls die Bun-
desregierung zu denken. Denn mit dem Integrationsindi-
katorenbericht ist eine weitere lange Liste des Versagens
vorgelegt worden. Es hat keinerlei Angleichung – nicht
mal Annäherung – der sozialen Situation der Migrantin-
nen und Migranten gegeben.
Die Wirklichkeit ist seit Jahren bekannt, zumeist so-
gar aus Berichten der Bundesregierung selbst wie den
Berichten über die Lage der Ausländerinnen und Aus-
länder in Deutschland oder den Armuts- und Bildungs-
berichten. All das wissen wir seit Jahren. Und trotzdem
schafft es auch diese Bundesregierung, diesem Wissen
aus dem Wege zu gehen, nicht zu handeln und eigentlich
diese Wirklichkeit zu manifestieren. Wollte die Bundes-
regierung etwas dagegen tun: dass doppelt so viele Mi-
grantinnen und Migranten keinen Schulabschluss haben,
dass Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund von
Sprachschwierigkeiten überproportional oft in eine Son-
derschule überwiesen werden oder trotz gleicher Leis-
tungen keine Weiterempfehlung erhalten, dann sollte sie
sich endlich gegen das selektive dreigliedrige Schulsys-
tem und für die Einführung eines flächen- und bedarfs-
gerechten ganztägigen Schulangebots, eine gebühren-
freie Kinderbetreuung und Kindergartenbetreuung – und
zwar nicht erst ab 2013/14 – einsetzen.
Wenn die Bundesregierung etwas dagegen tun will,
dass über 40 Prozent der Migrantinnen und Migranten
keine Ausbildung, dass über 70 Prozent keine Qualifi-
zierung haben und dass ihre Arbeitslosenquote fast dop-
pelt so hoch ist, dann sollte sie endlich eine gesetzliche
Ausbildungsplatzumlage und einen gesetzlichen Min-
destlohn einführen. Sie sollte die Leiharbeit abschaffen,
weil besonders Migrantinnen und Migranten von dieser
modernen Form von Sklavenarbeit betroffen sind und im
Niedriglohnbereich arbeiten müssen, und Minijobs in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält-
nisse umwandeln.
25336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
So würde die Bundesregierung einen Beitrag leisten,
damit Migrantinnen und Migranten nicht mehr mit
21,1 Prozent im Vergleich zu 9,5 Prozent des Bevölke-
rungsdurchschnitts signifikant häufiger von Armut be-
droht sind.
Wollte die Integrationspolitik der Bundesregierung
wirklich gleichberechtigte Teilhabe und die vollständige
politische Partizipation von Migrantinnen und Migran-
ten, dann sollte sie endlich aufhören, Einbürgerungen
zunehmend unmöglich zu machen. Mit großem Erfolg
ist es der jetzigen und vorherigen Bundesregierung näm-
lich gelungen, Einbürgerungen zu verhindern: Die Ein-
bürgerungszahlen sind in der Amtszeit der Integra-
tionsbeauftragten um über 20 Prozent gesunken, und in
der Zeit von 2000 bis 2008 sogar um ganze 50 Prozent!
Aber all diese Verbesserungen an der Lebenssituation
der Migrantinnen und Migranten will eben die Bundes-
regierung gar nicht.
Immer häufiger hören wir die Integrationsbeauftragte
sagen, dass die Migrantinnen und Migranten noch mehr
angespornt werden sollen. Es ist genau so, als wenn Frau
Böhmer Menschen, die Cholera kriegen, erklärt, sie sol-
len sich die Hände waschen, obwohl kein oder kein sau-
beres Wasser da ist, oder Menschen, deren Baracken ab-
brennen, die Gefahr von offenem Feuer erklärt, statt die
Stromversorgung zu verbessern. Es ist eine Form, Men-
schen für gesellschaftliche Probleme verantwortlich zu
machen und den Eindruck zu vermitteln, sie seien selbst
an ihrer Lage schuld.
Es geht aber eben nicht um individuelle Probleme der
Migrantinnen und Migranten, sondern in erster Linie um
ein gesellschaftliches Problem. Die soziale Situation der
Migrantinnen und Migranten ist vor allem das unver-
meidliche Ergebnis einer grundfalschen, einer neolibera-
len, nicht sozialen Politik.
Es wird Zeit, sich von der einseitigen Fixierung zu lö-
sen, die Integrationsleistung der Migrantinnen und Mi-
granten messen zu wollen. Frau Böhmer, hören Sie end-
lich auf mit den Phrasen vom „Werben“, „Anspornen“
und „Heben von Schätzen“. Der beste Ansporn und das
beste Werben sind gute Rahmenbedingungen in der Ge-
sellschaft und dafür braucht es eine Politik, die die
gleichberechtigte politische, soziale und gesellschaftli-
che Teilhabe aller Menschen zum Ziel hat. Ohne eine
Politik der sozialen Gerechtigkeit und der rechtlichen
Gleichstellung und der Bekämpfung von Diskriminie-
rung ist die Integration in die hiesige Gesellschaft weder
für Deutsche noch Migranten möglich.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Bei der Vorlage des Berichts über sogenannte
Integrationsindikatoren rührt Frau Staatsministerin
Böhmer erneut Zahlen wild durcheinander. Im Ergebnis
schreibt damit ausgerechnet die Integrationsbeauftragte
Negativklischees über „integrationsunwillige Auslän-
der“ fort. Artikel wie „Die Wahrheit über Ausländer-Kri-
minalität“ (Bild) oder „Bittere Wahrheiten: Viele Mi-
granten verachten unsere Gesellschaft“ (Welt) aus der
vergangenen Woche sind das direkte Ergebnis ihrer ab-
solut kontraproduktiven Informations- und Öffentlich-
keitsarbeit.
Dabei geben viele der von Frau Böhmer präsentierten
– aber ehrlich gesagt nicht neuen – Zahlen, durchaus An-
lass zur Sorge: So liegen etwa die Arbeitslosenquote, das
sogenannte Armutsrisiko und die Zahl der Schulabgän-
ger ohne Abschluss bei Migrantinnen und Migranten je-
weils doppelt so hoch wie bei Deutschen. Gleichzeitig
absolvieren mehr als doppelt so viele deutsche Jugendli-
che eine Ausbildung – im Vergleich zu ihren ausländi-
schen Altergenossen.
Ruud Koopmans – ein ausgewiesener Migrations-
experte und Autor dieses Integrationsindikatorenberichts –
stellt allerdings klar: „Bei Migranten mangelt es nicht
am Integrationswillen und am Willen, Arbeit zu suchen.
Es mangelt daran, Arbeit zu finden.“ (Berliner Zeitung,
11. Juni 2009)
Frau Böhmer hätte die von ihr vorgelegten Zahlen un-
bedingt seriös einordnen müssen. Da sie dies aber nicht
oder nur halbherzig getan hat, kommt es unweigerlich zu
Fehlinterpretationen.
Erstens. Bei der Präsentation solcher Zahlen hätte ge-
fragt werden müssen, welche Rolle ein Migrationshin-
tergrund überhaupt spielt.
Tatsächlich steht in der Studie, dass zum Beispiel bei
der sogenannten Ausländerkriminalität, bei Fragen der
Erwerbs- und der Ausbildungsbeteiligung und beim
Armutsrisiko, bei einem Vergleich von Gruppen mit
ähnlichen bildungsmäßigen und sozialen Rahmenbedin-
gungen „keine signifikanten Unterschiede zwischen Per-
sonen mit und ohne Migrationshintergrund bestehen“,
dass also der Migrationshintergrund selber auf den in
Rede stehenden Integrationsindikator praktisch „keinen
Einfluss“ hat. Ein solches Ergebnis hätte Frau Böhmer
prominent hervorheben müssen – hat sie aber nicht.
Zweitens muss natürlich immer auch nach den gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen gefragt werden.
Ein Beispiel: Die Kritik von Frau Böhmer, dass zwar
gesamtgesellschaftlich 89 Prozent aller Kinder eine Kita
besuchen, aber nur 73,5 Prozent aller Kinder aus Fami-
lien mit einem Migrationshintergrund, greift viel zu
kurz. Sie hätte untersuchen müssen, ob dieser Wert nur
Migrantenfamilien oder generell sozial benachteiligte
Familien betrifft – oder anders herum: ob nicht zum Bei-
spiel hohe Gebühren daran schuld sind. Im Saarland
etwa, wo das dritte Kita-Jahr kostenlos ist, ist die Quote
der Kita-Kinder jedenfalls gleich hoch. Von Frau
Böhmer hört man hierzu nichts.
Drittens. Auch dieser Integrationsindikatorenbericht
stellt fest, dass viele Menschen mit Migrationshinter-
grund trotz vergleichbarer schulischer, beruflicher und
sprachlicher Qualifikation deutlich schlechter Zugang zu
einem Arbeits- und Ausbildungsplatz finden. Aber Frau
Böhmer kommt es gar nicht in den Sinn zu fragen, wo-
ran das liegen könnte bzw. wie hier gegengesteuert wer-
den könnte. Wie schon in ihrem 7. Lagebericht blendet
die Integrationsbeauftragte den gesamten Bereich des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25337
(A) (C)
(B) (D)
Gleichbehandlungs- bzw. des Antidiskriminierungs-
rechts vollkommen aus.
Diese Haltung, Fehler niemals bei sich bzw. bei der
aufnehmenden Gesellschaft, sondern immer nur bei Mi-
grantinnen und Migranten zu suchen, ist so typisch für
die Haltung dieser Integrationsbeauftragten. Frau
Böhmer gefällt sich in der Pose, als selbst ernannte Spre-
cherin der Mehrheitsgesellschaft klarzustellen, was Mi-
granten in Deutschland erst einmal alles lernen, respek-
tieren und befolgen müssen, bevor man bereit sei, ihnen
auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Das ist Integra-
tionspolitik mit dem erhobenen Zeigefinger, die wir Grü-
nen ablehnen.
Die Integrationspolitik der Großen Koalition steht in
Wirklichkeit vor einem Scherbenhaufen. Hierzu ein Bei-
spiel, das Frau Böhmer bei der Vorlage ihres Integra-
tionsindikatorenberichts so lobend heraushob: Die Zahl
der Einbürgerungen sei zwischen 2005 bis 2007 „relativ
konstant“ geblieben (Seite 4 der Drucksache 16/13300).
Richtig ist: Die bei uns im internationalen Vergleich oh-
nehin geringen Einbürgerungszahlen sind unter der Gro-
ßen Koalition dramatisch – nämlich um 25 Prozent –
eingebrochen (von 124 153 Personen im Jahr 2004 auf
94 470 im Jahr 2008). Das ist ein Minus von rund
30 000!
Abseits aller Symbolpolitik und schönen Gipfelbil-
dern: Deutlicher kann man das Versagen der Großen
Koalition und Frau Böhmer in der Integrationspolitik
nicht machen.
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes-
kanzlerin: Vergangene Woche habe ich dem Kabinett den
Ersten Bericht zu den Integrationsindikatoren vorgelegt.
Er wurde von namhaften Wissenschaftlern in meinem
Auftrag erarbeitet. Der Bericht ist mehr als eine Daten-
sammlung. Erstmals messen wir Integration. Damit
können wir Integrationspolitik noch besser gestalten.
Der Bericht bezieht sich auf die Zeit vor dem Nationalen
Integrationsplan. Er belegt die großen Versäumnisse
früherer Jahrzehnte. Das kann man nicht alles in vier
Jahren aufholen. Der Bericht bestätigt die Neuausrich-
tung der Integrationspolitik: Sprache, Bildung, Ausbil-
dung und Arbeit, das sind die entscheidenden Themen.
Der Nachholbedarf ist riesig, aber wir kommen voran.
Zu positiven Tendenzen. Der Bericht zeigt: Die
zweite Generation der Zuwanderer steht durchweg besser
da als die erste. Das ist eine gute Botschaft. Der Anteil
der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwischen
18 und 25 Jahren, die keinen Schulabschluss haben, ist
zwischen 2005 und 2007 zurückgegangen: von 5,1 Pro-
zent auf 4,4 Prozent. Das macht Mut. Die Bereitschaft,
Deutsch zu lernen, hat zugenommen. Deutsch ist heute
kein Streitpunkt mehr. Die Integrationskurse haben sich
zu einem Erfolgsmodell entwickelt. Eine halbe Million
Menschen hat sie erfolgreich abgeschlossen. Wir haben
die Haushaltsmittel auf 175 Millionen Euro erhöht. So
ermöglichen wir Menschen, die bisher nur Zaungäste
sein konnten, endlich teilzuhaben am gesellschaftlichen
Leben und sich einzubringen.
Zum Paradigmenwechsel. Die Bundesregierung hat ei-
nen Paradigmenwechsel eingeleitet: Integration ist gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe geworden. Sie kann nur im
ständigen Dialog mit den Migranten und in gemeinsamer
Verantwortung aller gesellschaftlichen Kräfte bewältigt
werden. Dafür stehen die Integrationsgipfel, der Nationale
Integrationsplan und die Deutsche Islamkonferenz.
Noch nie stand Integration so stark im Mittelpunkt der
Regierungspolitik wie in dieser Legislaturperiode.
Zu den gesetzlichen Weichenstellungen. Zugleich haben
wir wichtige gesetzliche Weichenstellungen vorgenommen.
Wir haben das Zuwanderungsgesetz verbessert. Wir fordern
und fördern einfache Sprachkenntnisse im Rahmen des
Ehegattennachzugs. Das dient der Integration. Bei meiner
letzten Türkei-Reise konnte ich erleben, wie viele junge
Frauen und Männer Freude am Lernen der deutschen
Sprache haben. Sie wissen, dass sie damit leichter hier
heimisch werden. Wir haben die gesetzlichen Grundlagen
verbessert, um mehr Hochqualifizierte für Deutschland
zu gewinnen. Diesen Weg müssen wir in der nächsten
Legislaturperiode konsequent fortsetzen. Wir haben das
Bleiberecht erstmals bundesgesetzlich geregelt. Rot-Grün
hat von der Abschaffung der Kettenduldung geredet, wir
haben gehandelt. Mehr als 60 000 Menschen haben von den
Bleiberechtsregelungen insgesamt profitiert. Angesichts
der Wirtschaftskrise und den Schwierigkeiten am Arbeits-
markt müssen wir sicherstellen, dass die Bleiberechtsrege-
lung weiterhin trägt. Wir haben das Staatsangehörigkeits-
gesetz verbessert. Wer besondere Integrationsleistungen
erbringt, kann sich schon nach sechs statt nach acht Jahren
einbürgern lassen. Das ist eine deutliche Erleichterung
und eine Anerkennung besonderer Integrationsbemühun-
gen. Wer die Neuregelung schlechtredet, verunsichert die
Menschen, die Ja sagen wollen zu Deutschland. Der
Rückgang der Einbürgerungszahlen um knapp 15 Prozent
– 2008 im Vergleich zu 2007 – muss uns allen Ansporn
sein, noch mehr für Einbürgerung zu werben.
Zu den Schlüsselthemen Bildung und Ausbildung. Ich
greife drei Punkte heraus.
Erstens. Der Indikatorenbericht zeigt erneut: Bildung
ist der Schlüssel für Integration. Bildung beginnt bei den
Kleinen. 2007 haben jedoch nur knapp 74 Prozent der
Migrantenkinder einen Kindergarten besucht, aber fast
89 Prozent aller Kinder in Deutschland. Unser Ziel muss
es sein, dass alle Kinder aus Zuwandererfamilien den
Kindergarten besuchen. Denn hier werden ihre Deutsch-
kenntnisse systematisch gefördert.
Deshalb muss der Kindergarten beitragsfrei sein. Das
Saarland zeigt: Dann erreichen wir alle Kinder aus Zu-
wandererfamilien. Außerdem müssen wir die Elternarbeit
verstärken. Eltern sind für die Chancen ihrer Kinder mit-
verantwortlich. Wir wollen sie dabei unterstützen, diese
Verantwortung auch voll wahrnehmen zu können, damit
jeder und jede die Chance erhält, die er und sie verdienen.
Zugleich müssen die Erzieherinnen für diese neue Auf-
gabe entsprechend qualifiziert werden. Ihre Arbeit muss
auch besser anerkannt werden.
Zweitens. Heute ist der Aktionstag für Ausbildung.
Morgen findet die Sondersitzung des Ausbildungspaktes
statt. Gerade in Krisenzeiten gilt: Die jungen Migrantinnen
25338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
und Migranten dürfen nicht die Verlierer sein. Wir müssen
eine Trendwende bei der Ausbildungsbeteiligung von
Jugendlichen aus Zuwandererfamilien erreichen, und ich
fordere die Unternehmen auf, mehr Migrantinnen und
Migranten auszubilden.
Drittens. Wir haben eine Fülle von Maßnahmen getrof-
fen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu verbessern.
Ganz aktuell gehen wir eine weitere große Herausforde-
rung an. Etwa 500 000 Frauen und Männer haben einen
ausländischen Hochschulabschluss, der hier nicht aner-
kannt ist. Hinzu kommen Fachkräfte aus Handwerk und
Industrie. Dass diese Zuwanderer als nicht qualifiziert
eingestuft werden, ist ein Skandal. Diesen untragbaren
Zustand müssen wir schnellstmöglich beenden. Mir schrei-
ben Ärztinnen, die als Putzfrau arbeiten; Ingenieure fahren
Taxi; Lehrer räumen Regale ein. Das ist für jeden eine
persönliche Enttäuschung und eine Zurückweisung. Es
ist eine Vergeudung von Know-how. Es belastet unsere
Sozialsysteme. Wir brauchen dringend diese Menschen
in ihren erlernten Berufen.
Gemeinsam mit der Bundesbildungsministerin habe ich
heute Morgen Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung
vorgestellt. Ich setze mich mit allem Nachdruck für den
gesetzlichen Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren
von Abschlüssen innerhalb von sechs Monaten ein, für
ein breites Angebot an Anpassungsqualifizierungen und
für Clearingstellen, die den Weg durch den Anerken-
nungsdschungel weisen.
Zu einer Kultur der Anerkennung. Die bessere Aner-
kennung ausländischer Abschlüsse ist eine ökonomische
Notwendigkeit. Aber sie ist auch ein wichtiger Beitrag zu
einer neuen Kultur der Anerkennung. Das heißt: Respekt
vor der Lebensleistung und den Potenzialen der Menschen,
die zu uns gekommen sind. Vielfalt ist eine Chance für
unser Land. Das haben wir in dieser Legislaturperiode
immer wieder deutlich gemacht. Dafür stehen die Inte-
grationsgipfel. Dafür steht unser Dank an 200 Vertreterin-
nen und Vertreter der ersten Generation der Gastarbeiter.
Dafür steht die erste Einbürgerungsfeier im Bundeskanz-
leramt.
Mehr als zwei Drittel der Migranten, 69 Prozent, fühlt
sich in Deutschland wohl; das hat die aktuelle Bertels-
mann-Studie ergeben. 80 Prozent der Migrantinnen und
Migranten haben Vertrauen in unsere Gesetze. Das sind
mehr als bei den Deutschen. Dennoch fühlen sich nicht
alle voll anerkannt. Deshalb ist die emotionale und sym-
bolische Seite der Anerkennung unverzichtbar. Wenn
Cem Özdemir uns „billige Symbolpolitik“ vorwirft, setzt
er sich mit großer Arroganz über die Seelenlagen und
Erwartungen der Menschen hinweg. Wer so redet, hat
nichts dazugelernt. Wir werden unseren Weg konsequent
fortsetzen.
Wie geht es weiter? Wir werden von jetzt an Integration
fortlaufend messen. Dafür werden wir die Datengrund-
lage verbessern. Es genügt nicht mehr, nur zwischen
Deutschen und Ausländern zu unterscheiden. Deshalb wird
beim Zensus 2011 auch der Migrationshintergrund erho-
ben werden. Wir brauchen solche Daten dringend für die
Bereiche Schule und Arbeitsmarkt. Für die kommenden
Berichte werden wir uns auf die aussagekräftigsten
Indikatoren konzentrieren. Wir werden den Nationalen
Integrationsplan fortschreiben. Er bildet auch in Zukunft
die Basis unserer Integrationspolitik. Wir müssen von
der Projektförderung in die Regelförderung kommen.
Das ist uns bei den Integrationskursen gelungen. Das
muss uns auch in den Schlüsselbereichen Bildung, Aus-
bildung und Arbeitsmarkt gelingen.
Gelingende Integration ist existenziell für unser Land.
Die Integrationspolitik dieser Bundesregierung setzt auf
gleiche Chancen für alle. Sie ist pragmatisch und
menschlich, eine Integrationspolitik, die allen nützt: den
Zugewanderten und den Einheimischen. Sie dient dem
sozialen Frieden und dem Wohlstand. Diese Politik werden
wir mit aller Kraft fortsetzen.
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Befreiung von IHK-Beiträgen für
Kleinst- und Kleinbetriebe bis zu 30 000 Euro
Gewerbeertrag und grundlegende Reform der
Industrie- und Handelskammern (Tagesord-
nungspunkt 12)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten
heute in zweiter und dritter Lesung den Antrag der
Linksfraktion zur Befreiung für Kleinst- und Kleinbe-
triebe von IHK-Beiträgen.
Die Industrie- und Handelskammern sind unser Mo-
dell der Selbstverwaltung der Wirtschaft, das hier im
Hause – außer vielleicht der Linksfraktion – niemand
grundsätzlich infrage stellt. Zu den Aufgaben der Kam-
mern zählen die Berufsausbildung, die Ausstellung von
Ursprungszeugnissen sowie die Erstberatung ihrer Mit-
glieder beziehungsweise die Vermittlung von Kontakten
zu kompetenten Beratern.
Die Kernaufgabe der Kammern liegt jedoch darin,
dass sie das Gesamtinteresse der Wirtschaft bei Stellung-
nahmen und Gutachten vertreten. Über die Kammern
können die Betroffenen diese Angelegenheiten auch im
hoheitlichen Bereich selbst regeln. Die Alternative dazu
wäre eine Staatsverwaltung. Wahrscheinlich ist es genau
das, was die Linke hier erreichen will. Wir wollen das
aber gerade nicht. Deswegen halten wir es lieber mit
dem Grundsatz „Privat geht vor Staat“.
Natürlich ist die Pflichtmitgliedschaft einigen Unter-
nehmen immer wieder ein Dorn im Auge. Man muss
aber sehen: Sie ermöglicht es den Kammern erst, auch
für einzelne Mitglieder unpopuläre Maßnahmen vertre-
ten zu können und Trittbrettfahrerei verhindern zu kön-
nen.
Der Forderung, alle Kleinst- und Kleinbetriebe bis zu
30 000 Euro Gewerbeertrag von den IHK-Beiträgen zu
befreien, hatte ich schon zur ersten Lesung dieses An-
trags die Zahlen aus meinem Heimat-Kammerbezirk
Dresden gegenübergestellt. Frau Zimmermann hat mir
daraufhin vorgehalten, dass ich immer nur mit den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25339
(A) (C)
(B) (D)
Dresdner Zahlen arbeiten würde. Ich habe mir daher die
Mühe gemacht, diesmal die Beitragsstaffelung und Bei-
tragsfreistellungsquote einer anderen Industrie- und
Handelskammer zu durchleuchten. Dabei habe ich mich
auf die IHK Südwestsachsen konzentriert. Deren Kam-
merbezirk umfasst die Regionen Chemnitz, Plauen und
Zwickau. Von den dortigen rund 79 000 Mitgliedsunter-
nehmen zahlen 35 000 gar keinen Beitrag weil ihr Ertrag
unter der Freistellungsgrenze von 5 200 Euro im Jahr
liegt. Das ist eine Quote von knapp 45 Prozent und damit
auch das Maximum, das nach IHK-Gesetz zulässig ist.
Weitere 9 800 Unternehmen zahlen einen Beitrag von
40 Euro im Jahr. Einen Beitrag von etwa 90 Euro zahlen
weitere 4 200 Mitglieder und einen Beitrag von
160 Euro weitere 9 800 Mitglieder. Zusammengerechnet
bedeutet dies, dass deutlich mehr als zwei Drittel der
Mitglieder in der IHK Südwestsachsen entweder gar kei-
nen oder einen Beitrag von nicht mehr als 160 Euro im
Jahr zahlen. Das entspricht einem Monatsbeitrag von
13 Euro.
Diese Beitragsbemessung nach Leistungsfähigkeit
wird dadurch sichergestellt, dass außer der abgestuften
Grundgebühr eine einheitliche Umlage in Höhe von
0,25 Prozent des Gewerbeertrags erhoben wird. Wenn
ein Unternehmen keinen Gewinn macht, dann zahlt es
– sofern es nicht als Kleingewerbetreibender komplett
beitragsbefreit ist – eben nur die Grundgebühr. Ich finde,
das ist eine solidarische Art der Finanzierung.
In Härtefällen besteht die Möglichkeit zu einer zinslo-
sen Stundung. Wenn eine Insolvenz droht, können die
Beitragsforderungen auch niedergeschlagen werden. Ein
Problem kann allerdings sein, dass sich der Beitrag am
Ertrag von vor zwei Jahren bemisst. In der Zwischenzeit
kann es aber einen Auftragseinbruch gegeben haben.
Wenn dies ein Unternehmen glaubhaft versichern kann,
wird die Veranlagung vorab angepasst und dann später
verrechnet.
Die von der Linkspartei geforderte Anhebung der
Freistellungsgrenze von jetzt 5 200 Euro auf
30 000 Euro für Kleingewerbetreibende würde in der
IHK Südwestsachsen nach einer vorläufigen Berech-
nung dazu führen, dass mindestens 14 000 der jetzigen
Beitragszahler zu befreien wären. Damit würde die Frei-
stellungsquote auf circa 62 Prozent steigen. Dieser Wert
wäre nicht mehr mit den Vorgaben vereinbar, die das
Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr
1990 vorgegeben hat. Demnach dürfen nicht mehr als
50 Prozent der Kammermitglieder beitragsbefreit sein.
Höhere Freistellungsquoten würden die Lasten unter den
Pflichtmitgliedern zu ungleich verteilen. Das bedeutet:
Der Antrag der Linksfraktion ist schlicht mit der gülti-
gen Rechtslage nicht vereinbar.
Doch ich will hier nicht das Hohelied auf die Indus-
trie- und Handelskammern singen, sondern auch hinter-
fragen, was die Mitglieder im Gegenzug für ihre Bei-
träge bekommen. In der IHK Südwestsachsen sind viele
Dienstleistungen für die Mitgliedsunternehmen kosten-
los. Dazu zählen alle Formen der Erstberatung, die Ver-
mittlung von Beratern, die Patentsprechstunde, Adress-
auskünfte und Auskünfte zur aktuellen Gesetzeslage.
Und selbstverständlich ist jedes der knapp 80 000 Mit-
gliedsunternehmen in der Hauptversammlung stimmbe-
rechtigt, ob es Beitrag zahlt oder nicht.
Es bleibt die Frage nach der Effizienz und Transpa-
renz der Kammern. Wer es mit der Qualität der Arbeit
der IHKs ernst meint, der muss diese Punkte natürlich
immer wieder kritisch hinterfragen. Im Gegensatz zu
dem hier vorliegenden Antrag der Linken hat dieses
Haus in der jüngeren Vergangenheit durchaus Kritik ver-
antwortungsvoll formuliert und daraus auch konkrete
Forderungen abgeleitet. Ich erinnere an den Entschlie-
ßungsantrag, der im April 1998 zusammen mit dem
IHK-Änderungsgesetz von CDU/CSU, SPD und FDP
verabschiedet wurde. Damals wurde den Kammern auf-
gegeben, ihre Hausaufgaben in Sachen Beitrag, Effi-
zienz und Transparenz innerhalb der nächsten vier Jahre
zu machen.
Seitdem ist einiges erreicht worden: Der Durch-
schnittsbeitrag konnte deutlich gesenkt werden. Die
Transparenz der IHK-Finanzen wurde durch die Einfüh-
rung der kaufmännischen Buchführung anstelle der Ka-
meralistik deutlich erhöht. Viele Industrie- und Handels-
kammern veröffentlichen die Eckdaten ihrer geprüften
Jahresabschlüsse. Die Kammern haben sich selbst be-
reits vor Jahren Qualitätsstandards für ihre Arbeit gege-
ben, die regelmäßig unabhängig auditiert werden.
Aber, und das sage ich auch ganz klar, die Industrie-
und Handelskammern müssen sich ihre Reputation im-
mer wieder neu verdienen. Das geht heutzutage nur mit
konsequenter Kunden- und Dienstleistungsorientierung
und einem transparenten Finanzgebaren. Wenn nötig,
dann müssen auch externe Rechnungsprüfer Zugang zu
den Abrechnungen bekommen. Üppige Versorgungszu-
sagen für IHK-Mitarbeiter, die finanziell nicht abgedeckt
sind, dürfen genauso wenig sein wie unnötig teure Ver-
waltungsneubauten. Damit steigert man die Wahlbeteili-
gung bei den Kammerwahlen sicherlich nicht. Außer-
dem haben die Kammern darauf zu achten, dass bei der
Finanzierung des DIHK die haushaltsrechtlichen Vor-
schriften strikt eingehalten werden.
Dafür braucht es aber momentan keine neuen Ge-
setze, sondern Feingespür und Verantwortungsbewusst-
sein bei den IHK-Entscheidern. Dieses immer wieder
anzumahnen, sehen wir von der Union als unsere Pflicht
an. Den Antrag der Linken müssen wir aber schon aus
verfassungsrechtlichen Gründen ablehnen. Außerdem
überzeichnet er die Probleme und würde, wenn man ihn
umsetzte, den Anfang vom Ende der Selbstverwaltung
der Wirtschaft bedeuten. Deswegen lehnen wir den An-
trag ab.
Andrea Wicklein (SPD): Die Industrie- und Han-
delskammern leisten einen wichtigen Beitrag sowohl für
die Wirtschaft als auch für alle staatlichen Ebenen. So
nehmen sie Jahr für Jahr rund 500 000 Zwischen- und
Abschlussprüfungen in der Berufsausbildung ab. Das
kommt jedem Unternehmen – ob groß oder klein – zu-
gute. Sie sind Beratungsinstanz für Kommunen, vor al-
lem bei der Wirtschaftsförderung. Sie sind Sachverstän-
25340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
dige und helfen nicht zuletzt auch im Auftrag des Staates
bei Verwaltungstätigkeiten.
Die Industrie- und Handelskammern bieten Unterneh-
men umfassende Beratung an. Sie sind erste Ansprech-
partner auch für die kleinen und kleinsten Mitglieder. Sie
helfen und beraten schon bei der Existenzgründung, in-
formieren über Fördermöglichkeiten und können Orien-
tierung geben bei Investitionsentscheidungen. Eine gut
geführte IHK ist ein echter Standortvorteil.
Die Selbstverwaltung der Wirtschaft über eine öffent-
lich-rechtliche Institution bindet die Unternehmen ein,
erinnert sie an ihre gesellschaftliche Aufgabe und Ver-
antwortung. Ich denke, so sollte es auch bleiben. Es er-
staunt mich, dass gerade die Linkspartei das infrage
stellt. Eine Ausweitung der Beitragsbefreiung – wie sie
die Linke fordert – gefährdet das Finanzierungssystem
der Selbstverwaltung und damit der IHKs selbst.
Unbenommen: Es gibt auch Kritik gegenüber den In-
dustrie- und Handelskammern. Das ist von allen Fraktio-
nen in der Diskussion angesprochen worden. Auch mich
erreichen immer wieder Schreiben von Unternehmern,
die sich nicht ausreichend berücksichtigt fühlen. Kriti-
siert werden auch mangelnde Transparenz, geringe Be-
teiligung der Mitglieder an den Entscheidungsfindungen
oder zu große Verwaltungsapparate. Hüten sollte man
sich aber vor Pauschalurteilen. Jede IHK ist anders. Es
hängt immer von den handelnden Akteuren ab, wie sie
ihre Aufgaben wahrnehmen. Das ist natürlich auch in
den Industrie- und Handelskammern so.
Natürlich sind die IHKs auch eine Interessenvertre-
tung der angehörigen Unternehmer. Sie beteiligen sich
an gesellschaftlichen Diskussionen. Es wäre ja auch ei-
genartig, mündigen Bürgern das Wort verbieten zu wol-
len. In der Diskussion ist, so glaube ich, deutlich gewor-
den, dass eine Beitragsbefreiung oder sogar Aufhebung
der Pflichtmitgliedschaft keinen der Kritikpunkte an den
Industrie- und Handelskammern beseitigen hilft. Zum
einen zahlen nur knapp über 50 Prozent der Unterneh-
men überhaupt einen Beitrag. Zum anderen möchte ich
bezweifeln, dass weitere Befreiungen die Beteiligung
der kleinen Unternehmen an ihrer IHK erhöht. Vielmehr
muss man die Mitgliedsunternehmen ermuntern, sich
mehr einzubringen. Jedes Unternehmen, egal ob groß
oder klein, umsatzstark oder -schwach, einen Beitrag
zahlend oder nicht, hat in der IHK eine Stimme. So wird
Mitsprache und Beteiligung ermöglicht an den Aufga-
ben, die der Staat den IHKs übertragen hat.
Der Antrag der Linkspartei ist eine Systemänderung.
Wenn sich die IHKs nicht mehr an politischen Diskus-
sionen beteiligen können, sind sie keine Interessenver-
tretung mehr. Wenn sie sich nicht mehr an privatrechtli-
chen Organisationen, wie den Auslandskammern,
beteiligen dürfen, bieten sie ihren Mitgliedsunternehmen
weniger Service. Wenn immer weniger Unternehmen ei-
nen finanziellen Beitrag zur IHK leisten, wird die
Kammer ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen kön-
nen. Das kann jedoch nicht unser Ziel sein.
Unser Ziel ist eine Verbesserung der Aufgabenwahr-
nehmung und der Akzeptanz der Arbeit der Industrie-
und Handelskammern. Vielleicht kann dazu auch die an-
gesprochene Beteiligung der Mitarbeiter an der Arbeit
der IHKs nützlich sein. Eine kritische Aufgabenüberprü-
fung und konstruktive Aufarbeitung der Tätigkeiten
muss regelmäßig durchgeführt werden. Die Mitglieds-
unternehmen müssen sie einfordern, und die Politik
muss sie anmahnen. Das wollen auch wir als SPD tun.
Die Selbstverwaltung der Wirtschaft sollten wir dabei
aber nicht infrage stellen.
Paul K. Friedhoff (FDP): Wir beraten heute einen
Antrag zum Handelskammerrecht, mit dem die Abge-
ordneten der Linken die Lage kleinerer Unternehmen
verbessern wollen. Der Inhalt des Antrages mag – wie so
oft bei den Parteien des linken Spektrums hier im Hause –
gut gemeint sein, er geht aber an der Realität im Kam-
merwesen vorbei.
Wer über die Pflichtbeiträge zu den Industrie- und
Handelskammern diskutieren will, hat sich zunächst den
Anteil der Mitgliedsunternehmen vor Augen zu führen,
die überhaupt Beiträge zahlen. In den meisten Kammer-
bezirken liegt die Beitragszahlerquote unter 50 Prozent.
Selbst in wirtschaftsstarken Kammerbezirken zahlen nur
um die 60 Prozent der Mitgliedsunternehmen Beiträge.
Diese Prozentsätze zeigen, worüber wir hier reden: Es
könnten sich zwar die Beitragszahler über die Masse von
Beitragsfreien aufregen. Es kann aber kaum davon ge-
sprochen werden, dass zu viele Pflichtmitglieder Bei-
träge zahlen. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu
1990 betont, dass es gegen den Gleichheitsgrundsatz
verstößt, wenn die Aufgaben der Selbstverwaltung zwar
allen Pflichtmitgliedern zugutekommen, aber von immer
weniger Mitgliedern bezahlt werden.
Ich betone es im Sinne dieser Rechtsprechung auch
hier noch einmal: Die von den Kammern wahrgenom-
menen Aufgaben der Selbstverwaltung kommen allen
Mitgliedern zugute, fast die Hälfte aller Mitglieder zahlt
hierfür aber schon heute nichts. Nun sagen zwar viele
Kleinunternehmer, sie bräuchten gar keine Kammern,
sie bräuchten keine Selbstverwaltung und, falls doch,
dann würden sie einem Interessenverband beitreten. Ich
weiß nicht, wie es wirklich aussieht, aber ich habe noch
nie von einem Interessenverband gehört, in dem man als
kleines Mitglied zwar keine Beiträge zahlt, bei dem man
aber volles Stimmrecht hat. Ich darf es einmal etwas pro-
vokant betonen: Vielen geht es in der Diskussion um die
beitragspflichtige IHK-Mitgliedschaft um Prinzipienrei-
terei. Sie ärgern sich über die erfolgreiche, aber politik-
ferne Selbstverwaltung der Wirtschaft.
Was die Frage der Beitragsgerechtigkeit angeht, so ist
zunächst zu bemerken, dass IHK-Beiträge keine Steuern
sind. Bei den Grundbeiträgen sind die Spielräume nach
unten zum Teil ausgeschöpft. Manche Kammern erhe-
ben Grundbeiträge von nur noch 35 Euro – im Jahr
wohlgemerkt. Zum Vergleich: Für ein einziges Radio in
seinem Gewerbebetrieb hat ein Unternehmer jährlich
69 Euro Rundfunkgebühren zu bezahlen. Obwohl der
Name „Gebühr“ dabei eine konkrete Gegenleistung er-
warten lässt, zahlt der Unternehmer die Rundfunkgebüh-
ren völlig unabhängig von der Nutzung. Wenn das Radio
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25341
(A) (C)
(B) (D)
aus ist, gibt es überhaupt keinen Nutzen. Die IHK dage-
gen nützt dem Mitglied auch ohne konkrete Inanspruch-
nahme von Leistungen als Interessenvertreterin. Dies
gilt wegen ihrer Mittlerfunktion auch dann, wenn die
Kammer nicht immer genau die persönlichen Belange
jedes einzelnen Mitgliedes verfolgen kann. Viel Bei-
tragsspielraum nach unten ist bei den Kammern bei ver-
nünftiger Betrachtung nicht mehr vorhanden, denn sonst
übersteigen bei derart niedrigen Grundbeiträgen leicht
die Kosten der Beitragserhebung das Beitragsaufkom-
men.
Um im Bereich der großen Unternehmen Beitragsge-
rechtigkeit zu wahren und um zu vermeiden, dass inter-
nationale Unternehmen die für den Beitrag maßgebli-
chen Erträge außerhalb des Kammerbezirkes geltend
machen, gibt es übrigens das Instrument des erhöhten
Grundbeitrages. Ein solcher gibt der Vollversammlung
der Kammern die Möglichkeit, große Mitglieder mit ho-
hen Umsätzen nach dem Solidarprinzip angemessen zu
beteiligen. Wir wollen nicht, dass die IHK nur von eini-
gen Großunternehmen finanziert wird, und damit in de-
ren Abhängigkeit gerät.
Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der in der
Diskussion um Pflichtmitgliedschaft und Beiträge leicht
vergessen wird: Die Vollversammlungen der Industrie-
und Handelskammern sind die Parlamente der unterneh-
merischen Selbstverwaltung. Für die Pflichtmitglieder
gilt bei den Wahlen zur Vollversammlung Stimmen-
gleichheit – und zwar unabhängig von Unternehmens-
größe und Beitrag. Hohe Beiträge bedeuten noch keine
hohe Macht in der Selbstverwaltung. Es zahlen stattdes-
sen 2 bis 3 Prozent der Mitglieder 50 bis 80 Prozent des
Beitragsaufkommens – ohne dass sie in gleichem Maße
das Unternehmerparlament dominieren könnten. Dage-
gen zahlen durchschnittlich 45 Prozent der Mitglieder
keine Beiträge, haben aber insgesamt 45 Prozent der
Stimmen zur Vollversammlung. Von zu geringer demo-
kratischer Teilhabe der kleinen Mitglieder kann also ge-
rade nicht gesprochen werden. Dennoch zeigt sich nach
Berichten der Kammern Erstaunliches: Die Wahlbeteili-
gung zu den Vollversammlungen ist bei den beitrags-
freien Mitgliedern drastisch niedriger als bei den Zah-
lern. Hier ist scheinbar noch viel Motivationsarbeit
durch die Kammern zu leisten. Es darf nicht heißen:
„Wofür ich nicht zahl’, das interessiert mich auch nicht.“
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen, und das
sind die im Antrag der Linken kritisierten hohen Prü-
fungsgebühren im Ausbildungswesen. Bei den Prü-
fungsgebühren ist es den Kammern möglich, diese zu
erlassen, wenn sie für das ausbildungswillige Unterneh-
men eine zu hohe Hürde darstellen. Die Kritik der Lin-
ken geht an der Realität vorbei. Denn wer ausbilden will,
wird sich davon nicht durch eine einmalige Prüfungsge-
bühr abhalten lassen, sondern viel eher von den gesam-
ten Ausbildungskosten, die vom Staat mit vielen unsin-
nigen bürokratischen Vorschriften in die Höhe getrieben
werden.
Der Antrag der Linken zeigt eine falsche Herange-
hensweise und geht von falschen Voraussetzungen aus.
Die FDP-Fraktion lehnt ihn deshalb ab.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Die Linke hat mit
dem vorliegenden Antrag ihre Vorschläge zur grundle-
genden Reform der Industrie- und Handelskammern un-
terbreitet. Wir halten eine Reform für notwendig, gerade
weil die Industrie- und Handelskammern wichtige Auf-
gaben erfüllen. Sie fördern zum Beispiel die gewerbliche
Wirtschaft vor Ort und führen die kaufmännische und
gewerbliche Berufsbildung durch. Diese und andere
Aufgaben sind im derzeitigen, dezidiert als „vorläufig“
bezeichneten IHK-Gesetz festgelegt. Uns geht es darum,
die IHKs zu stärken.
Deshalb ist eine Reform dringend erforderlich. Denn
als öffentlich-rechtliche Körperschaften müssen sich die
IHKs gegenüber ihren Mitgliedern und der Allgemein-
heit legitimieren. Denn dies ist die Basis der gesetzli-
chen Pflichtmitgliedschaft, die wir beibehalten wollen.
Unbestreitbar sind viele Mitgliedsunternehmen unzufrie-
den. Kritisiert werden zahlreiche Punkte. Hier will ich
nur einige nennen:
Die IHK-Beiträge belasten – in Relation zum jeweili-
gen Gewerbeertrag – Kleinst- und Kleinbetriebe un-
gleich stärker als Großkonzerne.
Gewerbebetriebe müssen per Gesetz und mit Pflicht-
beiträgen einem Verband angehören, der ihnen mehrheit-
lich keinen oder nur einen geringen Nutzen bringt.
Die IHKs orientieren sich zu sehr am Bedarf der
Großunternehmen, obwohl gerade diese die Mittel hät-
ten, ihre Probleme selbst zu lösen.
Dies alles erklärt maßgeblich, warum sich an der
Wahl zu den Kammergremien lediglich 5 bis 16 Prozent
der Mitgliedsfirmen beteiligen. Wir können also nicht so
tun, als sei hier alles in Ordnung. Das ist ja auch in der
ersten Lesung unseres Antrages deutlich geworden.
Herr Lämmel von der Union räumte ein: „Jeder von
uns kennt natürlich solche Gespräche mit Unternehmern,
die sich über den Sinn von Zwangsmitgliedschaften,
über den nicht erkennbaren Nutzen oder die geringe
Effizienz der IHKs beschweren.“ Herr Burgbacher von
der FDP stimmte dem zu und redete davon, dass „es Re-
formbedarf bei den IHKs gibt“. Auch Frau Andreae von
den Grünen sprach von „ineffizienten Strukturen einzel-
ner Kammern“ und „Diskussionsbedarf“. Kollege
Schultz von der SPD stimmte sogar zentralen Punkten
unseres Antrages zu, etwa dass Kammerämter partei-
politisch missbraucht werden oder dass eine Mitbestim-
mung eingeführt werden sollte.
Trotzdem ist in den letzten vier Jahren hier nichts pas-
siert. Weder die Große Koalition noch FDP oder Grüne
haben dazu einen Antrag oder ein Gesetz eingebracht.
Sie alle wollen jedoch unseren Antrag ablehnen und füh-
ren dafür eine Reihe von Argumenten an, die sich zum
Teil auch mit Einwänden decken, die wir von verschie-
denen Industrie- und Handelskammern bekommen ha-
ben. Denn auch wir haben mit Ihnen gesprochen.
Auf die zwei wichtigsten Einwände will ich im Fol-
genden eingehen.
Stichwort: Beitragsfreistellung. Unsere Forderung,
alle IHK-Mitglieder bis zu einem Gewerbeertrag von
25342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
30 000 Euro von der Beitragszahlung freizustellen,
würde dem Äquivalenzprinzip widersprechen. Fakt ist:
Bereits heute ist das Äquivalenzprinzip bei alleiniger
Betrachtung der Beiträge in doppelter Weise aufge-
hoben: durch die Beitragsfreiheit bestimmter Unterneh-
mergruppen und durch die – im Verhältnis zum Gewer-
beertrag – geringeren Beiträge von Großunternehmen.
Faktisch gibt es also bereits heute breite Ermessensspiel-
räume. Die Linke will diese Gestaltungsfreiheit nutzen,
um die Beiträge angemessener und transparenter zu re-
geln.
Stichwort: Qualifizierte Mitbestimmung. Es wird be-
zweifelt, ob die IHK „den Spagat der Einbindung der
Arbeitnehmerinteressen“ bewältigen könne. Es geht hier
jedoch um eine grundlegende Frage von Demokratie.
Und: Dieses Anliegen ist im IHK-Gesetz von 1956 ge-
nannt, aber bis heute nicht verwirklicht. Die Linke wird
hier nicht locker lassen.
Die Linke hat mit dem vorliegenden Antrag eine
längst überfällige Debatte angestoßen. Offen bleibt, wie
und wann die Industrie- und Handelskammern im Inte-
resse der zahlreichen kleinen und mittleren Unterneh-
men reformiert werden. Für uns ist die Mitbestimmung
dabei ein zentrales Problem. Die Linke wird diese Fra-
gen in der neuen Wahlperiode wieder stellen.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Antrag der Linken, den wir heute diskutieren, ist
voller merkwürdiger Forderungen und inhaltlich kaum
für eine ernsthafte Diskussion über die Kammern geeig-
net. Die Linken wollen Beitragsbefreiung, Mitbestim-
mung und vieles mehr. Es ist ein ganzes Sammelsurium
von Vorschlägen, die teilweise im Widerspruch zur Rea-
lität stehen. Umsetzbar sind sie schon gar nicht. Deswe-
gen müssen wir diesen Antrag ablehnen.
Nichtsdestotrotz sprechen die Linken einige gewich-
tige Probleme an. Wir Grüne diskutieren schon lange
über Möglichkeiten, mit den Schwierigkeiten bei den
Kammern umzugehen, gerade weil wir Grünen oft ge-
nug ganz andere Positionen als die Vertreter der Kam-
mern haben; denn diese sind nicht gerade Vorreiter grü-
ner Ideen. In vielen Punkten widersprechen sie unseren
Forderungen, sei es im Bereich der Ökologie oder auch
der Sozialpolitik – und das, obwohl wir in unseren Rei-
hen viele Selbstständige und Unternehmer haben. Sie
bemängeln nicht umsonst, dass nicht ihre Interessen ver-
treten werden. Das kann ich gut nachvollziehen.
Ich sage den Kammervertretern immer wieder deut-
lich: Öffnen Sie sich grünen Ideen. Damit können Sie
Zukunft schaffen, ganz im Sinne Ihrer Mitglieder. Wir
sagen zum Beispiel: Handwerk hat grünen Boden. Ge-
rade für das Handwerk eröffnen sich im Kampf gegen
den Klimawandel riesige, ökonomisch wie ökologisch
sinnvolle Betätigungsfelder. Hier sollten die Kammern
viel aktiver werden. Sie müssen uns ja nicht gleich wäh-
len. Es reicht, wenn sie unsere Ideen umsetzen.
Ich sehe die Problematik der Balance zwischen den
Interessen und einer angemessenen Vertretung auch.
Wenn die Linken aber fordern, dass allen Unternehmen
bis zu einer Grenze von 30 000 Euro Gewerbeertrag pro
Jahr eine beitragsfreie Mitgliedschaft zu gewähren ist,
dann müssen sie aufpassen, welche Folgen das hat und
wer dann tatsächlich noch beitragspflichtiges Mitglied
ist. Ich frage mich, warum hier nicht gleich eine viel nä-
her liegende Forderung aufgegriffen wurde, nämlich die
Abschaffung des Kammerzwangs. Dabei ist es eigentlich
relativ einfach, gegen den Kammerzwang zu sein.
Wer will schon eine Pflichtmitgliedschaft oder
Zwangsmitgliedschaft in einer Kammerstruktur, die an
die Zünfte erinnert? Das bringt nur bürokratische Belas-
tungen mit sich, zudem kostet es auch noch Geld, Geld,
das man wunderbar an anderer Stelle gebrauchen könnte.
Und läuft es nicht dem freiheitlichen Unternehmertum
an sich zuwider, gezwungenermaßen irgendwo Mitglied
zu sein?
Außerdem ist man damit Teil einer Organisation, die
nicht selten ineffizient und intransparent arbeitet und
nicht unbedingt durch optimale Beteiligungsmöglichkei-
ten gekennzeichnet ist. Für die Mitglieder ist oft gar
nicht nachvollziehbar, was genau ihre Kammer eigent-
lich macht. Nicht ohne Grund lässt die Wahlbeteiligung
bei den IHK-Vollversammlungen oft zu wünschen übrig.
Man fragt sich schon, inwiefern die Mitgliedsunterneh-
men auf die Entscheidungen und Arbeitsweisen ihrer
Kammern einwirken können.
So will ich klar sagen: Es gibt Reformbedarf, das
Kammermodell muss auf den Prüfstand. Aufgabe der
Politik ist es, sich Dinge umfassend und komplex anzu-
schauen. Was passiert, wenn der Kammerzwang abge-
schafft wird? Anders gefragt: Gibt es einen sachlichen
Grund, ihn zu behalten?
Unbestritten ist, dass die Kammern wichtige Aufga-
ben übernehmen, vor allem im Bereich der Aus- und
Weiterbildung. Wer würde das machen, wenn sie abge-
schafft werden? Übernimmt der Staat die hoheitlichen
Aufgaben, und lässt er sie vom öffentlichen Dienst bear-
beiten, finanziert aus Steuergeldern? Wenn das so ist,
dann stellen sich mir zwei Fragen: Zum Ersten: Ist es
nicht besser, wenn wir dies bei der Wirtschaft lassen?
Zum Zweiten: Kann der Staat das wirklich besser?
Es gibt drei Möglichkeiten, wie man mit den Aufga-
ben, die die Kammern erledigen, umgehen kann: Erstens
könnte der Staat sie selbst übernehmen, zweitens könnte
er sie an Private übertragen, drittens überträgt der Staat
die Aufgabe in die Selbstverwaltung der Wirtschaft, was
de facto heißt, dass die Kammern eigenverantwortlich
die Aufgaben übernehmen. – Ich halte die dritte Variante
für die beste, denn dadurch wird die Wirtschaft in die
Verantwortung genommen.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Politik
sich kritisch mit den aufgeworfenen Fragen zu den Kam-
merstrukturen beschäftigen muss. Der Antrag der Lin-
ken mit seinen kruden Vorschlägen hat dazu leider nicht
viel beigetragen. Es ist an der Zeit, dass die Kammern
sich erklären. Um eine Reform der bisherigen Strukturen
werden sie nicht herumkommen, denn dafür ist die Un-
zufriedenheit unter den engagierten Mitgliedsunterneh-
men zu groß.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25343
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 28
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Seniorinnen
und Senioren in Deutschland (Tagesordnungs-
punkt 16)
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir können
mit Freude feststellen, dass die Menschen niemals zuvor
in der Geschichte so gesund und aktiv ihren Lebens-
abend gestalten konnten. Ein heute 60-Jähriger ist biolo-
gisch im Schnitt fünf bis sechs Jahre jünger als ein Mann
gleichen Alters vor 30 Jahren.
Alter ist ein enormes Potenzial. Unsere Gesellschaft
wird es sich nicht leisten können, auf das Wissen, das
Engagement und die Erfahrung der Älteren zu verzich-
ten. Stärker als bisher muss das Alter als produktive
Lebensphase anerkannt werden. Es ist gut, dass der
Trend zur Frühverrentung gestoppt und Anreize für
eine Beschäftigung älterer Menschen geschaffen wer-
den. Gesellschaftliches Engagement, lebenslanges Ler-
nen, Gesundheit und Pflege und die Stärkung der Senio-
rinnen und Senioren als Verbraucherinnen und
Verbraucher sind die seniorenpolitisch wichtigsten Be-
reiche.
Viele Ältere wollen sich mit ihrer Erfahrung und Bil-
dung in die Gesellschaft weiterhin einbringen und enga-
gieren sich freiwillig in verschiedenen Einsatzfeldern,
zum Beispiel in Kindergärten, Schulen, Familien, Stadt-
teilzentren, stationären Einrichtungen und Hospizen. Da-
für danken wir Ihnen. Ohne diese Tatkraft wäre unsere
Gesellschaft ärmer. Es ist wichtig, diese Bereitschaft der
Seniorinnen und Senioren zum Engagement breit und
gezielt zu fördern. Mit dem Programm „Freiwilligen-
dienste aller Generationen“ schafft das Bundesministe-
rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wichtige
Strukturen und Qualitätsstandards und stärkt Initiativen
vor Ort.
Der demografische Wandel verändert Deutschland
grundlegend. Wir werden im Jahr 2035 eine der ältesten
Bevölkerungen der Welt haben. Darauf müssen wir uns
einstellen. Ältere Menschen unterscheiden sich deutlich
in ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit,
ihrer Lebenszufriedenheit, ihren Lebensbedingungen
und Lebensstilen. Die Komplexität des Alterns und die
Verschiedenheit der Altersformen bedingen vielschich-
tige politische Lösungen. Zwar ist höheres Lebensalter
keineswegs zwingend mit Pflegebedürftigkeit oder
Krankheit verbunden, aber gesundheitliche Risiken stei-
gen erheblich an. Die Politik muss für ein ausreichendes
Angebot an guten Pflegediensten und Pflegeeinrichtun-
gen sorgen. Dazu gehört es auch, die Pflegeausbildung
attraktiver zu gestalten. Ebenso wichtig ist es, den Be-
reich der Prävention durch sportliche Angebote der ge-
sundheitlichen Vorsorge zu stärken.
Mit zunehmendem Lebensalter wird die Wohnung,
der soziale Nahraum, die Kommune immer mehr zum
Lebensmittelpunkt. Die Menschen können umso länger
selbständig leben, je besser die sie umgebenden Bedin-
gungen darauf eingestellt sind. Der barrierefreien Infra-
struktur und dem eigenständigen Wohnen und der Wei-
terentwicklung alternativer Wohnformen kommt
besondere Bedeutung zu. Das Programm „Mehrgenera-
tionenhäuser“ des Ministeriums will den Zusammenhalt
und den Austausch der verschiedenen Lebensalter in
Deutschland stärken.
Das gesunde Altern geht einher mit einer gestiegenen
Lernbereitschaft. Als Lernende bleiben ältere Menschen
am Puls der Zeit und nehmen am gesellschaftlichen Le-
ben teil. Es ist daher wichtig, dass die Möglichkeiten der
Weiterbildung im Alter weiter ausgebaut werden.
Deutschland kann es sich nicht leisten, die Prozesse
der demografischen Entwicklung nur wahrzunehmen
und nicht zu gestalten. Alt werden bei guter Gesundheit
und in guter Verfassung ist nicht nur für den Einzelnen
ein Gewinn; auch Gesellschaft und Wirtschaft profitie-
ren, wenn sie auf die Potenziale älterer Menschen zu-
rückgreifen. Mit Produkten und Dienstleistungen, die
sich an den Bedürfnissen älterer Menschen orientieren,
leisten Unternehmen einen wesentlichen Beitrag zu
mehr Lebensqualität im Alter. Mit der Initiative „Wirt-
schaftsfaktor Alter“ gibt die Bundesregierung Impulse
für die Entwicklung innovativer Produkte und Dienst-
leistungen für Seniorinnen und Senioren und stärkt ältere
Menschen in ihrer Rolle als Verbraucherinnen und Ver-
braucher.
Eines ist jedenfalls klar: Wir brauchen ein neues Al-
tersbild, das die Fähigkeiten und Stärken älterer Men-
schen anerkennt und aktiviert.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Das Wichtigste
vorneweg: Ich finde es gut, dass wir heute im Deutschen
Bundestag wieder einmal über das Alter reden. Ich
danke ganz neidfrei der FDP-Fraktion dafür, dass sie uns
am Ende der Legislaturperiode mit der Großen Anfrage
die Möglichkeit dafür geschaffen hat.
Die Situation der Seniorinnen und Senioren in
Deutschland ist ein wichtiges gesellschaftliches Thema,
das es verdient, generell noch mehr Aufmerksamkeit zu
erhalten, als dies bisher der Fall ist, und die Antwort auf
die Große Anfrage der FDP ist eine interessante Zusam-
menstellung von Daten und Fakten über die Lebenssitua-
tion von Seniorinnen und Senioren in Deutschland, die
auch für unsere Arbeit in den kommenden Jahren von In-
teresse sein wird.
Ich nenne als Beispiel die Zahlen zu der Bevölke-
rungsgruppe der älteren Migranten und Migrantinnen,
zum Wanderungssaldo Älterer in den einzelnen Bundes-
ländern, zum Bildungsangebot für Senioren, zur Be-
schäftigungssituation Älterer, zur Wahlbeteiligung, zur
Zahl und Qualifizierung der rechtlichen Betreuungen,
zur Sicherheit von Senioren und zur Wohnsituation. Das
ist ein bunter Strauß.
Eines Themas möchte ich mich besonders annehmen:
Sie fragen zum Beispiel zu Recht die Bundesregierung
nach der Beurteilung der gesetzlichen Altersgrenzen im
Bereich des ehrenamtlichen Engagements. Und ich
würde zustimmen, wenn Sie sagen würden, Altersdiskri-
25344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
minierungen gerade im ehrenamtlichen Bereich gehörten
auf den Prüfstand, denn die Lage ist kompliziert.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es hinsicht-
lich der Altersgrenzen beim ehrenamtlichen Engagement
keine einheitliche klare Ablehnung älterer Menschen
gibt. Bei der oft zitierten Altersbegrenzung bei den
Schöffen handelt es sich um eine Sollbestimmung, wo-
bei das Gerichtsverfassungsgesetz nur das Ehrenamt ei-
nes Schöffen in Strafsachen betrifft. Andere Verfahrens-
arten sind nicht betroffen. Und: Die Altergrenze ist erst
vor kurzem erhöht worden, was uns aber – ebenso wie
der im Gesetz eingeräumte Ermessensspielraum – nicht
daran hindern sollte, an einer weitgehenden Abschaffung
solcher – oft diskriminierenden – Altersgrenzen zu ar-
beiten.
Den Grund für diese seniorenpolitische Forderung
kann ich Ihnen anhand der Antwort der Bundesregierung
gerne aufzeigen. Sie macht übrigens deutlich, wie groß
die Gefahr ist, dass sich Stereotype trotz neuerer Er-
kenntnisse immer weiter fortsetzen:
Zusammengefasst wird in der Antwort ausgeführt, die
Altersgrenze von 75 Jahren sei „sachlich gerechtfertigt“.
Mehrtägige und mehrwöchige Hauptverhandlungen wä-
ren laut Bundesregierung keine Seltenheit, und die kör-
perliche Belastbarkeit der Schöffen ab 75 Jahren wären
in einem zu hohen Maße überschritten. So verstehe ich
die Sätze in der Antwort zur Großen Anfrage. Das ist
keine ausreichende Antwort in meinen Augen. Nur des-
halb, weil man das 75. Lebensjahr überschritten hat,
heißt das noch nicht, dass die Grenzen der körperlichen
Belastbarkeit automatisch – und das ist das Pauschalie-
rende und damit Diskriminierende in der Argumentation –
erreicht sind.
Zudem schließt § 33 Nr. 4 des Gerichtsverfassungsge-
setzes Personen, die aus gesundheitlichen Gründen zu
dem Amt nicht geeignet sind, bereits aus. Da bedarf es
keiner zusätzlichen und zudem pauschalierenden Gleich-
setzung, nach dem Motto: hohes Alter gleich körperlich
begrenzt belastbar. Hier müssen wir in der neuen Legis-
laturperiode einen Anlauf wagen, auch für Schöffen eine
diskriminierungsfreie Regelung zu erreichen.
Grundsätzlich sind wir als Gesetzgeber angehalten,
altersdiskriminierende Regelungen zu überprüfen.
Ebenso wie in anderen Arbeitssituationen haben diese
auch im bürgerschaftlichen Engagement nichts zu su-
chen. Das ist nicht nur die Botschaft des AGG. Ehren-
amtliche Arbeit ist ein Stück Teilhabe an der Gesell-
schaft und an unserer Demokratie. Wer hier ausgrenzt,
zeigt, dass er unsere Staatsform nicht verstanden hat.
Das sollte sich auch der aufstrebende Berliner Jung-
politiker der Union hinter die Ohren schreiben, der
jüngst dafür plädiert hat, das Wahlrecht Älterer mit der
Begründung zu beschneiden, sie leisteten angeblich kei-
nen aktiven Beitrag mehr für die Gesellschaft. Es ist
schon merkwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen ins-
besondere von der Union und der FDP, dass es aus den
Reihen Ihrer Nachwuchspolitiker immer wieder solche
Töne gibt. Da fragt man sich dann schon, welche Debat-
ten Sie parteiintern über die Rolle der Alten in unserer
Gesellschaft führen.
Die SPD setzt jedenfalls auf die Solidarität und das
Miteinander der Generationen, und sie hat das auch mit
dem erfolgreichen Kampf um die Aufnahme des Merk-
mals Alter in den zivilrechtlichen Teil des AGG deutlich
gemacht.
Ich bin ganz sicher: In dessen Konsequenz werden
viele möglicherweise veraltete Regelungen sukzessive
auf den Prüfstand kommen. Dass 24,32 Prozent der An-
fragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundesmi-
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das
Merkmal Alter betreffen, zeigt die hohe gesellschaftspo-
litische Relevanz des Themas.
Aber ich weiß: Beim AGG scheiden sich hier im
Hause die Geister. Mein Ceterum censeo als Senioren-
politikerin ist, dass wir mit dem AGG ein Gesetz ver-
abschiedet haben, welches viele Bürgerinnen und Bür-
ger – übrigens junge ebenso wie alte – ermächtigt, sich
gegen Diskriminierung wegen des Lebensalters zu weh-
ren. Und dazu sind die Bürgerinnen und Bürger ganz of-
fensichtlich bereit.
Bei allem grundsätzlichen Lob für viele Fragestellun-
gen und auch Antworten auf die Anfrage wird an man-
chen Stellen – wie könnte es anders sein – der Geist der
antragstellenden Partei doch recht deutlich erkennbar. So
widmen Sie der Altersarmut leider nur zwei direkte Fra-
gen, um dann sofort mit den Fragen nach der Kaufkraft
der älteren Generation fortzufahren, die Sie ja auch
schon im ersten Absatz der Vorbemerkung als besonders
wichtig erachten.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich freue
mich auch, dass bei der derzeitigen Rentnergeneration
viele dabei sind, welche von ihrer Rente gut leben kön-
nen und sozusagen im Lichte sind, aber man darf meines
Erachtens die anderen, die im Dunkeln, nicht vergessen.
Da gibt es eben auch die alten Frauen mit einer Witwen-
rente von durchschnittlich 522 Euro pro Monat. Diesen
hilft eine Frage nach der Eigenverantwortung wenig.
Mein Fazit: Trotz der vielen Antworten bleiben noch
viele Probleme offen. Wir werden einige davon in der
nächsten Legislaturperiode in Angriff nehmen müssen.
Wolfgang Spanier (SPD): An vielen Stellen wird
deutlich, dass sich eines ganz entscheidend verändert
hat: das Bild vom Alter. Nicht nur in der älteren Genera-
tion, also in meiner Generation, gibt es diesen Bewusst-
seinswandel, auch in der Gesellschaft insgesamt, glück-
licherweise auch in diesem Parlament. Die Alten sind
nicht mehr eine Randgruppe, die im Ruhestand verharrt,
die in die Zuschauerrolle gedrängt werden oder allenfalls
Empfängerinnen und Empfänger von Fürsorge und Ver-
sorgung sind. Dieses Bild hat sich grundsätzlich gewan-
delt. Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter prägen
das neue Bild vom Alter. Der nächste Altenbericht wird
sich mit den Altersbildern beschäftigen, und selbstver-
ständlich wird sich auch der nächste Bundestag mit den
Ergebnissen dieses Berichts auseinandersetzen müssen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25345
(A) (C)
(B) (D)
Ausgehend von der Großen Anfrage möchte ich die
Gelegenheit nutzen, einige Zukunftsaufgaben zu skizzie-
ren, die aus der Sicht der Sozialdemokraten in der nächs-
ten Legislaturperiode vom Parlament aufgegriffen wer-
den müssen. Fünf Themen sind dabei besonders wichtig,
auch mir persönlich: ein neuer Pflegebegriff, die Integra-
tion älterer Migrantinnen und Migranten, ein menschen-
würdiges Alter für Menschen mit Behinderung, das
Wohnen im Alter und Maßnahmen gegen eine drohende
Altersarmut. Das sind komplexe Aufgaben, die ich hier
nur sehr knapp skizzieren kann.
Ein Expertengremium hat Empfehlungen für einen
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff vorgelegt. Bislang ha-
ben wir die sogenannte Minutenpflege. Sie orientiert
sich fast ausschließlich an rein körperlichen Gesichts-
punkten. Pflegebedürftigkeit wird gemessen. Wie viele
Minuten Unterstützung am Tag braucht ein Mensch für
das Aufstehen, das An- und Auskleiden, die Ernähung,
die Körperpflege? Danach richtet sich die Einstufung in
die Pflegestufe, danach richten sich die Leistungen der
Pflegeversicherung. Künftig soll der Maßstab nicht mehr
der zeitliche Aufwand für die Pflege, sondern der Grad
der Selbstständigkeit des Menschen sein. Es sollen künf-
tig alle körperlichen, geistigen und psychischen Beein-
trächtigungen berücksichtigt werden. Entscheidend ist
also eine ganzheitliche Sicht des pflegebedürftigen Men-
schen. Das ist ein Perspektivenwechsel in der Pflegever-
sicherung. Selbstbestimmung und Teilhabe der
Menschen werden in den Mittelpunkt gerückt. Wir
Sozialdemokraten treten dafür ein, dass der Deutsche
Bundestag in der nächsten Legislaturperiode den Weg
öffnet für diesen Paradigmenwechsel.
Stärker als bisher müssen wir auch in der Senioren-
politik die Situation der älteren Migrantinnen und Mi-
granten berücksichtigen. 15,6 Millionen Menschen in
Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Diese
Bevölkerungsgruppe ist natürlich sehr heterogen. Aber
auch diese Menschen werden älter. Wir werden sehr viel
stärker kulturelle Unterschiede berücksichtigen müssen,
weil es eine selbstverständliche Aufgabe ist, das Recht
auf Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter auch für
diese Menschen sicherzustellen. Auch hierzu gibt es in
der Antwort der Bundesregierung erste Hinweise. Wir
erwarten, dass das Parlament die Anstrengungen zur In-
tegration deutlich verstärkt und dabei auch die besonde-
ren Lebenssituationen der älteren Migrantinnen und Mi-
granten berücksichtigt.
Stärkere Beachtung als bisher sollten auch die älter
werdenden Menschen mit Behinderung, vor allem mit
geistigen Behinderungen, finden. Hier haben wir aus der
Geschichte heraus eine besondere Verantwortung. Men-
schen mit Behinderung haben im Alter ganz besondere
Bedürfnisse und selbstverständlich auch das Recht auf
Selbstbestimmung und Teilhabe. Ich bin davon über-
zeugt, dass wir uns dieser Aufgabe noch stärker als bis-
her widmen müssen. Das ist auch eine historische Ver-
pflichtung.
Gute Fortschritte nicht nur in der öffentlichen Diskus-
sion, sondern auch in konkreten Maßnahmen des Bundes
haben wir beim Wohnen im Alter gemacht. Der demo-
grafische Wandel zwingt die Wohnungswirtschaft, sich
auf veränderte Bedürfnisse an das Wohnen einzustellen.
Der Staat hilft, ein ausreichendes Angebot an preiswer-
teren altersgerechten Wohnungen bereitzustellen. Der
Wunsch der meisten Menschen in meiner Generation ist
es, so lange wie möglich selbstständig zu leben und zu
wohnen. Es geht aber nicht nur um altersgerechte Woh-
nungen, es ist auch eine Aufgabe der sozialen Stadtent-
wicklung insgesamt. Wir wollen zum Beispiel keine
„Altengettos“. Das Leitbild der sozialen Stadt will das
Miteinander der Generationen fördern. Das ist sicherlich
in erster Linie eine kommunale Aufgabe, aber der Bund
kann den rechtlichen Rahmen geben, er kann mit Förder-
programmen positive Entwicklungen vorantreiben. Und
das tut er bereits.
Lassen sie mich zum Schluss noch einen Aspekt an-
sprechen, mit dem sich das Parlament in Zukunft stärker
auseinandersetzen muss. Altersarmut spielt statistisch
bislang keine große Rolle. Es zeichnet sich aber ab, dass
sich das in Zukunft ändern wird. Wir Sozialdemokraten
wollen rechtzeitig die Weichen stellen, um eine wach-
sende Altersarmut zu verhindern. Ganz konkrete Maß-
nahmen sind notwendig. Um nur einige Beispiele zu
nennen: der gesetzliche Mindestlohn, flexiblere Über-
gänge von der Arbeit in den Ruhestand, bessere Rah-
menbedingungen, um länger arbeiten zu können, bessere
Regulierungen prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Ein
Bündel von Maßnahmen also. Es kommt darauf an, sie
rechtzeitig zu ergreifen.
Gestatten sie mir noch eine Schlussbemerkung. Nicht
nur das Parlament wird sich den Herausforderungen der
älter werdenden Gesellschaft stellen müssen. Wir Älte-
ren werden uns da schon einmischen – nicht gegen die
Jüngeren, sondern für eine solidarische Gesellschaft im
Miteinander der Generationen.
Sibylle Laurischk (FDP): Heute ist eine der weni-
gen Gelegenheiten in dieser fast beendeten Legislaturpe-
riode, die Seniorenpolitik parlamentarisch zu behandeln –
schade eigentlich, denn hier wurden Chancen vergeben.
Mit der GA Seniorinnen und Senioren in Deutschland
hat die FDP die Finger in die offene Wunde der Koali-
tion gelegt. Wir haben Ihnen aufgezeigt, wo die Defizite
liegen, und die Themen benannt. Passiert ist nichts. In
der Vergangenheit wurde spätestens zum Ende der Le-
gislaturperiode dieses Politikfeld nochmals aufgerollt;
Frau von der Leyen hat darauf verzichtet. Frau von der
Leyen hätte sich hier ein Beispiel an ihrer Vorgängerin
Renate Schmidt nehmen können, statt nur die Schubla-
den zu öffnen und die erarbeiteten Konzepte umzuset-
zen. Egal, ob wir als FDP für oder gegen die Politik von
Renate Schmidt waren: Sie hat das Spektrum des Minis-
teriums, nämlich Familie, Senioren, Frauen, Jugend, Eh-
renamt und Zivildienst, voll abgedeckt.
Heute kümmert sich das Ministerium um die prestige-
trächtige Familienpolitik, aber auch nur um diese. Ju-
gendpolitik findet nicht statt, Seniorenpolitik findet nicht
statt. Zivildienst? Was ist das? Kinderpornografie wird
im Wirtschaftsministerium behandelt, und im Entwick-
lungsministerium wird der größte Jugendfreiwilligen-
25346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
dienst seit Jahrzehnten gegründet. Was ist mit den Senio-
ren? Ach ja, es gab eine teure Plakataktion zum
Jahreswechsel. Die Familienpolitik ist zwar ein heraus-
ragend wichtiges Themenfeld, dies bedeutet aber nicht,
dass alle anderen Themen unbearbeitet bleiben dürfen.
Man ist ja erstaunt: Letzte Woche hielt Angela
Merkel die Festansprache zur Eröffnung des
9. Deutschen Seniorentages in Leipzig und stellte fest,
Deutschland werde besonders stark vom demografischen
Wandel betroffen sein. Die Kanzlerin sagte dort wört-
lich: „Die Größe dieser Herausforderung darf man nicht
einfach unter den Tisch fallen lassen“. Diese bahnbre-
chende Erkenntnis hätte sie schon früher ihrer zuständi-
gen Ministerin mitteilen sollen, vielleicht wäre dann we-
niger wertvolle Zeit verstrichen.
Die Entwicklung im Altersaufbau unserer Gesell-
schaft ist schließlich bekannt. Der Anteil älterer Men-
schen an der Bevölkerung steigt kontinuierlich. Sind
heute circa 20 Prozent der Menschen 65 Jahre oder älter,
so werden es im Jahr 2030 bereits circa 26 Prozent sein.
Bis zum Jahr 2050 werden die Menschen zwischen 58
und 63 Jahren die stärkste Altersgruppe bilden. Heute
sind es noch die 40- bis 45-Jährigen.
Die demografische Entwicklung ist die zentrale poli-
tische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, weil sie
in sämtliche Lebensbereiche der Bürger eingreift. Weder
lässt sich diese Entwicklung verhindern noch wesentlich
abschwächen. Politik für die ältere Generation war im-
mer wichtig, aber ihre Bedeutung wird in einer immer
älter werdenden Gesellschaft selbstverständlich zuneh-
men.
Leider hat das Seniorenministerium bei diesen wichti-
gen Fragen bisher die Hände in den Schoß gelegt. Ein
Blick in unsere Große Anfrage zeigt, dass wichtige Da-
ten fehlen, die für eine zukunftsfeste politische Entschei-
dung notwendig sind. Es gibt zum Beispiel keine Daten
zum Vermögensverzehr und zur Lebensstandardsiche-
rung im Alter, obwohl gerade diese Daten bei der immer
größer werdendenden Zahl von Patchworklebensläufen
mit einer damit verbundenen kleineren Rente und der
gleichzeitig größer werdenden Zahl von alleinlebenden
Senioren mit teurem Unterstützungsbedarf dringend not-
wendig sind. Was rollt hier unter Umständen auf die
Kommunen zu? Wir wissen es nicht.
Es ist schlimm genug, dass wir außer in Sonntagsre-
den nicht auf den demografischen Wandel vorbereitet
sind, und unglaublich, dass die damit verbundenen Da-
ten nicht erschlossen werden.
Die Bevölkerungsstruktur verändert sich, deshalb
brauchen wir auch neue Konzepte, um aktiv zu altern.
Wir brauchen neue Ansätze bei der Wohnungsplanung,
der Wohnungsausstattung und der Wohnumfeldgestal-
tung; denn eine adäquat gestaltete Wohnung kann auch
dazu beitragen, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu ver-
meiden oder zumindest aufzuschieben: Barrierefreiheit,
benutzerfreundliche Ausstattung, Alltagsmanagement
wie Essen auf Rädern stehen an vorderster Stelle und
verdienen mehr Beachtung. Dabei geht es schlicht und
ergreifend um einfacher zu bedienende Fahrkartenauto-
maten, Handys, Schraubverschlüsse bei Putzmitteln oder
Medikamenten, eben den ganz normalen Alltag. Heute
sind viele Produkte nicht nur kindersicher, sondern al-
tensicher.
Trotz höherer Lebenserwartung, trotz immer besser
werdender Gesundheit und höherer körperlicher Leis-
tungsfähigkeit scheint die gesellschaftliche Wahrneh-
mung vom Alter noch immer in die gegensätzliche Rich-
tung zu gehen. Wir müssen weg von einem Bild,
welches Alter mit Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Armut,
Senilität oder Gebrechlichkeit gleichsetzt.
Im demografischen Wandel ist die gesellschaftliche
Akzeptanz des Leistungsvermögens der älteren Genera-
tion essenziell. Diese Anerkennung und Akzeptanz ist
eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Medien und Ver-
bänden – aber insbesondere jedes einzelnen Bürgers.
Erst, wenn das Altersbild in den Köpfen wieder der
Realität entspricht, wird es möglich sein, den demografi-
schen Wandel positiv zu gestalten. Dazu gehört auch die
politische Partizipation älterer Menschen in den Kom-
munen und nicht nur als Mitglied des Seniorenbeirates.
Dazu gehört auch das lebenslange Lernen, das nur ge-
lingt, wenn es früh angelegt wird.
Die FDP begreift die sogenannte Seniorenpolitik seit
jeher als Querschnittsaufgabe, die alle Politikbereiche
tangiert. Uns ist es nicht wichtig, eine spezielle Politik
für ein bestimmtes Lebensalter zu kreieren, sondern jede
politische Entscheidung auf ihre Auswirkungen auf die
verschiedenen Lebensalter zu hinterfragen. Wir halten
es für verfehlt, wenn zum Beispiel die Barrierefreiheit
lediglich als Bestandteil der Politik für Menschen mit
Behinderung diskutiert wird. Dort ist sie äußerst wich-
tig – keine Frage –, aber sie ist nicht minder wichtig in
einer alternden Gesellschaft, wo die Barrierefreiheit es-
senzielle Voraussetzung für ein längeres Verbleiben in
der eigenen Wohnung ist, aber auch für ein selbstständi-
ges Bewegen im öffentlichen Raum.
Obwohl wir wissen, dass der Anteil alter und hochal-
triger Frauen und Männer in den nächsten Jahrzehnten
enorm zunehmen wird, berücksichtigen Stadtplanung,
Verkehrsplanung, Wirtschaft, Industrie und auch die Bil-
dungsplanung dies noch viel zu wenig. Der FDP kommt
es nicht nur darauf an, Risiken und Gefahren der Überal-
terung zu erkennen, sondern auch die Potenziale des Al-
ters zu benennen und Visionen für das Alter zu entwi-
ckeln. Hierzu gehören sowohl im Dienstleistungs- als
auch im Konsumbereich neue Angebote, die auf die spe-
zifischen Bedürfnisse einer älteren Generation ausge-
richtet sind und neue wirtschaftliche Perspektiven eröff-
nen.
Elke Reinke (DIE LINKE): In den Vorbemerkungen
der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der FDP zeigt sich die Misere ihrer Seniorenpolitik: Die
Teilhabe älterer Menschen und die Seniorenpolitik allge-
mein werden auf Ehrenamt, Erwerbsarbeit, Pflege und
Konsum reduziert. Das verwundert nicht, wenn man sich
ihre Arbeit der vergangenen vier Jahre anschaut: Zusam-
menhanglose Projekte und Initiativen, niedergeschrieben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25347
(A) (C)
(B) (D)
in Hochglanzbroschüren, ersetzen eben kein schlüssiges
Konzept oder eine kontinuierliche Seniorenpolitik. Zwei
wesentliche Punkte vernachlässigt die Große Koalition
sträflich: Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte für
Seniorinnen und Senioren sowie die steigende Altersar-
mut.
Seniorinnen und Senioren sollen sich mit ihren
Kenntnissen und Fähigkeiten in gesellschaftliche Fragen
einmischen. Sie müssen in allen sie unmittelbar betref-
fenden Fragen als Expertinnen und Experten in eigener
Sache verbindlich mitentscheiden dürfen. Die Linke kri-
tisiert: Gestiegene Selbstständigkeit und eine längere
Aktivitätsphase älterer Menschen führen nicht zu stärke-
rer Selbstbestimmung und Mitwirkung, weder in den
Kommunen noch im Bund. Für die Linke ist Senioren-
politik eine Querschnittsaufgabe, die Selbstbestimmung,
Mitwirkung und Mitbestimmung, gesellschaftliche Teil-
habe sowie Solidarität zwischen den Generationen in
den Mittelpunkt stellt.
Mit unseren Forderungen stehen wir nicht allein. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen,
BAGSO, schreibt beispielsweise in ihrer Erklärung vom
10. Juni 2009 zum Abschluss des 9. Seniorentages: „Äl-
tere Menschen sind aufgerufen, die zahlreichen Mög-
lichkeiten der politischen Einflussnahme im parlamenta-
rischen und vorparlamentarischen Raum noch stärker als
bisher zu nutzen. Wo solche Mitbestimmungsrechte
nicht bestehen, müssen sie gesetzlich festgelegt wer-
den.“
Die Linke tritt genau dafür ein: Auf allen parlamenta-
rischen Ebenen müssen selbst gewählte Seniorenvertre-
tungen gebildet werden können. Diesen ist Rede-, Anhö-
rungs- und Antragsrecht zu gewähren. Ein Mitsprache-
und Mitentscheidungsrecht in Gemeinderatssitzungen
und Arbeitskreisen der Kommunen muss selbstverständ-
lich werden. Eine Beteiligung älterer Menschen kann
verstärkt werden durch regelmäßig tagende Altenparla-
mente. Regionale Seniorenbeauftragte erhöhen zusätz-
lich den Einfluss der älteren Generation. Auf Bundes-
und Landesebene fordern wir Seniorenmitwirkungsge-
setze. Schauen Sie sich doch zum Beispiel das seit 2006
bestehende Berliner Seniorenmitwirkungsgesetz an!
Dies ist ein Anfang. Es geht doch, wenn man will.
Nicht nur Mitwirkung und Mitbestimmung, das Pro-
blem der Altersarmut wird von Ihnen ebenso vernachläs-
sigt und höchstens einmal in inhaltsleeren Sonntagsre-
den angesprochen. Ernsthafte Lösungsansätze bieten Sie
gar nicht. Sie bekämpfen nicht, sie betreiben sogar aktiv
eine Politik der steigenden Altersarmut. Die Grundsiche-
rung im Alter spottet jeder Beschreibung. Sie tritt die
Lebensleistung der Beziehenden, die berufliche wie die
persönliche, schamlos mit Füßen. Und durch die Rente
ab 67 werden noch viel mehr Menschen von einer
Grundsicherung abhängig werden, die nicht annähernd
gesellschaftliche Teilhabe und ein würdevolles Leben er-
möglicht. Besser wird das bestimmt nicht dadurch, dass
Sie die gesetzliche Rentenversicherung zerschlagen und
Menschen in die private Vorsorge treiben. Hören Sie auf,
weiter Millionen von Euro den Versicherungskonzernen
und Unternehmen zuzuschustern! Oder hoffen Sie etwa
auf üppige Wahlkampfspenden? Die Linke ist der Auf-
fassung: Die gesetzliche Rente muss gestärkt werden.
Deswegen sind alle Kürzungsfaktoren zu streichen.
Rücknahme der Rentenkürzungen, kein weiterer Abbau
des Solidarprinzips, keine weitere Umverteilung von
Arm zu Reich – dafür steht meine Fraktion. Die Siche-
rung des Lebensstandards muss wieder im Zentrum ste-
hen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht länger
verriestert und verrürupt werden. Sie missbrauchen den
Begriff des Alters und den Demografiebegriff für noch
mehr Sozialabbau und fordern noch mehr private Vor-
sorge. Das wird die Linke nicht zulassen.
Stellen Sie Ihre Seniorenpolitik auf ein breiteres Fun-
dament. Verhindern Sie Altersarmut, sorgen Sie für mehr
Mitbestimmung, aber berücksichtigen Sie auch die Bil-
dung Älterer im Hinblick auf lebenslanges Lernen, Se-
niorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund, den
Gesundheitszustand – Gesundheit muss wieder bezahl-
bar werden –, ältere Menschen mit Behinderungen, Ge-
schlechtszugehörigkeit und sexuelle Orientierung, eine
barrierefreie Infrastruktur und Wohnpolitik sowie den
Ausbau von zwischenmenschlichen Kontakten. Und
spielen Sie nicht länger Jung gegen Alt aus: Der solidari-
sche Generationenvertrag ist ein hohes Gut, das vor der
ungerechten und unsozialen Politik der Bundesregierung
geschützt werden muss.
Seniorinnen und Senioren sind viel mehr als willige
Arbeitskräfte, Rentnerinnen und Rentner, Kranke und
Pflegebedürftige, brave Ehrenämtler oder finanzstarke
Konsumentinnen und Konsumenten beziehungsweise
„Wirtschaftsfaktoren“.
Selbstbestimmtes Altern in Würde, ohne Armut und
Diskriminierung, mit gesellschaftlicher Teilhabe und
Mitbestimmung ist und bleibt ein unveräußerliches Men-
schenrecht. Genau dafür kämpft die Linke.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Antwort der Bundesregierung zur Situation der älte-
ren Generationen scheint mir vor allem eins zu sein: ver-
altet. Denn sie gehört eindeutig in die Vor-Konjunktur-
paket-Zeit. Auf die Frage: Nach welchen Grundsätzen
die Bundesregierung dem Prinzip der Generationenge-
rechtigkeit Rechnung tragen werde, heißt es hier noch:
„Nicht sozial gerecht ist es demnach auch, den nachfol-
genden Generationen erhebliche finanzielle Lasten auf-
zubürden, die die heutige Generation im mittleren Alter
in nicht unerheblichen Umfang mit verursacht, aber
selbst nicht mehr zu tragen hat.“ Soweit die Theorie. In
der Praxis wird dann alles andere gemacht, als zu sehen,
dass Investitionen auch wirklich nachhaltig sind.
Da ist es eigentlich nur stimmig, wenn der demografi-
sche Wandel von der Bundesregierung weitgehend igno-
riert und mit Blick auf anstehende Wahlen munter an der
Rentenformel gedreht wird. Doch das vermeintliche
Rentenplus entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als
Darlehen. Die ältere Generation wird sich spätestens
2011 wundern, und die junge Generation ist schon heute
verunsichert.
25348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Da hilft es auch nicht, wenn das Bundesseniorenmi-
nisterium der älteren Generation nahelegt, dass sie mehr
hinterlassen kann als eine Falte auf dem Sofa, und das
aktiv im Alter predigt. Denn auch in diesem Fall gilt: so-
weit die Theorie. In der Praxis wird nichts gegen diskri-
minierende Altersgrenzen getan.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der großen Koalition, ich würde es mir wirklich wün-
schen, wenn sie ihre Erkenntnis aus der Vorbemerkung
zu Ihrer Antwort auch in die politische Tat umsetzen
würden. Denn Sie haben ja recht, dass immer mehr ältere
Menschen gesund und aktiv die Nacherwerbsphase ge-
stalten könnten. Lassen wir sie doch auch!
Spätestens seit dem fünften Altenbericht wissen wir
doch, dass noch immer Bilder unsere Wahrnehmung be-
stimmen, die schon der heutigen Generation der „Alten“
nicht mehr gerecht werden. Altern im 21. Jahrhundert ist
vielfältig und wird sich zukünftig noch entschieden bun-
ter darstellen. Unsere Gesellschaft ändert sich grundle-
gend. Es ist Zeit, sich umzuorientieren, Leitbilder zu
verändern, Stereotype aufzulösen und mit negativen Zu-
schreibungen zu brechen: Brechen wir also auch mit Al-
tersgrenzen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wir alle wis-
sen doch, dass der demografische Wandel von der
älteren Generation mit zu bewältigen ist. Dafür müssen
wir der älteren Generation selbst aber auch die Schlüssel
in die Hand geben. Nur so können sie auch Verantwor-
tung mit übernehmen.
Lassen sie mich zum Abschluss aber noch einmal die
Frage stellen, warum Sie sich beim Thema „Mehr Ver-
braucherschutz in der Finanzmarktkrise“ so vehement
gegen einen „Finanzmarktwächter“ sträuben – gerade
vor dem Hintergrund, dass es allein in der Internetfall-
sammlung der Verbraucherzentrale NRW zu mehr als
zwei Drittel ältere Menschen waren, die geschildert ha-
ben, von ihren Finanzberatern nicht ausreichend infor-
miert gewesen zu sein. Ich denke, Sie liegen falsch mit
Ihrer Einschätzung, dass wir Verbraucherinnen und Ver-
braucher nicht besser informieren müssen. Es ist längst
überfällig, schädliche Geschäftspraktiken von Finanz-
dienstleistern statistisch besser zu erfassen, abzumahnen
und die Aufsichtsbehörden darüber zu informieren –
nicht nur theoretisch, auch praktisch.
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend: Die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der FDP-Fraktion „Seniorinnen und Senioren in
Deutschland“ zeigt: Der demografische Wandel ist eine
der zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft.
Ältere Menschen können viel in die Gesellschaft ein-
bringen durch ihre Erfahrung, ihr Wissen, ihre Kennt-
nisse und Fertigkeiten. Ihr Erfahrungsschatz ist ein gro-
ßer Reichtum und eine Chance für unser Land. Eine
erfolgreiche Politik des aktiven Alterns basiert auf Part-
nerschaften und Kooperationen mit allen gesellschaftli-
chen Gruppen. Gemeinsam mit ihnen möchten wir eine
erfolgreiche Generationenpolitik voranbringen, die es äl-
teren Menschen möglichst lange erlaubt, ein unabhängi-
ges und eigenverantwortliches Leben zu führen. Dazu
müssen wir ein modernes und realistisches Altersbild
entwickeln, die Potenziale der Älteren besser als bisher
zum Wohle der Gesellschaft einsetzen, die Wirtschafts-
kraft der Älteren aufgreifen und eine neue Kultur der
Pflege und Betreuung schaffen.
Vielen von uns ist sicherlich der gerade zu Ende ge-
gangene, von der Frau Bundeskanzlerin eröffnete
9. Deutsche Seniorentag in Leipzig in Erinnerung. Wer
dort war, hat gesehen: Das Thema „Vielfalt des Alters“
ist in der Gesellschaft angekommen. In Leipzig haben
über 15 000 Besucherinnen und Besucher ihr Interesse
an der Themenstellung bekundet. Das Motto „Alter le-
ben – Verantwortung übernehmen“ wurde eindrucksvoll
in viele Facetten des täglichen Lebens übersetzt. Mich
hat besonders der Altersmix beim Publikum, aber auch
bei den vorgestellten Praxisprojekten beeindruckt.
Lassen Sie mich nun einige der zentralen Schwer-
punkte der Großen Anfrage herausarbeiten und mit der
aktuellen Politik der Bundesregierung verknüpfen. Die
Bundesregierung hat 160 Fragen detailliert beantwortet.
Damit zeichnen wir ein deutliches und umfassendes Bild
unserer Politik für ältere Menschen. Vor allem unter-
streichen wir damit, dass wir die Herausforderungen des
demografischen Wandels annehmen und eine Politik für
alle Lebensalter gestalten.
Deutlich konnten wir herausarbeiten, dass das Älter-
werden heutzutage in der Regel mit einem Gewinn an
gestaltbarer Lebenszeit für den einzelnen Menschen ein-
hergeht. Dieses Mehr wird von den Menschen genutzt,
und das beileibe nicht nur für eigene Ziele und Zwecke,
sondern sehr engagiert für die Gesellschaft und die nach-
folgenden Generationen. Es wird deutlich, in welchem
Maße ältere Menschen mit ihrer Erfahrung, ihrem Wis-
sen, ihren Fähigkeiten und ihrem Engagement die Ge-
sellschaft gestalten und prägen. Ihr Beitrag ist unver-
zichtbar.
Bei der Beantwortung der Großen Anfrage haben wir
deutlich gemacht, wie die Politik den Veränderungspro-
zess in unserer Gesellschaft fördert und mitgestaltet. Mit
unseren Maßnahmen wollen wir sowohl die erforderli-
che Absicherung der Menschen im Alter schaffen wie
auch die Voraussetzungen zur Teilhabe älterer Menschen
an der Gesellschaft gestalten. Dort, wo Politik dieses
nicht gewährleisten kann, unterstützen wir entspre-
chende Ansätze der Partizipation älterer Menschen. So
greift das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend mit seiner Initiative „Alter schafft
Neues“ und den Programmen „Aktiv im Alter“, „Frei-
willigendienst aller Generationen“ und „Wirtschaftsfak-
tor Alter“ die Chancen einer älter werdenden Gesell-
schaft auf. Es stellt Rahmenbedingungen zur Verfügung,
die die Beteiligung älterer Menschen in unserer Gesell-
schaft und in der Wirtschaft stärken.
Dass und wie ältere Menschen gestärkt werden, hängt
aber auch wesentlich davon ab, wie das Alter an sich
dargestellt wird und Altersbilder vermittelt werden. Wir
brauchen Altersbilder, die die Kompetenzen der älteren
Menschen fokussieren und nicht vorrangig Defizite. Wie
wichtig wir diesen Teil der Politik für ältere Menschen
nehmen, zeigt schon das intensive Interesse des FSFJ-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25349
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Ausschusses an der Erstellung des 6. Altenberichts, der
unter dem Thema „Altersbilder in der Gesellschaft“
steht. Darüber hinaus haben wir bei der Beantwortung
der Großen Anfrage die Pflege- und Hilfebedürftigkeit
älterer Menschen im Blick, und dabei in besonderem
Maß die Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen.
Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass die
Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen wird. Nach ak-
tuellen Prognosen wird sich die Zahl der pflegebedürfti-
gen Menschen von heute rund 2,1 auf knapp 3 Millionen
im Jahr 2020 und sogar auf circa 3,4 Millionen im Jahr
2030 erhöhen.
Rund 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen
werden heute zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung
versorgt, ein Drittel in Heimen. In der Pflegepolitik wird
es in den kommenden Jahren insbesondere darum gehen,
für ein ausreichendes Angebot an Pflegediensten und
Pflegeeinrichtungen zu sorgen und die Qualität der pfle-
gerischen Versorgung zu sichern, um pflegebedürftigen
Menschen so weit wie möglich ein selbstständiges Le-
ben zu ermöglichen. Dafür ist eine gute und umfassende
Ausbildung des Pflegepersonals Voraussetzung. Das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend arbeitet deswegen auf der Grundlage des Alten-
pflegegesetzes in verschiedenen Modellprojekten an der
Weiterentwicklung dieses Berufes.
Grundlage allen Handelns muss die Menschenwürde
sein, wie sie die „Charta der Rechte hilfe- und pflege-
bedürftiger Menschen“ beschreibt. Eine moderne Al-
terssicherungspolitik bedeutet, die Herausforderungen
des demografischen Wandels anzunehmen und die Rah-
menbedingungen für ein aktives Altern mitten in der Ge-
sellschaft zu stärken. Mit unseren Maßnahmen in der Se-
niorenpolitik sind wir damit auf einem guten Weg.
Anlage 29
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung des
Berichts: Unsere Verantwortung für die länd-
lichen Räume (Tagesordnungspunkt 21)
Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Vor knapp zwei Jah-
ren hat die Große Koalition den Antrag mit dem Titel
„Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume“ in
den Deutschen Bundestag eingebracht. Unser Ziel war
es dabei, den ländlichen Raum in den Fokus der politi-
schen Diskussion zu rücken und ihn als eigenständigen
Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum zu stärken.
Durch die bisherige Arbeit der Großen Koalition, vor
allem aber der Ministerien für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz sowie Wirtschaft und
Technologie, sind wir diesem Ziel ein gutes Stück näher
gekommen. Mit der heutigen Verabschiedung des Antra-
ges können wir einen weiteren wichtigen Schritt schaf-
fen. Hauptaufgabe für die kommende Legislaturperiode
muss es nun sein, die Arbeit der letzten Jahre konsequent
fortzuführen und die Herausforderungen der Zukunft zu
meistern.
Die Rahmenbedingungen für die ländlichen Räume
haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend ge-
ändert. Der Umstrukturierungsprozess in der Landwirt-
schaft, die Überalterung der Bevölkerung und die zuneh-
mende Abwanderung vor allem junger Menschen stellen
die ländlichen Räume vor enorme Herausforderungen.
Doch ländliche Räume haben Zukunft, sie bieten Per-
spektiven und verfügen über Potenzial, das dringend ge-
nutzt werden muss. Ziel unserer Politik ist es daher, die
Chancen und das Potenzial der ländlichen Räume he-
rauszustellen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sie
zukunftsfähig zu machen.
Eine besondere Stärke von ländlichen Regionen ist,
dass sie den Menschen eine hohe Lebensqualität und ein
attraktives Lebensumfeld bieten. Auf dem Lande sind
die Sozialbindungen noch intakt, ehrenamtliches Enga-
gement hat noch eine große Bedeutung, und Wohn-
raummangel gibt es nicht. Der ländliche Raum hat
viele innovative Unternehmen, insbesondere einen leis-
tungsstarken Mittelstand, zum Beispiel moderne Hand-
werksbetriebe, und es stehen zukunftsorientierte Ar-
beitsplätze zur Verfügung. Es gibt im ländlichen Raum
moderne landwirtschaftliche Betriebe. Sie sind ein Ga-
rant für eine sichere und hochwertige Versorgung der
Bevölkerung mit Lebensmitteln sowie für den Erhalt der
Kulturlandschaft. Die Landwirtschaft ist eine tragende
Säule der ländlichen Räume.
Um eine nachhaltige Entwicklung der ländlichen
Räume zu gewährleisten, brauchen wir ganzheitliche
Lösungsansätze. Politik für die ländlichen Räume muss
als Querschnittsaufgabe verstanden werden. Dabei
müssen die Aktivitäten auf Bundes-, Landes- und kom-
munaler Ebene besser miteinander vernetzt und die
kommunalen Spitzenverbände sowie die Verbände des
vorpolitischen Raums mit einbezogen werden.
Das kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedete
Handlungskonzept zur Weiterentwicklung der ländli-
chen Räume legt hierfür einen entscheidenden Grund-
stein. Es wurde von einer im Dezember 2008 eingesetz-
ten interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung
unserer Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, entwickelt und ver-
knüpft ressortübergreifend die verschiedenen Politikbe-
reiche. So bezieht das Handlungskonzept neben der
Landwirtschaft auch die Bereiche Wirtschaft, Bildung,
Kultur, Gesundheit, Verkehr und Umwelt ein.
Die Notwendigkeit einer solchen ressortübergreifen-
den politischen Koordinierung wurde auch jüngst auf
dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Zu-
kunft der ländlichen Räume, Leben – Arbeit – Umwelt“
bestätigt. Das Interesse an diesem Kongress war sehr
groß, die Resonanz äußerst positiv. Es war beeindru-
ckend zu sehen, welchen Optimismus die verantwortli-
chen Akteure ausgestrahlt haben. Auch hat sich dort
wieder einmal gezeigt, wie unbeschreiblich groß die Be-
reitschaft zu ehrenamtlichem Engagement im ländlichen
Raum ist.
Das Handlungskonzept der Bundesregierung ist wei-
terhin ein wichtiger Zwischenschritt hin zu einer besseren
ressortübergreifenden Abstimmung bei den verschiedenen
25350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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Förderprogrammen. Besondere Bedeutung kommt hier
den Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der Agrar-
struktur und des Küstenschutzes“, GAK, und „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, zu. Sie
wurden auf Initiative der CSU-geführten Ministerien für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz so-
wie für Wirtschaft und Technologie aufgestockt und er-
weitert. Das Fördervolumen der GAK als zentrales na-
tionales Instrument zur Entwicklung der ländlichen
Räume wurde nach langjähriger Vernachlässigung unter
Rot-Grün auf 700 Millionen Euro pro Jahr erhöht und
das GRW-Fördergebiet unter besonderer Berücksichti-
gung strukturschwacher ländlicher Regionen um eine
zweite Fördergebietskulisse erweitert.
Begleitet und weiterentwickelt werden müssen zu-
dem die europäischen Programme, die letztlich von den
Mitgliedstaaten finanziert werden. Dies gilt vor allem
im Hinblick auf die Vorbereitung der nächsten Förderpe-
riode ab 2014. Hier sollten grundsätzliche Überlegungen
angestellt werden, inwiefern es sinnvoll ist, an dem bis-
herigen System festzuhalten. Auch sollte darüber nach-
gedacht werden, für den ländlichen Raum eine eigene
Säule zu entwickeln.
Um die Attraktivität der ländlichen Räume zu stärken
und damit auch den Folgen des demografischen Wandels
entgegenzuwirken ist eine funktionierende und moderne
Infrastruktur notwendig. Hierzu gehören eine wohnort-
nahe medizinische Versorgung, flächendeckende Schul-
und Weiterbildungsangebote, aber auch eine bedarfsge-
rechte Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren.
Nur wenn wir dafür sorgen, dass die ländlichen Räume
attraktive Lebens- und Arbeitsräume sind, können wir
verhindern, dass vor allem junge und qualifizierte Men-
schen wegziehen.
Von besonderer Bedeutung ist auch eine flächende-
ckende Breitbandversorgung. Die Bereitstellung schnel-
ler und leistungsfähiger Internetverbindungen ist eine
zentrale Aufgabe der Daseinsvorsorge und heute ebenso
bedeutend wie Straßen-, Schienen-, sowie Gas-, Wasser-
und Stromnetze. Breitband ist ein entscheidender Stand-
ortfaktor für Unternehmen, für den Tourismus aber auch
für private Haushalte. Mit der Breitbandstrategie der
Bundesregierung wurden hier die richtigen Weichen ge-
stellt. Nun gilt es darauf zu achten, dass die Strategie
auch in der Praxis umgesetzt wird und 2010 tatsächlich
alle Haushalte in Deutschland über Internetanschlüsse
mit einer angemessenen Bandbreite verfügen.
Wir müssen den regionalen Akteuren vor Ort mehr
Eigenverantwortung geben, damit die Chancen und Po-
tenziale der ländlichen Räume möglichst effektiv ge-
nutzt werden können. Regionale Entscheidungsprozesse
müssen gestärkt werden. Dies kann dadurch geschehen,
dass weniger Details und einzelne Wege vorgeschrieben,
sondern vielmehr schlichte Zielvorgaben gemacht wer-
den. Das schafft Vertrauen, fördert Innovationen und
verringert zugleich Bürokratie. In diesem Zusammen-
hang ist es auch wichtig, interkommunale Zusammenar-
beit und regionale Kooperationen zu fördern. Hier kön-
nen wir große Synergieeffekte erzielen, von denen alle
Beteiligten profitieren. Die erweiterten Fördermöglich-
keiten der GRW setzen hierfür bereits wichtige Anreize,
und auch die Ausgestaltung des Vergaberechts erleich-
tert eine solche Zusammenarbeit inzwischen deutlich.
Abschließend kann ich feststellen, dass durch die
konsequente Arbeit der letzten Jahre die Bedeutung der
ländlichen Räume wieder verstärkt ins Blickfeld der Po-
litik gerückt ist. Dies haben wir mit unserem Antrag
maßgebend angeschoben. Unsere Kernbotschaft war und
ist: Die Landwirtschaft ist eine tragende Säule für die
ländlichen Räume. Diese Regionen sind aber dennoch
mehr. Der ländliche Raum muss ganzheitlich betrachtet
werden als eigenständiger Lebens-, Wirtschafts- und
Kulturraum. Dafür müssen wir uns auf allen Ebenen ein-
setzen. Damit sich diese Sichtweise durchsetzt, bitte ich
Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Dr. Gerhard Botz (SPD): Auch in Zeiten der Wirt-
schafts- und Finanzkrise bleibt wahr, worauf wir uns in
der Koalition in den letzten Jahren verständigt haben.
Die Stärkung der Wirtschaftskraft und der Lebensquali-
tät unseres Landes ergeben sich nur aus der gleichbe-
rechtigten und gleichwertigen Entwicklung von städti-
schen Ballungsgebieten und ländlichen Räumen. Dabei
ist natürlich klar, dass die inzwischen eingetretenen Rah-
menbedingungen diese Zielstellungen eher erschweren
werden, zumindest in den kommenden Jahren. Umso
wichtiger bleibt die Aufforderung einer deutlichen
Mehrheit dieses Hohen Hauses, bei der Umsetzung die-
ser Politik auf Bundes- und Landesebene einen sektor-
und ressortübergreifenden Politikansatz umzusetzen.
Wir stehen nun kurz vor dem Ende der Legislaturpe-
riode. Deshalb muss die Aufforderung eigentlich schon
an die kommende Bundesregierung gerichtet werden, ei-
nen solchen ressortübergreifenden Ansatz nicht nur zu
diskutieren, sondern endlich umzusetzen. Wir haben als
Sozialdemokraten schon seit Jahrzehnten darauf hinge-
wirkt, ländliche Räume nicht nur – zu einseitig – als
Wirkungsfeld agrarischer Prozesse zu verstehen. Die
Wirtschaftsstruktur unserer ländlichen Räume wird
schon lange nicht mehr nur von Land- und Forstwirt-
schaft oder Wein- und Gartenbau bestimmt. Dennoch
sind besonders in den strukturschwachen Regionen diese
Wirtschaftszweige nach wie vor von überragender Be-
deutung für die dort lebenden Menschen und deren Ein-
kommen. Niemand, der in politischer Verantwortung
steht, sollte das gering schätzen oder übersehen. Nach
meiner Auffassung gibt es zu viele Vertreter der Wissen-
schaft, der Medien und auch der Politik, die einer zurzeit
in vielen Teilen Deutschlands fortschreitenden Entlee-
rung ländlicher Räume gelassen gegenüberstehen.
Wenn es um unsere Verantwortung für die ländlichen
Räume geht, dann verstehe ich diese so, dass wir unseren
Bürgerinnen und Bürgern, die dort leben und das auch
weiterhin tun wollen, ein Minimum an Rahmenbedin-
gungen erhalten oder schaffen, die mit unserem Grund-
gesetz zu vereinbaren sind. Auch wenn die finanziellen
Rahmenbedingungen und damit die Förderkonditionen
in den nächsten Jahren aus verschiedenen Gründen ma-
gerer ausfallen werden, als wir uns das wünschen, bleibt
doch gerade die Pflicht, aus den vorhandenen Mitteln
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25351
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möglichst große Effekte zu erzielen. Sowohl auf Länder-
als auch auf Bundesebene muss dazu das bis heute abso-
lut dominierende Ressortdenken der Ministerien aufge-
brochen werden. Wo weniger Geld zur Verfügung steht,
sind Ideen und Konzepte gefragt. Wer diese in die Tat
umsetzen will, scheitert allzu oft an einer Form der Bü-
rokratie, die genau auf diese „Ressortbesessenheit“ zu-
rückzuführen ist. Unsere Koalition hat einen Weg aufge-
zeigt, das zu ändern. Wir dürfen nicht zu viel Zeit
verlieren, ihn konsequent zu begehen.
Besonders in den strukturschwachen Regionen der
neuen Bundesländer wird immer deutlicher sichtbar, wo-
hin uns der demografische Wandel führt. Die Ursachen
sind uns allen bekannt. Es kommt nun darauf an, mög-
lichst komplex zu handeln, um diese Prozesse noch eini-
germaßen zu regulieren. Ich gehöre nicht zu denen, die
daran glauben, man bräuchte nur alle Mittel in die
Wachstumszentren zu stecken, um einige Jahre später
die positive wirtschaftliche Ausstrahlung im weit
entfernten ländlichen Raum feststellen zu können. Na-
türlich gibt es derartige Effekte. Wir sollten auch auf sie
bauen. Verlassen sollten wir uns aber nicht endgültig auf
sie. Besser ist es, in den strukturschwachen Räumen Orte
festzulegen, die unbedingt mit den entscheidenden Fak-
toren zur Daseinsvorsorge ausgestattet sein müssen.
Junge Bürger, die willens sind, sich in diesen Regionen
eine Existenz aufzubauen, brauchen neben Arbeit natür-
lich auch derartige Zentren, in denen sie die wichtigsten
Bedürfnisse ihrer Familien befriedigen können. Die Er-
haltung und der eventuelle Ausbau solcher zentralen
Orte muss eine der wichtigsten politischen Zielstellun-
gen der kommenden Jahre bleiben. Das gilt in erster Li-
nie für die Länder. Sie können über die Details vor Ort
am besten entscheiden. Ohne Unterstützung des Bundes
wird das allerdings nicht in allen betroffenen Regionen
gelingen. Es gibt eine Fülle von Faktoren, die in einer
sozialen Marktwirtschaft mit darüber entscheiden, wie
aussichtsreich eine solche Politik langfristig sein kann.
Deshalb halte ich es für erforderlich, zukünftig alle ge-
setzlichen Änderungen und Projekte der Bundesregie-
rung daraufhin zu hinterfragen, inwiefern sich ihre Wir-
kung mittel- und langfristig auf Entwicklungen in
strukturschwachen, ländlichen Räumen niederschlagen
kann. Mit diesem Vorgehen könnte zumindest abgesi-
chert werden, dass es zu keinen weiteren erheblichen
Verschärfungen der ohnehin kritischen Situation in eini-
gen Regionen kommt.
Die Bedeutung der ländlichen Räume wird in den
kommenden Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen
steigen: einmal, weil inzwischen klar geworden ist, wie
wichtig nachwachsende Energieträger und Rohstoffe für
unsere Gesellschaft sind. Diese Bedeutung wird wach-
sen. Zum anderen werden die kommenden Jahrzehnte
infolge des Klimawandels gewaltige Herausforderungen
an unsere Gesellschaft stellen. Nur durch intelligenten
Umgang mit den natürlichen Ressourcen, gerade in den
ländlichen Räumen, werden wir diese kommenden Auf-
gaben bewältigen. Es wäre mehr als sträflich, wenn wir
genau zu der Zeit, in der uns diese Umstände immer kla-
rer werden, in unserer Aufmerksamkeit für diese Regio-
nen und die Menschen, die dort aktiv tätig sind und le-
ben, nachlassen würden. Insofern ist die Verantwortung
für unsere ländlichen Räume eine Verantwortung, die die
Perspektiven kommender Generationen betrifft.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Antrag
von CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Unsere Verant-
wortung für die ländlichen Räume“ enthält eine weitge-
hend zutreffende Beschreibung der ländlichen Räume
und sinnvolle Vorschläge zu ihrer Stärkung.
Gleichwohl muss man sich fragen, warum der zwei
Jahre alte Antrag jetzt in der vorletzten Sitzungswoche
abschließend beraten wird, wenn diese Regierung keine
Zeit mehr hat, irgendetwas umzusetzen. Es ist also ein
Schaufensterantrag.
Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass von der Gro-
ßen Koalition in dieser Legislaturperiode eine Menge
Entscheidungen gegen den ländlichen Raum gefällt wur-
den. Daher ist dieser Antrag nicht mehr als ein Lippen-
bekenntnis; schön zu lesen, aber eben kein Leitfaden, an
dem die Politik der Koalition sich orientiert hat.
Es fing an mit der Entscheidung im Koalitionsvertrag,
die ursprünglich bis 2009 vorgesehene Steuerbefreiung
für Biokraftstoffe vorzeitig zu beenden und durch einen
Beimischungszwang zu ersetzen. In der Folge ist die
ehemals blühende Biokraftstoffbranche weitgehend zu-
sammengebrochen. Von der aufgebauten Kapazität von
5 Millionen Tonnen Biodiesel ist nur noch etwa die
Hälfte ausgelastet. Die jetzt beigemischten Biokraft-
stoffe werden zu 70 Prozent importiert. Das Handeln der
Bundesregierung hat eine Kapitalvernichtung bewirkt,
Unternehmen wurden in die Pleite getrieben, das Ver-
trauen in politische Entscheidungen zerstört.
Land- und forstwirtschaftliche Betriebe prägen nach
wie vor den ländlichen Raum, auch wenn eine Vielzahl
mittelständischer Unternehmen zur Wirtschaftskraft des
ländlichen Raumes beiträgt. Landwirte brauchen neben
der Planungssicherheit faire Wettbewerbsbedingungen.
Auf dem EU-Binnenmarkt führen nationale Sonderwege
dazu, die eigene landwirtschaftliche Produktion in die
Nachbarländer zu vertreiben. Deswegen sollen nach den
Vorstellungen der FDP Regelungen der EU 1 : 1 in na-
tionales Recht umgesetzt werden. Der von der Bundesre-
gierung eingeführte Tierschutz-TÜV ist angesichts der
bestehenden Regelungsdichte überflüssig. Es dient nicht
dem Tierschutz, wenn die nationalen Anforderungen an
die Haltungsbedingungen dazu führen, dass die Ställe
bei uns abgebaut und in anderen Ländern wieder aufge-
baut werden.
Die FDP will eine Harmonisierung der Besteuerung
von Agrardiesel, denn in all unseren Nachbarländern
wird der Agrardiesel geringer besteuert als bei uns. Die
jetzt von der Bundesregierung für zwei Jahre beschlos-
sene Rückführung der Besteuerung von Agrardiesel auf
das Vor-Künast-Niveau ist nur ein sehr halbherziger
Schritt in die richtige Richtung.
Das Ziel der Europäischen Union, bis 2020 20 Pro-
zent des Primärenergiebedarfs durch erneuerbare Ener-
gien bereitzustellen, hat die energetische Nutzung von
Biomasse ins Blickfeld gerückt. Die FDP unterstützt die-
25352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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ses Ziel. Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
für Agrarpolitik beim Ministerium für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz mit dem Titel „Nut-
zung von Biomasse zur Energiegewinnung – Empfeh-
lungen an die Politik“ hat deutlich gemacht, dass
verschiedene Förderungen der Biomassenutzung für die
Volkswirtschaft extrem teuer sind. Ein Beispiel ist die
mit dem EEG geförderte Verstromung von Biogas aus
Mais. Sie verursacht die höchsten CO2-Vermeidungskos-
ten bei geringster Effektivität der Biomasseproduktion
pro Hektar. Das ist kein zukunftsweisender Weg. Die
FDP unterstützt die Forderung der Gutachter nach einer
Neuausrichtung der Förderpolitik. Sie muss sich an der
Effizienz der Biomasseproduktion pro Hektar orientie-
ren, Nutzungen mit geringen CO2-Vermeidungskosten
besonders fördern und Anreize schaffen für die Nutzung
von energiehaltigen Reststoffen aus der Land- und Er-
nährungswirtschaft. Die Forderungen des Gutachtens
wurden nur unzureichend umgesetzt.
Obwohl alle Fraktionen sich einig sind über die Not-
wendigkeit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes,
um den rechtlichen Rahmen für Agroforstsysteme zu
schaffen, die Verkehrssicherungspflicht auf Waldwegen
eigentumsfreundlich zu gestalten und die Möglichkeiten
der Holzvermarktung durch forstliche Zusammen-
schlüsse zu verbessern, war die Bundesregierung zu zer-
stritten, um diese für den ländlichen Raum wichtige Ge-
setzesnovelle auf den Weg zu bringen. Die FDP fordert
nach wie vor eine Änderung des Bundeswaldgesetzes.
Diese ist erforderlich, um Kurzumtriebsplantagen für die
Produktion von Holz betreiben zu können. Die Nutzung
von landwirtschaftlichen Flächen zur Herstellung von
nachwachsenden Rohstoffen kann agrar-, umwelt- und
sozialpolitische Vorteile bringen. Allerdings müssen da-
für der Anbau und die Förderung der nachwachsenden
Rohstoffe wettbewerbsneutral organisiert werden. Für
die FDP-Bundestagsfraktion ist ein Nebeneinander des
Anbaus nachwachsender Rohstoffe und der Lebensmit-
telerzeugung möglich und notwendig.
Die finanzielle Situation vieler Milchviehbetriebe ist
dramatisch schlecht. Die Bundesregierung hat mit der
Durchführung von sogenannten Milchgipfeln nichts be-
wirkt, den Landwirten Sand in die Augen gestreut, sie
mit Symbolpolitik abgespeist. Auch durch die Zerschla-
gung der Milchforschung am Standort Kiel hat die Bun-
desregierung die Position der Milch hinsichtlich ihrer
Vermarktung geschwächt, weil, man kann es vielfach
nachlesen, die besondere Bedeutung von Milch und
Milchprodukten für eine gesunde Ernährung beginnt in
Vergessenheit zu geraten. Der Milchkonsum ist bei uns
weiter rückläufig. Es gibt viele Handlungsfelder für eine
Bundesregierung, die die Situation der Milchbauern ver-
bessern will; Milchgipfel gehören nicht dazu. Dazu ge-
hört vor allem auch, den Landwirten die sehr begrenzten
Handlungsmöglichkeiten deutlich zu machen.
Auch die in den letzten Monaten vorangetriebenen Ini-
tiativen für eine verbesserte Breitbandversorgung auf
dem Lande kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Bundesregierung die ländlichen Gebiete während der zu-
rückliegenden Legislaturperiode stiefmütterlich ver-
nachlässigt hat. Im ländlichen Raum und vor allem bei
den Land- und Forstwirten ist der Aufschwung eindeutig
nicht angekommen.
Im Fischereibereich, besonders beim Ausbau der
Aquakultur, ist nichts passiert. Seit mehreren Jahren
wird in Deutschland und in der EU über die Notwendig-
keit diskutiert, vermehrt in die Aquakultur zu investie-
ren. Passiert ist fast nichts. Die Antwort der Bundesre-
gierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion wie
auch verschiedene Texte der EU machen deutlich, dass
auf allen Ebenen bürokratische Hürden den weiteren
Ausbau behindern. Der Ausbau der Aquakultur in
Deutschland kann die Wirtschaftskraft des ländlichen
Raums in Deutschland erheblich steigern. In den zurück-
liegenden Jahren wurden in Deutschland erfolgreich
Techniken entwickelt, Aquakulturen in geschlossenen
Kreislaufanlagen zu betreiben, um Umwelteinflüsse zu
minimieren und sie von hohem Wasserverbrauch mög-
lichst unabhängig zu machen. Dennoch geht es nicht
voran.
Es ist eine nur schwierig zu bewältigende politische
Aufgabe angesichts der Verschiedenheit der ländlichen
Räume, dem Auftrag des Grundgesetzes zu genügen, der
in Art. 106 Abs. 3 fordert, dass „die Einheitlichkeit der
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird“. Die
Bundesregierung hat viele Chancen vertan, die ländli-
chen Räume voranzubringen. Es wird höchste Zeit, dass
sie abgelöst wird. Die Umsetzung des Antrages bleibt
der Regierung der nächsten Legislaturperiode vorbehal-
ten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke
wird sich beim vorliegenden Antrag der Koalition ent-
halten.
Ihre Analyse der Situation in den Dörfern und kleinen
Städten ist nicht falsch – immerhin. Sinkende Einkom-
men, mangelnde Schul- und Verkehrsversorgung und die
angespannte Situation der Kommunalfinanzen skizzie-
ren eine Problemlage in den ländlichen Räumen in
Deutschland. Das sind aber sehr gelassen aufgeschrie-
bene Befunde vor dem Hintergrund, dass unterdessen in
immer mehr Landesteilen Verarmungstendenzen und
Folgen von Abwanderung unübersehbar geworden sind.
Tragfähige Lösungen für diese zunehmend schwieriger
werdende Situation sucht man im Antrag vergeblich.
Völlig unterbewertet wird zum Beispiel das Problem
der Abwanderung von Frauen aus strukturschwachen
Regionen. Gerade dieses Thema hat die Linke immer
wieder aufgerufen. In einer Studie wurde 2007 im Auf-
trag unserer Fraktion die Situation der Gleichstellung
von Frauen in den Dörfern und kleinen Städten analy-
siert. Ein Ergebnis war: Frauen profitieren deutlich we-
niger von der Förderung ländlicher Räume als Männer.
Das ist eine vielleicht nicht immer bewusste, aber den-
noch massive Benachteiligung von Frauen, die wir doch
so dringend in den Dörfern brauchen. Hier brauchen wir
dringend neue Ansätze.
Der Antrag der Koalition ist ja leider sowieso etwas
veraltet. Unterdessen hat es zum Beispiel im Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25353
(A) (C)
(B) (D)
eine Anhörung zum Thema Gemeinschaftsaufgabe
Agrarstruktur und Küstenschutz gegeben, in der nicht
nur die fehlenden finanziellen Mittel für die ländlichen
Räume eine Rolle gespielt haben, sondern auch fehlende
oder sehr komplizierte Zugänge zu den Fördertöpfen, die
zudem wenig an den realen Bedürfnissen vor Ort orien-
tiert sind. Es ist also kein Wunder, dass die OECD die
fehlende strukturelle Wirksamkeit der deutschen Förder-
politik in den ländlichen Räumen kritisiert.
Noch unter Bundesagrarminister Seehofer wurde eine
interministerielle Arbeitsgruppe für ländliche Räume
einberufen: eine von Anfang an sehr hilflos wirkende
Entscheidung. Übrigens war auch in dieser Arbeits-
gruppe mit acht beteiligten Ministerien ausgerechnet das
Frauenministerium zu Beginn nicht vertreten. Das wurde
erst nach dem kritischen Hinweis der Linken korrigiert.
Vor einigen Wochen hat sie nun die lange angekün-
digten Handlungsempfehlungen vorgelegt. Ihr Neuig-
keitsgrad geht bei genauerem Hinsehen gegen Null. So
werden Programme für ländliche Räume aufgelistet, die
wir alle längst kennen. Sie sind zum Teil künstlich auf-
gehübscht, aber ohne erkennbare konzeptionelle Ansätze
zur Verbesserung.
So sollen zum Beispiel mit dem 10 Milliarden Euro
schweren Konjunkturprogramm II Investitionen in die
Infrastruktur für die ländlichen Regionen gefördert wer-
den. Es macht schon den Eindruck einer versuchten
Rosstäuschung, wenn dieses Programm in den Hand-
lungsempfehlungen benannt wird, obwohl es als Reak-
tion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise längst be-
schlossen war. Hinzu kommt, dass es eher ein Strohfeuer
ist. Es hilft vielleicht, das eine oder andere regionale
Einzelproblem zu lösen, aber es trägt eben nicht dazu
bei, nachhaltig die chronische Unterfinanzierung der öf-
fentlichen Einrichtungen in den strukturschwachen Ge-
bieten zu verbessern, damit sie auf eigenen Füßen stehen
können. Außerdem deutet sich schon jetzt an, dass nicht
wirklich zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt wird,
denn die Steuereinnahmen der Kommunen werden im
Zusammenhang mit anderen Entscheidungen im Rah-
men des Konjunkturpakets und der allgemeinen Krisen-
situation vermutlich drastischer sinken, als das Geld aus
dem Konjunkturpaket II fließt.
Fazit: Auch die Handlungsempfehlungen aus dem
Hause Aigner sind zwar für sich genommen nicht ganz
falsch, aber sie sind mutlos, wenig nachhaltig und ge-
messen an den wirklichen Problemen kläglich.
Den Ansatz, die Akteurinnen und Akteure vor Ort un-
ter einen Hut zu bringen und die verschiedenen Politik-
felder besser aufeinander abzustimmen, sind richtig. Nur
muss ein solcher integrativer Ansatz auch in die Tat um-
gesetzt werden. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die
die Einbindung der Menschen vor Ort stärker fördern,
statt zu versuchen, von oben herab alles zu organisieren.
Die Politik der Bundesregierung für die ländlichen
Räume ist aus unserer Sicht nicht mehr als eine vielleicht
bemühte, aber eher symbolische Geste.
Eine Standortpolitik für die ländlichen Räume muss
aktiv und umsichtig mit politischem Weitblick entwi-
ckelt werden. Gerade skandinavische Länder machen
uns da einiges vor. Schweden hat als nächstes Land die
EU-Ratspräsidentschaft. Es wurde bereits angekündigt,
ab Juli 2009 die Diskussion um die Förderung ländlicher
Räume besonders im Blick auf den Agrarförderzeitraum
nach 2013 zu führen. Wir werden uns in diese Diskus-
sion im Interesse der Menschen, die in den Dörfern und
kleinen Städten leben bleiben möchten, intensiv einmi-
schen.
Die Linke bekennt sich zum Grundgesetzauftrag
gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen.
Existenzsichernde Arbeit und die Förderung einer selbst-
bestimmten Dorfbewegung mit neuen Organisationskon-
zepten für das Leben in Dörfern und kleinen Städten sind
Schwerpunkte für eine linke Politik in den ländlichen
Räumen.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Milchpreise sind im Keller, die ländliche Entwicklung
stagniert, die Stimmung der Landwirte ist von existen-
ziellen Zukunftsängsten geprägt. Mit dieser Bilanz been-
det die Große Koalition ihre vierjährige Regierungszeit,
die sie mit dem Slogan von der „Bauernbefreiung“ be-
gonnen hat.
Sicherlich geht die momentane Krisensituation, die
auch die Agrarbranche erfasst hat, nicht allein auf das
Konto der Großen Koalition in Berlin. Was jedoch er-
schreckend ist, ist die komplette Konzeptionslosigkeit,
mit der Union und SPD auf die Entwicklung reagieren.
Man beschränkt sich auf wohlfeile Anträge bar jeden In-
halts wie den heute hier vorliegenden. Und man ver-
spricht Gelder, die bei den Bäuerinnen und Bauern real
nie ankommen.
Die Aufhebung der Kappungsgrenze oberhalb von
10 000 Litern beim Agrardiesel geht an 90 Prozent der
Betriebe in Deutschland vorbei. Die Hilfen für die
Milchbauern kurbeln in erster Linie den Stallbau der
Massentierhaltungsbetriebe an und führen so dazu, dass
noch mehr Milch auf den bereits überschwemmten
Milchmarkt gespült wird. Sie erweisen sich als Danaer-
geschenk, das nur zur Beschleunigung des Sterbens der
Milchhöfe beiträgt. Die Vorgaben zur Anhebung der Prä-
mien beim Ökolandbau sind so gewählt, dass die Bun-
desländer durch die Gewährung breiter Abweichungs-
korridore die tatsächlich gezahlten Fördersummen nicht
erhöhen müssen. Die Mittel für den Breitbandausbau im
ländlichen Raum fließen nicht ab. Im Haushaltsjahr
2008 sind von den zur Verfügung stehenden 10 Millio-
nen Euro beispielsweise nur 500 000 Euro bundesweit
ausgegeben worden.
Da wird vom Agrarministerium immer wieder breit
herausgestrichen, dass die Anhebung der Haushaltsmit-
tel für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes in dieser Legisla-
turperiode um 85 Millionen Euro angehoben worden
sind. Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel zuvor
in Brüssel radikale Kürzungen der EU-Mittel für diesen
Bereich durchgesetzt. Dadurch stehen Deutschland seit
2007 jährlich etwa 300 bis 400 Millionen Euro weniger
für die ländliche Entwicklung zur Verfügung.
25354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Diese Aufzählung ließe sich beliebig lange fortfüh-
ren.
Dieser ziel- und planlosen Politik, die von ständiger
Angst getrieben ist, in erster Linie Lobbyinteressen be-
dient und die Mittel für die Landwirtschaft und die länd-
lichen Räume in die Kassen der blühenden Agroindus-
trie spült, setzen wir unsere Strategie zur Stärkung der
Regionen entgegen. Wir fordern ein Ende der Gießkan-
nenförderung. Stattdessen wollen wir die Vergabe der
Steuergelder an die Erbringung klar benennbarer gesell-
schaftlicher Leistungen koppeln, wie die Schaffung von
Arbeitsplätzen, Natur-, Umwelt- und Klimaschutz sowie
Stärkung sozialer Ressourcen im ländlichen Raum. Dazu
muss die Förderpolitik konsequent am Prinzip der inte-
grierten ländlichen Entwicklung ausgerichtet und mehr
Verantwortung auch in finanzieller Hinsicht auf die
Ebene der regionalen Akteure verlagert werden. Kleine
Unternehmen mit Regionalbezug gilt es zu stärken und
die Daseinsvorsorge der demografischen Entwicklung so
anzupassen, dass das Landleben attraktiv und lebenswert
bleibt. Die Förderungen im land- und forstwirtschaftli-
chen Bereich sollen darüber hinaus an den Verzicht auf
den Einsatz von Agrogentechnik gebunden werden. Da-
mit tragen wir letztendlich nur dem Wunsch der Ver-
braucherinnen und Verbraucher nach gentechnikfreien
Produkten Rechnung.
Für die ländliche Entwicklung und die Zukunftsfähig-
keit des Agrarstandortes Deutschland waren die vergan-
genen vier Jahre verlorene Zeit. Denn trotz vieler schö-
ner Worte auf zahlreichen teuren Veranstaltungen:
Verantwortung für unsere ländlichen Räume haben
Union und SPD nicht übernommen.
Anlage 30
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Biopatentrecht verbessern – Paten-
tierung von Pflanzen, Tieren und biologi-
schen Züchtungsverfahren verhindern
– Beschlussempfehlung und Bericht zu der
Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über die Auswirkungen des Gesetzes
zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie
(Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Der Bericht der
Bundesregierung über die Wirkungen des Gesetzes zur
Umsetzung der Biopatentrichtlinie hat uns einen wichti-
gen Punkt für unsere heutige Debatte geliefert, nämlich
dass sich kaum verlässliche Aussagen zu den Wirkungen
treffen lassen, da bislang nur wenige Entscheidungen auf
Grundlage der umgesetzten Richtlinie getroffen wurden.
Der Grünenantrag schießt daher über das Ziel hinaus,
auch wenn er zu Recht kritische Punkte anspricht.
Erst vor gut vier Jahren standen wir schon einmal an
dieser Stelle und haben über das gleiche Thema disku-
tiert. Damals ging es um die Umsetzung der Biopatent-
richtlinie in nationales Recht, auf die sich nun auch der
Bericht der Bundesregierung bezieht. Die Unionsfrak-
tion, obwohl damals in der Opposition, hat sich kon-
struktiv an den Gesetzesberatungen beteiligt und dem
ausgehandelten Kompromiss letztlich zugestimmt. Die
Reichweite des Patentschutzes wurde seinerzeit übri-
gens nicht etwa wegen des Engagements des grünen
Koalitionspartners eingegrenzt, sondern auf die Initia-
tive von CDU und CSU. Dies geschah durch die Ein-
schränkung des Stoffschutzes, sodass der Schutzumfang
des Patents nach der nun geltenden Bestimmung nur die
konkrete Verwendung umfasst, aber nicht absolut gilt.
Die damals von der rot-grünen Bundesregierung vor-
geschlagene Regelung hätte die Bestimmung der Reich-
weite des Patentschutzes in die Hände der Gerichte ge-
legt. In diesem sensiblen Bereich ist allerdings der
Gesetzgeber gefordert. Er kann derart fundamentale Ent-
scheidungen nicht an die Gerichte delegieren, sondern
muss selbst Position beziehen. Wenn wir der rot-grünen
Bundesregierung gefolgt wären, hätte dies zu Rechtsun-
sicherheit geführt. Das konnte durch die Unionsfraktion
verhindert werden.
Was allerdings schon etwas merkwürdig anmutet, ist,
warum es nun der Oppositionsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen nicht schnell genug gehen kann mit einer
Überprüfung der rechtlichen Situation bei biotechnologi-
schen Erfindungen. Als sie noch in Regierungsverant-
wortung standen, haben sie da etwas mehr Muße an den
Tag gelegt. Mitte 1998 war die Richtlinie in Kraft ge-
treten und hätte bis Mitte 2000 von Deutschland umge-
setzt werden müssen. Erst Anfang 2005 haben sie es
geschafft, die Umsetzung der Richtlinie ins nationale
Recht im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Eben
noch auf dem Standstreifen und jetzt schon auf der Über-
holspur. Das kann leicht zum Unfall führen.
Es bleibt weiterhin kein besonderer, unmittelbarer
Anlass, in der konkreten Patenterteilungspraxis zu er-
kennen, der es rechtfertigen würde, auf Ebene der Bun-
desregierung im europäischen Rechtsrahmen aktiv wer-
den zu müssen. Sie liefern nämlich selbst ein sehr gutes
Beispiel dafür, dass die Selbstreinigungskräfte des Euro-
päischen Patentübereinkommens sehr gut funktionieren.
Der US-Forscher James Thomson brachte in Zusam-
menarbeit mit der amerikanischen Universitätsstiftung
„Wisconsin Alumni Research Foundation“ eine Patent-
anmeldung beim Europäischen Patentamt in München
ein. Gegenstand des Patentantrags war die künstliche
Herstellung von menschlichen embryonalen Stammzel-
len, wodurch automatisch Embryonen vernichtet wer-
den.
Das Europäische Patentamt nahm den Patentantrag
schon im Jahr 2004 nicht an, was den Antragsteller aller-
dings nicht davon abhielt, in die nächste Instanz zu ge-
hen, um doch noch an das Patent zu gelangen. Die Sache
wurde an die Große Beschwerdekammer verwiesen, die
Ende letzten Jahres klarstellte: Ein derartiges Patent
würde gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sit-
ten verstoßen. An Deutlichkeit lässt diese Entscheidung
nichts zu wünschen übrig. Das geltende europäische
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25355
(A) (C)
(B) (D)
Recht hat also die von uns im Bundestag gesteckten
Ziele jedenfalls in diesem prominenten Verfahren er-
reicht.
Es ist nicht ersichtlich, warum das Europäische Pa-
tentamt bei Tieren, Pflanzen und biologischen Züch-
tungsverfahren nicht die gleiche Sorgfalt an den Tag le-
gen sollte wie bei menschlichen Embryonen. Was im
Moment der Großen Beschwerdekammer des Europäi-
schen Patentamtes zur Entscheidung vorliegt, sind Pa-
tente zum Züchtungsverfahren von Brokkoli und Toma-
ten. Hier geht es um die patentrechtlich entscheidende
Abgrenzung: Haben wir es hier mit einem im Wesentli-
chen biologischen Verfahren zu tun, das wäre dann nicht
mehr patentfähig, oder zeichnen sich die Verfahren
durch technische Besonderheiten aus, die dann patentier-
bar wären?
Man sollte sich die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer sehr genau anschauen, aber man sollte
sie nicht vorwegnehmen. Änderungen, die jetzt im Vor-
feld auf europäische Ebene eingespeist werden, können
die Entscheidung ohnehin nicht mehr beeinflussen, zu-
mal auch gar nicht klar ist, wo der Hebel für eine Ände-
rung im Patentrecht angesetzt werden müsste. Wenn
Lehren aus der Entscheidung der Großen Beschwerde-
kammer des Europäischen Patentamts zu ziehen sind,
dann ergibt es mehr Sinn, zunächst die Entscheidung ab-
zuwarten und anschließend, in Kenntnis der Entschei-
dung, sich für eine Änderung der Biopatentrichtlinie ein-
zusetzen.
Wenn Sie in Ihrem Antrag als Kronzeugen für den
Handlungsbedarf den wissenschaftlichen Beirat beim
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zi-
tieren, dann ist das selbstverständlich nur die halbe
Wahrheit. Denn in dem Gutachten „Patentschutz und In-
novation“ heißt es auch:
Die Kriterien für die Erteilung von Patenten sollten
konsequent angewendet und bei Bedarf verschärft wer-
den. Patente sollten Innovationen unterstützen, aber
nicht Investitionen absichern. Die operative Umsetzung
dieser Aufgabe fällt den Patentämtern zu, beispielsweise
durch Erhöhung der Anforderungen an den erfinderi-
schen Schritt einer Erfindung. Es ist hier nicht notwen-
dig, den Gesetzgeber zu bemühen.
Der Patentierung menschlichen Lebens hat das Euro-
päische Patentamt klar widersprochen. Ich erwarte eine
ebenso klare Entscheidung bei den anhängigen Züch-
tungsverfahren. Zurzeit gibt es daher keinen Handlungs-
bedarf seitens des Gesetzgebers. Dem Bericht ist inso-
fern nichts hinzuzufügen, zumal er auch gar nicht
konkret auf biotechnologische Erfindungen eingeht und
in diesem Bereich spezielle Probleme erkennen lässt.
Gleichwohl hat die Bundestagsanhörung zum Antrag
interessante Punkte hervorgebracht, die die Fraktionen
von Union und SPD nicht unkommentiert stehen lassen
wollten. Wir wollen die Bundesregierung dazu anhalten,
weiterhin die Erteilungspraxis des Europäischen Patent-
amtes intensiv zu beobachten und bei Fehlentwicklun-
gen die Rechtslage anzupassen im Sinne der während
der Anhörung vorgetragenen Bedenken. Insbesondere
die zu erteilenden Patente bezogen auf Brokkoli und To-
maten verdienen dabei eine ganz besondere Beachtung,
da sich an ihnen die zukünftige Erteilungspraxis des Eu-
ropäischen Patentamtes manifestieren könnte.
Ich bleibe dabei: Die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer des Europäischen Patentamts bezüg-
lich der biologischen Züchtungsverfahren muss erst ein-
mal abgewartet werden. Geht sie nicht nach unseren
Vorstellungen aus, dann – in diesem Punkt haben die
Grünen absolut recht – gehört diese Debatte in den Deut-
schen Bundestag. Durch unseren Entschließungsantrag
haben wir der Bundesregierung einen Kompass mitgege-
ben, der die Richtung auf europäischer Ebene vorgibt,
wenn es denn erforderlich wird. Der Antrag der Grünen
kommt jedenfalls zur Unzeit. Das darin enthaltene
Thema sollten und müssen wir aber aus deutscher Sicht
weiter intensiv begleiten.
Dr. Matthias Miersch (SPD): „Der Deutsche Bun-
destag teilt die Bedenken im Bereich der Landwirtschaft
und in Teilen der Öffentlichkeit, dass das Europäische
Patentamt angesichts der Brokkoli- und Tomatenpatente
eine zu weitgehende Patentierung für die Züchtung von
Tieren und Pflanzen vornimmt.“ Das ist die zentrale
Aussage des Entschließungsantrages der Koalitionsfrak-
tionen und das ist ein klares Bekenntnis des Deutschen
Bundestages, dass sich das Hohe Haus eindeutig gegen
diese Patente ausspricht.
Für die SPD-Fraktion danke ich all denen, die sich
teilweise seit Jahrzehnten aktiv mit dieser Thematik im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie im
Interesse der Landwirtschaft einsetzen. Ich danke exem-
plarisch der Bewegung „Kein Patent auf Leben“. Die vor
einigen Wochen im Bundestag durchgeführte Anhörung
hat all die Problemfelder eindeutig aufgezeigt, die Ruth
Tippe und ihre engagierten Mitstreiterinnen und Mit-
streiter seit langer Zeit bewegen. Ich hoffe, dass es zu
einem Durchbruch gekommen ist und all die aufgewor-
fenen Fragen weiter im Parlament und in der Bundesre-
gierung in der kommenden Legislaturperiode ausführ-
lich beraten werden.
Ich danke an dieser Stelle auch der Bundesjustizmi-
nisterin für ihre Initiative, im September auf Regie-
rungsebene mit Ministerien und Behörden die Proble-
matik sowie die Ergebnisse der im Bundestag erfolgten
Anhörung im Rahmen einer Zusammenkunft zu bera-
ten. Das macht deutlich, dass der heutige Entschlie-
ßungsantrag nur ein erster Schritt ist und – das will ich
klar betonen – auch nur sein darf.
Mir ist klar, dass sich einige noch weitergehende Aus-
sagen gewünscht hätten. Gerade vor dem Hintergrund
des laufenden Verfahrens vor der Großen Beschwerde-
kammer und der beiden noch verbleibenden Sitzungswo-
chen in dieser Periode musste es jedoch Priorität haben,
ein schnelles und klares Signal des Deutschen Bundesta-
ges zu setzen, das die von mir eingangs zitierte Aussage
enthält. Ich finde, dass das klare Bekenntnis schon ein
wichtiger Erfolg ist, und ich wünsche mir, dass auch in
München der hier klar zum Ausdruck gebrachte Wille
des Deutschen Bundestages Berücksichtigung findet. In-
25356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
sofern kann ich auch all die Stimmen in der Koalition
nachvollziehen, die auf die ausstehende Entscheidung
der Großen Beschwerdekammer verweisen und damit
rechnen, dass der Wille des Gesetzgebers dort seine Be-
stätigung erfahren wird. Ich habe deshalb akzeptiert,
dass auf Wunsch der CDU eine weitergehende Aussage,
bereits jetzt für Rechtsänderungen einzutreten, im Ent-
schließungsantrag nicht aufgenommen wurde. Für die
SPD erkläre ich jedoch: Diese Frage muss in der 17. Le-
gislaturperiode eindeutig wieder aufgerufen werden.
Es ist zu hoffen, dass die Entscheidung der Großen
Beschwerdekammer klare Abgrenzungs- und Ausle-
gungskriterien beinhalten wird, und zwar in dem Sinne,
dass es eine klare Abgrenzung biotechnologischer Erfin-
dungen von herkömmlichen landwirtschaftlichen Tätig-
keiten wie Züchtung und Kreuzung gibt und die Paten-
tierung herkömmlicher landwirtschaftlicher Tätigkeiten
wie Züchtung und Kreuzung ausgeschlossen wird.
Die Anhörung hat jedoch gezeigt, dass die Flut an
Anmeldungen beweist, dass offenbar auch eine Strategie
verfolgt wird, letztlich nur ein Bruchteil patentiert zu be-
kommen. Herr Professor Dolder hat in der Anhörung auf
die Problematik der Überschneidung von Anwendungs-
gebieten und auf die daraus resultierenden Abgrenzungs-
probleme hingewiesen. Er hat dargelegt, dass isolierte
Patentansprüche formuliert werden, die vom Patentan-
melder höchst kunstvoll zu dem Zweck formuliert wer-
den, fragliche Patentierungsverbote zu vermeiden. Die
Patentierungsverbote des Art. 53 des Europäischen Pa-
tentübereinkommens erwiesen sich demnach als „hilflose
Slalomstangen auf der Skipiste zur glücklichen Patent-
erteilung“.
An diesen Aussagen wird klar, dass auch die Gesetz-
gebung gefordert ist und diese Entwicklung nicht der in-
ternen Rechtsprechung des Europäischen Patentamtes
überlassen bleiben darf. Es geht um die grundsätzliche
Frage der Patentierbarkeit von Tieren und Pflanzen. Es
kann nicht sein, dass einzelne Pflanzensorten nicht pa-
tentierbar sind, jedoch ganze Arten von Pflanzen. Der
Widerspruch ist offenkundig. Deshalb müssen als Ziele
gelten: klare Verbote der Patentierung von Saatgut und
Nutztieren sowie von Verfahren zu ihrer Züchtung, keine
Patente auf Gene und Lebewesen, kein Patent auf Le-
ben!
Allerdings hat Professor Dolder in der Anhörung
auch aufgezeigt, dass eine Änderung der Biopatentricht-
linie nicht ausreichend sein wird, sondern vielmehr auch
eine Revisionskonferenz des Europäischen Patentüber-
einkommens bzw. ein Beschluss des Verwaltungsrates
des Europäischen Patentamts notwendig sein dürfte. Wir
alle wissen, dass die hier angesprochenen Fragen bei den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei den
Staaten, die das Patentübereinkommen unterzeichnet ha-
ben, hoch unterschiedlich beurteilt werden. Die Diskus-
sion birgt somit auch das Risiko, dass gezogene Grenzen
von interessierten Kreisen und einzelnen Staaten infrage
gestellt werden.
Schnelle Änderungen wird es somit wohl nicht geben.
Umso wichtiger ist ein klares Bekenntnis des Deutschen
Bundestages, dass wir die derzeitige Erteilungspraxis
angesichts des Tomaten- und Brokkolipatents kritisieren.
Dieses tun wir hier und heute. Verbunden werden muss
diese Aussage mit der Aufforderung an die Abgeordne-
ten der kommenden 17. Legislaturperiode, das Thema
auch unter Heranziehung der durch die Anhörung erfolg-
ten Vorarbeiten weiter zu verfolgen. Die SPD-Fraktion
wird sich aktiv daran beteiligen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Biopatent-
richtlinie und ihre Umsetzung in nationales Recht ist bei
Teilen der Gesellschaft umstritten. Es gibt erhebliche
Befürchtungen unter Landwirten, dass sie durch die Er-
teilung von biotechnologischen Patenten in ihren Mög-
lichkeiten der Bewirtschaftung ihrer Betriebe einge-
schränkt werden. Diese Befürchtungen müssen wir ernst
nehmen.
Der in dieser Diskussion vielfach zitierte Fall des ka-
nadischen Landwirts ist bei der Betrachtung jedoch we-
nig hilfreich. Dieser Landwirt hatte nachgewiesenerma-
ßen und vom Gericht festgestellt Nachbau betrieben,
ohne dafür eine Lizenz zu haben. Auch bei Anwendung
des Sortenrechtes hätte er Nachbaugebühren bezahlen
müssen. Er hat eine Rechtsverletzung begangen und ist
dafür verurteilt worden.
Die Bundesregierung stellt in ihrer Unterrichtung
„Bericht der Bundesregierung über die Wirkungen des
Gesetzes zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie“,
Drucksache 16/12809, fest: „Es sind … keine Fälle be-
kannt geworden, in denen Landwirte oder Züchter als
vermeintliche Verletzer auf Grund eines im weitesten
Sinne für Züchtungen erteilten Patents in Anspruch ge-
nommen worden wären.“ Weiter heißt es dort: „Es lässt
sich bisher nicht feststellen, dass die mit dem Umset-
zungsgesetz eingeführten Begriffe auf dem Gebiet der
Tier- und Pflanzenzüchtungen zu einer unerwünschten
Weite der Patentierungsvoraussetzungen geführt hätten
oder dass die Vorschriften über das Landwirteprivileg
zum Schutze landwirtschaftlicher Betriebe nicht aus-
reichten.“ Die bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz
dürfen somit als positiv bewertet werden.
Biopatente sind eine besondere Form des Schutzes
geistigen Eigentums. Sie schützen biotechnologische Er-
findungen. Es ist völlig unbestritten, dass Autoren das
Recht der wirtschaftlichen Verwertung ihrer schriftstel-
lerischen Arbeit haben. Genauso unbestritten sollte sein,
dass Erfinder das Recht haben, wirtschaftlichen Nutzen
aus ihrem Patent zu ziehen. Patente haben zwei Funktio-
nen: Sie schützen das Recht des Erfinders auf wirtschaft-
liche Verwertung. Gleichzeitig sind sie auch eine Veröf-
fentlichung der Erfindung. Der Erfinder erhält im
Gegenzug zur Veröffentlichung seiner Erfindung den
Schutz des Gesetzes. Dieser Schutz ist zeitlich begrenzt.
Es gibt genügend Beispiele für Erfinder, die sich ihre Er-
findungen nicht patentieren lassen, um die Veröffentli-
chungspflicht zu umgehen. Coca Cola ist wohl das be-
kannteste Beispiel.
Der Schutz von Erfindungen ist auch in der Biotech-
nologie ein entscheidender Motor für wissenschaftlichen
Fortschritt. Voraussetzung für die Erteilung eines Patents
sind die Kriterien der Neuheit der Erfindung, der Erfin-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25357
(A) (C)
(B) (D)
dungshöhe, der Reproduzierbarkeit. Nur Erfindungen,
nicht aber Entdeckungen werden patentiert. Die Anwen-
dung der Vorschriften der Biopatentrichtlinie muss si-
cherstellen, dass der Zugang zu den genetischen Res-
sourcen offenbleibt. Die Herausforderungen des
Klimawandels, die Sicherung der Welternährung, die en-
ergetische Nutzung von Biomasse stellen hohe Anforde-
rungen an den züchterischen Fortschritt, denen nur durch
Einbeziehung biotechnologischer Züchtungsverfahren
begegnet werden kann. Die Biopatentrichtlinie bestimmt
eindeutig, dass Pflanzensorten und Tierrassen nicht pa-
tentierbar sind. Verfahren zum Klonen von Menschen
sind ebenfalls nicht patentierbar, ebenso wenig totipo-
tente Stammzellen. Es gibt kein Patent auf Leben. Nie-
mandem ist es gelungen, eine chemische Verbindung
zum Leben zur erwecken. Es gilt „Omnis vivo ex vivo“:
Alles Leben entsteht aus Leben, und deswegen kann Le-
ben nicht patentiert werden.
Die FDP wendet sich gegen die Patentierung von Tie-
ren, die für die landwirtschaftliche Tierhaltung von Be-
deutung sind. Die Patentierung von Tieren, die in der
medizinischen Forschung Verwendung finden, etwa die
Krebsmaus und andere mit einem speziellen For-
schungsinteresse gezüchtete Tiere, sind wertvoll, um die
medizinische Forschung voranzutreiben. Es wird nicht
Leben patentiert, sondern ein transgenes Tier mit be-
stimmten Eigenschaften.
Die gültige EU-Biopatentrichtlinie hat einige Rechts-
unsicherheiten beseitigt; aber noch immer besteht recht-
licher Klärungsbedarf. Das Landwirte- sowie das Züch-
terprivileg wurden entsprechend den Bestimmungen im
Sortenschutzrecht geregelt. Es ist jedoch im Einzelnen
nicht geklärt, wann die Ergänzung eines biologischen
Züchtungsverfahrens durch technische Schritte die Pa-
tentierbarkeit erlauben. Unklar ist, unter welchen spe-
ziellen Bedingungen die durch genetische Marker unter-
stützte Selektion überhaupt patentierbar ist. Es wird er-
wartet, dass das Einspruchsverfahren zum sogenannten
Brokkolipatent Antworten auf diese Fragen bietet. Die
Anhörungsfrist endete im letzten Herbst. Die Bewertung
der Einsprüche ist noch nicht abgeschlossen. Es ist we-
nig sinnvoll, vor der Vorlage dieser Bewertungen eine
Änderung der Biopatentrichtlinie vornehmen zu wollen.
Sollte festgestellt werden, dass weiterhin Rechtsunsi-
cherheiten bestehen, müssen sie beseitigt werden, dann
ist die Änderung der EU-Biopatentrichtlinie erforder-
lich.
Eine generelle Patentierung der durch Marker ge-
stützten Selektion lehnt die FDP ab. Dieses technische
Verfahren wird weitgehend von Pflanzenzüchtern ge-
nutzt. Die Einführung der Patentierbarkeit wäre ein Be-
schäftigungsprogramm für Rechtsanwälte, würde die In-
novationskraft der mittelständischen Pflanzenzüchter
hemmen und Großkonzernen mit ihren Rechtsabteilun-
gen einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen. Es ist
zu beobachten, dass einzelne Unternehmen versuchen,
sehr weitreichende Patentansprüche mit dem Patentrecht
durchzusetzen, die über Einsprüche aus dem Patentan-
trag entfernt werden müssen. Dies führt zu Unmut. Sol-
che Unternehmen tragen durch ihr Verhalten dazu bei,
die Furcht von Landwirten vor Patenten zu schüren.
Wir warnen gleichwohl vor zu detaillierten gesetzli-
chen Regelungen. Die Vorstellung, dass im Gesetz jede
Einzelheit festgelegt werden kann, die jetzt von Bedeu-
tung ist und die eventuell – vielleicht aber auch nicht –
zukünftig von Bedeutung sein wird, ist absurd. Dies
würde zu einem nicht mehr überschaubaren Regelungs-
wust führen. Gerichte brauchen Ermessensspielräume
für ihre Entscheidungen, um mit ihren Urteilen jedem
Einzelfall gerecht werden zu können.
Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die Wiederauf-
nahme der polarisierten Diskussion über Biopatente er-
reichen und daraus für sich einen Nutzen ziehen. Ihr An-
trag bietet keine wirklich neuen Erkenntnisse oder
Denkansätze. Die FDP lehnt den Antrag ab.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Auf Erfindungen kön-
nen, wenn sie neu sind, einer erfinderischen Tätigkeit
entspringen und gewerblich anwendbar sind, Patente
vergeben werden. Klassisch werden Verfahrens- und
Stoffpatente unterschieden. Über den Gegenstand des
Patents wird zeitlich begrenzt ein Verfügungsrecht ge-
währt. Personen oder Firmen mit derartigen Rechten set-
zen also ein exklusives Verfügungsrecht oder genauer
gesagt ein Monopol um. So nutzen sie in begrenzten
Zeiträumen das geschützte Wissen selbst oder sie ver-
kaufen die Nutzungsrechte an andere.
Erfinder bzw. Inhaber dieser Rechte sollten so For-
schungs- sowie Investitionskosten wieder reinbekom-
men und Gewinne erwirtschaften. In dem Maße aber,
wie Wissen als Gegenstand dieser Patente in den letzten
beiden Jahrzehnten an Bedeutung gewann, wurden diese
Nutzungs- und Verfügungsrechte mehr und mehr ein In-
strument zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen
gegenüber anderen. Es ging immer weniger darum, neue
Impulse für weitere Erfindungen zu setzen. Vielmehr
werden diese zunehmend blockiert, indem das Patent-
recht erweitert und verschärft wurde und Patente mit bis-
lang unbekannten Reichweiten erteilt wurden.
Mit dem Biopatentrecht wurde in den 90er-Jahren
das Patentrecht auf biologisch-genetische Ressourcen
erweitert. Das heißt, Grundlagen des Lebens – auch des
menschlichen – werden zu Schutzgegenständen. Sie
werden wie patentierte Erfindungen behandelt. Oft ge-
nug ist gar nicht mehr genau zu klären oder wird be-
wusst verschleiert, ob es sich nicht gar um Entdeckun-
gen handelt. Entdeckungen hingegen sind nämlich nicht
patentierbar.
Seit im Jahr 2000 in Europa Patente auf Pflanzen und
Tierrassen erteilt werden, sollen 680 Patente auf Pflan-
zen und 320 auf Tiere vergeben worden sein. Zumeist
handelt es sich um gentechnisch veränderte Organismen.
Die Entwicklung tendiert immer stärker zur Patentierung
von Genen, Gensequenzen und Zuchtverfahren. Das zei-
gen zahlreiche Anträge von Einzelpersonen und Unter-
nehmen beim Europäischen Patentamt.
Was droht uns? Der absolute Stoffschutz für gewon-
nene Gene samt ihren Funktionen – selbst den noch un-
bekannten. Wem der „Code des Lebens“ gehört, ist eine
zutiefst gesellschaftspolitische Entscheidung und nicht
25358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Gegenstand von Patentprüfungsverfahren! Dieser Ein-
schätzung vieler Akteure und Verbände schließt sich die
Linke an. Entsprechende öffentliche wie auch parlamen-
tarische Debatten sind unumgänglich.
Welche praktischen Folgen das haben kann, zeigt ein
Beispiel der vergangenen Jahre besonders deutlich. So
wurde vor dem Europäischen Patentamt heftig gestritten,
ob beispielsweise menschliche Gene, deren Mutationen
zu erblichem Brustkrebs führen, patentierbar sind. Das
ursprüngliche Patent bezog sich nämlich nicht nur auf
das technische Verfahren zur Isolation der Brustkrebs-
gene. Vielmehr wurden die gewonnenen Gene selbst pa-
tentiert. Der Stoffschutz wurde dann auch noch erweitert
und schloss alle Verwendungen der Gene ein. Dazu zäh-
len Verfahren zur Diagnostizierung der Brustkrebsgene,
Behandlungsverfahren und letztlich auch zu entwi-
ckelnde Arzneimittel. Es ist wohl klar, dass damit viel-
fältige Forschungsansätze in der Medizin behindert,
wenn nicht gar verhindert werden. Gelänge als Behand-
lungsansatz das Ausschalten dieser Brustkrebsgene,
dann hätten Forscher an den Patentinhaber zahlen müs-
sen. Gleiches würde auch für Entwickler von Arzneimit-
teln gelten.
Es kommt zu strategischen Patenten. Man kann diese
so bezeichnen, weil sie in nahezu allen Arbeits- bzw.
Forschungsbereichen den Zugang blockieren, sofern
nicht gezahlt wird bzw. gezahlt werden kann. In den
USA gibt es Beispiele dafür, dass Forschergruppen ihr
Projekt eingestellt haben, weil sie nicht imstande waren,
die hohen Patentkosten aufzubringen bzw. einer Klage
wegen Patentverletzung aus dem Weg gehen wollten.
Dadurch verkehrt sich Patentschutz nun gänzlich ins Ge-
genteil, und das unter Umständen mit tödlichem Aus-
gang.
Die letzte Bundesregierung hat zu Recht versucht,
diesem ausufernden Stoffschutz mit dem Biopatentge-
setz Einhalt zu gebieten. Zugleich jedoch war sie ge-
zwungen, die teilweise gegenläufige und mit vielen
Rechtsunsicherheiten behaftete EU-Biopatentrichtlinie
umzusetzen. Das bleibt zu kritisieren. Folgerichtig greift
der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erneut diese
Rechtsunsicherheit auf. Der Widerspruch liegt nach wie
vor darin, dass im Unterschied zum umfassenden Stoff-
schutz, den die EU-Biopatentrichtlinie gewährt, der klas-
sische Patentschutz in Deutschland und Frankreich ein
funktionsgebundener Stoffschutz ist. Das bedeutet, ein
Patent wird nur auf ein konkretes Verfahren vergeben, in
welchem das genannte Biomaterial zur Anwendung
kommt. Wird ein anderes Verfahren auf Basis des glei-
chen biologischen Materials entwickelt, dann gilt der Pa-
tentschutz nicht mehr. Ein absoluter Stoffschutz für das
biologische Material kann so ausgeschlossen werden.
Nur ein funktionsgebundener Stoffschutz berücksichtigt
angemessen die Eigenschaften von chemischen Stoffen
und informationellem biologischem Material. Mit die-
sem Ziel muss die europäische Richtlinie präzisiert wer-
den.
In der Anhörung im Innenausschuss am 11. Mai 2009
wiesen die Sachverständigen auf eine weitere gravie-
rende Folge hin. Die geografische Herkunft tierischen
und pflanzlichen Materials muss eindeutig belegt wer-
den. Das deutsche Patentrecht sieht das im Gegensatz
zur EU-Richtlinie vor. Aber selbst in Deutschland – so
kritisierte die Vertreterin des Deutschen Patent- und
Markenamtes – versuchen die Antragsteller, die Her-
kunft zu verschleiern. Und ohne klare Herkunftsangaben
können sich weder die Länder des Trikonts noch betrof-
fene indigene Völker effektiv gegen Biopiraterie weh-
ren. Sie können beispielsweise ihren Anteil am Ertrag
aus der Nutzung traditionellen Wissens über heilende
Pflanzen und deren Anwendung nicht einklagen. Und
Pharmaunternehmen reagieren auf diese Begehren nicht
nur ignorant. Nein, sie isolieren aus derartigen Pflanzen
die heilenden Stoffe oder Gene. Dann „bauen“ sie diese
künstlich nach. Damit sind sie auf die Ursprungspflan-
zen überhaupt nicht mehr angewiesen. Die indigenen
Völker verlieren endgültig die Chance auf eine gerechte
wirtschaftliche Verwertung ihrer traditionellen Ressour-
cen.
Zwischenzeitlich mehren sich zwar auch kritische
Stimmen in der EU-Kommission, die ethische und for-
schungspolitische Bedenken formulieren. Diese müssen
gestärkt werden, um eindeutige Regelungen in der EU-
Biopatentrichtlinie zu erzwingen. Bis heute nämlich hat
sich die EU-Kommission vor einer Bewertung dieser Ar-
gumente gedrückt, geschweige denn eine Novellierung
der Biopatentrichtlinie ernsthaft in Aussicht gestellt.
Parallel dazu müssen auch internationale Abkommen
geändert werden. So werden Wissen und geistige Eigen-
tumsrechte durch das Europäische Patentübereinkom-
men, EPÜ, oder das Übereinkommen über handelsbezo-
gene Aspekte der Rechte des Geistigen Eigentums,
TRIPS, monopolisiert. Bei Züchtungsverfahren bei-
spielsweise sind Anwender allgemein, aber insbesondere
jene in den Entwicklungsländern einem harten Sorten-
schutz ausgesetzt. Bauern zahlen hohe Summen für
Saatgutlizenzen – auch für gentechnisch verändertes und
patentiertes Saatgut – und stehen nicht selten vor exis-
tenziellen Problemen. Zugleich werden traditionelle For-
men der Landbewirtschaftung, Selbstversorgung und Ar-
tenvielfalt massiv verdrängt. Daher geht die Linke
weiter als der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Es
wird die gezielte Erteilung von Zwangslizenzen gefor-
dert, damit Forschungsblockaden und Biopiraterie über-
wunden werden können, damit diagnostische und thera-
peutische Anwendungen in der Medizin weiter
entwickelt werden, damit der Zugang zu Gesundheits-
versorgung eben nicht von kaufkräftiger Nachfrage und
Angebots- bzw. Preismonopolen bestimmt wird. Die Or-
ganisation „Ärzte ohne Grenzen“ sagt: „Medikamente
sollten kein Luxus sein – patentgeschützte Medikamente
sind aber oft unbezahlbar für Menschen in Entwick-
lungsländern.“ Und ich füge hinzu, dass auch hierzu-
lande die Effekte dieser Entwicklung längst deutlich zu
spüren sind.
Ein weiteres Problem kommt in dem Antrag zur Spra-
che, ohne dass allerdings ein konkreter Lösungsansatz
beschrieben würde. Es handelt sich um den effektiven
Schutz von Persönlichkeitsrechten von Spendern. Es
gibt zahlreiche Patentanmeldungen, in denen biologi-
sches Material menschlichen Ursprungs Gegenstand ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25359
(A) (C)
(B) (D)
Hier schreibt die EU-Patentrichtlinie die „informierte
Einwilligung“ vor. Spender müssen vorab zu Zielen des
Forschungsprojektes aufgeklärt worden sein und in die
Verwendung ihrer Proben eingewilligt haben. Bestim-
mungen aber, wie diese Zustimmungen und Dokumenta-
tionspflichten konkret auszusehen haben, fehlen im
deutschen Biopatentgesetz. Daher fordert die Linke von
der Bundesregierung, durch eine Gesetzesänderung Per-
sönlichkeitsrechte und Daten von Spendern zu schützen.
Wir beschränken uns also nicht auf Forderungen gegen-
über der EU-Ebene.
Fazit: Patente auf Leben beschneiden unsere Selbst-
bestimmung mit existenziell negativen Folgen – für je-
den Menschen und die menschliche Gemeinschaft.
Daher lehnt die Linke die Ausdehnung privater Verfü-
gungsrechte durch die Ausdehnung des Patentrechts auf
biologisch-genetische Ressourcen ab.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Koalitionsfraktionen setzen ihre Untätigkeit in Sachen
„Patente auf Leben“ fort – entgegen den zahlreichen
Aussagen der CSU vor der Wahl, von Bundesländern
wie Bayern und Hessen und auch explizit von Landwirt-
schaftsministerin Aigner, die gerade noch eine Änderung
des europäischen Biopatentrechtes forderte. Anlässlich
der Debatte zum Antrag der Grünen „Biopatentrecht ver-
bessern“ verabschieden die Koalitionsfraktionen heute
einen Antrag, in dem sie ihre politische Aktivität auf
„beobachten“, „prüfen“ und abwarten beschränken. Der
Antrag kam auf Druck des SPD-geführten Justizministe-
riums zustande. Auch im Bundesrat, wo ein Antrag Hes-
sens zur Reform des Biopatentrechtes vorliegt, wurde
die Abstimmung zum zweiten Mal verhindert. Damit
knickt die Koalition erneut vor den Industrieinteressen
ein und blockiert den Reformprozess.
Auf der Anhörung des Agrarausschusses im Mai ha-
ben sich sechs von sieben Experten kritisch zur derzeiti-
gen Patenterteilungspraxis des Europäischen Patentam-
tes gestellt, wo 90 Prozent aller Patente angemeldet
werden. Zwar schließt die EU-Patentrichtlinie Patente
auf Pflanzen und Tiere in einem Absatz aus, im nächsten
wird jedoch genau diese Möglichkeit faktisch eröffnet.
So werden heute strategische Patente auf Verfahren mit
winzigen technischen „Neuerungen“ angemeldet. Be-
reits 25 Prozent der Patentanmeldungen betreffen ganz
normale Züchtungsverfahren und erfassen auch die
Nachkommen oder Produkte der patentierten Pflanzen
oder Tiere. Allein in den letzten zwei Jahren wurden
40 Patentanträge im Bereich der Nutztierzucht einge-
reicht.
Eine neuseeländische Firma hat gerade Patente für ei-
nen Gentest auf Kühe beantragt, mit dem gleich auch das
Recht auf die produzierte Milch beansprucht wird. Der
US-Konzern Monsanto beantragt erneut die Patente auf
Tausende von Genvarianten von Schweinen.
Die Kirchen, Umweltorganisationen wie Greenpeace,
der Deutsche Bauernverband, die entwicklungspoliti-
schen Organisationen, die Arbeitsgemeinschaft bäuerli-
che Landwirtschaft, der BDM und andere haben die be-
stehende Patentgesetzgebung aus ethischen Gründen,
wegen der Privatisierung der Schöpfung, der Beschrän-
kung von freier Forschung und Innovation und der zu-
nehmenden Abhängigkeit von und Ausbeutung durch
große Konzerne wie Monsanto, Bayer und BASF scharf
kritisiert.
Wir Grüne fordern in unserem Antrag „Biopatent-
recht verbessern – Patentierung von Pflanzen, Tieren
und biologischen Züchtungsverfahren verhindern“, dass
die Bundesregierung national und EU-weit die Initiative
für eine Verbesserung der Biopatentrichtlinie ergreift,
damit klargestellt wird, dass Patente auf Pflanzen und
Tiere nicht erteilt werden können und sich Patentertei-
lungen auch bei „lebender Materie“ nur auf die konkre-
ten Erfindungsleistungen erstrecken können. Angesichts
der aktuellen Entwicklung besteht dringender Hand-
lungsbedarf.
Wir fordern den Bundesrat auf, den vorliegenden An-
trag Hessens umgehend zu verabschieden und damit den
Weg für die Reform frei zu machen.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Dass wir in diesem Hohen
Haus auch zu später Stunde noch spannende Punkte be-
handeln, zeigt das Thema Biopatente. Dieses sensible
Thema hat in den letzten Wochen und Monaten die Öf-
fentlichkeit und Medien stark beschäftigt. Besonders
medienwirksam war die Aktion Dutzender von Landwir-
ten im März, die ihre Schweine vor das Europäische Pa-
tentamt getrieben haben, um gegen das sogenannte
Schweinepatent zu demonstrieren.
Die Bundesregierung hat in dem vorgelegten Bericht
klar die Rechtslage beschrieben: Die Biopatentrichtlinie
der Europäischen Gemeinschaft lässt Patente, deren Ge-
genstand Pflanzen und Tiere sind, sowie Patente für mi-
krobiologische Verfahren und deren Erzeugnisse grund-
sätzlich zu. Doch gilt dies nur unter einer ganzen Reihe
von Einschränkungen. Tierrassen und Pflanzensorten
können ebenso wenig patentiert werden wie „im Wesent-
lichen biologische“ Verfahren zur Züchtung von Pflan-
zen oder Tieren. Diese Vorgabe aus Brüssel, die nach
jahrelangem Streit als Kompromiss zustande kam, haben
wir in Deutschland 2004 mit zusätzlichen Schutzvorkeh-
rungen – als Beispiel sei das sogenannte Landwirteprivi-
leg genannt – übernommen.
Die aktuellen Bedenken der Landwirte, die sich bei-
spielhaft an dem „Schweinepatent“ festmachen, spiegeln
die Befürchtung, in ihrem traditionellen Kerngeschäft
des Kreuzens und Züchtens durch Biopatente einge-
schränkt bzw. gestört oder von Patentinhabern abhängig
zu werden. Die Bundesregierung nimmt diese Befürch-
tungen, die ja nicht nur bei den Landwirten, sondern
auch bei vielen Verbrauchern bestehen, sehr ernst. Sie ist
der Auffassung, dass es erstens eine klare Abgrenzung
zwischen patentierbaren biotechnologischen Erfindun-
gen einerseits und herkömmlicher Kreuzung andererseits
geben muss und dass zweitens Korrekturbedarf an der
Biopatentrichtlinie dann besteht, wenn interpretatorische
Unschärfen des Gesetzestextes diese Abgrenzung verun-
klaren. Beispiel dafür ist die Auslegung des Begriffs der
25360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
nicht patentierbaren „im Wesentlichen biologischen Ver-
fahren“.
Ich begrüße, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem
vorliegenden Entschließungsantrag diesen zentralen
Punkt in den Mittelpunkt stellen und deutlich machen,
dass es jetzt Aufgabe der Großen Beschwerdekammer
des Europäischen Patentamts ist, zu klaren Lösungen zu
kommen. Die nächste zu erwartende Entscheidung be-
trifft, wie Sie wissen, Patente auf Tomaten und Brokkoli.
Was die an die Bundesregierung gerichteten Auffor-
derungen der Koalitionsparteien angeht, kann ich Ihnen
an dieser Stelle die ebenso engagierte wie vollständige
Erfüllung zusagen. Diese Zusage fällt schon deshalb
leicht, weil die Erteilungs- und Spruchpraxis des Euro-
päischen Patentamts seit jeher vom Bundesministerium
der Justiz laufend beobachtet wird, um deren Überein-
stimmung mit den Regelungszielen der Richtlinie zu
überwachen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal die eu-
ropäische Dimension des Biopatentthemas unterstrei-
chen. Sollten wir in Deutschland zu der Auffassung
kommen, dass Änderungsinitiativen zur EG-Richtlinie
erforderlich sind, brauchen wir für eine realistische Um-
setzungsperspektive die Bereitschaft der EU-Kommis-
sion, tätig zu werden, und eine klare Einschätzung der
Diskussionslage in den anderen Mitgliedstaaten. Die Bun-
desjustizministerin hat dies im April dem zuständigen
EU-Kommissar McCreevy verdeutlicht. Frau Zypries hat
ihn gebeten – gleichsam im Vorgriff auf die entspre-
chende Aufforderung am Ende der Koalitionsentschlie-
ßung –, umgehend einen aktuellen Kommissionsbericht
zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie vorzulegen.
Die intensiven Debatten in diesem Haus, aber auch im
Bundesrat zum Thema Biopatente haben die Diskussion
versachlicht und die rechtspolitisch entscheidenden
„Knackpunkte“ deutlich gemacht. Ich begrüße es, dass
der Entschließungsantrag der Koalition auch in Teilen
der Opposition Zustimmung findet; dies unterstreicht,
wie übereinstimmend wir die Probleme und möglichen
Lösungswege sehen. Die Bundesregierung jedenfalls
macht ihre Hausaufgaben. Sie wird die Entwicklung
sorgfältig beobachten. Und sie wird, falls notwendig, zü-
gig und druckvoll aktiv werden.
Anlage 31
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer
Vorschriften (Tagesordnungspunkt 25)
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Nach intensiven und in
der Endphase zeitweise auch turbulenten Diskussionen
liegt der Gesetzesentwurf zur Änderung arzneimittel-
rechtlicher und anderer Vorschriften in seiner endgülti-
gen Fassung zur zweiten und dritten Lesung vor. Es ist
im Gesundheitsbereich das letzte große Gesetzesvorha-
ben in der 16. Legislaturperiode.
Sollten zu Beginn der Debatte lediglich reine EU-Vor-
gaben – zum Beispiel Richtlinien für Kinderarzneimittel
und neuartige Therapien – umgesetzt werden, wurden im
Laufe der Beratungen nach und nach weitere und vor al-
lem auch fachfremde Punkte hinzugefügt, sodass letzt-
endlich das Gesetz mehr als 20 Artikel umfasst. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf werden viele wichtige und
sinnvolle Neuerungen für die Arzneimittelversorgung
und -sicherheit eingeführt.
So wird über die europäische Vorgabe hinaus dem
vollversorgenden Großhandel ein Belieferungsanspruch
gegenüber den pharmazeutischen Unternehmen einge-
räumt. Das ist ein wichtiger Schritt, um eine schnelle und
flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln dauerhaft
zu sichern.
Im Bereich der Abrechnung von Zubereitungen aus
Fertigarzneimitteln – zum Beispiel Zytostatika-Zuberei-
tungen – werden Regelungen getroffen, die Transparenz
und Wettbewerbsgleichheit zwischen öffentlichen Apo-
theken, Krankenhausapotheken und Herstellbetrieben
schaffen. Hiervon werden vor allem auch die Kranken-
kassen profitieren, da sie nicht nur an Einkaufsvorteilen
der Apotheken partizipieren, sondern auch Herstellerra-
batte von Fertigarzneimitteln in parenteralen Zubereitun-
gen generieren können.
Neben gesetzlichen Änderungen im Arzneimittelrecht
wurde auch eine Vielzahl anderer Sachverhalte angegan-
gen und einer Lösung zugeführt.
Durch eine Vereinbarungspflicht von KBV und
Krankenkassen wird auch in der Zukunft die sozialpsy-
chiatrische Versorgung von Kindern und Jugendlichen
gesichert sein.
Selbstständige und unselbstständig Beschäftigte wer-
den die Möglichkeit erhalten, beim Krankengeld sich ne-
ben Wahltarifen auch wieder für den gesetzlichen Kran-
kengeldanspruch zu entscheiden.
Um Manipulationsversuchen im Rahmen der Einfüh-
rung des Morbi-RSA durch Upcoding vorzubeugen,
werden dem Bundesversicherungsamt Überprüfungsbe-
fugnisse in Bezug auf die Datenmeldungen der Kranken-
kassen eingeräumt. Entsprechende Sanktionsmöglich-
keiten im Falle eines Rechtsverstoßes werden ebenfalls
eingeführt.
Die Finanzierung ambulanter und stationärer Hospize
ist künftig auf eine sichere gesetzliche Grundlage ge-
stellt. Viele Menschen können dadurch in ihrer letzten
und schwersten Lebensphase noch besser unterstützt
werden.
Auch bei der Vergütung von Ärzten ist es gelungen,
wichtige Transparenzregelungen zu etablieren, die allen
Beteiligten helfen, eine transparente Datenbasis für die
in der letzten Zeit heftig diskutierten Ärztehonorare zu
schaffen.
Mit der Regelung um den „verkürzten Versorgungs-
weg“ für Hilfsmittel wird weiteren Fehlentwicklungen in
der Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und
Vertragsärzten entgegengewirkt. Losgelöst von eigenen
finanziellen Interessen sollen Vertragsärzte unbeein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25361
(A) (C)
(B) (D)
flusst über die Verordnung von Hilfsmitteln entschei-
den und nicht von der Ausstellung einer Verordnung
oder der Steuerung von Versicherten zu bestimmten
Leistungserbringern profitieren können.
Zudem wurde eine Übergangsregelung geschaffen,
die es ermöglicht, dass Abrechnungen von ambulanten
Leistungen über private Rechenstellen erfolgen können,
allerdings nur, bis umfassendere gesetzliche Maßnah-
men zur Sicherung des hohen Datenschutzanspruches
für Sozialdaten geschaffen werden.
Hintergrund für die Notwendigkeit dieser gesetzgebe-
rischen Tätigkeit war eine Entscheidung des Bundesso-
zialgerichts, dass Ärzte und Krankenhäuser Daten von
gesetzlich versicherten Patienten nicht an private Ab-
rechnungsstellen weitergeben dürfen, da diese Weiter-
gabe nach den Bestimmungen über die Gesetzliche
Krankenversicherung nicht zugelassen ist. Allerdings
hatte das Bundessozialgerichts die Abrechnung von
Leistungen noch bis zum 30. Juni dieses Jahres zugelas-
sen und dem Gesetzgeber aufgegeben, eine rechtliche
Klarstellung vorzunehmen.
Mit der jetzt vorliegenden Fassung der §§ 120 und
295 SGB V wird eine zeitlich befristete Rechtsgrundlage
geschaffen, die zum einen die bestehende Abrechnungs-
praxis von Krankenhäusern bei der Notfallbehandlung
von gesetzlich versicherten Patienten gewährleistet; zum
anderen aber die Abrechnung von Selektivverträgen vor
allem im Rahmen des § 73 b SGB V sicherstellt.
Für unsere Fraktion ist von entscheidender Bedeu-
tung, dass bei der Abrechnung von Selektivverträgen
durch private Stellen dasselbe Sicherheitsniveau wie im
System der Kassenärztlichen Vereinigungen gewährleis-
tet wird. Dafür haben wir bei unserem Koalitionspartner
SPD und im BMG umfassend geworben. Aus unserer
Sicht wäre es wünschenswert gewesen, über die jetzt
vorgesehenen Vorschriften hinaus mehr Transparenz,
eine Veröffentlichung der Prüfergebnisse sowie der Ver-
träge über die Beauftragung der privaten Stelle und in
Bezug auf die Rechtsaufsicht auch entsprechende Prü-
fungsbefugnisse durch nachgeordnete Behörden zu ver-
ankern. Dies halten wir – besonders vor dem Hinter-
grund von Datenskandalen in der jüngsten Zeit – auch
weiterhin für notwendig. Die Übergangsregelung wurde
auf Drängen der Union gegenüber der ursprünglich vom
BMG befürworteten Regelung nochmals um ein halbes
Jahr verkürzt.
Bedauerlich ist auch, dass es in der Koalition noch
nicht einmal gelungen ist, Einigkeit über die Notwendig-
keit eines Rezeptsammelverbots in Gewerbebetrieben zu
erreichen, mit dem man den Auswüchsen des Versand-
handels durch Pick-up-Stellen hätte wirksam entgegen-
treten können. Ein eingebrachter Vorschlag des BMG
hätte die Pick-up-Stellen „geadelt“, aber die unkontrol-
lierten Auswüchse des Versandhandels nicht verhindert.
Hinzu kommt, dass unserem eingehenden Wunsch nach
einer Einigung zwischen dem BMG und der ABDA lei-
der nicht entsprochen wurde.
Ebenfalls keine Einigung wurde auch bei der Ände-
rung der Großhandelsspanne erzielt. Angedacht war, das
preisabhängige Vergütungssystem des Großhandels auf
ein preisunabhängiges zuzüglich eines prozentualen Lo-
gistikzuschlages umzustellen. Die vom Koalitionspart-
ner vorgeschlagenen Größenordnungen bezogen auf den
Festzuschlag und den prozentualen Zuschlag waren aus
unserer Sicht nicht geeignet, um eine flächendeckende
Versorgung sicherzustellen. Entscheidend für das Schei-
tern der Einigung über die Großhandelsspanne waren je-
doch kurzfristig seitens des BMG vorgelegte Forderun-
gen, die im Falle einer Direktbelieferung eine
vollständige Weitergabe des Großhandelshöchstzu-
schlags an die Krankenkassen vorgesehen hätten. Diese
vom Koalitionspartner zur Bedingung für die Neufestle-
gung der Großhandelsspanne erklärte Forderung hätte zu
einer faktischen Festlegung des Vertriebswegs geführt.
Ein solcher Markteingriff durch die Festlegung der Arz-
neimitteldistribution konnte von uns nicht mitgetragen
werden.
Zusammenfassend bringt die 15. AMG-Novelle wich-
tige Änderungen und wesentliche Verbesserungen. Si-
cherlich hätte mehr erreicht werden können, wenn die
SPD an der einen oder anderen Stelle etwas flexibler und
ergebnisoffener gewesen wäre.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Der Umfang der heuti-
gen Beschlussvorlage lässt vielleicht die Beratungsfre-
quenz und -intensität erahnen, die die Koalition in dieses
Gesetz investiert hat. Nach meiner Einschätzung hat sich
der Aufwand gelohnt, denn über die ursprünglichen EU-
Vorgaben hinaus ist es uns gelungen, viele wichtige und
sinnvolle Neuerungen im Arzneimittelgesetz, aber auch
in anderen Bereichen umzusetzen.
Besonders wichtig ist aus meiner Sicht, dass über den
Regierungsentwurf hinaus weitere Ausnahmen von der
Zulassungspflicht für besondere Fälle geschaffen wur-
den. Eine Zulassungspflicht besteht nun nicht für Arz-
neimittel, die für Apotheken hergestellt werden, wenn
die Herstellung für die ausreichende Versorgung des
Patienten erforderlich ist und kein zugelassenes Fertig-
arzneimittel zur Verfügung steht. Damit kann die Ver-
sorgung zum Beispiel von Krebs- und Mukoviszidosepa-
tienten in der derzeit bestehenden hohen Qualität
aufrechterhalten werden.
Zu begrüßen ist, dass die Finanzierungsbasis von am-
bulanten und stationären Hospizen gestärkt wird. Die
bisherige Finanzierungsregelung hat vorgesehen, dass
die Krankenkassen die Höhe des Zuschusses für den sta-
tionären Bereich in der Satzung festschreiben mussten.
Dies hat dazu geführt, dass die Versicherten sehr stark
und auch unterschiedlich belastet wurden. Bewohner
von Hospizen befinden sich in ihrer letzten Lebens-
phase. Eine Finanzierung der zuschussfähigen Kosten
über die Krankenkassen ist daher angemessen.
Auch die Finanzierung ambulanter Hospizdienste
wird neu gestaltet, da die bisherige Regelung zu Fehlent-
wicklungen geführt hat. Zum einen waren die Vergütun-
gen in den einzelnen Bundesländern höchst unterschied-
lich. Zum anderen wurden Teile der von den
Krankenkassen zur Verfügung zu stellenden Mittel nicht
abgerufen. Die Neuregelung stellt sicher, dass feste Zu-
25362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
schüsse zu den Personalkosten geleistet werden. Sie
schafft für alle Beteiligten Planungssicherheit und stellt
eine leistungsgerechte Vergütung sicher.
Überfällig ist eine gesetzliche Klarstellung für den
Fall, dass ein Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse
Beitragsrückstände hat. Mit der Neuregelung kann es
keinen Zweifel mehr daran geben, dass lediglich das
Mitglied selbst, nicht aber die Familienangehörigen von
den Leistungen der Krankenkasse ausgeschlossen sind.
Dies gilt ausdrücklich nicht für Vorsorgeangebote, die
auch für säumige Beitragszahler wichtig sind.
Zu begrüßen ist des Weiteren die Verbesserung der
Transparenz bezüglich der Honorare der niedergelasse-
nen Ärzte und der Ausgaben der Krankenkassen für die-
sen Bereich. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass der
Bewertungsausschuss, das Institut des Bewertungsaus-
schusses, das Bundesministerium für Gesundheit sowie
der Deutsche Bundestag zeitnah und sachgerecht infor-
miert werden.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mir in einigen
Bereichen Regelungen gewünscht hätte, für die es in der
Koalition keine Mehrheiten gab. So haben wir leider
keine Regelung finden können für Mitglieder einer pri-
vaten Krankenversicherung, die nicht in der Lage sind,
ihre Beiträge zu zahlen.
Bedauerlich ist auch, dass wir keine Einigung über
eine gesetzliche Regelung der Pick-up-Stellen erzielen
konnten. Die grundsätzlichen Probleme bei einer Ab-
gabe von Arzneimitteln außerhalb von Apotheken blei-
ben damit bestehen. Es gilt nun, in der neuen Legislatur-
periode neue Mehrheiten für eine Lösung zu finden.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Großhandels-
spanne neu gestaltet wird. Durchgesetzt wurde immerhin
der Anspruch des Großhandels auf eine angemessene
und kontinuierliche Belieferung durch die Hersteller.
Ausgenommen sind lediglich die Arzneimittel, die aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht über den
Großhandel ausgeliefert werden können, zum Beispiel
radioaktive Arzneimittel. Eine flächendeckende Versor-
gung mit Arzneimitteln ist damit zumindest sicherge-
stellt.
Die Fortentwicklung des rechtlichen Rahmens im Ge-
sundheitsbereich ist eine fortwährende Aufgabe. Dies
gilt auch für das Arzneimittelgesetz, den ursprünglichen
Regelungsbereich der heutigen Vorlage. In diesem Zu-
sammenhang würde ich mich freuen, wenn wir in der
nächsten Legislaturperiode eine fundierte Debatte über
die Struktur und Arbeitsweise der Ethikkommissionen in
unserem Land führen könnten, für die die verbliebene
Zeit dieser Legislatur nicht mehr ausgereicht hat.
Daniel Bahr (Münster) (FDP): Die 15. AMG-No-
velle hat nur noch in einem kleinen Kernbereich etwas
mit Arzneimitteln zu tun. Auf viele Dinge, die die Koali-
tion unbedingt noch regeln wollte, konnte man sich nicht
einigen. Die Diskussionen innerhalb der Koalition zei-
gen aber auch jedem, dass sie ihr Ende herbeisehnt. Die
AMG-Novelle ist zu einem erneuten Reparaturgesetz für
die verfehlte Gesundheitsreform der Koalition gewor-
den. Regelungen, bei denen die FDP bereits vor Verab-
schiedung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ge-
warnt hatte, dass sie unerwünschte Wirkungen entfalten,
werden nun tatsächlich wieder geändert und bringen Un-
ruhe mit sich. Am besten ist dieses Korrekturchaos bei
der Krankengeldregelung für Selbstständige festzustel-
len. Jeder, der wissen wollte, konnte wissen, dass ohne
Übergangsregelungen gerade Ältere ein Problem be-
kommen würden. Insofern gab es tatsächlich Handlungs-
bedarf. Das, was die Koalition jetzt gemacht hat, ist wie-
derum keine vernünftige Lösung. Entweder hätte man es
dabei belassen sollen, dass Selbstständige das Recht ha-
ben, das Krankengeld in ihrer Krankenkasse – und nicht
in Wahltarifen – oder in einer privaten Krankenversiche-
rung abzusichern, oder man hätte das Krankengeld kon-
sequent ausgliedern und in die private Absicherung ge-
ben müssen, dann aber für alle und dann mit einer
praktikablen Übergangsregelung für ältere Versicherte
und für bereits Erkrankte.
Ein anderes Beispiel für die schlecht gemachte Ge-
sundheitsreform war der Wegfall der Kinderfreibeträge
bei der Berechnung der beitragspflichtigen Einkommen
von freiwillig Versicherten. Dass dies jetzt korrigiert
wird, ist zu begrüßen, wäre bei sorgfältiger Arbeit je-
doch gar nicht erst notwendig gewesen. Bei anderen Pro-
blemen, die mit der letzten Gesundheitsreform zum Teil
bewusst geschaffen worden sind, hat die Koalition nicht
die Kraft gehabt, sie überhaupt zu lösen, mit fatalen Fol-
gen für die betroffenen Bürger. Das gilt zum Beispiel für
die Situation von PKV-versicherten ALG-II-Empfän-
gern, bei denen der Sozialhilfeträger nur den Betrag
übernimmt, den er für einen gesetzlich Versicherten auf-
wendet. Dieser Betrag ist übrigens bei weitem nicht kos-
tendeckend. Die Bundesgesundheitsministerin und an-
dere Politiker von Union und SPD haben das bereits
häufiger kritisiert. Der privat versicherte ALG-II-Emp-
fänger muss zwar nur die halbe Prämie des Basistarifes
bezahlen. Dennoch reicht der Zuschuss nicht aus. Er
bleibt auf einem erheblichen Betrag sitzen. Hierfür gibt
es nur eine vernünftige Lösung: Diese soziale Unterstüt-
zung ist eine Aufgabe des Steuer-/Transfersystems, sie
muss aus Steuermitteln geleistet werden. Das gilt im Üb-
rigen grundsätzlich für die notwendige Umverteilung,
die sinnvollerweise über das Steuer- und Transfersystem
und nicht innerhalb der Versicherungen zu organisieren
ist. Das ist transparenter und gerechter. Genau das ist im
FDP-Modell für eine nachhaltige Krankenversicherung
enthalten.
Sehr viel großzügiger hat sich die Koalition bei denje-
nigen gezeigt, die ihre Beiträge zur Krankenversiche-
rung nicht bezahlen. Ihre mitversicherten Familien-
angehörigen erhalten dennoch zukünftig die komplette
Versorgung. Sie selbst erhalten nicht nur Leistungen, die
zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzu-
stände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft er-
forderlich sind, sondern nun auch noch Früherkennungs-
untersuchungen. Dass bei fehlender Beitragszahlung
keine gravierenden Konsequenzen drohen, hat eine fa-
tale Folge: Der Zusammenhang zwischen Beitrag und
Leistung geht verloren. Ich hoffe nur, dass sich das
Motto „Wer zahlt, ist selber schuld“ nicht verbreitet. Das
hat nichts mit Solidarität zu tun. Mit solchen gesetzten
Fehlanreizen funktioniert keine Solidargemeinschaft in
einer Versicherung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25363
(A) (C)
(B) (D)
Nicht angegangen wird auch das Problem der Ost-
West-Anpassung der zahnärztlichen Vergütung, obwohl
insbesondere Ost-Abgeordnete der Koalition in ihren
Antwortschreiben immer wieder die dringende Notwen-
digkeit einer solchen Maßnahme betonen. Die Koalition
geht auch nicht gegen die Pick-up-Stellen vor, die mit-
tlerweile durch den bekundeten Einstiegswillen von
Tankstellenketten noch einmal eine ganz andere Dimen-
sion erhalten. Vollmundig wurde von CDU und CSU
und SPD eine Lösung versprochen. Einigen konnten sich
die Parteien aber nicht mehr. Der Vorrat an Gemeinsam-
keiten ist in dieser Koalition auf Zentimetermaß ge-
schrumpft. Das Problem ist nur: Die Zeit läuft uns bei
diesen Entwicklungen davon. Lippenbekenntnisse zum
Fremd- und Mehrbesitzverbot sind schön, reichen aber
nicht aus. Gut ins Bild passen auch die Regelungen, die
den Bewertungsausschuss verpflichten, die Auswirkun-
gen seiner Beschlüsse zu analysieren. Wir teilen das
Grundanliegen, eine bessere Datenbasis für die Beurtei-
lung zu erhalten, wie sich eine Honorarreform im Ein-
zelnen auswirkt. Aber: Ein Großteil der Probleme ist
hausgemacht. Hätte die Koalition für ein einfaches und
transparentes Vergütungssystem gesorgt, müsste man
jetzt nicht mit großem Aufwand versuchen, im Nachhi-
nein zu verstehen, was man getan hat. Erlaubt sein muss
auch die Frage, ob es Sinn macht, dass – auch wenn sich
das Ganze irgendwann eingespielt hat – tatsächlich jedes
Vierteljahr vorläufige und endgültige Daten und Be-
richte zur aktuellen Entwicklung der Vergütungs- und
Leistungsstruktur vorzulegen sind. Das Bundesgesund-
heitsministerium wird zum wesentlichen Entscheider. Es
nimmt nicht nur an allen Sitzungen teil. Es hat auch die
Möglichkeit, zusätzliche Informationen und Stellung-
nahmen zu verlangen, Auflagen zu erteilen, Fristen zu
setzen und das Ganze zu beanstanden. Das ist „gesteu-
erte Selbstverwaltung“. Eine vergleichbare Entwicklung
gibt es bei den Geschehnissen rund um den morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich. Die FDP hat frühzei-
tig und mehrfach darauf hingewiesen, dass die Konstruk-
tion manipulationsanfällig ist. Unsere Befürchtungen
haben sich voll bestätigt: Es ist manipuliert worden.
Das stellt nun auch die Koalition fest. Statt aber den
Finanzausgleich zu reformieren, werden die Kontroll-
und Sanktionsbefugnisse des Bundesversicherungsam-
tes ausgeweitet.
Bei dem Kapitel „Unzulässige Zusammenarbeit zwi-
schen Leistungserbringern und Vertragsärzten“ be-
fürchte ich sehr, dass das Kind mit dem Bade ausge-
schüttet worden ist. Es wäre sinnvoll gewesen, dieses
Thema in Ruhe anzugehen und nicht über einen in letzter
Minute nachgeschobenen Änderungsantrag, der so auch
nicht Gegenstand der Anhörung im Gesundheitsaus-
schuss war, Fakten zu schaffen, die zu Schwierigkeiten
gerade in den Bereichen führen können, die uns allen am
Herzen liegen, nämlich einer optimierten Anschlussver-
sorgung nach Krankenhausaufenthalten und einer funk-
tionierenden integrierten Versorgung. Klar ist, dass wir
ein gemeinsames Ziel verfolgen: zu verhindern, dass
Entscheidungen nicht mehr davon abhängen, was für
den Patienten gut und sinnvoll ist, sondern vom Geld-
beutel des Veranlassers. Das allerdings, was jetzt vorge-
legt worden ist, geht darüber deutlich hinaus.
Nun aber zu dem eigentlichen Anlass für dieses Ge-
setzgebungsverfahren: zum Arzneimittelbereich. Ich be-
grüße es sehr, dass die Koalition einige Anregungen des
Bundesrates und aus der Anhörung aufgegriffen hat. Da-
durch sind einige Regelungen zum Teil deutlich verbes-
sert worden. Positiv ist, dass es nun auch eine Ausnahme
von der Zulassungspflicht für Apotheken gibt, die in me-
dizinisch begründeten besonderen Bedarfsfällen Arznei-
mittel herstellen und nicht nur für Zytostatika-Zuberei-
tungen oder die parenterale Ernährung. Das ist eine gute
Nachricht für Schwerstkranke. Positiv zu bewerten ist
auch, dass es im Hinblick auf homöopathische Arznei-
mittel im Verfahren Verbesserungen zum Beispiel bei
den Änderungsanzeigen und im Hinblick auf die Über-
gangsfrist bei Erlöschen der Zulassung gegeben hat. Gut
ist ebenfalls die Gleichstellung von öffentlichen und
Krankenhausapotheken im Hinblick auf Zubereitungen
aus Fertigarzneimitteln sowie die Klarstellung, dass sich
die Arbeit der Apotheker auch dann in den Preisen wider-
spiegelt, wenn Apotheke und Krankenkassen sich nicht
auf Preise hierüber verständigt haben. Was aber nicht ge-
lungen ist, ist die Lösung für den pharmazeutischen Groß-
handel, der im Rahmen der Arzneimittelversorgung eine
ganz wichtige Rolle spielt. Die Großhandelsspanne hätte
im Rahmen der Arzneimittelpreisverordnung entspre-
chend geregelt werden müssen, sodass der Großhandel
seine Aufgabe erfüllen kann. Die Einbeziehung in den
Sicherstellungsauftrag ist aber keine wirkliche Lösung
und bleibt ordnungspolitisch bedenklich.
Frank Spieth (DIE LINKE): Mit diesem Gesetz zum
Arzneimittelrecht wird der Versuch unternommen, einen
Schlussstein auf die „Dauerbaustelle Gesundheitssys-
tem“ zu setzen. Um gravierende Defizite Ihrer Gesund-
heitspolitik der letzten Jahre auszugleichen, werden ganz
viele Themen in einem Rutsch mit erledigt, die es ver-
dient hätten, eigenständig behandelt zu werden. Dieses
sogenannte Omnibus- oder Huckepack-Verfahren hinter-
lässt einen schalen Beigeschmack, weil ich annehme,
dass nur wenige Abgeordnete bei der Vielzahl der hier
zu entscheidenden Themen noch einen Überblick haben.
Das Gesetz enthält durchaus positive Elemente. Des-
halb haben wir auch einigen Punkten zugestimmt, bei-
spielsweise der Stärkung und besseren Finanzierung für
Hospize und für die Versorgung Sterbenskranker sowie
der längst überfälligen Regelung zum Leistungsanspruch
für säumige Beitragszahler. Mit unseren Anfragen und
Debattenbeiträgen haben wir dazu beigetragen, dass Sie
sich bewegt haben!
In diesem Gesetz hätten Sie allerdings viele weitere
Sachverhalte regeln müssen, aber dazu waren Sie entwe-
der nicht bereit oder sind nur halbherzig herangegangen.
Für Soloselbständige und insbesondere für viele freie
Journalisten oder Künstler haben Sie mit einem schlecht
gemachten Gesetz den Krankengeldanspruch ab dem
1. Januar 2009 gestrichen. Stattdessen haben Sie Wahlta-
rife über eine Zusatzversicherung vorgesehen. Dies war
für alle eine Katastrophe und funktionierte nicht. Das ha-
ben Sie zwar eingesehen, aber Ihre Änderungen sind
wieder einmal ungenügend: Sie helfen insbesondere de-
nen nicht, die einen Krankengeldanspruch ab dem
25364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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1. Krankheitstag brauchen. Sie hätten diesen Menschen
helfen können, wenn Sie zur alten gesetzlichen Rege-
lung zurückgekehrt wären, die bis zum 31. Dezember
2008 galt. Selbst in der Bismarck’schen Gesetzgebung
vor 125 Jahren gab es bessere Regelungen als jetzt! Die
Forderungen von Gewerkschaften, Künstler- und Jour-
nalistenverbänden werden von Ihnen einfach vom Tisch
gewischt. Wie ignorant sind Sie eigentlich?
Und der sogenannte verkürzte Versorgungsweg, da-
mit Patienten zum Beispiel möglichst schnell an ein Hör-
gerät kommen, war vielleicht gut gemeint, doch hier
wird der Korruption Tür und Tor geöffnet. Denn wenn
sich Ärzte bei der Behandlung nicht ausschließlich an
der medizinischen Notwendigkeit orientieren, sondern je
nach Verordnungsverhalten finanziell selbst profitieren,
dann geht das zulasten der Versorgungsqualität. Und au-
ßerdem kostet es auch die Versichertengemeinschaft zu-
sätzliches Geld. Sie versuchen zwar, diese Tür mit dem
vorliegenden Gesetz zu schließen, doch wir haben Zwei-
fel, ob das so tatsächlich gelingt. Nur ein vollständiges
Verbot dieses Weges kann da helfen!
Mit einigen Änderungsanträgen versuchen Sie zu-
dem, schwere Bedenken von Datenschützern und auch
des Bundessozialgerichts zu zerstreuen. Wenn sensible
Gesundheitsdaten im Rahmen der Hausarztverträge oder
im Rahmen der Notfallbehandlung im Krankenhaus an
externe Rechenzentren verlagert werden, ist das hochbri-
sant. Sie nehmen jetzt sehr zweifelhafte Regelungen vor
und verschieben eine saubere Lösung auf das nächste
Jahr. Und gleichzeitig erklären Sie, dass alle Probleme
und Bauchschmerzen, die Sie selbst hinsichtlich des Da-
tenschutzes haben, geheilt wären. Widersprüchlicher
geht es kaum. Wir sind empört darüber, dass Sie nicht
bereit sind, unseren Antrag zu unterstützen, Kranken-
hausinfektionen mit multiresistenten Keimen wirksam
zu bekämpfen. Dadurch sterben weiterhin jährlich bis zu
40 000 Menschen in deutschen Krankenhäusern.
Wir sind empört darüber, dass Sie unseren Antrag,
dass die Kosten für die künstliche Befruchtung wieder
voll übernommen werden, ablehnen. Zeugungsunfähige
Paare müssen deshalb vier- und fünfstellige Beträge aus-
geben, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Das können
nur gut Verdienende.
Wir sind empört darüber, dass Selbstständige, die ar-
beitslos werden, durch eine Gesetzeslücke von ihrem
Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 351 Euro etwa 155 Euro
an ihre private Krankenversicherung zahlen müssen. Da-
mit bleiben weniger als 200 Euro zum Leben. Im Monat,
nicht in der Woche! Und Sie stecken bei diesem Thema
seit Monaten den Kopf in den Sand.
Wir sind auch empört darüber, dass sich die Koalition
nicht einigen konnte, den Versandhandel mit verschrei-
bungspflichtigen Medikamenten und die sogenannten
Pick-up-Stellen zu verbieten. Für die Patienten wäre das
wegen der Arzneimittelsicherheit und der Erreichbarkeit
von Apotheken sehr wünschenswert.
Und wir sind empört, dass Sie vor gut einem halben
Jahr – als Wahlkampfgeschenk für Bayern – das Verhand-
lungsmonopol des Hausärzteverbandes, siehe § 73 b
SGB V, eingeführt haben. Alle Fachleute sagen, dass
diese Regelung die Patientenversorgung nicht verbes-
sert, aber höhere Kosten für die Versichertengemein-
schaft schafft. Der gesunde Menschenverstand sagt: Die-
ser Paragraf muss weg! Doch Sie nutzen diese Chance
dazu nicht.
Ihr Gesetz hat viele Mängel. Es gibt aber auch sinn-
volle Passagen. Deshalb werden wir nicht ablehnen, son-
dern uns enthalten.
Sie haben in dieser Wahlperiode eine Vielzahl an Ge-
setzen zum Thema Gesundheit vorgelegt. Ein grundle-
gendes Problem haben Sie nicht angepackt: Nach wie
vor haben wir eine Zwei-Klassen-Medizin, und von ei-
ner gerechten Finanzierung des Gesundheitssystems
kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Mit Ihrer Po-
litik ist die Finanzierung noch ungerechter, unsozialer
und unsolidarischer geworden.
Wir werden nicht ruhen und auch in der nächsten
Wahlperiode eine solidarische Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung einfordern.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Koalition peitscht heute Nacht ein Sammelsurium an ge-
sundheits- und pflegepolitischen Themen durch das Par-
lament. Das Verfahren war an Unübersichtlichkeit kaum
zu übertreffen. Gerade mal zwölf Stunden vor den ab-
schließenden Beratungen im Gesundheitsausschuss er-
hielten wir die letzten Änderungen der Koalition. Sie be-
inhalteten völlig neue Regelungen oder die Änderung
der bereits geänderten Änderungsanträge. Beides zeugt
davon, dass die Koalition ohne einen gemeinsamen
Kompass unterwegs ist. Nicht das Arzneimittelgesetz,
sondern die Nachbesserungen an der missglückten Ge-
sundheitsreform standen im Fokus der Debatten. Aber
auch hier taten sich Abgründe auf.
Die Koalition ist nicht in der Lage, politische Fehlent-
scheidungen konsequent zu korrigieren. Die seit 1. Ja-
nuar 2009 geltenden Krankengeldwahltarife für Selbst-
ständige, unstetig und kurzfristig Beschäftigte sind ge-
scheitert. Die Koalition stellt sich wider besseres Wissen
gegen uns Grüne, den Bundesrat sowie die Arbeitneh-
mer- und Arbeitgeberverbände. Statt, wie von uns gefor-
dert, zu systematisch konsequenten und erprobten Rege-
lungen zurückzukehren, werden die Krankenkassen
gezwungen, einen zusätzlichen, auf eine neue Berech-
nungsbasis gestellten Wahltarif anzubieten. Dieser ist
gegenüber den privaten Versicherungen nicht konkur-
renzfähig – es werden zum zweiten Mal Versichertengel-
der unnötig verschwendet.
Die Koalition feiert sich dafür, dass seit 2009 alle
Bürgerinnen und Bürger eine Krankenversicherung ab-
schließen müssen. Doch sie duckt sich vor dem Problem,
dass privatversicherte ALG-II- oder Sozialhilfeempfän-
gerinnen und -empfänger die Beiträge nicht bezahlen
können. Wer, wie die Union, gegen eine solidarische
Bürgerversicherung agiert, müsste sich wenigstens für
hilfebedürftige Privatversicherte einsetzen: Fehlanzeige.
Fehlanzeige auch bei der Festlegung von Qualitätskri-
terien für Pick-up-Stellen des Arzneimittelversands.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25365
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Auch hier ist die Koalition zerstritten, sie kann oder will
sich nicht einigen. Dabei bleibt der vorher groß ange-
kündigte Schutz der Patienten und Verbraucherinnen auf
der Strecke.
Die Anforderungen an die Pflegeberufe steigen. Wir
führen sowohl in der Fachwelt als auch in der Politik
Debatten über die Weiterentwicklung der Kranken- und
Altenpflegeausbildung. Diskutiert wird über die Ausbil-
dung an Hochschulen, die in vielen EU-Staaten bereits
Praxis ist. Und was treibt die Koalition? Das Gegenteil.
Ihre Devise lautet Dequalifikation. Die Öffnung der
Kranken- und Altenpflegeausbildung für Hauptschüle-
rinnen und Hauptschüler widerspricht den steigenden
Anforderungen an die Pflegeberufe. Wir brauchen statt-
dessen eine grundlegende Reform der Pflegeausbildung.
Dazu kein Wort der Bundesregierung in diesem Gesetz.
Wir müssen hin zu einem System von modularen, auf-
einander aufbauenden Ausbildungen, das allen eine
Chance bietet, mit ihrer Qualifikation in dieses Arbeits-
feld einzusteigen und sich weiterzuqualifizieren.
Doch zum eigentlichen Schwerpunkt des Gesetzes:
dem Arzneimittelbereich. Statt auf einen fairen Wettbe-
werb verschiedener Vertriebswege von den Herstellern
zu den Apotheken zu setzen, zementiert die Koalition
Strukturen. In letzter Minute hat die Koalition auf die
Umstellung der Großhandelsspanne, die einen fairen
Wettbewerb um die Vertriebskosten zur Konsequenz ge-
habt hätte, verzichtet. Übrig bleibt nun ein Torso: die
Lieferverpflichtung an den Großhandel, der keinem der
Beteiligten wirklich weiterhilft. Die Koalition kann sich
bei Details nicht einigen und verzichtet dann lieber auf
sinnvolle und grundsätzliche Veränderungen.
Für uns Grüne ist jede Arzneimittelgesetzesnovelle
auch damit verbunden, Verschlechterungen für Arznei-
mittel der besonderen Therapierichtungen zu verhindern.
Dies ist uns dieses Mal teilweise gelungen. Die Koali-
tion hat unsere Vorschläge zu den pflanzlichen und ho-
möopathischen Arzneimitteln übernommen. Quer stellte
sie sich bei der Definition von anthroposophischen Arz-
neimitteln und der Behandlung mit sogenannten auto-
logen Vakzinen. Dabei handelt es sich nicht – wie uns
immer wieder vorgeworfen wird – um eine grüne Spiel-
wiese, wie allein schon die Unterstützung des Bundes-
rats und des Hartmannbundes für den letzten Vorschlag
zeigt.
An zwei weiteren Punkten ist die Koalition unseren
Änderungsvorschlägen gefolgt: bei der zusätzlichen Ver-
besserung der Finanzierung stationärer Hospize und bei
der ambulanten Versorgung psychisch kranker Kinder. In
diesen Bereichen erreichen wir eine echte Verbesserung
für Menschen, deren Situation – sei es die psychische
Erkrankung oder das Sterben – wir gesellschaftlich lange
verdrängt haben. Das Gesetz enthält einige Fehlentschei-
dungen, und es klaffen Lücken. Nur wenige Punkte kön-
nen wir Grünen mit vollem Herzen unterstützen. Aber es
geht auch um eine Vielzahl von kleinen Regelungen, mit
denen EU-Recht in nationale Regelungen übernommen
wird. Daher werden wir Bündnisgrünen uns bei den Ab-
stimmungen enthalten.
Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Gesundheit: Im Rahmen eines intensi-
ven parlamentarischen Verfahrens hat der Ausschuss für
Gesundheit den Regierungsentwurf zur Änderung arz-
neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften beraten
und um wichtige Regelungsbereiche erweitert. Mit dem
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf werden mehr als
20 Gesetze und Rechtsvorschriften geändert.
Zum Arzneimittelgesetz. Der Regierungsentwurf ist
im Hinblick auf den AMG-Teil im Kern unverändert ge-
blieben. Er bringt weitere Verbesserungen zur Arznei-
mittelsicherheit. Mit den Ergänzungen zum Versor-
gungsauftrag des Großhandels werden die Strukturen für
eine qualitativ gute Arzneimittelversorgung erhalten. Für
den Bereich homöopathischer und pflanzlicher Arznei-
mittel werden Erleichterungen geschaffen. Darüber hi-
naus wurden in den Ausschussberatungen zahlreiche
wichtige Änderungen insbesondere im Bereich des
SGB V vorgenommen.
Zu den Rechenzentren. Zum Beispiel haben wir Re-
gelungen zur Einbeziehung von Rechenzentren bei der
Abrechnung von ambulanten Notfallbehandlungen im
Krankenhaus und bei der Abrechnung von ärztlichen
Leistungen im Rahmen der Selektivverträge vorgese-
hen, um diese Abrechnungspraxis über die vom Bun-
dessozialgericht gewährte Übergangsfrist hinaus zu er-
möglichen und datenschutzrechtlich abzusichern. Der
Bundesdatenschutzbeauftragte hat gestern noch einmal
bestätigt, dass die von uns gefundene Regelung den da-
tenschutzrechtlichen Anforderungen entspricht. Die Re-
gelungen sind befristet bis zum 1. Juli 2010. Bis dahin
sind im Hinblick auf die Vorgaben des Bundessozialge-
richts umfassendere gesetzliche Maßnahmen zu prüfen
und gegebenenfalls zu erlassen.
Zur Transparenz der Ärztehonorare. Sie kennen alle
die Diskussionen der vergangenen Monate zur Ärztever-
gütung und die Forderung nach mehr Transparenz in die-
sem Bereich. Die Koalition hat dies aufgegriffen. Hier-
nach muss künftig der Bewertungsausschuss dem BMG
vierteljährlich Daten zur Entwicklung der Ärztevergü-
tung in den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen
übermitteln. Ziel der Neuregelung ist es, so bald wie
möglich aussagekräftige Informationen zu den Auswir-
kungen der Vergütungsreform auf die Arzthonorare zum
Beispiel im ersten Quartal 2009 zu erhalten.
Wir wollten eine Versachlichung der Honorardebatte.
Deshalb soll es zu einer sachgerechten und zeitnahen In-
formation nicht zuletzt auch des Deutschen Bundestages
kommen.
Zur Sicherung der Datengrundlage für den RSA. Mit
dem Gesetzentwurf werden ferner wichtige Regelungen
zur Sicherung der Datengrundlagen für den Risikostruk-
turausgleich geschaffen. Damit wird möglichem Miss-
brauch bei den Datenerhebungen durch Krankenkassen
entgegengewirkt. Das Bundesversicherungsamt erhält
die Kompetenz, die gemeldeten Daten auf ihre Verein-
barkeit mit bestehenden datenrechtlichen Erhebungsvor-
schriften zu überprüfen. Es kann sowohl Auffälligkeits-
prüfungen durchführen als auch die Krankenkassen im
Einzelfall überprüfen. Das BVA trifft zum Abschluss der
Prüfungen die Feststellung, ob eine Krankenkasse die
Datenerhebungs- und -übermittlungsvorschriften einge-
25366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
halten hat. Ist ein Rechtsverstoß festgestellt, wird ein
Korrekturbetrag ermittelt, um den die Zuweisungen für
diese Krankenkasse gekürzt werden.
Zur Finanzierung der Hospize. Besonders am Herzen
liegen mir Änderungen, die wir zur Finanzierung ambu-
lanter und stationärer Hospize vorgenommen haben. Bei
den stationären Hospizen übernimmt die gesetzliche
Krankenversicherung die zuschussfähigen Kosten unter
Anrechnung der Leistungen der Pflegeversicherung
künftig in vollem Umfang. Durch eine Anhebung des
Mindestzuschusses von 6 auf 7 Prozent der monatlichen
Bezugsgröße wird zudem sichergestellt, dass alle statio-
nären Hospize einen auskömmlichen Zuschuss erhalten.
Bei den ambulanten Hospizen werden künftig feste Zu-
schüsse zu den Personalkosten geleistet. Damit entste-
hen bundesweit gleiche Finanzierungsbedingungen.
Zum verkürzten Versorgungsweg. Schließlich werden
die Bedingungen, unter denen der „verkürzte Versor-
gungsweg“, also die Hilfsmittelversorgung in der Arzt-
praxis, weiterhin zulässig sein soll, präzisiert und restrik-
tiver gefasst. Die Änderungen sind erforderlich, weil die
Umsetzung der bisher geltenden Regelungen darauf hin-
deuten, dass ansonsten das damit verfolgte Ziel – die
wirksame Eindämmung fragwürdiger Praktiken in der
Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Ver-
tragsärzten im Hilfsmittelbereich – nicht erreicht wird.
Mit der im Ausschuss verabschiedeten Regelung haben
wir einen guten Kompromiss zwischen der Vermeidung
von Missbrauch einerseits und der Ermöglichung wett-
bewerberlicher Verträge andererseits gefunden.
Zum Versandhandel. Der Versandhandel mit Arznei-
mitteln war Begleitmusik während des gesamten bisheri-
gen Gesetzgebungsverfahrens. Wie so vieles hat sich
auch der Versandhandel weiterentwickelt. Neben dem
Direktversand sind neue Formen mit Bestell- und Abhol-
service entstanden. Wir wollen, dass die Verbraucherin-
nen und Verbraucher auch bei den neuen Formen einen
hohen Gesundheitsschutz haben. Deshalb hatten wir An-
forderungen zur Qualität und Sicherheit für die Bestel-
lung wie für die Abholung von Arzneimitteln vorgese-
hen. Darauf konnten wir uns aber leider nicht einigen.
Unerledigt geblieben ist auch das Thema Großhan-
delszuschlag. Zwar ist der Sicherstellungsauftrag des
Großhandels jetzt geregelt, die dazu notwendigen Ände-
rungen bei der Vergütung des Arzneimittelgroßhandels
waren jedoch zum Schluss der Beratungen nicht mehr
konsensfähig.
Zur Änderung des Krankenpflege- und des Altenpfle-
gegesetzes. Ansprechen möchte ich schließlich einen im
Rahmen des Gesetzgebungsvorhabens intensiv disku-
tierten Aspekt: die Änderung des Kranken- und schließ-
lich auch des Altenpflegegesetzes. Deutschland hat der-
zeit eine breite Basis hervorragend ausgebildeter
Gesundheits- und Kranken- und Altenpflegerinnen und
-pfleger. Dadurch nimmt Deutschland im internationalen
Vergleich in der Pflege einen Spitzenplatz ein, weil ge-
währleistet ist, dass der ganz überwiegende Teil der Pfle-
geleistungen durch Fachkräfte durchgeführt wird. Dieses
Qualitätsmerkmal wollen wir auf Dauer erhalten. Im
Hinblick auf die demografische Entwicklung müssen wir
aber frühzeitig sicherstellen, dass auf Dauer eine ausrei-
chende Anzahl von Bewerberinnen und Bewerbern für
die Ausbildungen zur Verfügung stehen. Deshalb erwei-
tern wir den Kreis der potenziellen Bewerberinnen und
Bewerber auf alle Personen, die nach zehn Pflichtschul-
jahren einen Abschluss erreichen. Die Voraussetzungen
der EU-Richtlinie sind damit erfüllt. Die Qualität der
Ausbildung bleibt erhalten. Weder an der Ausbildung
selbst noch an der staatlichen Prüfung wird etwas geän-
dert. Die Regelung gilt zunächst für acht Jahre. Anhand
eines Berichtes, den die Bundesregierung über die Er-
fahrungen mit der Neuregelung abgeben muss, wird der
Gesetzgeber zu entscheiden haben, ob die Regelung von
Dauer sein soll.
Die Koalition hat viel Arbeit und Sorgfalt für die
Ausgestaltung der einzelnen Regelungen aufgewandt.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Anlage 32
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Potenziale von Migranten für den
internationalen Tourismus nutzen
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– Barrierefreien Tourismus weiter fördern
– Barrierefreier Tourismus für alle in
Deutschland
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– Bauernhofurlaub und Landtourismus
weiter fördern – Ländliche Räume nach-
haltig stärken
– Landurlaub und Urlaub auf dem Bauern-
hof als Chance für einen umweltfreundli-
chen Tourismus in Deutschland nutzen
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Potenziale von Tourismus und
Sport erkennen und fördern
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Reformationsjubiläum 2017 als
welthistorisches Ereignis würdigen
(Tagesordnungspunkt 27 a bis e)
Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): Mit dem
vorliegenden Antrag soll das Reformationsjubiläum im
Jahr 2017 als welthistorisches Ereignis gewürdigt und
die religiöse, kulturgeschichtliche und auch touristische
Bedeutung hervorgehoben werden.
Seit dem offiziellen Beginn der Lutherdekade am
21. September 2008 werden die historischen Entwick-
lungen der Reformation und deren kulturelle Auswir-
kungen in Form von Veranstaltungen und touristischen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25367
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Angeboten aufgegriffen und dargestellt. Zwischenzeit-
lich wurde die Lutherdekade durch einzelne Themen-
jahre strukturiert und profiliert. Das Kuratorium zur
Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017, dem
hochrangige Vertreter von Bund, Ländern und Vertretern
der Evangelischen Kirche Deutschlands angehören, hat
vor wenigen Wochen die Jahresthemen für den Zeitraum
2010 bis 2017 festgelegt. Nach dem Wichernjahr 2008
(200. Geburtstag Johann Hinrich Wicherns) unter dem
Motto „Reformation und Diakonie“ und dem Calvinjahr
2009 (500. Geburtstag Johannes Calvins) unter dem
Motto „Reformation und Bekenntnis“ kann die Luther-
dekade auf dem Weg zum großen Jubiläumsjahr 2017 er-
neut an historische Gedenkjahre anknüpfen.
Das Jahr 2010 steht unter dem Titel „Reformation und
Bildung“ (Philipp-Melanchthon-Jahr/450. Todestag),
2011 steht ganz im Zeichen des mündigen Christenmen-
schen als zentrales Thema der Reformation mit dem Ti-
tel „Reformation und Freiheit“, es folgen 2012 „Refor-
mation und Musik“ (800 Jahre Thomanerchor Leipzig)
sowie 2013 „Reformation und Toleranz“. Es folgen „Re-
formation und Politik“ im Jahr 2014, denn die Reforma-
tion gilt mit ihrer Unterscheidung zwischen Kirche und
Politik als zentrale Etappe der Ausbildung unserer mo-
dernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfrei-
heit. Das Jahr 2015 steht ganz im Zeichen der Kunst in
der Reformationszeit mit dem Titel „Reformation – Bild
und Bibel“. Das Sichtbarmachen der reformatorischen
Weltgemeinschaft steht im Jahr 2016 unter dem Motto
„Reformation und die Eine-Welt“.
Im Jahr 2017 jährt sich dann am Tag vor „Allerheili-
gen“, am 31. Oktober, der Thesenanschlag Martin
Luthers an der Schlosskirche zu Wittenberg zum 500. Mal.
Mit diesen inhaltlichen Schwerpunkten wird dem An-
liegen des Kuratoriums zur Vorbereitung des Reforma-
tionsjubiläums 2017 entsprochen, die Jahresthemen so
offen zu gestalten, dass kirchliche und staatliche Akteure
inhaltliche Bezüge erarbeiten und kommunizieren kön-
nen. Zudem bietet das Konzept der Themenjahre die
Chance, die geistliche und ökumenische sowie globale
Dimension der Lutherdekade ebenso zu gestalten wie die
kulturhistorisch-touristischen Erwartungen umzusetzen.
Alle relevanten Veranstaltungen der Lutherdekade
wurden von der Geschäftsstelle „Luther 2017“ gesam-
melt und auf der Website eingestellt. Für die Jahre 2009
und 2010 sind dies bereits mehr als 250 Veranstaltungen.
Darüber hinaus sind die geplanten Veranstaltungen und
Projekte der Lutherdekade für die Jahre 2011 bis 2017
ebenfalls über Internet abrufbar.
Die Geschäftsstelle in Wittenberg hat dabei die Funk-
tion eines Organisators inne und bringt auch regionale
Traditionsvereine und private Initiativen der einheimi-
schen Bevölkerung zusammen. Ziel ist es daher, alle
Bürger – auch nicht religiös gebundene – in die Refor-
mationsfeierlichkeiten einzubeziehen. Die Dekade muss
sich daher als Chance verstehen, sich nicht nur Bil-
dungsbürgern, sondern einer breiten Öffentlichkeit zu-
gänglich zu machen.
Angesichts dieser vielfältigen Aktivitäten im Zusam-
menhang mit der Lutherdekade, dem eigentlichen Refor-
mationsjubiläum, den Denkmalschutzmaßnahmen und
den vielfältigen Vermarktungen liegt es natürlich auf der
Hand, dass die involvierten Bundesländer, insbesondere
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, diese damit
verbundenen finanziellen Belastungen nicht alleine
schultern können. Vor diesem Hintergrund haben nun die
Koalitionsfraktionen den vorliegenden Antrag im Deut-
schen Bundestag eingebracht.
Die diesen Antrag stellenden Fraktionen fordern die
Bundesregierung auf, sie möge die betroffenen Bundes-
länder und Kommunen sowohl bei Verkehrsinfrastruktur-
investitionen als auch bei der Kultur-, Denkmal- und
Städtebauförderung unterstützen. Insbesondere soll
überprüft werden, inwieweit die Förderung der „Stiftung
Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt“ und der „Wart-
burg-Stiftung“ ausgebaut werden kann. In diesen Zu-
sammenhang fällt auch die Idee einer einheitlichen,
überregionalen Ausschilderung.
Ebenso möge die Bundesregierung verstärkt die
Deutsche Zentrale für Tourismus – DZT – unterstützen,
da diese eine ganz entscheidende Rolle bei der professio-
nellen Vermarktung der Lutherdekade in allen relevanten
Märkten im In- und Ausland übernimmt. Im Arbeitskreis
Auslandsmarketing der DZT werden alle Projekte zur re-
gionalen Umsetzung der Jahresthemen beraten. Diesem
begleitenden Arbeitskreis der DZT zur Lutherdekade ge-
hören unter anderem Vertreter der Lutherstädte, die Ge-
schäftsstellen Luther 2017 und der EKD sowie Reisever-
anstalter an. Die Wort-Bildmarke „Luther 2017 –
500 Jahre Reformation“ war das marktspezifische DZT-
Jahresthema 2008 bei der internationalen Vermarktung
des Reiselandes Deutschland. Dabei setzt die DZT den
Fokus auf Pressearbeit und Internet zur Bewerbung des
Reformationsthemas weltweit, das eingebettet ist in die
Rubrik „Spirituelles Reisen“. Spiritueller Tourismus als
einer der Ursprünge des Reisens überhaupt erfreute sich
in den vergangenen Jahren zunehmender Beliebtheit,
denn immer mehr Menschen interessieren sich für Besu-
che alter, christlicher Pilgerziele. Bereits zum zweiten
Mal war „Luther 2017“ über die DZT auf der Germany
Travel Mart – GTM –, der größten Verkaufsveranstal-
tung für das Deutschland-Geschäft, nach München 2008
in diesem Jahr in Rostock vertreten. Ebenfalls werden
seit dem Vorjahr alle geplanten Veranstaltungen der
Lutherdekade in Deutschland auf der aktualisierten
DZT-Eventdatenbank eingestellt. Somit vermarktet die
Deutsche Zentrale für Tourismus diesen herausragenden
kulturtouristischen Höhepunkt erfolgreich im Ausland
und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, das Kultur-
image Deutschlands in der Welt zu stärken.
Mit insgesamt 26,35 Millionen Euro Bundesmitteln
für die Auslandsvermarktung leistet die DZT unschätz-
bare Hilfe bei der erfolgreichen Bewerbung unter ande-
rem von Kulturtouristen aus dem Ausland. Somit ergibt
sich zwangsläufig die im Fraktionsantrag formulierte
Forderung einer intensiven Unterstützung bei der Ver-
marktung der Lutherdekade als bedeutsames Ereignis
des Kultur- und Tourismusstandortes Deutschland durch
25368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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die DZT, deutsche Kulturinstitute und diplomatische
Vertretungen an die Bundesregierung.
Als eine weitere Forderung des Antrages an die Bun-
desregierung ergibt sich die Berücksichtigung barriere-
freier Standards bei allen baulichen Maßnahmen. Vor
dem Hintergrund, dass eine Vielzahl der internationalen
Gäste insbesondere aus den USA und Skandinavien be-
reits ein sehr hohes Maß an Barrierefreiheit gewohnt
sind und diese Standards selbstverständlich vorausset-
zen, kommt dieser Anforderung eine zentrale Bedeutung
zu. Dabei geht es nicht nur um rollstuhlgerechte Infra-
strukturmaßnahmen, sondern beispielsweise auch um
blindengerechte Ausschilderungen oder das Angebot
von Gebärdendolmetschern bei Stadtführungen.
Die Forderung des Antrages nach einer Verbesserung
der Servicequalität im Hinblick auf die Kompetenz und
Freundlichkeit des Personals ist mir persönlich ein gro-
ßes Anliegen. Dem immer wieder propagierten Vorurteil
„Servicewüste Deutschland“ gilt es hier mit persönlicher
Motivation, Fremdsprachen- und Themenkenntnissen
entgegenzuwirken. In enger Zusammenarbeit mit der
Hochschule Harz, dem Tourismusverband Sachsen-An-
halt und den Industrie- und Handelskammern Magde-
burg und Halle-Dessau engagiere ich mich seit drei Jah-
ren intensiv für eine bessere Qualifizierung der
Auszubildenden. In der kommenden Woche nehme ich
an der Eröffnungsveranstaltung des IHK-Bildungszen-
trums Dessau mit dem Titel „Auf dem Lutherweg zu
touristischem Erfolg“ teil. Ziele des Projektes sind die
Qualifizierung zum „Gästeführer Lutherweg“ und die
Sensibilisierung touristischer Akteure am Lutherweg für
die wirtschaftlichen Potenziale der Lutherdekade.
Doch lassen Sie mich noch einen Blick in die Zukunft
werfen. Die vielfältigen Veranstaltungen während der
Lutherdekade sollten kein zeitlich begrenztes Projekt
sein, welches seinen Höhepunkt und Endpunkt der Fei-
erlichkeiten im Jahr 2017 erreicht hat. Vielmehr ist diese
Dekade ein Teil der fast 40 Jahre lang andauernden
Periode von 500-Jahr-Jubiläen, die an Luthers Zeit auf
der Wartburg erinnern (2021/2022), an die deutsche Bi-
belübersetzung (2022), an Luthers Hochzeit (2025) bis
hin zu seinem sich zum 500. Mal jährenden Todestag im
Jahr 2046. Entscheidend für alle Akteure ist es deshalb,
über die Dekade hinaus langfristig ein touristisch inte-
ressantes Gesamtimage des „Tourismus-Zugpferdes
Luther“ zu etablieren und ein konstantes touristisches
Angebot aufzubauen. Wir sollten über die Dekade hi-
naus noch 30 Jahre weiter in die Zukunft blicken!
Abschließend möchte ich allen Politikern ein Luther-
zitat mit auf den Weg geben, welches eine gute Predigt
und eine zündende Rede charakterisiert: „Tritt frisch
auf! Tu’s Maul auf! Hör bald auf!“ Diesen guten Rat
Martin Luthers sollten wir Volksvertreter beherzigen!
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Die heutige
Debatte ist überschrieben mit dem Titel: „Unsere Verant-
wortung für die ländlichen Räume“. Welche Bedeutung
der ländliche Raum für unsere Gesellschaft hat, wird
deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Mehrheit
der Deutschen in ländlichen Regionen lebt und arbeitet.
70 Prozent der Menschen in unserem Land leben außer-
halb städtischer Ballungszentren. Auch von den rund
3,5 Millionen Wirtschaftsbetrieben in unserem Land ist
der überwiegende Teil in Gemeinden und mittleren Städ-
ten in der Fläche angesiedelt. Gegenüber den städtischen
Regionen haben die ländlichen Räume bislang jedoch
eine stiefmütterliche Behandlung erfahren, wenn es darum
ging, gleiche Standards umzusetzen. Ein Umdenken ist
damit mehr als angebracht. Als direkt gewählte Abgeord-
nete der überaus ländlich geprägten Region der Westpfalz
ist es mir ein wichtiges Anliegen, den ländlichen Raum
stärker in den Fokus zu rücken. Denn es bedarf in vielen
Bereichen einer ganz deutlichen Verbesserung der Rahmen-
bedingungen: zum einen zur Angleichung der Lebens-
standards – dies gilt für den Bereich der Kommunikation
wie für den Verkehr, für die Stärkung der wirtschaftlichen
Entwicklung wie für die Bereitstellung gleichwertiger
Bildungschancen; es gilt beispielsweise auch für die medi-
zinische Versorgung und die Förderung kultureller
Punkte – zum anderen aber auch, um die wichtigen Funk-
tionen zu erhalten, die der ländliche Raum für Staat und
Gesellschaft erfüllt. Die ländlichen Gebiete versorgen die
Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden
Rohstoffen. Sie sind Erholungs- und Rückzugsraum für
die Bevölkerung, und die vielfältigen eindrucksvollen
Landschaften bilden ein wichtiges Element unserer regio-
nalen und nationalen Identität. Die Bewahrung lebhafter
und intakter ländlicher Räume ist damit also von ganz
existenziellem gesamtstaatlichen Interesse.
Das kann aber nur gelingen, wenn die ländlichen
Räume in den Stand gesetzt werden, diese Aufgaben zu
leisten. Die Herausbildung der Kulturlandschaft ist in
der Vergangenheit ein Nebenprodukt bäuerlicher Land-
wirtschaft gewesen. Aufgrund des Strukturwandels gehen
heute jedoch täglich rund 110 Hektar land- und forst-
wirtschaftlich genutzte Flächen verloren. Viele Betriebe
sind mittlerweile allein durch agrarwirtschaftliche Erträge
nicht mehr überlebensfähig.
Einen erfolgreichen Weg für die bäuerlichen und
landwirtschaftlichen Betriebe, ein Auskommen zu erzie-
len, bietet der Bauernhof- und Landtourismus. Er hat
sich mittlerweile als eigenständiges Tourismussegment
in Deutschland etabliert und stellt ein wichtiges Stand-
bein für die wirtschaftliche Entwicklung der Anbieter
und insbesondere der strukturschwachen ländlichen
Räume dar. In dem vorliegenden, von mir mitinitiierten
Antrag führen wir dies deutlich aus. Wir fordern, nach-
haltige und naturnahe Formen des Landurlaubs sowie
den Urlaub auf dem Bauernhof als Nebenerwerbsmög-
lichkeit stärker zu unterstützen. Der Marktanteil dieses
Tourismussegments kann noch ausgebaut werden, damit
möglichst viele Menschen davon profitieren. Mit ihrer
vielfältigen Angebotspalette spiegeln Bauernhofurlaub
und Landtourismus zudem auch die Bedeutung und die
Anziehungskraft der ländlichen Räume in unserem Land
wider.
Als Angebot für Menschen aus städtischen Verdich-
tungsräumen bietet er erholsame wie abwechslungsreiche
Anreize: einerseits durch direktes Naturerleben und
Ruhe. Andererseits eröffnet er die Möglichkeit zum Ak-
tivurlaub insbesondere mit den vielfältigen Möglichkei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25369
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ten zum Wandern, Radfahren oder Reiten. Um diese
Funktionen des Landtourismus weiter zu stärken, ist die
Förderung der touristischen Angebote, der Einkommens-
diversifizierung in der Landwirtschaft, der Dorfentwick-
lung und der Infrastruktur in ländlichen Räumen dringend
geboten.
Hinsichtlich der notwendigen Stärkung der regionalen
Infrastruktur möchte ich an erster Stelle den Ausbau
schneller Internetverbindungen ansprechen. So wie in
allen anderen Branchen ist auch für die Vermarktung von
Bauernhofurlaub und Landtourismus das Internet
mittlerweile das Medium Nummer eins. Aber wenn die
Betriebe nicht erreichbar sind, wenn es – wie in der
öffentlichen Anhörung zum Thema ausgeführt wurde –
schneller geht, 200 Schweine zu füttern, als 20 E-Mails
abzurufen, dann ist dies nicht mehr nur ein Standort-
nachteil. Dann ist das ein nicht mehr akzeptabler Unter-
schied in wichtigen Standards unserer Gesellschaft. Hier
sehe ich im Besonderen die Deutsche Telekom in der
Verantwortung, sich nicht nur die Rosinen aus dem
Kuchen des Internetgeschäfts herauszusuchen, sondern
für alle Regionen Lösungen anzubieten.
In vielen Bereichen müssen aber auf unterschiedlichen
Ebenen Ansätze gestartet werden. Dort gilt es, gemeinsam
durch Bund, Länder und Gemeinden der Verantwortung
für den ländlichen Raum gerecht zu werden, so zum Bei-
spiel bei der weiteren verkehrlichen Erschließung. Wenn
ländliche Regionen ohne Individualverkehrsmittel nicht
erreicht werden können, ist das einerseits eine Frage des
regionalen und lokalen Ausbaus des ÖPNV. Es ist aber
auch eine Folge von Streckenstilllegungen durch die
Deutsche Bahn. Wenn man mit ihr unproblematisch nur
noch bis ins nächste Oberzentrum gelangen kann, dann
findet hier schon die Abkopplung des ländlichen Raumes
statt. Hier muss ein Umdenken erfolgen, und oftmals
sind auch die Potenziale hierfür vorhanden. Als Beispiel
möchte ich die Bestrebungen zur Wiederinbetriebnahme
der Schienenstrecke zwischen Zweibrücken und Hom-
burg anführen. Mit dieser kann für das Mittelzentrum
Zweibrücken eine deutliche Verbesserung der Schienen-
verkehrsanbindung erreicht werden, und selbst die Fahr-
radmitnahme in den Zügen des Fernverkehrs ist eine
Maßnahme, die sich positiv für die ländlichen Räume
auswirken würde.
Insbesondere im Bereich der unterschiedlichen Förder-
programme auf Bundes- und EU-Ebene muss der Fokus
stärker auf den Bedarf der Betriebe ausgerichtet werden,
zum einen bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Hier gilt es, touristi-
sche Infrastrukturmaßnahmen stärker als bislang geschehen
zu berücksichtigen. Ebenso ist es wichtig, dass die Bundes-
länder die Fördergrundsätze für Urlaub auf dem Bauern-
hof stärker an die Kriterien des Rahmenplans anpassen.
Sie sind gefordert, die Diversifizierungsgrundsätze zur
Förderung von Urlaub auf dem Bauernhof auf praxis-
nahe Vorgaben zu reduzieren, zum Beispiel bei den
Mindestinvestitionssummen. Auf diesem Wege kann den
Betrieben wichtiger Spielraum eröffnet werden, um auch
mit kleineren Investitionssummen, zum Beispiel ab
5 000 Euro, zu spürbaren Qualitätsverbesserungen zu
gelangen.
Die Hauptzielgruppe von Urlaub auf dem Bauernhof
sind Familien mit Kindern. Vor diesem Hintergrund
wirkt sich der enggefasste Zeitraum der Sommerferien in
den Bundesländern sehr nachteilig auf die Auslastung
der Betriebe aus. Während in diesem Zeitraum eine
kapazitätsbezogene Nachfrage von 150 bis 200 Prozent
erreicht wird, liegt sie jenseits der Ferien im Schnitt bei
weniger als 70 Prozent. Auch hier könnte mit einer
flexibleren Regelung viel für die ländlichen Räume er-
reicht werden.
Auch bei den Rundfunkgebühren sehe ich die Bundes-
länder gegenüber den Anbietern von Bauernhofurlaub
und Landtourismus in der Verantwortung. Gerade für die
saisonal sehr unterschiedlich ausgelasteten Betriebe bedarf
die Regelung der GEZ-Gebühren einer Überarbeitung.
Hier fordere ich die Länder auf, flexiblere Regelungen
für eine erleichterte saisonale Abmeldung der Geräte zu
schaffen.
Ein weiterer Punkt sind Erleichterungen im Rahmen
der Außenbereichsnutzung gemäß § 35 Baugesetzbuch.
Hier sind zwar schon vor einiger Zeit entsprechende
Neuregelungen erlassen worden. Wichtig ist es aber, dass
die Bundesländer diese neu geschaffenen Möglichkeiten in
der Genehmigungspraxis auch nutzen. Eine unbefristete
Umwidmung landwirtschaftlicher Gebäude würde es
zum Beispiel verhindern, diese zur Kostenfalle für die
Betriebe werden zu lassen.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass die Ent-
wicklung der ländlichen Räume ein Anliegen ist, das uns
alle betrifft. Insofern begrüße ich den ressortübergreifenden
Ansatz, den die Bundesregierung gefunden hat, um den
vielfältigen Handlungsbedarf für die ländlichen Räume
aufzugreifen. Dabei sehe ich die Maßnahmen zur Förde-
rung des Bauernhofurlaubs und des Landtourismus
durchaus als einen Schwerpunkt. Denn deutlicher als an
diesem Beispiel kann die gegenseitige Abhängigkeit von
städtischen Ballungszentren und ländlichen Räumen
nicht vermittelt werden.
Dr. Reinhold Hemker (SPD): Reisen in Entwick-
lungsländer stellen innerhalb der Wachstumsbranche
Tourismus einen boomenden Markt dar. Ihr Anteil
wuchs mittlerweile auf 36 Prozent aller Reisen an – Ten-
denz stark steigend. Mit dem Antrag der Koalitionsfrak-
tionen „Potentiale von Migranten für den internationalen
Tourismus nutzen“ – Bundestagsdrucksache 16/11403 –,
den wir heute diskutieren, wird die Bundesregierung
aufgefordert, die schlummernden Potenziale der Migran-
tinnen und Migranten – wir sprechen hier immerhin von
über 15 Millionen Menschen in unserem Land – besser
zu nutzen und den Fokus ihrer Integrationspolitik gene-
rell auf die Stärken der Zugewanderten zu fokussieren.
Genau dafür bietet besonders der Tourismussektor
gute Rahmenbedingungen. Reisende in Entwicklungs-
ländern zeigen ein gesteigertes Interesse an ökologisch
und kulturell nachhaltigem Tourismus und sind zuneh-
mend an sogenannten Land-und-Leute-Programmen
interessiert. Das haben bereits die Beratungen zum ver-
wandten Antrag „Zukunftstrends und Qualitätsanforde-
rungen im internationalen Ferntourismus“ – Bundes-
25370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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tagsdrucksache 16/4603 – aus dem vergangenen Jahr
gezeigt.
Deshalb bietet sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt
den Zugewanderten mit ihren Potenzialen in der Touris-
musbranche ein gutes Arbeitsfeld. Bereits heute arbeiten
viele Migranten in der Tourismusbranche, vor allem im
Auslandstourismus. Sie sind durch ihre Kenntnisse
zweier Kulturen besonders gut geeignet, etwa bei der
Planung der bereits angesprochenen Land-und-Leute-
Programme oder der Erarbeitung von Kultur- und Na-
turerlebnisreisen. Die Erfahrungen der Reiseveranstalter
mit Mirgrantinnen und Migranten sind überwiegend
positiv. Hier sollte mit einem stärkeren Angebot von
Aus- und Fortbildungsangeboten und deren stärkerer Be-
werbung noch weiteres Potenzial ausgeschöpft werden.
Auch das fordern wir im vorliegenden Antrag.
Aber auch ein anderer Punkt ist in diesem Kontext
wichtig: Wenn deutsche Touristen ihren Urlaub im Aus-
land verbringen, freuen sie sich, wenn sie Gesprächs-
partner finden, die deutsch sprechen. Besonders wird
begrüßt, wenn ihnen im Urlaub Menschen begegnen, die
sich auch mit den Verhältnissen in Deutschland ausken-
nen. Es entstehen dann oft Gespräche, die weit über das
hinausgehen, was zum eigentlichen Auftrag derjenigen
gehört, die die Touristen betreuen. Das ermöglicht den
Urlaubern oftmals tiefe Einblicke in die Geschichte und
Kultur des Urlaubslandes, die zunächst unverständlich
erscheinen. Insofern ist ein wichtiges Element des An-
trags die Weiterqualifizierung und Förderung von Ein-
heimischen in den Zielländern, zum Beispiel durch
Deutsch- und/oder Landeskundekurse der Goethe-Insti-
tute vor Ort. So kann die einheimische Bevölkerung im
Zielland am Tourismus aus Deutschland bestmöglich
partizipieren.
Wir sollten die vorhandenen Potenziale der Migranten
besser ausschöpfen. Wir können damit anfangen, indem
wir diesem Antrag zustimmen.
Ich möchte die Chance nutzen und zu einem weiteren
Antrag, den wir unter diesem Tagesordnungspunkt be-
sprechen, etwas feststellen. Mit dem Antrag „Potentiale
von Tourismus und Sport erkennen und fördern“ – Bun-
destagsdrucksache 16/11402 – wollen wir die viel-
fältigen Potenziale des Sporttourismus stärker in den
Mittelpunkt der touristischen Debatten stellen. Denn die
Themen „Sport“ und „Tourismus“ lassen sich heute
nicht mehr getrennt voneinander diskutieren.
Ein wichtiges Element von Sporttourismus sind
Sportveranstaltungen, die von Touristen besucht und
zum Anlass einer Urlaubsreise genommen werden.
Diese geben der Gesamtwirtschaft in dem jeweiligen
Gastgeberland wichtige Impulse. Das Beispiel Fußball-
WM 2006 in Deutschland hat das eindrucksvoll gezeigt.
Ausländische Gäste brachten rund um die WM damals
etwa 2 Milliarden Euro ins Land, was etwa 0,2 Prozent
des Bruttoinlandproduktes entsprach.
Sporttourismus umfasst ein weiteres Element: Kör-
perliche Bewegung wirkt sich positiv auf Körper und
Seele aus. Verschiedene Studien haben bewiesen, dass
sich zum Beispiel beim Wandern bereits nach drei Wo-
chen ein Abfall von erhöhtem Blutdruck, eine Verbesse-
rung des Fettstoffwechsels und eine Gewichtsabnahme
einstellte. Sport im Urlaub ist nicht länger nur ein unter-
haltsames Vergnügen, sondern entwickelt sich immer
mehr zu einem wichtigen Teil einer umfassenden Ge-
sundheitsprävention.
Immer mehr Touristen wollen gerade auch im Urlaub
bewusst gesund und aktiv leben und auch in ihrem Ur-
laub einer Sportart nachgehen. Die wachsende Gruppe
der aktiven Urlauber sucht sich deshalb gezielt jene Ur-
laubsangebote und jene Urlaubsregionen heraus, bei de-
nen umfangreiche Angebote zur sportlichen Betätigung
bereits existieren. Die Erfahrung der letzten Jahre hat ge-
zeigt, dass solche Angebote in Deutschland, Frankreich
oder den Niederlanden immer stärker nachgefragt wer-
den.
Um im Bereich des Sporttourismus die noch vorhan-
denen Wachstumspotenziale auszuschöpfen, sollten un-
ter anderem die deutsche Präsenz bei Sportveranstaltun-
gen im Ausland verbessert, die Vermarktung der
sporttouristischen Angebote durch die Deutsche Zentrale
für Tourismus intensiviert und Mindeststandards, Quali-
tätskriterien sowie Umweltstandards für sportorientier-
ten Tourismus erarbeitet werden.
Das fordern wir im vorliegenden Antrag. Ich bitte Sie
deshalb darum, dem Antrag zuzustimmen.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Gerade in der Krise
zeigt sich: Wir brauchen den Tourismus.
Der Deutschland-Tourismus hat sich trotz Wirt-
schaftskrise als relativ robust erwiesen. In den ersten
vier Monaten dieses Jahres gab es 91,2 Millionen Gäste-
übernachtungen. Trotz Rückgängen bei Geschäftsreisen
und ausländischen Gästen: Wir liegen nur 2 Prozent un-
ter dem sehr guten Vorjahresergebnis.
Rund 2,8 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt und
indirekt vom Tourismus ab. Fast 120 000 junge Men-
schen finden hier einen Ausbildungsplatz. Wir müssen
jetzt alles dafür tun, die Arbeits- und Ausbildungsplätze
in der Tourismusbranche zu halten. Dazu sind gute Rah-
menbedingungen notwendig. Mit unseren Anträgen an
die Bundesregierung schlagen wir wichtige Pflöcke ein,
um besonders den Trend zum Urlaub im eigenen Land
zu nutzen.
Erstens: Wir wollen Urlaub auf dem Land attraktiver
machen. Kurz nah weg ist eine Alternative zu Fernrei-
sen. Gerade für Menschen mit kleinem Geldbeutel bietet
der Urlaub auf dem Bauernhof gute Möglichkeiten, vor
allem Familien mit Kindern.
Wir wollen die Anbieter und Kommunen finanziell
unterstützen und dafür die Bund-Länder-Gemeinschafts-
aufgaben verstetigen. Gerade für strukturschwache Ge-
meinden ist Landtourismus ein wirtschaftliches Stand-
bein. Die SPD will mit ihrem Regierungsprogramm eine
Offensive für ländliche Räume. Wir setzen auf den Tou-
rismus als Zukunftsbranche. Um die bestehenden Markt-
potenziale noch besser zu erschließen, fordern wir eine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25371
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Grundlagenuntersuchung mit fundierter Datengrund-
lage.
Wer verreist, will saubere Strände, gesunde Wälder
und zum Skifahren in den Bergen ausreichend Schnee.
Für viele Menschen ist das Naturerlebnis der Haupt-
grund für einen Urlaub. In den ländlichen Regionen
Deutschlands finden sie Natur pur. Freude an der Natur
werden wir aber nur lange haben, wenn wir beim Klima-
schutz ernst machen. Landurlaub ist eine Chance für kli-
maschonenden Tourismus. Wer aus der Stadt ins Umland
fährt, verzichtet auf umweltschädliche Flüge. Wir setzen
uns deshalb für eine gute Erreichbarkeit der Tourismus-
orte mit der Bahn ein.
Ich begrüße, dass die Deutsche Zentrale für Touris-
mus in diesem Jahr besonders für Aktivurlaub wirbt.
Radfahren, Wandern und Kanusport lassen sich gut mit
Urlaub auf dem Land verbinden. Das wollen wir noch
stärker herausstellen.
Zweitens: Wenn wir viele Menschen für einen Urlaub
gewinnen wollen, heißt das auch: Wir müssen allen
Menschen die Möglichkeiten geben, Urlaub machen zu
können. Das ist heute leider noch keine Selbstverständ-
lichkeit. Barrierefreiheit ist der Schlüssel zur gemeinsa-
men Teilhabe für alle. Menschen mit Behinderungen
können so besser – oder überhaupt erst – reisen. Wichtig
ist mir aber auch: Barrieren müssen nicht nur für Men-
schen mit Rollstuhl abgebaut werden. Auch auf die Be-
dürfnisse von Menschen, die nicht gut oder gar nicht
sehen, hören oder sprechen können, müssen wir entspre-
chend eingehen. Barrierefreiheit bedeutet für alle Rei-
senden mehr Qualität. Gerade ältere Menschen profitie-
ren davon. Im Jahr 2035 wird fast jeder zweite Mensch
in Deutschland 50 Jahre und älter sein, jeder dritte sogar
älter als 60. Darauf muss sich die Tourismuswirtschaft
schon heute einstellen.
Mit unserem Antrag wollen wir Barrierefreiheit zu ei-
nem Markenzeichen des Deutschland-Tourismus entlang
der gesamten Servicekette machen. Dazu sollen Einrich-
tungen des Bundes barrierefrei werden. Länder und
Kommunen sollten entsprechend tätig werden. Über das
Konjunkturprogramm II kann Barrierefreiheit baulich
und verkehrlich berücksichtigt werden. Mit dem Antrag
setzen wir uns dafür ein, dass ein entsprechendes Design
für alle generell zu einem Kriterium für Fördermittel
wird.
Gefordert ist auch die Bahn, ihre Züge und Bahnhöfe
ohne Barrieren auszustatten. Die Reise- und Urlaubs-
anbieter sollten aus eigenem Interesse ihre Angebote
stärker barrierefrei und kundengerecht ausbauen. Wo es
barrierefreie Angebote gibt, müssen diese gut vermarktet
werden. Ich begrüße, dass die Deutsche Zentrale für
Tourismus und die Landesmarketingorganisationen dies
zunehmend berücksichtigen. Wir fordern, das Marketing
noch stärker auf Barrierefreiheit auszurichten.
Ich freue mich, dass die Fraktion Die Linke die bei-
den vorliegenden Koalitionsanträge unterstützt. Auch
die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP sind
herzlich eingeladen, mit unseren Anträgen für gute Rah-
menbedingungen im Landtourismus und mehr Barriere-
freiheit zu stimmen.
Engelbert Wistuba (SPD): Martin Luther sagte
einst:
Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht,
würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.
Keine Angst, ich werde keine prophetischen Vorher-
sagen in diese Richtung machen. Jedoch werden im Ge-
denken an Luther in diesem Jahr in meiner Heimatstadt
Wittenberg die ersten von 500 Bäumen eines internatio-
nalen Luthergartens durch die christlichen Weltgemein-
schaften und Kirchen gepflanzt. Das ist eine von mehre-
ren Aktionen der im letzten Jahr als Auftakt für das
500. Reformationsjubiläum im Jahre 2017 erfolgreich
gestarteten Lutherdekade. Dabei wirken Kirche, Politik
und Gesellschaft eng zusammen.
Nicht nur die historische Reflektion der Reformation,
sondern auch aktuelle Fragen aus Politik und Gesell-
schaft werden dabei aufgegriffen. Als Rahmenprogramm
für die Lutherdekade hat die Evangelische Kirche in
Deutschland mit der Unterstützung der Geschäftsstelle
„Luther 2017“ und einem wissenschaftlichen Beirat
Themenjahre festgelegt.
Im kommenden Jahr steht die Bedeutung der Refor-
mation für die Bildung und mit ihr der Reformator
Philipp Melanchthon im Vordergrund. Die darauffolgen-
den Jahre stehen unter den Themen „Reformation und
Freiheit“, „Reformation und Musik“ und „Reformation
und Toleranz“. Das Themenjahr 2014 steht unter der
Überschrift „Reformation und Politik“. Darin werden
die mit der Reformation eingetretene Unterscheidung
zwischen Kirche und Staat als zentrale Etappe der Aus-
bildung der modernen Grundrechte von Religions- und
Gewissensfreiheit, aber auch die Frage der Menschen-
rechte thematisiert. Die letzten Themenjahre lauten dann
2015 „Reformation – Bild und Bibel“ und 2016 „Refor-
mation und Eine Welt“.
Schon jetzt kann man feststellen: Das internationale
Interesse ist enorm. Die Lutherdekade und das 500. Re-
formationsjubiläum werden damit erheblich dazu beitra-
gen, Deutschland als kulturtouristische Destination zu
festigen. Deshalb ist es wichtig, neben den baulichen
und infrastrukturellen Maßnahmen und der internationa-
len touristischen Bewerbung auch finanzielle Mittel für
Veranstaltungen und Ausstellungen rund um Kunst, Kul-
tur und Musik bereitzustellen.
Im Februar diskutierte ich in Taipeh mit hochrangigen
Tourismusvertretern über die Frage, wie der Tourismus
zwischen beiden Ländern verbessert werden kann. Eine
Ausstellung zur Reformationsgeschichte stieß dabei auf
reges Interesse. Genau darum geht es: den Kulturaus-
tausch mit dem Tourismus zu verbinden. Eine weltweite
Wanderausstellung wäre meines Erachtens ein guter Ka-
talysator. Die Goethe-Institute wären die idealen Bot-
schafter.
Mit einem Blick zu den Finanzpolitikern verbinde ich
die Hoffnung, dass sie dieses herausragende kulturpoliti-
25372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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sche Ereignis nicht nur würdigen, sondern auch nach
besten Kräften fördern werden. Dazu wird in den kom-
menden Haushaltsberatungen reichhaltig Gelegenheit
sein. Wir müssen auch vor dem Hintergrund der welt-
weiten Wirtschafts- und Finanzkrise jetzt investieren
und nicht erst im Jahr 2017. Alle Lutherstädte werden
davon profitieren, nicht zuletzt auch die vielen mittel-
ständischen Handwerksunternehmen, die sich wie die
Tourismusbranche Hoffnung auf steigende Umsätze und
Aufträge machen.
Besuchen Sie selber die Städte und Stätten der Refor-
mation. Werben Sie weltweit für die Lutherdekade und
das Reformationsjubiläum 2017. Nicht nur Mittel-
deutschland als Kernland der Reformation, sondern die
gesamte Bundesrepublik Deutschland kann durch eine
engagiert gestaltete Lutherdekade einen nachhaltigen
ökonomischen Schub erhalten. Gehen wir das Jubiläum
freudig und tatkräftig an.
Jens Ackermann (FDP): Es ist schon erstaunlich,
was alles kurz vor Ende der Legislaturperiode möglich
ist. Frei nach dem Motto „Wer will noch mal, wer hat
noch nicht?“ setzt die Bundesregierung hier fünf parla-
mentarische Vorgänge zur gemeinsamen Beratung an,
die inhaltlich soviel miteinander zu tun haben, wie die
Bravo mit dem Focus. Es ist deshalb gänzlich aussichts-
los, auf alle hier zu behandelnden Beschlussempfehlun-
gen einzugehen. Deshalb werde ich das gar nicht erst
versuchen, obwohl jede einzelne – unter anderm das
wichtige Thema der Rolle von Migranten im internatio-
nalen Tourismus – Aufmerksamkeit verdient hätte.
Lassen Sie mich deshalb auf die Beschlussempfeh-
lungen zum barrierefreien Tourismus und zum Reforma-
tionsjubiläum näher eingehen. Dem Antrag der Re-
gierungsfraktionen können wir inhaltlich durchaus
zustimmen. Es ist richtig, dass durch barrierefreien Tou-
rismus nicht nur die Situation für Menschen mit Behin-
derung verbessert wird, sondern auch positive ökonomi-
sche Effekte für die gesamte Branche zu erwarten sind.
Soweit d’accord. Allerdings verweisen Sie, geschätzte
Kollegen von der Regierungskoalition, in ihrem Antrag
auf das Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahr 2006.
Dies sei „ein wichtiger Meilenstein“. Die FDP hat sei-
nerzeit gerade dieses Gesetz sehr kritisch beurteilt. Unter
anderm werden die bürokratischen Auswüchse von uns
nicht gutgeheißen. Eine Argumentation, die sich auf die-
ses Gesetz stützt, kann von uns nicht mitgetragen wer-
den.
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle auf den Antrag der
Kollegen der Linksfraktion einzugehen, die sich nämlich
auch auf ebendieses Gesetz stützen. Jedoch fordern Sie
nun auch noch sehr weit gehende Änderungen in den
Bereichen Personenbeförderungsgesetz, Behinderten-
gleichstellungsgesetz, Bundesbaurecht und allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz. Bei allem Verständnis für die
Lage von behinderten Touristen und beim Wissen um die
Probleme halte ich dies nicht für den geeigneten Ansatz.
Hier scheint wieder einmal ihr sozialistisches Gedanken-
gut durch: Sie setzen nicht auf den gesunden Menschen-
verstand, sondern auf staatliche Regeln und Eingriffe.
Diesen Weg können und werden wir Freien Demokraten
nicht mitgehen.
Ein weiteres Problem im Antrag der Regierungsfrak-
tionen ist ihre Sicht auf die Koordinationsstelle Touris-
mus für alle e.V. Die FDP-Fraktion hat im Vorfeld das
Gespräch mit NatKo gesucht. Dabei wurde deutlich,
dass NatKo die allergrößten Schwierigkeiten hat, mit
dem bisherigen Bundeszuschuss von 100 000 Euro seine
Aufgaben zu erfüllen. Es gestaltet sich als extrem
schwierig, den geforderten Eigenmittelanteil in Höhe
von 20 Prozent zu erwirtschaften. Diese Anstrengungen
binden über Monate die Arbeitskraft von haupt- und eh-
renamtlichen Mitarbeitern. So sinnvoll das Einbringen
von Eigenmitteln grundsätzlich ist, so sollte doch in die-
sem Fall über eine praxistauglichere Erleichterung nach-
gedacht werden.
Abschließend muss man leider auch sagen, dass der
gesamte Antrag wieder einmal an Unverbindlichkeit
nicht zu überbieten ist. Wer in einem Antrag ernsthaft
nur „hinweist“, „hinwirken“ oder „Gespräche führen“
möchte, wer suchen, prüfen, einwirken, werben, appel-
lieren und anregen möchte, der macht die gesamte parla-
mentarische Initiative unglaubwürdig. Dies zeigt im
Übrigen auch, dass dieses Thema vielleicht nicht unbe-
dingt für einen Antrag in diesem Haus geeignet ist.
Beide Anträge sind gut gemeint, aber – wie hat eine
Hamburger Band so treffend komponiert? – das Gegen-
teil von gut ist gut gemeint.
Kommen wir zur zweiten Beschlussempfehlung. Als
Magdeburger liegt mir das Reformationsjubiläum sehr
am Herzen. Martin Luther ist die zentrale und herausra-
gende Persönlichkeit der europäischen Reformation, die
einen der großen Wendepunkte der europäischen Ge-
schichte darstellt und den Übergang zwischen Mittelalter
und Neuzeit markiert. Durch die Übersetzung der Bibel
aus dem Lateinischen legte Martin Luther den Grund-
stein für die Entwicklung der modernen deutschen Spra-
che.
Sein Wirken geht aber weit über die durch ihn geleis-
tete Übersetzung der Bibel hinaus. Luther machte zum
ersten Mal den Gegensatz zwischen Glauben und Wis-
sen deutlich und stellte die biblische Schrift in den Mit-
telpunkt seines Wirkens. Seine kritische Haltung gegen-
über kirchlichem Ämterkauf und Nepotismus zeigt ihn
als einen entschlossenen Kämpfer für die Erneuerung
der christlichen Kirche und gegen überkommene Struk-
turen des Obrigkeitsdenkens. Er ist damit der Wegberei-
ter der Kant’schen Aufklärung, nach der sich jeder
Mensch aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit
ohne Anleitung eines anderen befreien kann. Diese kri-
tisch-humanistische Haltung gegenüber Quellen und In-
stitutionen lässt Luther nicht nur als einen großen Refor-
mator erscheinen, sondern auch als eine zentrale Figur
der Aufklärung.
2017 jährt sich zum fünfhundertsten Mal der An-
schlag der Thesen. Unabhängig von der Historizität des
Ereignisses löste der Thesenanschlag an der Wittenber-
ger Schlosskirche einen Reformations- und Modernisie-
rungsprozess in ganz Europa aus.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25373
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Neben der kulturellen, sozialen und religiösen Bedeu-
tung, die die Reformation auch heute noch hat, hat die
Epoche der Reformation auch eine museale Landschaft
hinterlassen, die in Europa ihresgleichen sucht. Die Wir-
kungsstätten Luthers in den heutigen Kommunen Sach-
sen-Anhalts sind ein einmaliges kulturelles Erbe,
welches durch die Lutherdekade nun entsprechend ge-
würdigt werden soll, insbesondere vor dem Hintergrund,
dass nach Angaben des European Travel Monitor IPK
International 2006 180 000 Reisende religiöse Motive
hatten.
Die von den Koalitionsfraktionen formulierten Forde-
rungspunkte, insbesondere die Vernetzung der Bundes-
länder und der nationalen Tourismusverbände sowie die
Förderung touristischer Infrastrukturmaßnahmen in den
Orten der Reformation, erhalten deshalb auch die Zu-
stimmung meiner Fraktion.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Tourismus ist und
bleibt ein Querschnittsthema. Deswegen hatte die Koali-
tion auch kein Problem, verschiedene noch nicht be-
schlossene Anträge zum Tourismus als Paket zu schnü-
ren, um dieses noch kurz vor Ende der Wahlperiode in
einer – zu Protokoll gegebenen – 30-Minuten-Debatte
abzuarbeiten.
Wir reden also über die Anträge der Linken sowie der
Koalition zum barrierefreien Tourismus; die Anträge der
Linken und der Koalition zur Förderung des Landtouris-
mus sowie die Koalitionsanträge „Potentiale von Mi-
granten für den internationalen Tourismus nutzen“,
„Potentiale von Tourismus und Sport erkennen und för-
dern“ und „Reformationsjubiläum 2017 als welthistori-
sches Ereignis würdigen“. Da dies voraussichtlich die
letzte Tourismusdebatte in der 16. Wahlperiode sein
wird, lohnt es sich, diese Anträge in einer Gesamtbilanz
einzuordnen.
Gestern hat sich der Tourismusausschuss abschlie-
ßend mit den tourismuspolitischen Leitlinien der Bun-
desregierung befasst. Diese Unterrichtung wurde zur
Kenntnis genommen; eine Stellungnahme des Parla-
ments hielten alle anderen Fraktionen leider nicht für er-
forderlich. Eigene Stellungnahmen lagen von ihnen
nicht vor. Der Entschließungsantrag der Linken wurde
von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Grü-
nen abgelehnt. Was schlug die Linke vor? Sie begrüßte,
dass die Bundesregierung im Dezember 2008 erstmalig
tourismuspolitische Leitlinien vorlegte, welche – das
zeigte auch die Anhörung im Tourismusausschuss des
Bundestages am 27. Mai 2009 – Beginn und nicht End-
punkt für die weitere Diskussion über die Tourismus-
politik des Bundes sein sollten.
Sie stellt fest, dass Ausgangspunkt aller Betrachtun-
gen in den Leitlinien die Tourismuspolitik als
Wirtschafts- und Imagefaktor ist und dass durch diese
einseitige Betrachtungsweise wichtige Funktionen des
Tourismus als Beitrag für die Erholung, Bildung und Ge-
sundheit unterbelichtet bzw. völlig negiert werden. Auch
der Kinder- und Jugendtourismus sowie die Bedeutung
von Schulfahrten spielen bei den Leitlinien keine Rolle.
Sie würdigte andererseits, dass es der Bundesregierung
erstmalig seit der Ratifizierung der UN-Behinderten-
rechtskonvention in beispielgebender Weise gelungen
ist, in den Leitlinien durchgängig die Bedeutung der
Barrierefreiheit herauszustellen und entsprechende Ziel-
stellungen zu formulieren.
Daraus ergeben sich aus Sicht der Linken fünf Forde-
rungen an die Bundesregierung. Erstens ist an den An-
fang und damit als Ausgangspunkt der Tourismuspolitik
das Ziel „Teilhabe aller am Tourismus“ – derzeit die
neunte Leitlinie – zu stellen. Jede und jeder muss die
Möglichkeit haben, sich zu erholen, zu verreisen, die
Welt anzuschauen. Touristische Angebote sind auch für
finanziell schwache Bevölkerungsschichten zu erschlie-
ßen, um ihnen breiten Zugang zu Freizeit, Erholung,
Reisen und Urlaub zu ermöglichen. Dazu gehört insbe-
sondere die Förderung von Familien, Kindern und Ju-
gendlichen, Seniorinnen und Senioren sowie Menschen
mit Behinderungen.
Zweitens soll gesetzlich gesichert werden, dass bei
der Entscheidung über die Höhe von Leistungen zur
Grundsicherung und anderen Sozialleistungen Kosten
für angemessene Urlaubsreisen sowie Klassenfahrten
berücksichtigt werden. Durch Schulen ausgerichtete
Klassenfahrten – Ziel ist für jede Schulklasse eine Schul-
fahrt in jedem Schuljahr – gehören zum staatlichen Bil-
dungsauftrag.
Drittens soll sich die Bundesregierung für die Rechte
der im Tourismusgewerbe Beschäftigten engagieren.
Dazu gehören Tarif- und Mindestlöhne, von denen man
– gut – leben kann. Ausbildungsmöglichkeiten und -an-
gebote müssen an aktuelle Entwicklungen angepasst und
verbessert werden. Einem Tourismus, der zur Ausbeu-
tung der gastgebenden Bevölkerung, zur Kinderarbeit
und zur Prostitution beiträgt, ist aktiver Widerstand ent-
gegenzusetzen.
Viertens sind die in den Leitlinien erklärten Zielstel-
lungen zur Schaffung von Barrierefreiheit mit konkreten
Maßnahmen und Programmen zu untersetzen. Dazu ge-
hören zum Beispiel klare gesetzliche Regelungen im
Baurecht, die Bindung von steuerlichen Erleichterungen
und die Gewährung von Zuschüssen für Investitionen an
die Schaffung bzw. Gewährleistung von Barrierefreiheit
im umfassenden Sinne.
Fünftens soll sich die Bundesregierung für einen öko-
logisch verantwortbaren Tourismus einzusetzen. Sanfter
und ressourcenschonender Tourismus ist stärker zu för-
dern. Dazu gehören besonders der Fahrrad-, Wander-,
Wasser- und Reittourismus. Die Erschließung touristi-
scher Regionen durch öffentliche Verkehrsanbindungen
mit Bus und Bahn ist konsequent auszubauen. Dazu ge-
hört auch, sich verstärkt für die Entwicklung des Touris-
mus in ländlichen Räumen einzusetzen und damit auch
Verluste von Arbeitsplätzen durch landwirtschaftlichen
Strukturwandel zu kompensieren.
An diesen Punkten, aber auch an ihrer Konkretheit,
Umsetzbarkeit und Finanzierbarkeit sollten sich die
heute zur Abstimmung stehenden Anträge messen las-
sen.
25374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Das Thema barrierefreier Tourismus hat sich im Tou-
rismusausschuss durch die gesamte Wahlperiode gezo-
gen und war dort auch nicht nur das „Privatvergnügen“
eines einzelnen Abgeordneten. Dafür möchte ich Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen und auch dem Touris-
musbeauftragten der Bundesregierung, Ernst Hinsken,
ausdrücklich – auch im Namen von vielen Mitstreitern
und Mitstreiterinnen aus der selbstbestimmten Behinder-
tenbewegung – sehr herzlich danken.
In der UN-Behindertenrechtskonvention werden die
Staaten aufgefordert, alles zu tun, damit Menschen mit
Behinderungen umfassend am Leben in der Gesellschaft
teilhaben können. Die Teilhabe am Tourismus wird in
der Konvention extra genannt. Die beiden vorliegenden
Anträge zum barrierefreien Tourismus sind sich in ihren
Vorschlägen und Forderungen sehr ähnlich. Der Antrag
der Linken lag ein halbes Jahr eher vor als der Antrag
der Koalition, und „Abschreiben“ war ausdrücklich er-
wünscht. Die Linke wird dem Koalitionsantrag zustim-
men. Warum CDU/CSU, SPD und FDP gegen den An-
trag der Linken stimmen, sollen sie den Betroffenen
selbst erklären.
Ähnlich ist es auch bei den beiden Anträgen zur För-
derung des Landtourismus. Auch hier freut es mich, dass
sich die Koalition, nachdem die Linke ihren Antrag
vorlegte und dazu auch eine öffentliche Anhörung for-
derte, genötigt fühlte, einen eigenen Antrag einzubrin-
gen. Auch diesmal scheint einiges vom Antrag der Lin-
ken abgeschrieben zu sein. Wir werden dem Antrag der
Koalition zustimmen, auch wenn diese unseren Antrag
ablehnt.
Bei dem Antrag, das Reformationsjubiläum 2017 als
welthistorisches Ereignis zu würdigen, werden wir uns
der Stimme enthalten. Das Anliegen wird von der Lin-
ken sehr gern unterstützt. Leider fehlen im Antrag die
tourismuspolitischen Akzente. Da – auch angeregt durch
diese Initiative – die Lutherstädte und Regionen in Sach-
sen-Anhalt, Thüringen und Sachsen das Ereignis bereits
sehr engagiert konzipieren und vorbereiten, bin ich aber
gewiss, dass der Bundestag in der nächsten Wahlperiode
das Thema wieder auf die Tagesordnung setzt und dann
vielleicht noch konkreter mitwirken wird.
An dieser Stelle gestatten Sie mir noch eine Anmer-
kung. Gestern verkündete die Bundesregierung im Tou-
rismusausschuss, dass die Deutsche Zentrale für Touris-
mus, DZT, über den Nachtragshaushalt noch eine
weitere Million Euro für 2009 erhält. Heute erhielt ich
von der Vorsitzenden der DZT, Frau Petra Hedorfer, ei-
nen Brief mit den aktuellen Publikationen. Darunter die
Hochglanzbroschüre „Lebendige Städte in Deutsch-
land“, in der – so Frau Hedorfer – die für den Incoming-
Tourismus relevanten deutschen Metropolen präsentiert
werden. Obwohl ich die letzte Auflage der Broschüre im
letzten Jahr schon kritisierte: Nur acht von 60 präsentier-
ten Metropolen kommen aus Ostdeutschland: die sechs
Landeshauptstädte sowie Leipzig und Rostock. Ich habe
nichts gegen Hinterzarten, Rust/Europapark, Schwangau
oder Willingen, aber wenn in dieser vom Steuerzahler
nicht unerheblich geförderten 100-seitigen Broschüre für
die Lutherstädte kein Platz ist, stimmen die Prioritäten
bei der DZT nicht. Auch weitere wichtige Städte wie
Weimar, Görlitz und Bautzen fehlen in dieser Werbebro-
schüre. Dafür habe ich kein Verständnis.
Keine Zustimmung der Linken gibt es für die übrigen
zwei Koalitionsanträge. Sie sind, gemessen an den zuvor
genannten Maßstäben, überwiegend banale Sammel-
surien, unkonkret und gehen zum Teil auch am in der
Überschrift selbst benannten Thema vorbei.
Abschließend mein Fazit in Kürze. Die Linke hat in
dieser Wahlperiode erstmalig fünf tourismuspolitische
Leitbilder beschlossen und zahlreiche Initiativen zu de-
ren Untersetzung im Parlament, aber auch im Gespräch
mit den Menschen, vor allem mit Tourismusvereinen,
-institutionen und -unternehmen gestartet und damit ei-
gene Akzente in der Tourismuspolitik gesetzt. Der Bun-
destag und der Tourismusausschuss im Besonderen ha-
ben in den vier Jahren tourismuspolitische Debatten zu
vielen Themen initiiert, geführt und dazu Beschlüsse ge-
fasst. Viele Anträge der Koalition erhielten auch die Zu-
stimmung von der Linken.
Auch bei inhaltlichen Differenzen: Die Arbeit im
Tourismusausschuss war zwischen allen Fraktionen fast
immer fair, sachorientiert und sehr kollegial. Dafür
möchte ich Ihnen, liebe Ausschusskolleginnen und -kol-
legen, insbesondere unserer Vorsitzenden Marlene
Mortler sowie Annette Faße, Renate Gradistanac,
Brunhilde Irber und den anderen nicht wieder kandidie-
renden Abgeordneten sowie dem Tourismusbeauftragten
Ernst Hinsken herzlich danken.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesregierung hat nach langem Hin und Her in
dieser Wahlperiode eine Leitlinie zur Tourismuspolitik
verabschiedet. Ich meine, sie enthält zu wenig Visionen
und Zielvorgaben. Sie nutzt ihren Gestaltungsspielraum
nicht aus.
Wir müssen jetzt handeln! In unserer Anhörung zu
den tourismuspolitischen Leitlinien haben wir gemerkt,
dass der Bedarf da ist. Die Leitlinien wurden überwie-
gend begrüßt, aber auch kritisch, als weitgehend abstrakt
und zu wenig konkret beurteilt. Es gibt eine massive
Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Gewicht des
Tourismus und dem politischen Stellenwert, den wir in
Deutschland dem Tourismus zugestehen. Im Ergebnis
bedeutet das, dass der Tourismus mit derzeit rund
2,8 Millionen Beschäftigten einer der unkontrolliertesten
Wirtschaftsbereiche der Welt ist – größtenteils im Eigen-
tum großer westlicher Hotelketten und Reiseveranstalter.
Das ist der falsche Weg.
Aus Perspektive von Bündnis 90/Die Grünen sind es
die Bereiche „Klimawandel“, „Aussagen zur Wahl der
Verkehrsmittel“ und der demografische Wandel, die uns
neben den sozialen Standards und Lebensstilfragen in
der Tourismuspolitik vor konkrete Herausforderungen
stellen. Wir fahren heute mehr als die Hälfte der Kilome-
ter in Freizeit und Urlaub. 75 Prozent des CO2-Aussto-
ßes im Tourismus sind der Mobilität zuzurechnen. Sie
alle wissen, dass gerade das Fliegen sehr viel schädlicher
für die Umwelt ist als die Anreise mit dem Reisebus
oder der Bahn. Und unsere Regierung? Unsere Regie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25375
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rung subventioniert das Fliegen und traut sich nicht, in
den tourismuspolitischen Leitlinien ambitionierte Aussa-
gen über die Wahl der Verkehrsmittel als Grundlage jeg-
lichen Tourismus zu machen. Auch eine barrierefreie
Vernetzung der unterschiedlichen Leistungsträger, also
sämtlicher Verkehrsmittel und aller Serviceangebote,
wird nicht einmal angedacht. Dabei ist das nicht nur für
Gehandicapte, sondern für alle Reisenden ein qualitati-
ver Zugewinn.
Auch zu den überwiegend mittelständischen Betrie-
ben im Tourismus werden keinerlei konkrete Aussagen
getroffen. Gerade hier haben wir problematische Be-
schäftigungsverhältnisse im Hotel- und Gaststättenge-
werbe und zudem einen erheblichen Investitionsstau.
Vieles erstrahlt im Charme der 70er-Jahre. Hier muss die
Politik konkrete Investitionsanreize schaffen!
Darüber hinaus kommt auch der große ganzheitliche
Bereich der Nachhaltigkeit als wichtigste wertschöp-
fende Säule des Tourismus in den Leitlinien viel zu kurz.
Reisen muss stärker als bisher im Einklang mit unserer
natürlichen und sozialen Umwelt stehen. Bislang werden
zum Teil fragwürdige Anpassungsstrategien zum Erhalt
der Wertschöpfung aus dem Tourismus subventioniert.
Ein Beispiel: Ich finde öffentliche Gelder für Schneeka-
nonen dürften heute nicht mehr fließen. Mehr Nachhal-
tigkeit im Tourismus ist nicht nur denkbar, sondern auch
praktikabel. Wir müssen nur die richtigen Weichen stel-
len – und dazu braucht es ambitionierte Leitlinien. Es
kann sich bei den verabschiedeten tourismuspolitischen
Leitlinien also nur um einen Aufschlag handeln, der der
Fortführung und Konkretisierung bedarf.
Zum Schluss lassen Sie mich noch auf eine Herzens-
angelegenheit kommen: Die Tourismuspolitik muss end-
lich nachhaltiger und vor allem transparenter gestaltet
werden. Dazu gehören für uns Grüne auch Verbraucher-
informationen über die sozialen und ökologischen Aus-
wirkungen einer Reise. Der Tourismus in Deutschland
gehört zu den tragenden Wirtschaftssektoren. Doch der
Deutschlandtourismus hat aus meiner Sicht nur dann
eine Zukunft, wenn er nachhaltig und authentisch ist.
Anlage 33
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: 60 Jahre Europarat
– Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht der Bundesregierung über die
Tätigkeit des Europarats für die Zeit vom
1. Januar bis 30. Juni 2008
– Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht der Bundesregierung über die
Tätigkeit des Europarats vom 1. Juli bis
31. Dezember 2008
(Tagesordnungspunkt 29 a bis c)
Eduard Lintner (CDU/CSU): In diesem Jahr bege-
hen wir eine ganze Reihe von bemerkenswerten Jubiläen
historisch außerordentlich bedeutsamer Ereignisse, al-
len voran den Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren und
die Gründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren. Noch
einige Tage älter als die Bundesrepublik ist der Europa-
rat, der am 5. Mai dieses Jahres seinen 60. Geburtstag
gefeiert hat. Auch dieses Ereignis war für die weitere
Entwicklung Europas von großer, heute leider manchmal
unterschätzter Bedeutung. Ohne die Gründung des Euro-
parats und die hinter ihm stehende politische Vision
hätte es wohl sehr viel länger gedauert, bis Europa sich
zusammengefunden hätte mit all den negativen Konse-
quenzen, die sich daraus für den damals freien Teil Euro-
pas und vor allem für Deutschland ergeben hätten.
Am 5. Mai 1949 schlossen sich zehn europäische
Staaten, die sich zu einer demokratischen Regierungs-
form und Rechtsstaatlichkeit bekannten und sich klar
gegen links- und rechtsextreme Ideologien aussprachen,
zusammen, um gemeinsam für die Schaffung eines
freien und vereinten Kontinents einzutreten. Damit
machten diese Staaten deutlich, dass ihre gemeinsamen
Interessen weit über die bloße militärische Abwehr der
sowjetischen Bedrohung im Rahmen der kurz zuvor ge-
gründeten NATO hinausgingen und sie auf der Grund-
lage gemeinsamer Werte und kultureller Wurzeln auch
eine vertiefte Kooperation und Zusammenarbeit in ande-
ren wichtigen politischen Bereichen anstrebten. So
wurde der schon lange vorhandene Traum einer europäi-
schen Einigung bereits mehrere Jahre vor der Gründung
der EG in einen festen institutionellen Rahmen gegossen
und damit entschlossen und tatkräftig angegangen.
Dass die junge Bundesrepublik bereits zwei Jahre
später in den Europarat aufgenommen wurde, war als ein
besonderer Beweis des Vertrauens in die Stabilität der
damals noch jungen deutschen Demokratie zu verstehen.
Damit wurde ein wichtiger Beitrag zur Verankerung der
Bundesrepublik im westlichen Lager geleistet. Somit hat
der Europarat ganz entscheidend dabei mitgewirkt, dass
sich Westeuropa von Beginn an im Kalten Krieg nicht
nur als Militärbündnis, sondern auch als Wertegemein-
schaft präsentierte, was seine Anziehungskraft und Legi-
timität beträchtlich steigerte.
Die Geschichte des Europarats hat natürlich auch ihre
dunkleren Kapitel wie zum Beispiel die Krise um den
Ausschluss Griechenlands nach dem Militärputsch 1967.
Aber an solchen Herausforderungen ist der Europarat
bislang immer gewachsen, und er hat daraus auch Leh-
ren für die Weiterentwicklung seiner Institutionen und
Verfahren gezogen.
Seiner größten Herausforderung stand der Europarat
sicherlich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegen-
über. Die Integration einer großen Zahl neuer Mitglied-
staaten war eine Herausforderung. Ihre Bewältigung war
eine große Leistung, die einen Meilenstein in der Ent-
wicklung von Systemen zur Sicherung von Demokratie
und Menschenrechten darstellt. Durch unzählige Hilfe-
stellungen hat der Europarat dazu beigetragen, dass sich
in den Staaten des ehemaligen Ostblocks demokratische
und rechtsstaatliche Strukturen etablieren und entwi-
ckeln konnten und können. Diese Arbeit ist allerdings
auch 20 Jahre nach dem Sturz des Kommunismus noch
25376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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immer nicht vollendet. Auch heute noch gibt es Länder
in Europa, in denen die Menschenrechte nicht oder nur
unzureichend geachtet werden. Und in der Folge des
Kampfes gegen den Terrorismus und der Etablierung au-
tokratischer Strukturen in manchen europäischen Staaten
entstehen wieder neue Gefahren für Demokratie und
Menschenrechte. Gerade deshalb wird die Bedeutung
des Europarats künftig eher noch zunehmen.
Für die deutsche Politik ergibt sich daraus, dass sie
die Bedeutung des Europarats als ein Instrument zur Sta-
bilisierung und Sicherung unserer unmittelbaren und er-
weiterten Nachbarschaft nicht unterschätzen darf, auch
und gerade nicht im Vergleich zur EU. Die Bundesregie-
rung muss sich daher verstärkt für institutionelle Refor-
men des Europarats, insbesondere beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte, einsetzen und darauf
hinwirken, dass dem Europarat ausreichend finanzielle
Mittel zur Erfüllung seiner Aufgaben bereitgestellt wer-
den. Nur so kann diese überaus wichtige Institution wei-
terhin als Garant für ein freies und demokratisches
Europa agieren.
Renate Gradistanac (SPD): Im Jahr 2007 hat eine
Richterin einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für eine
vorzeitige Scheidung mit folgendem Argument abge-
lehnt: „Die Ausübung des Züchtigungsrechts begründet
keine unzumutbare Härte.“ Antragstellerin war eine
Deutsche mit Migrationshintergrund. Zuvor hatte die
gleiche Richterin Maßnahmen zum Schutz derselben
Frau nach dem Gewaltschutzgesetz getroffen. Sie hatte
der Frau zum einen die gemeinsame Wohnung zugewiesen
und zum anderen ein Näherungsverbot gegen den Ehe-
mann erlassen. Obwohl der Fall bundesweit eine große
öffentliche Empörung ausgelöst hat, zeigt er uns doch
auch, wie Gewalt gegen Frauen auch heute immer noch
verharmlost und entschuldigt wird.
Für einen effektiven Gewaltschutz brauchen wir ein
gesellschaftliches Klima, in dem Gewalt gegen Frauen
konsequent geächtet und bekämpft wird. Deshalb haben
wir vor zehn Jahren, unter Rot-Grün, den ersten nationalen
Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
aufgelegt. Das Gewaltschutzgesetz trat im Jahr 2002 in
Kraft. Seitdem können Opfer von Gewalt, zusätzlich zur
Möglichkeit des Aufenthalts im Frauenhaus, eine Weg-
weisung des Täters aus der gemeinsamen Wohnung
durchsetzen. Seit fünf Jahren liegt die erste repräsentative
Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Frauen vor. 40 Pro-
zent der befragten Frauen haben seit dem 16. Lebensjahr
körperliche oder seelische Gewalt oder beides erlebt.
Jede vierte Frau hat Gewalt im häuslichen Umfeld durch
den Partner erlebt, wobei kein Zusammenhang zwischen
Gewalt und Bildungsstand bzw. Schichtzugehörigkeit
feststellbar war. Mit dem im Jahr 2007 in Kraft getretenen
Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen haben
wir Stalking-Opfer besser geschützt. Ebenfalls im Jahr
2007 hat die Bundesregierung schließlich den zweiten
Aktionsplan mit seinen 133 Maßnahmen aufgelegt. Er
unterstreicht die Bedeutung der Frauenhäuser und fordert
eine Vernetzung der Frauenhäuser untereinander und mit
Frauenberatungsstellen und -notrufen.
Heute beraten wir abschließend über vier Anträge zur
Verbesserung der Situation der Frauenhäuser. Unser
schwarz-roter Koalitionsantrag hat das Ziel, den Frauen
bessere Schutzrechte zu ermöglichen, die vor Gewalt
Schutz in einem Frauenhaus suchen. Er greift die Pro-
bleme und Forderungen auf, die uns aus der Praxis der
Frauenhausarbeit berichtet wurden. Die Anhörung zur
Situation der Frauenhäuser hat deutlich gemacht, dass
die Finanzierung der Frauenhäuser in den Bundesländern
einem Flickenteppich gleicht, der unterschiedlicher nicht
sein könnte. Man kann sich daher durchaus fragen, ob
hier noch von gleichwertigen Lebensbedingungen aus-
gegangen werden kann. Wir wollen daher, dass geprüft
wird, ob eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung
nicht doch möglich ist. Infrage käme zum Beispiel eine
institutionelle Förderung, wie sie in Schleswig-Holstein
erfolgt.
Angesichts der unterschiedlichen Finanzierungsrege-
lungen in den Ländern und Kommunen ist es mir auch
wichtig, dass Leitlinien zur Finanzierung von Frauen-
häusern formuliert werden, die sach- und fachgerechte
Kriterien und Qualitätsstandards enthalten. Diese sollen im
Dialog mit den Bundesländern und Einrichtungsträgern
erstellt werden. Wir fordern Verbesserungen bei den gesetz-
lichen Regelungen zur Kostenerstattung. Bürokratische
Hemmnisse müssen abgebaut werden. Wir erwarten, dass
die gesetzlichen Vorschriften der Sozialgesetzbücher II
und XII sowie das Asylbewerberleistungsgesetz besser
an die besondere Situation der Gewaltopfer angepasst
werden. Auch für die Frauen, die grundsätzlich keinen
Anspruch auf Leistungen nach diesen Gesetzen haben,
muss ein niedrigschwelliger Zugang zu den Frauenhäusern
ermöglicht werden. Hierfür brauchen wir gesetzliche Re-
gelungen, die unter anderem die besonderen Probleme von
Frauen in Ausbildung und Studium sowie von Frauen
mit Migrationshintergrund berücksichtigen. Frauenhäuser
müssen allen betroffenen Frauen und ihren Kindern glei-
chermaßen offenstehen.
Im Jahr 2005 haben wir für das SGB II eine klarstel-
lende Regelung zur Kostenerstattung getroffen, nach der
die bisherige Wohnortkommune der Standortkommune
des Frauenhauses die anfallenden Kosten zu erstatten
hat. Damit haben wir das für die Frauen unzumutbare
Hin und Her zwischen den betroffenen kommunalen
Trägern eigentlich beendet. Die Anhörung hat allerdings
gezeigt, dass es hier in der Praxis, und das ist ein Skandal,
Probleme gibt. Ich appelliere daher an die Länder und
Kommunen, die Frauenhäuser finanziell sicher zu stel-
len, anstatt sie durch Kürzungen zu beeinträchtigen. So-
lange es Gewalt gegen Frauen gibt, werden wir unsere
Frauenhäuser brauchen.
Johannes Pflug (SPD): In diesem Monat feiern wir
das 60-jährige Bestehen des Europarates. Der Rat ist die
erste Verwirklichung einer großen politischen Idee, die
europäische Denker immer wieder aufgegriffen haben
und die 1946 Eingang in Winston Churchills berühmte
Züricher Rede fand: Wir müssen eine Art Vereinigte
Staaten von Europa errichten, sagte Churchill. Eine Zu-
sammenarbeit der Staaten sei Europas „Heilmittel“ vom
Schrecken des Weltkrieges und die Hoffnung des Konti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25377
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nents auf eine Zukunft in Freiheit, Sicherheit und Frie-
den. Europa nahm den Auftrag an. 1949 schlossen sich
zehn Länder zur ersten zwischenstaatlichen Organisation
in Europa zusammen. Heute sind es 47 Staaten, in denen
rund 800 Millionen Menschen leben.
Der Europarat ist ein Stabilitäts- und Identitätsanker.
Für die junge Bundesrepublik war ihr Beitritt nur fünf
Jahre nach Kriegsende der erste Schritt zurück in die in-
ternationale Staatengemeinschaft, nach 1989 übernahm
der Europarat wieder eine Vorreiterrolle für Europas Ei-
nigung. Als erste internationale Organisation Europas
nahm er die ehemals kommunistischen Staaten Mittel-
und Osteuropas auf. So ist der Europarat heute kein Club
westlicher Demokratien, sondern Gestalter gesamteuro-
päischer Realität und Identität. Er bildet ein einzigartiges
Forum für eine gemeinsame Politik des gesamten Konti-
nents.
Von seinem Sitz in Straßburg aus arbeitet der Rat für
den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt in Europa.
Er fördert bürgerschaftliches Engagement und unter-
stützt transnationale Initiativen und Netzwerke im Be-
reich Kultur, Jugend, Bildung und Naturschutz. Die
Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren ist aber
die Hauptaufgabe des Europarats. Die Europäische Men-
schenrechtskonvention, die ERMK, ist deshalb das
Herzstück der Organisation. Jeder Staat muss die Kon-
vention unterzeichnen und ratifizieren, bevor er beitreten
kann. Der Europarat hat mit dem Europäischen Gerichts-
hof für Menschenrechte in Straßburg eine unabhängige
Kontrollinstanz geschaffen. Jeder Bürger, der seine
Rechte und Würde verletzt sieht, kann sich an den Ge-
richtshof wenden. Dessen Arbeitspensum ist mit über
100 000 vorliegenden Klagen enorm. Das zeigt ein gro-
ßes Vertrauen der Menschen in die Rechtsprechung und
moralische Autorität dieses Gerichtes.
Menschenrechte werden am ehesten dort geachtet, wo
demokratische Strukturen stabil sind und Rechtsstaat-
lichkeit gewährleistet ist. Der Europarat unterstützt des-
halb politische, gesetzliche und verfassungsrechtliche
Reformen in seinen Mitgliedstaaten. Er schickt Wahl-
beobachter und macht demokratische Missstände öffent-
lich.
Als (stellvertretendes) Mitglied der Parlamentari-
schen Versammlung erlebe ich deren Arbeit hautnah mit
und durfte im April dieses Jahres eine Resolution zum
Verbot von Streumunition in die Parlamentarische Ver-
sammlung einbringen. Durch Streumunition sterben
jährlich Tausende unschuldige Zivilisten. Die einheitli-
che Ächtung und das Verbot dieser Waffen in allen
48 Mitgliedstaaten kann die katastrophalen humanitären
Folgen von Streumunition weltweit eindämmen. Europa
hat so ein deutliches Zeichen gesetzt.
Der Europarat ist eine einzigartige Instanz, die eine
gemeinsame Politik des ganzen Kontinents ermöglicht.
Denn nicht alle Mitglieder wollen oder können auch in
die Europäische Union eintreten. Alle Mitglieder haben
sich durch ihre Mitgliedschaft verpflichtet, die gemein-
samen demokratischen Prinzipien zu erhalten. Das ist
eine große Chance. Wer seine Zugehörigkeit zu einer
Gemeinschaft und ihren Werten bekennt, von dem kann
auch gefordert werden, sie einzuhalten.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung in diesem
Antrag auf, den Europarat zu einer wirklichen Ergän-
zung der Europäischen Union aufzuwerten und sich wei-
terhin für den Beitritt der EU zur Europäischen
Menschenrechtskonvention einzusetzen. Die finanziel-
len Mittel der Organisation sowie die personelle und
finanzielle Ausstattung des Gerichtshofes für Menschen-
rechte müssen konsolidiert werden. Der Europarat
braucht eine mittelfristig gesicherte Budgetstruktur, die
es ihm ermöglicht, auf neue Entwicklungen zu reagieren.
An dieser Stelle möchte ich auch das russische Parla-
ment auffordern, das 14. Zusatzprotokoll zur Europäi-
schen Menschenrechtskonvention zu ratifizieren und so
dem Gerichtshof für Menschenrechte seine Arbeit zu er-
leichtern.
„So moege denn Europa erstehen!“, so endet
Churchills Züricher Rede. 60 Jahre später hat der Euro-
parat viel zu einem neuen friedlichen und fortschrittli-
chen Europa beigetragen und verdient deshalb auch in
Zukunft unsere volle Aufmerksamkeit und Unterstüt-
zung.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Mit der Gründung des Europarates am 5. Mai 1949 woll-
ten die Gründerstaaten bewusst eine Organisation ins
Leben rufen, die ein Schutzwall gegen Verletzung der
Menschenrechte, Missachtung der Menschenwürde,
Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, gegen
Folter und Diskriminierung bilden sollte. Der Europarat
ist heute die älteste zwischenstaatliche politische Orga-
nisation in Europa, die sich im Kern um Menschen-
rechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kümmert.
Mit 47 Staaten, davon 21 mittel- und osteuropäische
Staaten, ist der Europarat die größte Organisation, in der
auch die Türkei und die Russische Förderation sich der
Europäischen Menschenrechtskonvention und den darin
niedergelegten Werten verpflichtet haben. Als einzige
europäische Staaten sind derzeit Belarus und der Kosovo
nicht Mitglied. Der Europarat als wesentlicher politi-
scher Anker und Hüter der Menschenrechte gibt beson-
ders den postkommunistischen Demokratien Europas
umfangreiche Hilfestellungen, gemeinsam mit den Wirt-
schaftsreformen auch die politischen, rechtlichen und
konstitutionellen Reformen durchzuführen und sich da-
mit als Demokratie zu konsolidieren.
Mit der Venedig-Kommission verfügt der Europarat
über ein Gremium von herausragender Kompetenz zur
Abgabe von Empfehlungen und konkreten Hilfestellun-
gen bei rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen
Problemstellungen.
Ein greifbarer Beweis des Wirkens des Europarates
ist in den über 200 verabschiedeten Übereinkommen und
Zusatzprotokollen zu finden, darunter das Europäische
Übereinkommen zur Verhütung von Folter und erniedri-
gender Behandlung – Antifolter-Konvention – die Euro-
päische Sozialcharta, die Europäische Kulturkonvention,
das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin und
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mehrere Abkommen zum Schutz nationaler Minderhei-
ten, gegen Menschenhandel, Terrorismus und zum
Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexu-
ellem Missbrauch.
Neben dieser gesetzgeberischen Tätigkeit hat der
Europarat aber seine herausragende Stellung dadurch er-
worben, dass er konkrete Menschenrechtsverletzungen
in Mitgliedstaaten des Europarates aufgegriffen hat, ob-
jektiv und sehr nachhaltig Behauptungen von Menschen-
rechts- und Rechtsstaatsverletzungen nachgegangen ist
und dazu sehr fundierte Berichte und Resolutionen in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates mit
Zweidrittelmehrheit verabschiedet hat. Denn gerade an-
hand konkreter Einzelfälle können die Missstände in
Mitgliedstaaten in dem Bereich der Rechtsstaatlichkeit,
des Fehlens einer unabhängigen Justiz und eines Über-
gewichts der Staatsanwaltschaft dargelegt werden. Dazu
gehören mit Sicherheit Fälle russischer Menschenrechts-
verteidiger, Fälle von Journalisten und Menschenrecht-
lern aus der Türkei, die Situation politischer Gefangener
in Aserbaidschan oder Armenien, die Verfolgung von
Zivilisten in Tschetschenien und auch der Fall des er-
mordeten Journalisten Gongadze in der Ukraine zu
Kutschma-Zeiten.
Sie werden verstehen, dass ich in diesem Zusammen-
hang auch den verabschiedeten Bericht zu den früheren
Verantwortlichen von Yukos, zu Chodorkowski,
Lebedew, Pitschugin und anderen erwähne. In diesem
beschlossenen Bericht ist versucht worden, deutlich zu
machen, wo die rechtsstaatlichen Defizite bei der Unter-
suchungshaft, bei der Festnahme, bei der Stellung von
Verteidigern und bei der Verfahrensdurchführung in
Strafsachen in der Russischen Förderation auch heute
liegen. Der Fall Chodorkowski ist inzwischen zu einem
Beispiel für den politischen Missbrauch der Justiz ge-
worden.
Der Europarat lebt von der Kontroverse und dem lei-
denschaftlichen Austausch von Argumenten. Mit den
Angehörigen der Delegationen aus 47 Staaten zu disku-
tieren und zu einer Mehrheitsmeinung zu kommen, ist
eine besondere Herausforderung und zeigt immer wieder
das Bemühen und auch das Bestreben, sich über natio-
nale Interessen hinweg für den Erhalt der Menschen-
rechte und für die Verteidigung rechtsstaatlicher Stan-
dards vehement einzusetzen. Die Fortschritte in einigen
Mitgliedstaaten sind nicht immer so groß, wie es er-
wünscht und erwartet wird, aber der Europarat kann mit
seiner Arbeit in seinen Gremien und dem Erzeugen von
Öffentlichkeit dazu einen ganz entscheidenden Beitrag
leisten.
Der Europarat hat in jüngster Zeit gerade auch mit
dem Bericht von Dick Marty zu der Verschleppung von
Menschen durch die CIA und andere Verantwortliche
der Vereinigten Staaten von Amerika mit aktiver oder
passiver Unterstützung Verantwortlicher in einigen euro-
päischen Staaten berechtigtes großes Aufsehen erregt
und damit auch in Deutschland und anderen europäi-
schen Mitgliedstaaten Untersuchungen und Diskussio-
nen befördert. Genau das muss mit der Tätigkeit des
Europarates erzielt werden. Deshalb ist das Wirken in
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
nicht immer den jeweiligen Regierungen genehm. Das
soll es auch nicht sein, und das darf es auch nicht sein.
Die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates sind nämlich nicht Diplomaten, sondern sie
sind Anwälte und Verteidiger derjenigen, deren garan-
tierte Rechte nicht beachtet werden.
Eines der herausragenden und wichtigen Instrumente
ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straß-
burg. Für viele Menschen in den Mitgliedstaaten des
Europarates stellt er häufig die letzte Hoffnung und die
letzte Instanz dar, sich gegen Eingriffe in die eigenen
Rechte, gegen Verletzungen in Verfahren zur Wehr zu
setzen. Mehrmals wurden Änderungen der Organisati-
onsstruktur des Europäischen Menschenrechtsgerichts-
hofs mit dem Ziel seiner Entlastung beschlossen, wie die
Einrichtung einer ersten Instanz oder die Einrichtung ei-
ner gerichtlichen Kammer für den öffentlichen Dienst.
Das alles hat nicht geholfen, die chronische Überlastung
des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs entschei-
dend zurückzuführen. Über hunderttausend Klagen sind
dort anhängig. Eine lange Verfahrensdauer beim Euro-
päischen Menschenrechtsgerichtshof birgt eben die Ge-
fahr in sich, dass die daran beteiligten Menschen nicht
mehr zu ihrem Recht kommen, ihnen nach wie vor nicht
nur Unrecht widerfährt, sondern sie erheblichen Schaden
an Leib und Leben nehmen können.
Aus diesem Grund sind mit dem 14. Zusatzprotokoll
aus dem Jahr 2004 grundlegende Änderungen in der Ar-
beitsweise des Europäischen Menschenrechtsgerichts-
hofs beschlossen worden. Diese Änderungen sind posi-
tiv und nehmen den Menschen nicht den Zugang zum
Gericht, sondern befördern den Zugang zum Gericht.
Einziger großer Nachteil ist, dass 46 Mitgliedstaaten das
Zusatzprotokoll ratifiziert haben, ein Mitgliedstaat, die
Russische Förderation, dies bisher nicht getan hat und
deshalb dieses 14. Zusatzprotokoll bisher nicht in Kraft
treten konnte. Das ist eine gezielte Blockadepolitik der
russischen politischen Verantwortlichen. Ich kann nur
vermuten, dass den russischen Verantwortlichen der
Europäische Menschenrechtsgerichtshof mit seinen Ent-
scheidungen, die auch in vielen Fällen russische Staats-
bürger betreffen, ein Dorn im Auge ist. Denn der Euro-
päische Menschenrechtsgerichtshof weist auf, wo die
rechtsstaatlichen Defizite ganz konkret liegen, und
bringt damit diese Defizite an die Öffentlichkeit.
Es ist schade, dass diese Debatte die Öffentlichkeit
nicht erreichen wird; denn leider müssen die Reden we-
gen der späten Uhrzeit der angesetzten Debatte zu Proto-
koll gegeben werden.
Ich hoffe, dass es in Deutschland gelingt, auch hier im
Deutschen Bundestag, mehr Bewusstsein für die Bedeu-
tung des Europarates zu wecken. Es muss darauf aufmerk-
sam gemacht werden, dass die finanzielle Unterstützung
für das Wirken des Europarates und des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofs schrittweise angehoben wird
und dem Europarat im Ansehen der Abgeordneten und
der deutschen Öffentlichkeit die Bedeutung zukommt,
die er verdient.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25379
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Zur Beratung steht
heute ein Antrag, in dem anlässlich des 60. Jahrestags
des Europarats würdigend die Bedeutung dieser sehr
wichtigen internationalen Organisation hervorgehoben
wird. Die Förderung von Demokratie, der Schutz von
Menschenrechten und die Stärkung von gesellschaftli-
cher Toleranz sind ganz zentrale Aufgaben, denen sich
der Europarat verschrieben hat.
Nun ist es so, dass der vorliegende Antrag nominell
von allen in diesem Hause vertretenen Fraktionen unter-
stützt wird – mit Ausnahme der Linken. Es drängt sich
selbstverständlich die Frage auf, warum die Linke hier
außen vor bleibt: Ist es etwa unser so häufig kritisiertes
Sektierertum? Keinesfalls! Wir, die Linke, unterstützen
den Antrag und stimmen ihm daher auch zu. Unsere na-
mentliche Unterstützung wird jedoch aufgrund einer
höchst bornierten Einstellung der Unionsparteien blo-
ckiert, was ich nur sehr bedauern kann und kritisieren
möchte.
Inhaltlich unterstützen wir den Antrag ohne Wenn
und Aber, da wir auch die Institution des Europarates auf
diese Weise unterstützen. Nicht umsonst war ich als Mit-
glied meiner Partei in dieser Legislaturperiode bei allen
Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung aktiv.
Dies können Ihnen Ihre Kolleginnen und Kollegen, die
Mitglieder der Versammlung sind, sicherlich bestätigen.
Es ist mehr als widersprüchlich, wenn in Straßburg für
ein demokratisches und tolerantes Miteinander und den
Export dieses Modells nach Europa und darüber hinaus
geworben wird, während man hier in Berlin ganz andere
Maßstäbe anlegt: Trotz mehrmaliger, geduldiger Versu-
che weigerten sich die Unionsparteien in diesem Hause,
meine Fraktion bei dem Antrag zu beteiligen.
Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, welch fatale Signalwir-
kung es hat, wenn man selbst in einem Antrag anerkennt,
dass die Europäer heute nicht zuletzt durch die Bemü-
hungen des Europarates – ich zitiere Ihren Antrag – „in
den Genuss eines Lebens in Demokratie“ gekommen
sind. Und gleichzeitig behaftet man ebendiesen Antrag
selbst mit dem Makel eines durch und durch kleinlichen,
parteipolitischen Ausgrenzungsversuchs, der den Regeln
des „Lebens in Demokratie“ meiner Auffassung nach
vollkommen widerspricht.
Minderheitenschutz und Toleranz von Andersdenken-
den – dies scheint bedauerlicherweise die Lehre aus die-
ser Darbietung insbesondere der Unionsfraktion zu sein –
werden in Straßburg von Gott und der Welt verlangt,
während man sie hier in diesem Parlament selber mit Fü-
ßen tritt. Dass dieses Schauspiel ausgerechnet auf dem
Rücken einer höchst respektablen internationalen Orga-
nisation ausgetragen wird, sollte Ihnen, meine Damen
und Herren, gehörig peinlich sein.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Es gibt Institutionen, die in der Öffentlichkeit
weitgehend unbekannt bleiben, obwohl ihr Wirken hilf-
reich und weittragend ist. Dazu gehört der Europarat.
Seine Aufgabe, der Schutz von Menschenrechten, De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit, klingt gut, aber für un-
sere Ohren vielleicht auch etwas banal. Das täuscht;
denn gerade diese Aufgabenstellung hat den Europarat
zu einem wertvollen Instrument in Europa gemacht.
Allein der Umstand, dass ihm heute mit Ausnahme
der Diktatur Weißrussland und des nicht von allen Mit-
gliedern anerkannten Kosovo alle europäischen Staaten
angehören, beweist die Bedeutung dieser ältesten inter-
nationalen Organisation in Europa. Er zeigt seinen Er-
folg und seine Attraktivität. Erworben hat sich der Eu-
roparat dieses Prestige mit konsequenter Vertretung
seiner erklärten Werte. So suspendierte er zum Beispiel
während der Jahre der Junta zwischen 1964 und 1974
das Mitglied Griechenland.
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der
östlichen Hälfte Europa beantragten all jene Staaten
dort, die nun seine Werte teilen wollten, die Mitglied-
schaft im Europarat. Die lange Mitgliederliste hat sich
jedoch zugleich auch als beachtliche Herausforderung
erwiesen; denn der Europarat und seine Werte sind at-
traktiver, als manche der Regierungen und Behörden sei-
ner Mitgliedstaaten möchten.
Die Aufnahme so vieler noch unfertiger Demokratien
hat zu einer neuen Situation geführt. Stärker als zuvor
sah sich der Europarat selbst mit der Frage konfrontiert,
ab wann ein Staat Mitglied werden könne, der sich zwar
auf die Werte des Europarats verpflichtet, sie aber nur
unzureichend zu erfüllen imstande oder gar willens ist.
Darüber fanden bei einer Reihe von Anträgen auf Mit-
gliedschaft Diskussionen innerhalb des Europarats, sei-
ner Parlamentarischen Versammlung und auch in natio-
nalen Parlamenten wie dem Bundestag statt.
Ein allgemeingültiges Kriterium konnte nicht gefun-
den werden. Das ist nicht überraschend; denn die Situa-
tion in jedem Land und ihre Hintergründe sind natürlich
verschieden. Wichtig jedoch sind die Argumente in die-
sen Debatten, sowohl für als auch gegen eine Aufnahme
in den Europarat. Sie sind Ausdruck der notwendigen
Auseinandersetzung über die politische Bedeutung des
Europarates, seine Wirkungsweise und Instrumentarien
sowie deren Weiterentwicklung.
Zumindest indirektes Ergebnis dieses Diskussions-
prozesses ist die Einführung einer Reihe von neuen In-
strumenten wie dem vor genau zehn Jahren eingeführten
Menschenrechtskommissar und dem schon früher instal-
lierten Monitoringverfahren. Auch der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte wurde inzwischen zu ei-
nem ständig tagenden Gericht ausgebaut. Die Unmenge
von Verfahren, die bei ihm angestrengt werden, zeigt so-
wohl seine Bedeutung wie auch die Größenordnung der
Probleme, die es in manchen Mitgliedstaaten wie der
Türkei oder Russland bis heute gibt. Um so ärgerlicher
– wenn auch nicht verwunderlich – ist es, dass gerade
Russland eine größere Effizienz des Gerichtshofes be-
hindert.
Auch die Arbeit des Menschenrechtskommissars und
die Ergebnisse der Monitoringverfahren machen deut-
lich, dass der Schutz der Menschenrechte, aber auch die
Unabhängigkeit der Justiz und die Garantie rechtsstaatli-
cher Verfahren keineswegs Selbstverständlichkeiten in
Europa sind. Auch die Berichte des Menschenrechts-
25380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
kommissars haben sich als wichtige Sammlung von Un-
zulänglichkeiten und Vorschlägen zu ihrer Behebung er-
wiesen.
Das gilt im Übrigen für alle Mitgliedstaaten des Eu-
roparates. Für Deutschland beispielsweise nannte der
Bericht des Menschenrechtskommissars Tomas
Hammarberg im Jahre 2006 immerhin 55 Empfehlun-
gen. Die unparteiische Arbeit nicht nur des Menschen-
rechtskommissars, sondern des Europarates insgesamt
ist notwendig für seine Seriosität und damit die Wirk-
samkeit seiner Bewertungen und Vorschläge.
In Ländern wie Deutschland, wo zu Recht die Lage
der Menschenrechte woanders häufig kritisiert wird,
muss deshalb der Erfüllung von Auflagen des Europa-
rates besondere Bedeutung beigemessen und seiner Ar-
beit die gebührende öffentliche Aufmerksamkeit gezollt
werden. Dass wir als Bundestag diese Debatte führen
und den zugehörigen Antrag gemeinsam beschließen,
finde ich deshalb gut und richtig. Dass wir jedoch nur
nach Mitternacht diskutieren könnten und deshalb un-
sere Beiträge lediglich zu Protokoll geben, scheint mir
ein Zeichen für falsche Prioritäten in der Themenpla-
nung des Bundestages zu sein.
Anlage 34
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Berichts: Entwurf eines …
Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung und
Bestechlichkeit von Abgeordneten –
(… StrÄndG) (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Die für heute anberaumte Beratung des von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Gesetzentwurfs ei-
nes Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung und Be-
stechlichkeit von Abgeordneten – wurde durch Mehr-
heitsbeschluss von der Tagesordnung genommen.
Hierzu sind einige grundsätzliche Bemerkungen notwen-
dig.
Wie sich aus § 108 e StGB ergibt, ist Abgeordneten-
bestechung nach deutschem Recht schon jetzt strafbar.
Einen ähnlich eng gefassten Straftatbestand hat Öster-
reich erst im Januar 2008 mit § 304 a in das österreichi-
sche Strafgesetzbuch eingefügt. Dort begnügt man sich
also mit einem Rechtszustand, der in Deutschland als re-
formbedürftig angeprangert wird. Bündnis 90/Die Grü-
nen leiten dies aus dem Strafrechtsübereinkommen über
Korruption des Europarates vom 27. Januar 1999 und
aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen
Korruption vom 9. Dezember 2003 ab. Dabei wird der
Eindruck vermittelt, dass die Ausweitung strafbarer
Sachverhalte zwingend geboten sei. Man kann sich
schon fragen, warum Bündnis 90/Die Grünen dann
nichts gemacht haben, als sie noch in Regierungsverant-
wortung waren. Aber eine völker- oder europarechtliche
Verpflichtung besteht allerdings nicht. Ganz abgesehen
davon, dass das Übereinkommen des Europarates von
Deutschland nicht ratifiziert wurde, behält Art. 37 Abs. 1
jedem Vertragsstaat ohnehin das Recht vor, die Ver-
pflichtungen aus Art. 4, 6 bis 8, 10 und 12 nicht in inner-
staatliches Recht umzusetzen. Das Übereinkommen der
Vereinten Nationen ist ebenfalls nicht ratifiziert, sodass
Handlungsdruck nicht besteht.
Dennoch stellt sich die Große Koalition der Aufgabe,
über eine Ausweitung des Straftatbestandes in § 108 e
StGB nachzudenken. Allerdings sollte eine isolierte Lö-
sung unterbleiben. Denn neben § 108 e StGB sind auch
wesentliche Vorschriften des 30. Abschnittes StGB
– Straftaten im Amt – wie beispielsweise die Vorteilsan-
nahme und die Bestechlichkeit, die Vorteilsgewährung
und die Bestechung sowie Straftatbestände des 26. Ab-
schnittes StGB – Straftaten gegen den Wettbewerb – wie
Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Ver-
kehr – § 299 StGB – dringend reformbedürftig. Jene
Straftatbestände sind so ausgestaltet, dass Bürgerinnen
und Bürger sie nicht mehr verstehen. Sie sind zu kom-
plex und zu kompliziert formuliert.
Eine solch umfassende Reform braucht Zeit. Dass der
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen sich nicht
einmal als „Notreparatur“ eignet, ergibt sich beeindru-
ckend aus der Stellungnahme des Deutschen Anwaltver-
eins vom Januar 2009. Die Abgrenzung zwischen er-
laubtem und strafbarem Verhalten eines Abgeordneten
ist danach Bündnis 90/Die Grünen nicht gelungen. Der
Gesetzentwurf scheitert schon am Gebot der Bestimmt-
heit von Strafgesetzen – Art. 103 Abs. 2 GG.
Dass es schwierig ist, strafwürdiges Verhalten von
Mandatsträgern von politisch gewünschtem Tun abzu-
grenzen, hat schon die große Strafrechtskommission
feststellen müssen, die in einem Zeitfenster von 1957 bis
1960 versucht hat, zur Abgeordnetenbestechung einen
Straftatbestand auszuformulieren. Bündnis 90/Die Grü-
nen versuchen diesem Problem Herr zu werden, indem
strafloses nicht verwerfliches gegen strafbar verwerfli-
ches abgegrenzt wird. Es wird die Verwerflichkeitsklau-
sel des Nötigungstatbestandes – § 240 Abs. 2 StGB –
übernommen, ohne zu erkennen, dass es im Gegensatz
zum Nötigungstatstrafbestand des § 240 StGB bei der
Abgeordnetenbestechung an einem konkreten Nöti-
gungsmittel fehlt. Die berechtigte, heftige Kritik, die Re-
gina Michalke in der Festschrift für Reiner Hamm, Seite
461, zum Ausdruck bringt, haben Bündnis 90/Die Grü-
nen nichts entgegenzusetzen.
Die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Ab-
geordnetenbestechung referierte „große Lösung“ setzt
eine fundierte rechtswissenschaftliche und rechtspoliti-
sche Diskussion voraus, und die braucht eben ihre Zeit.
Mit der Verabschiedung eines unzulänglichen Gesetzes
würden den Betroffenen Steine statt Brot gegeben. Dies
ist mit uns nicht zu machen. Rechtspolitik darf sich nicht
daran orientieren, was populär, sondern was durchdacht
und juristisch sauber formuliert ist.
Joachim Stünker (SPD): Für die SPD-Bundestags-
fraktion steht die Notwendigkeit einer grundsätzlichen
Erweiterung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbe-
stechung außer Zweifel. Die Bundesrepublik Deutsch-
land kann nicht umhin, die Vorgaben des Strafrechts-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25381
(A) (C)
(B) (D)
übereinkommens des Europarates über Korruption vom
27. Januar 1999 und das VN-Übereinkommen gegen
Korruption vom 31. Oktober 2003 umzusetzen sowie die
Strafbarkeitslücke bei Korruptionshandlungen von und
gegenüber kommunalen Mandatsträgern zu schließen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben bereits in der letzten Wahlperiode einen ersten An-
lauf unternommen, das bislang straflose Annehmen,
Sich-Versprechen-Lassen oder Fordern von Vorteilen für
Mandatshandlungen unter Strafe zu stellen. Den Grund,
wieso das VN-Übereinkommen gegen Korruption bis
heute dennoch nicht umgesetzt wurde, hat die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen selbst mit zu verantworten. Der
Entwurf der rot-grünen Koalition scheiterte in der
15. Wahlperiode daran, dass sich die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen nicht darauf verständigen konnte. Die
Kollegen Beck und Ströbele waren unterschiedlicher
Auffassung. Die vorgezogene Bundestagswahl verhin-
derte dann die weiteren Beratungen. Sie haben daher
selbst maßgeblich dazu beigetragen, dass dieser für die
Glaubwürdigkeit des Parlaments bedeutende Regelungs-
bedarf heute in einer Geschäftsordnungsdebatte versan-
den muss.
Leider ergeht es uns mit unserem neuen Koalitions-
partner nicht besser. In der Großen Koalition haben wir
die Beratungen unverzüglich wieder aufgenommen.
Lange Zeit verweigerte allerdings die CDU/CSU-Frak-
tion weitere Gespräche zu diesem Thema. Daraufhin ha-
ben wir einen eigenen Gesetzentwurf der SPD-Fraktion
erarbeitet. Nach dem Koalitionsvertrag dürfen Gesetz-
entwürfe aber nur gemeinsam eingebracht werden. Die
Umsetzung des VN-Übereinkommens gegen Korruption
scheitert in der 16. Wahlperiode daran, dass sich die
Unionsfraktion in der Frage der Strafbarkeit der Abge-
ordnetenbestechung einfach taub stellt.
Die geltenden Strafvorschriften genügen weder inter-
nationalen Übereinkommen noch der tatsächlichen Le-
benswirklichkeit. Bislang sind die Bestechlichkeit und
Bestechung von Volksvertretern nur in den Formen des
Stimmenkaufs und -verkaufs bei Abstimmungen als
Abgeordnetenbestechung nach § 108 e Strafgesetzbuch
strafbar. Das ist zu eng. Die Vorschrift reicht nicht aus,
alle strafwürdigen Verhaltensweisen zu erfassen.
Die auf der Ebene des Europarats und der Vereinten
Nationen entstandenen Konventionen enthalten Vorga-
ben zu einer weiteren Erfassung von Korruptionstaten
von und gegenüber Abgeordneten. Die Vorschriften for-
dern, dass „gekauftes“ oder „verkauftes“ Verhalten des
Abgeordneten auf das Vornehmen oder Unterlassen ei-
ner Handlung bei der Wahrnehmung des Mandats er-
streckt werden muss. Außerdem hat der Bundesgerichts-
hof im sogenannten Wuppertaler Korruptionsskandal
sowie Kölner Müllskandal entschieden, dass kommunale
Mandatsträger in der Regel keine Amtsträger im Sinne
des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind. Dies führt zu erhebli-
chen Lücken bei der Korruptionsbekämpfung im kom-
munalen Bereich. Der Tatbestand der Abgeordnetenbe-
stechung in der Form des Stimmenkaufs und -verkaufs
ist daher durch neue Straftatbestände gegen die Bestech-
lichkeit und Bestechung der Mitglieder von Volksvertre-
tungen zu ergänzen, indem andere, von § 108 e StGB
bisher nicht erfasste Korruptionshandlungen von und ge-
genüber Abgeordneten unter Strafe gestellt werden.
Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hierzu
vorgelegten Vorschläge kann ich nicht befürworten. So
wird die Unrechtsvereinbarung durch das Merkmal „als
Gegenleistung dafür, dass es in Ausübung seines Man-
dats in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan
eine Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der In-
teressen des Leistenden oder eines Dritten vornehme
oder unterlasse“ umschrieben. Das finale Element „zur“
halte ich nicht für sachgerecht. Der Mandatsträger soll
nicht bestraft werden, weil er Handlungen zur Vertretung
von Interessen vornimmt, sondern weil er einen Vorteil
als Gegenleistung für eine Mandatshandlung vornimmt.
Die Abgeordnetenbestechung muss mit bestmögli-
cher Klarheit auf den Bereich zweifellos strafwürdiger
Fälle beschränkt sein. Für das Ansehen des Parlaments
wie für die Arbeit des einzelnen Abgeordneten wäre es
sehr nachteilig, wenn zu weit gefasste oder unklare Tat-
bestände zu Anträgen von Staatsanwaltschaften auf Auf-
hebung der Immunität eines Abgeordneten auch in sol-
chen Fällen führen würde, in denen sich bei näherer
Betrachtung alsbald ergibt, dass an der Sache „nichts
dran“ ist.
Jörg van Essen (FDP): Wir führen heute eine Ge-
schäftsordnungsdebatte über den Bericht des Rechtsaus-
schusses gemäß § 62 Abs. 2 GOBT, da der Rechtsaus-
schuss wiederholt die Sachberatung des Gesetzentwurfs
der Grünen zur Abgeordnetenbestechung vertagt hat.
Obwohl die Debatte heute eigentlich keinen Anlass für
eine Diskussion in der Sache bietet, möchte ich dennoch
die Gelegenheit nutzen, um einige grundsätzliche Dinge
klarzustellen.
Ich verwehre mich entschieden dagegen, dass wieder-
holt der Eindruck vermittelt wird, Deutschland nehme
die Korruptionsbekämpfung nicht ernst und unterlasse
die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen. Ich
möchte daran erinnern, dass der Gesetzgeber in den ver-
gangenen Jahren eine Reihe von Gesetzen verabschiedet
hat, mit denen die Korruption in Deutschland effektiv
bekämpft werden kann. Ich nenne hier nur das Korrup-
tionsbekämpfungsgesetz von 1997. Wir haben damit
dem Staat für die Korruptionsbekämpfung ein gutes In-
strument an die Hand gegeben. Die FDP-Bundestags-
fraktion hat sich auch stets dafür eingesetzt, den eigentli-
chen Schwerpunkt der Korruptionsbekämpfung, den
präventiven Bereich, zu stärken. Sie hat sich immer da-
rum bemüht, dass die Verwaltungen in Bund, Ländern
und Gemeinden die erforderlichen Maßnahmen ergrei-
fen, die bereits die Entstehung von Korruption im An-
satz ersticken. Dabei darf es keinen Unterschied machen,
ob man Korruption im öffentlichen oder im privatwirt-
schaftlichen Bereich verhindern bzw. bestrafen will. Ein
Rechtsstaat benötigt einen effektiven Schutz vor Korrup-
tion in beiden Bereichen.
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
orientiert sich an der UN-Konvention gegen Korruption.
Auch hier ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass das
25382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
deutsche Recht fast alle rechtsverbindlichen Vorgaben
des umfangreichen UN-Übereinkommens erfüllt. Inte-
ressanterweise wird dies jedoch regelmäßig verschwie-
gen. Zutreffend ist, dass die Vorgaben, die das Über-
einkommen zur Abgeordnetenbestechung macht, im
deutschen Recht noch nicht umgesetzt sind. An dieser
Stelle ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden,
dass das UN-Übereinkommen in Bezug auf die Rechte
von Abgeordneten zu erheblichen Problemen führt. Ich
brauche die Argumente daher hier nicht zu wiederholen.
Die Verbeamtung des Abgeordneten, die unter Rot-Grün
mit den Verschärfungen im Abgeordnetenrecht einge-
führt werden sollte, droht erneut durch das UN-Überein-
kommen. Die rot-grüne Bundesregierung hätte bei den
Verhandlungen über das Übereinkommen niemals einer
Gleichsetzung von Amtsträgern und Abgeordneten zu-
stimmen dürfen. Sie widersetzte sich damit der damals
von allen Fraktionen vertretenen Auffassung. Diese
Frage berührt den verfassungsrechtlich geschützten
Kernbereich der Ausübung des freien Mandats. Der
Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung von 2006
hierzu ausgeführt:
Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsaus-
übung. Zwischen typischem Verwaltungshandeln in
behördlichen oder behördenähnlichen Strukturen
und dem politischen Handeln in Volksvertretungen
aufgrund eines freien Mandats gibt es strukturelle
Unterschiede, die eine differenzierte Behandlung
beider Handlungsformen öffentlicher Gewalt recht-
fertigen.
Einigen Mitgliedern dieses Hauses sei die Lektüre
dieser Entscheidung zur Nacharbeit empfohlen.
Abschließend stelle ich für die FDP-Bundestagsfrak-
tion fest, dass es der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen nicht vermag, auf die aufgeworfenen Fragen
sachgerechte Antworten zu geben. Die in dem Gesetz-
entwurf genutzten Begriffe sind weitgehend zu unbe-
stimmt. Der in dem Gesetzentwurf geforderte „qualifi-
zierte Unrechtszusammenhang“ bleibt unklar und ist
nicht geeignet, die Abgrenzung zwischen erlaubten und
unerlaubten Verhalten trennscharf zu definieren. Sollte
der Gesetzentwurf in der nächsten Woche erneut zur Ab-
stimmung gestellt werden, wird meine Fraktion dem
Entwurf die Zustimmung verweigern.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Im Strafgesetz-
buch finden sich eine Vielzahl von Strafnormen, deren
Zweck es ist, die parlamentarische Demokratie vor Fein-
den zu schützen. Das Strafgesetzbuch nimmt Terroristen,
Verfassungsfeinde, Hetzredner und Wahlfälscher und
viele andere ins Visier. Doch gegenüber den obersten
Vertretern der Demokratie – den Abgeordneten – übt es
sich in Naivität.
Das Strafgesetzbuch stellt bislang nur demjenigen
Abgeordneten Strafe in Aussicht, der sich seine Stimme
bei einer Wahl oder Abstimmung abkaufen lässt. Be-
straft werden danach nur sehr dumme Abgeordnete.
Denn es erfordert sehr viel Dummheit, sich für eine Ab-
stimmungsentscheidung unmittelbar und in Geld entloh-
nen zu lassen. Bislang nicht erfasst ist dagegen das
„sozialtypische Abgeordnetenverhalten“ einiger Abge-
ordneter. Dazu gehört der Beratervertrag ohne Beratung.
Dazu gehört der gut bezahlte Stuhl im Aufsichtsrat, auf
dem der Mandatsträger nie Platz nimmt. Dazu gehört
eine häufige und regelmäßige Einladung zu Übernach-
tung und Essen durch den immer gleichen „externen Be-
rater“.
In dieser Woche sollte über einen Gesetzentwurf der
Grünen abgestimmt werden. Danach wäre zukünftig je-
der rechtswidrige Vorteil, der für jedes politische Tun
oder Unterlassen eines Mandatsträgers gewährt oder an-
genommen wird, unter Strafe gestellt. Über den Gesetz-
entwurf wird in dieser Woche nicht abgestimmt. Statt-
dessen reden wir zu einem schmalen Bericht des
Rechtsausschusses, der die schlichte Tatsache wieder-
gibt, dass die Regierungsfraktionen den Gesetzentwurf
der Grünen mit ihrer Mehrheit einfach von der Tages-
ordnung gestrichen haben. Dieses Verhalten der Re-
gierungsfraktionen zeugt nicht nur von Arroganz. Es
zeugt zudem von erschreckender Ignoranz gegenüber
den Feinden der Demokratie.
Abgeordnete, die die Ideen der Demokratie verraten,
indem sie persönliche Vorteile statt allgemeinen Nutzen
erstreben, sind Feinde der Demokratie. Sie sind die
Feinde der Demokratie im Herzen der Demokratie, im
Parlament. Sie haben Strafe verdient. Vielleicht ist die
Demokratie deshalb bedroht, weil ihre ersten Vertreter
keine Mehrheit aufbringen wollten, um die Demokratie
zu schützen. Es bleibt zu hoffen, dass das Thema bald
wieder aufgegriffen wird.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
müssen heute über die wirklich skandalöse Untätigkeit
der Großen Koalition im Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages sprechen. Seit über acht Monaten verwei-
gert die Koalition auch nur eine Sachdebatte über unse-
ren Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der Bestechung und
Bestechlichkeit von parlamentarischen Mandatsträgern
in deutschen Parlamenten. Immer wieder forderten wir
diese Debatte ein, und immer wieder wurde sie durch
Absetzung von der Tagesordnung ohne Begründung un-
terbunden. Das ist ein Missbrauch der Mehrheitsrechte
im Parlament, den wir nicht akzeptieren können. Ar-
beitsverweigerung im Bundestag ist nicht hinnehmbar.
Tatsächlich verbirgt sich dahinter die tiefe Zerstrittenheit
und rechtspolitische Lähmung der Großen Koalition. Ich
hoffe sehr, dass die Wahlen im September zu einer Kon-
stellation im Hohen Hause führen werden, mit der diese
beschämende Lähmung überwunden wird.
Denn in der Sache ist ein Handeln überfällig.
Deutschland verharrt im Kampf gegen die Korruption im
Mittelfeld zwischen Staaten mit weitreichender Korrup-
tionsbekämpfung und völlig korrupten Staaten – so
Transparency International in der Auswertung des Kor-
ruptionswahrnehmungsindex 2008. Wir sind hier keinen
Schritt weitergekommen, weil die Koalition bei der Kor-
ruptionsbekämpfung versagt hat. Nein, noch viel schlim-
mer: Sie hat den Kampf gegen die Korruption noch nicht
einmal in Angriff genommen, sondern schon vor Beginn
der Legislaturperiode aufgegeben. Im Koalitionsvertrag
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25383
(A) (C)
(B) (D)
von CDU/CSU und SPD findet sich deshalb auch nur
beredtes Schweigen zum Thema Korruptionsbekämp-
fung.
Korruption ist ein gesellschaftliches Übel, das die
Grundwerte unseres demokratischen Rechtsstaates be-
droht. Sie macht auch vor den Türen der Volksvertretun-
gen nicht halt. Deshalb hat auch der Bundesrat schon
2002 festgestellt, dass Mandatsträgerinnen und Man-
datsträger zunehmend in Korruptionsgeflechte einge-
bunden sind.
Ich muss mich tatsächlich fragen, wieso die Gegner
unseres Gesetzentwurfs sich so sehr sträuben, strafbares
Verhalten als solches zu benennen. Wir haben als Abge-
ordnete eine Vorbildfunktion. Die Bürgerinnen und Bür-
ger müssen darauf vertrauen können, dass wir bei der
Entscheidungsfindung nur den Bindungen unseres Ge-
wissens unterworfen sind, so wie Art. 38 GG es von uns
verlangt. Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeord-
neten führt zu einem Vertrauensverlust der Bürgerinnen
und Bürger in die Funktionsfähigkeit des Parlamentes
und in die Integrität ihrer Volksvertreterinnen und Volks-
vertreter. Ich möchte hier die Kanzlerin Frau Merkel zi-
tieren. Als Abgeordnete ohne Regierungsverantwortung
meinte sie noch, dass Vertrauen „so etwas wie der
Schmierstoff unserer Demokratie“ sei. Schade, dass
Angela Merkel das als Kanzlerin vergessen hat.
Abgesehen von unserer politischen Verpflichtung, ge-
gen Bestechung und Bestechlichkeit in Parlamenten vor-
zugehen, ist eine Regelung aus Rechtsgründen notwendig.
Wir haben das Korruptionsabkommen des Europarates
von 1999 unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Wir haben
das UNO-Übereinkommen gegen Korruption von 2003
unterzeichnet, aber nicht ratifiziert – in beiden Fällen,
weil die Koalition, aber auch die FDP nicht bereit sind,
eine effektive Strafverfolgung zu gewährleisten und den
Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung einzufüh-
ren. Die Koalitionsfraktionen ignorieren damit nicht nur
die Verpflichtungen aus internationalen Übereinkom-
men, sondern auch den Bundesgerichtshof. Der hat den
Gesetzgeber im Mai 2006 dazu aufgefordert, diese Lü-
cke in unserer Rechtsordnung zu schließen.
Ich habe gesagt, dass sich zur Korruptionsbekämp-
fung nur Schweigen im Koalitionsvertrag finden lässt.
Das stimmt so nicht, da muss ich mich korrigieren. Kor-
ruptionsbekämpfung taucht sehr wohl auf, aber selbst-
verständlich nur im Zusammenhang mit der Entwick-
lungszusammenarbeit. Das ist peinlich. Wie wollen wir
denn glaubhaft eine effektive Bekämpfung der Korrup-
tion in anderen Ländern einfordern, wenn wir mit der
Umsetzung der Übereinkommen der Vereinten Nationen
und des Europarates schon fast ein Jahrzehnt hinterher-
hinken? Die Bestechung ausländischer Abgeordneter ist
nach bestehender Gesetzeslage in Deutschland jedenfalls
strafbar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeord-
neter – jedenfalls solange es um mehr als nur den
Stimmkauf geht. Das geht so nicht.
Ich fordere Sie deshalb auf, das Vertrauen der Bürge-
rinnen und Bürger in das hohe Gut des unabhängigen
Repräsentanten wiederherzustellen und unserem Gesetz-
entwurf zuzustimmen oder endlich einen eigenen Ent-
wurf vorzulegen.
Anlage 35
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Reform der
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Zwangsvollstreckung beschleuni-
gen – Gläubigerrechte stärken
– Entwurf eines Gesetzes über die Internet-
versteigerung in der Zwangsvollstreckung
(Tagesordnungspunkt 31 a und b und Zusatz-
tagesordnungspunkt 8)
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): Zu Beginn der
Legislaturperiode hat die Große Koalition im Koalitions-
vertrag vereinbart: „Wir streben eine umfangreiche Mo-
dernisierung der Sachaufklärung im Zwangsvollstre-
ckungsverfahren an mit dem Ziel, dem Gläubiger
raschen und gezielten Zugriff auf das Vermögen des
Schuldners zu ermöglichen und die Vollstreckungs-
organe zu entlasten“. Ich kann hier und heute sagen:
Auftrag ausgeführt.
Das Zwangsvollstreckungsrecht der Bundesrepublik
Deutschland ist das Recht der Anwendung staatlicher
Gewalt zur Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche
des Gläubigers gegen den Schuldner auf Grundlage ei-
nes vollstreckbaren Titels. Eine wirkungsvolle Zwangs-
vollstreckung gehört zu den Grundfesten eines gut funk-
tionierenden Rechtsstaates. Auch für den
Wirtschaftsstandort ist sie von grundsätzlicher Bedeu-
tung. Forderungsausfälle können Privatpersonen, aber
auch gesunde Unternehmen in die Insolvenz treiben und
Arbeitsplätze gefährden.
Seit seinem Inkrafttreten vor über 100 Jahren ist das
Zwangsvollstreckungsrecht der ZPO in seiner Grund-
struktur nicht verändert worden. Inzwischen haben sich
aber die Lebensverhältnisse in vielfacher Hinsicht
grundlegend gewandelt. Während Ende des 19. Jahrhun-
derts das Vermögen des Schuldners fast überwiegend aus
beweglichen Sachen bestand, spielt heutzutage die Voll-
streckung in körperliche Sachen kaum noch eine Rolle.
Von viel größerem Interesse ist für den Gläubiger die
Pfändung zum Beispiel von Kontoguthaben und Arbeits-
einkommen. Die Frage ist nur, woher der Gläubiger wis-
sen soll, wo der Schuldner sein Konto führt oder wo er
arbeitet.
Wir alle kennen – so glaube ich – hinreichend genug
Klagen von Bürgerinnen und Bürgern, dass der Staat sie
mit der Vollstreckung ihrer titulierten Forderungen im
Regen stehen lasse. Nach bisherigem Recht erhält der
Gläubiger nämlich die notwendigen Informationen zum
Beispiel über Kontenguthaben und Arbeitseinkommen
erst nach erfolgloser Sachpfändung im Rahmen der „ei-
25384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
desstattlichen Versicherung“ des Schuldners am Ende
der Vollstreckung. Eine Möglichkeit, die Selbstauskunft
des Schuldners zu überprüfen, besteht nicht. Die Erfah-
rungen in der Praxis zeigen daher leider auch, dass auf
die Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Selbstaus-
künfte wenig Verlass ist. Grund ist zum Teil die fehlende
Sorgfalt der Schuldner, zum anderen aber auch das Be-
wusstsein, dass das Entdeckungsrisiko falscher Angaben
gering ist.
Informationsdefizite des Gläubigers führen in der Re-
gel dazu, dass Vollstreckungsmaßnahmen mangels Er-
folgsaussicht entweder gar nicht erst eingeleitet werden
oder aber ergebnislos bleiben. Der Gläubiger ist deshalb
darauf angewiesen, dass ihm der Staat heutzutage effi-
ziente Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um das
pfändbare Vermögen des Schuldners zu ermitteln. Vor
diesem Hintergrund zielt der Gesetzentwurf darauf ab,
die zivilrechtliche Zwangsvollstreckung zu modernisie-
ren, effizienter und zügiger zu gestalten und damit in je-
der Hinsicht den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts an-
zupassen.
Dieser Gesetzentwurf verschafft dem Gläubiger nun-
mehr bereits zu Beginn der Vollstreckung einen An-
spruch gegen den Schuldner auf Offenlegung seiner Ver-
mögensverhältnisse.
Kommt der Schuldner dem nicht nach oder behauptet,
keine pfändbare Habe zu haben, öffnet der Gesetzent-
wurf bestimmte Datenbanken (Sozial-, Kontenstamm-
und Kfz-Registerdaten), die bisher nur öffentlichen
Gläubigern zur Verfügung standen, künftig auch der pri-
vaten Zwangsvollstreckung. Der private Gläubiger er-
hält mit diesem Gesetz daher erstmals die Möglichkeit,
den Gerichtsvollzieher prüfen zu lassen, ob der Schuld-
ner Konten oder Arbeitsverhältnisse verschwiegen hat.
Im Rahmen der Berichterstattergespräche hatten wir
uns insbesondere in dieser Frage auch ausführlich mit
dem Justizgewährungsanspruch des Gläubigers auf der
einen Seite und dem Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung des Schuldners auf der anderen Seite ausein-
anderzusetzen. Für die Erteilung der Fremdauskünfte
war zum Ausgleich für das Eingreifen in das informatio-
nelle Selbstbestimmungsrecht eine gewisse Bagatell-
grenze einzuführen, ab der diese zusätzlichen Aus-
kunftsrechte gelten sollten. Diese Hürde führt zwar dazu,
dass Gläubiger von Kleinforderungen von den zusätzli-
chen Auskunftsrechten keinen Gebrauch machen kön-
nen. Die Schwelle konnte auf Initiative der CDU/CSU
im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens aber von zunächst
geplanten 600 auf nun 500 Euro als Hauptforderung ab-
gesenkt werden, sodass mehr Gläubiger von den Aus-
kunftsrechten profitieren können, als ursprünglich im
Gesetzentwurf vorgesehen. Neben der grundsätzlichen
materiellrechtlichen Neustrukturierung der Sachaufklä-
rung strafft diese Reform zudem die Vollstreckungsab-
läufe durch moderne, effektive und IT-gesteuerte Verfah-
ren, mit denen die zivile Zwangsvollstreckung ihrem
Verfassungsauftrag insgesamt wieder voll gerecht wer-
den kann.
Auch das in diesem Gesetzentwurf geplante zentrale
elektronische Schuldnerverzeichnis, die elektronische
Aktenführung der Gerichtsvollzieher und das elektro-
nisch geführte Vermögensverzeichnis leisten dazu
ebenso einen Beitrag wie zur Modernisierung der Justiz
und zum Bürokratieabbau.
In diesem Zusammenhang sei mir abschließend die
Bemerkung erlaubt: Diese vorletzte Sitzungswoche des
Bundestages in dieser Legislaturperiode ist sozusagen
die Onlinewoche der Justiz. Nicht nur, dass wir das
Zwangsvollstreckungsrecht künftig online gestalten, wir
beschließen heute auch die Internetversteigerung in der
Zwangsversteigerung und bei Fundsachen. Damit wird
die Internetversteigerung endlich auch in der Zwangs-
vollstreckung zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Die Entwicklung der letzten Jahre und die weit verbrei-
tete Akzeptanz von Geschäften im Internet haben dazu
geführt, dass Auktionsplattformen aus dem Wirtschafts-
leben mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind. Dieser
Wandel soll nun auch in der Zwangsversteigerung voll-
zogen werden.
Außerdem stehen die Verabschiedung des elektroni-
schen Grundbuches sowie der elektronische Ausbau des
Vereinsregisters in dieser bzw. der kommenden Sit-
zungswoche an. Damit belegt die Justiz eindrucksvoll,
wie Bund und Länder die Nutzbarkeit der elektronischen
Medien im Sinne einer bürgerfreundlichen, modernen
effizienten Justiz umsetzen.
Abschließend darf ich mich bei meinen Kollegen
recht herzlich für das konstruktive und erfolgreiche Be-
richterstattergespräch bedanken. Ebenso danke ich dem
Justizministerium für die qualifizierte und konstruktive
Begleitung. Ich denke, wir haben ein Gesetz auf den
Weg gebracht, das für den Justizgewährungsanspruch
des Gläubigers neue wirkungsvolle Weichen stellt und
dem Auftrag aus dem Koalitionsvertrag gerecht wird.
Dirk Manzewski (SPD): So gut die Zwangsvollstre-
ckung derzeit rechtlich theoretisch geklärt sein mag, so
deutlich werden in der praktischen Umsetzung Mängel.
Wir alle kennen doch die typischen Probleme. Es gibt einen
Unterhaltstitel, aber der kann nicht vollstreckt werden,
weil entweder der Aufenthalt des Schuldners nicht heraus-
zubekommen ist oder völlig ungeklärt ist, ob überhaupt
– und wenn ja, wo – etwas zu vollstrecken ist. Ergebnis:
ein vergeblicher Vollstreckungsversuch und ein Titel,
der sein Papier nicht wert ist.
Hier setzt der Gesetzesentwurf an. Um die Effizienz und
Leistungsfähigkeit der Zwangsvollstreckung zu steigern,
soll dem Gläubiger Zugang zu besseren Informationen
über mögliche Vollstreckungsobjekte und den Aufenthalt
des Schuldners gewährt werden. Das wird unter anderem
dadurch gewährleistet, dass der Gerichtsvollzieher zur
Erhebung von Namen und Anschrift des Arbeitgebers
des Schuldners, von Kontenstammdaten und von Daten
aus dem Kraftfahrzeugregister ermächtigt wird. Abgesehen
davon, dass damit die Möglichkeiten der Informations-
beschaffung ausgeweitet werden, kann dies ab jetzt bereits
schon vor Einleitung von Beitreibungsmaßnahmen erfolgen
und bedarf nicht mehr eines vorangegangenen fruchtlosen
Fahrnispfändungsversuchs.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25385
(A) (C)
(B) (D)
Die Zwangsvollstreckung kann damit viel zielgerichteter
und effizienter erfolgen. Zudem werden die Verwaltung der
Vermögensverzeichnisse und die Führung des Schuldner-
verzeichnisses automatisiert und zentralisiert. Die derzeit
erhobenen Daten besitzen nämlich nur Aussagekraft für
den jeweiligen Gerichtsbezirk, was im Zeitalter moderner
Schuldnermobilität nicht mehr ausreichend ist. Weitere
Maßnahmen, wie im Zusammenhang mit der Förderung
der gütlichen Einigung, runden das Gesamtpaket ab. Ich
bin der festen Überzeugung, dass all diese Maßnahmen
geeignet sind, die Sachaufklärung in der Zwangsvoll-
streckung zu erleichtern und damit überhaupt effiziente
Zwangsvollstreckungen zu gewährleisten.
Wir haben uns natürlich ernsthafte Gedanken darüber
gemacht, ob die angedachten Maßnahmen verfassungs-
konform sind und insbesondere nicht gegen das Selbst-
bestimmungsrecht verstoßen. Das erweiterte Bericht-
erstattergespräch mit den eingeladenen Experten hierzu
hat mir diese Bedenken genommen, zum einen, weil wir
nicht vergessen dürfen, dass der Staat den Justizgewähr-
leistungsanspruch auf effektive Durchsetzung für zu
Recht erkannte Ansprüche sicherzustellen hat, und zum
anderen, da es der Schuldner durch wahrheitsgemäße
und vollständige Angaben selbst in der Hand hat, den
Grundrechtseingriff abzuwehren.
Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der vollzie-
hende Gerichtsvollzieher eine „öffentliche Stelle“ darstellt,
die eine Amtshandlung vornimmt. Hinzu kommt, dass
die zusätzlichen persönlichkeitsbezogenen Informationen
meiner Auffassung nach nicht als besonders persönlich-
keitsrelevant anzusehen sind.
Aus nahezu den gleichen Gründen habe ich auch mit
der Automatisierung der Schuldnerverzeichnisse keine
Probleme. Es wird jedoch bei einer Anfrage über das Inter-
net zu gewährleisten sein, dass nur registrierte Nutzer auf
den Inhalt des Registers zurückgreifen können.
Lassen Sie mich abschließend noch dreierlei sagen:
Erstens möchte ich darauf hinweisen, dass diese Reform
nicht dadurch geprägt ist, dass der Gerichtsvollzieher
nun die Vollstreckung allein von seinem Schreibtisch aus
betreibt. Im Sinne eines zügigen Verfahrens wird er viel-
mehr auch weiterhin vor Ort agieren und auch weiterhin,
wenn möglich, eine gütliche Einigung erzielen.
Zweitens möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und
Kollegen für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken.
Ich glaube, dass gerade das erweiterte Berichterstatterge-
spräch sehr zielführend und produktiv gewesen ist.
Drittens möchte ich mich bei Staatssekretär Alfred
Hartenbach und seinen Mitarbeitern für die konstruktive
Zusammenarbeit bei diesem Gesetzgebungsverfahren
bedanken.
Mechthild Dyckmans (FDP): In den letzten Tagen
und Wochen haben die Medien berichtet, dass sich die
Zahlungsmoral der deutschen Wirtschaft weiter
verschlechtert hat. Immer mehr Firmen bleiben auf un-
bezahlten Rechnungen sitzen. Die schlechte Zahlungs-
moral in Deutschland trifft insbesondere den Mittel-
stand. Nicht bezahlte Handwerksrechnungen bedeuten
im schlimmsten Fall, dass der nächste Auftrag nicht vor-
finanziert werden kann und der Betrieb Insolvenz anmel-
den muss.
Es ist keineswegs eine neue Erkenntnis, dass das
Zwangsvollstreckungsverfahren insgesamt als zu auf-
wendig, zu bürokratisch und zu langwierig angesehen
wird. Von Rechtsanwälten, Gläubigern und Gerichtsvoll-
ziehern wird oft Klage über die zu lange Dauer der
Zwangsvollstreckungsverfahren geführt. Insbesondere
der Mittelstand klagt über das oftmals ineffektive, zeit-
raubende und wirkungslose Vollstreckungsverfahren. Es
ist daher heute ein guter Tag für die Rechtspolitik, wenn
wir mit einer breiten Mehrheit des Bundestages den Ge-
setzentwurf des Bundesrates zur Reform der Sachaufklä-
rung in der Zwangsvollstreckung verabschieden. Ich bin
dem Bundesrat außerordentlich dankbar dafür, dass er
dieses wichtige Thema aufgegriffen hat und hierzu einen
Gesetzesvorschlag erarbeitet hat. Es ist erfreulich, dass
es kurz vor Ende der Legislaturperiode noch zu einem
Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens gekommen ist.
Ich danke hier insbesondere auch den Berichterstattern
der anderen Fraktionen für die gute und effiziente Zu-
sammenarbeit.
Wir verabschieden ein Gesetz, das zum Ziel hat, die
Rechte des Gläubigers in der Zwangsvollstreckung zu
stärken, ohne dabei jedoch auch die Interessen des
Schuldners aus den Augen zu verlieren. Insofern ist die
gefundene Regelung ausgewogen und stellt einen sach-
gerechten Interessenausgleich her. Nach bisherigem
Recht konnte der Gäubiger erst nach einem erfolglosen
Vollstreckungsversuch in das bewegliche Vermögen des
Schuldners die Abnahme der eidesstattlichen Versi-
cherung des Schuldners verlangen. Künftig ist der
Schuldner auf Antrag des Gläubigers bereits vor der ei-
gentlichen Vollstreckung verpflichtet, zum Zwecke der
Vollstreckung einer Geldforderung auf Verlangen des
Gerichtsvollziehers Auskunft über sein Vermögen zu er-
teilen. Bislang war es für den Gläubiger oft ein langer,
mühsamer und kostspieliger Weg, genaue Informationen
über das Vermögen des Schuldners zu erlangen. Künftig
wird die Sachaufklärung im Vorfeld der Zwangsvollstre-
ckung im Interesse des Gläubigers wesentlich verein-
facht.
In einem sehr ausführlichen erweiterten Berichterstat-
tergespräch haben wir mit Sachverständigen die Einzel-
heiten des Gesetzentwurfs beraten. Breiten Raum hat da-
bei im Hinblick auf die Einholung von Fremdauskünften
und die Neukonzeption des Schuldnerverzeichnisses der
Datenschutz eingenommen. Die Anregungen des Bun-
desdatenschutzbeauftragten waren dabei außerordentlich
hilfreich. Ich bin froh darüber, dass es gelungen ist, den
Gesetzentwurf noch an entscheidenden Stellen im Hin-
blick auf die Stärkung des Datenschutzes zu ändern. Die
Anregungen des Bundesdatenschutzbeauftragten, wo-
nach die vorgesehenen Auskünfte nur als Ultima Ratio
in Betracht kommen können, ist in den Gesetzentwurf
aufgenommen worden. So ist die Erhebung oder das Er-
suchen nur zulässig, soweit dies zur Vollstreckung erfor-
derlich ist bzw. wenn sich die ersuchende Stelle die An-
gaben auf andere Weise nicht beschaffen kann. Darüber
25386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
hinaus ist zusätzlich eine Regelung vorgesehen, wonach
Daten, die für die Zwecke der Vollstreckung nicht erfor-
derlich sind, vom Gerichtsvollzieher unverzüglich zu lö-
schen oder zu sperren sind. Die Löschung ist zudem zu
protokollieren. In der Begründung zur Beschlussemp-
fehlung wird darauf hingewiesen, dass der Gerichtsvoll-
zieher auch weiterhin verschiedene Gelegenheiten hat,
den Schuldner persönlich aufzusuchen. Insbesondere
vonseiten der Gerichtsvollzieher wurde kritisch ange-
merkt, dass der Gerichtsvollzieher künftig keine Mög-
lichkeit mehr habe, die Vollstreckung vor Ort durchzu-
führen. Diesen Bedenken trägt der Gesetzentwurf nun
Rechnung.
Wir verabschieden darüber hinaus heute auch den Ge-
setzentwurf zur Internetversteigerung in der Zwangs-
vollstreckung. Künftig soll die Internetversteigerung als
Regelfall der Verwertung gepfändeter Sachen neben der
öffentlichen Präsenzversteigerung in der ZPO gesetzlich
verankert werden. Damit reagiert der Gesetzgeber auf
die Verbreitung moderner Kommunikationsmedien in
den vergangenen Jahren. Die Nutzung des Internets bei
der Zwangsvollstreckung ist auch im Interesse des
Schuldners. Die Internetversteigerung ermöglicht einem
großen Bieterkreis, sich an der Versteigerung zu beteili-
gen. Dies erhöht die Chancen, bei der Versteigerung ei-
nen möglichst hohen Erlös zu erzielen. Auch hier sieht
der Gesetzentwurf Regelungen zur Sicherung des Daten-
schutzes vor. Die Rechtsverordnungen der Länder
müssen Einzelheiten zur Anonymisierung der Schuld-
nerdaten festlegen. Zudem ist auch die Möglichkeit vor-
gesehen, Angaben von Bietern zu anonymisieren.
Ebenso wie die Gerichtsvollzieher hätte sich auch die
FDP-Bundestagsfraktion weitere Schritte zur Reform
der Zwangsvollstreckung gewünscht. In unserem Antrag
haben wir dazu konkrete Forderungen genannt. Wir hal-
ten eine Aufgabenerweiterung für die Gerichtsvollzieher
für notwendig. Zu überlegen ist daher, die Zuständigkeit
für die Forderungspfändung ganz auf den Gerichtsvoll-
zieher zu übertragen. Im Vordergrund muss auch hier die
möglichst rasche Befriedigung des Gläubigers stehen.
Wir sind mit den Gerichtsvollziehern der Auffassung,
dass die Gerichtsvollzieher aufgrund der größeren Sach-
nähe eher in der Lage sind, die Zahlungen der Dritt-
schuldner problemlos zu überwachen und zu kontrollie-
ren. Darüber hinaus sind wir der Auffassung, dass eine
Diskussion über eine Neustrukturierung des Gerichts-
vollzieherwesens nicht weiter auf die lange Bank ge-
schoben werden darf. Der Blick auf das europäische
Ausland zeigt, dass die dort installierten Gerichtsvollzie-
hersysteme nachweislich effektiver und flexibler sind als
das deutsche Vollstreckungswesen. Um den Anforderun-
gen der Zukunft im Hinblick auf das zusammenwach-
sende Europa gerecht zu werden, dürfen wir uns Refor-
men am derzeitigen deutschen Vollstreckungssystem
nicht verweigern.
Ungeachtet dessen ist die FDP-Bundestagsfraktion je-
doch der Auffassung, dass die heute zu beschließenden
Gesetzentwürfe wichtige Schritte in die richtige Rich-
tung sind. Der Gesetzgeber zeigt hiermit, dass er die Pro-
bleme im derzeitigen Recht der Zwangsvollstreckung er-
kannt hat. Mit den Vorhaben, die wir heute auf den Weg
bringen, machen wir die Justiz erneut ein Stück weit mo-
derner und leistungsfähiger.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Der Bundesrat
hat uns einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem er beab-
sichtigt, die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung
zu modernisieren. Es ginge darum, das Recht des
19. Jahrhunderts in ein modernes Recht für das 21. Jahr-
hundert zu ändern. Modernität ist nie ein Argument für
sich. Das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts. Nicht alles
Neue ist gut. Nicht alles Machbare ist wünschenswert.
Neu und machbar ist im beginnenden 21. Jahrhundert
die Vernetzung von immer größer werdenden Datenmen-
gen, von denen eine immer größere Missbrauchsgefahr
ausgeht. Das ist weder gut noch wünschenswert. Es ist
nur das schlichte Ergebnis einer technologischen Ent-
wicklung, auf die die Politik dringend die passenden
Antworten finden müsste.
Der Entwurf gibt diese Antworten für den Bereich der
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung nicht, son-
dern er vertieft die Fragestellung, weil er neuen Miss-
brauch und neue Grundrechtsgefährdungen in die Welt
setzen wird.
Nach dem Entwurf soll es zukünftig ein Internetportal
geben, in dem jedermann, der sich dort registriert, Aus-
kunft zur Verschuldungssituation eines anderen erlangen
kann, wenn er dazu ein berechtigtes Anliegen behauptet.
Die Berechtigung dieses Anliegens wird vor der Ertei-
lung der Auskunft ebenso wenig geprüft wie der Wahr-
heitsgehalt der geleisteten Angaben. Praktisch wird sich
der Anfragende nach der Anmeldung mit wenigen
Mausklicks durch eine Eingabemaske bewegen und er-
hält dann Auskunft zum Angefragten. Aufgrund einer
ungeprüften Behauptung erfährt er dann etwa, wie alt
der Betroffene ist, wo er geboren wurde, wie sein Ge-
burtsname ist, wo er heute wohnt, dass er verschuldet ist
und seit wann. Diese Angaben stehen jedem angemelde-
ten Benutzer weltweit an jedem Internetrechner zur Ver-
fügung, der beispielsweise behauptet, mit dem Ange-
fragten gerade in geschäftlicher Beziehung zu stehen.
Die Entwurfsverfasser schreiben, es sei ein zu hoher
Aufwand, diese Behauptungen vor Auskunftserteilung
auch nachzuprüfen. Sie schlussfolgern daraus, dass die-
ser Aufwand deshalb entbehrlich sei. Die Entwurfsver-
fasser sehen aber die Möglichkeit vor, Nutzer von der
Einsichtnahme nachträglich auszuschließen, wenn diese
Nutzerdaten missbräuchlich abrufen oder gebrauchen.
Nicht nur, dass dann missbräuchlich erlangte Daten be-
reits unumkehrbar im Internet in Umlauf gelangt sein
können, weil sie ohne Mühe millionenfach kopiert, ver-
knüpft und weiterverarbeitet werden können, sondern
die nachträgliche Prüfung wird auch ohne spürbare Wir-
kung bleiben. Denn wer sich wegen des Arbeitsaufwan-
des außerstande sieht, Anträge auf Einsichtnahme vorher
zu prüfen, der wird auch überfordert sein, über die Zahl
und das Ausmaß von Missbräuchen im Nachhinein den
Überblick zu behalten. Das ist ein Frage der Logik: Der
Aufwand nachträglicher Prüfung ist nicht geringer als
der Aufwand vorheriger Prüfung. Man benötigt keinen
Computer, um das nachzuvollziehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25387
(A) (C)
(B) (D)
Die Entwurfsverfasser sehen das Justizministerium
als Verordnungsgeber vor, um für Datensicherheit zu
sorgen. Doch in ihrer Verordnungsermächtigung und de-
ren Begründung findet sich kein Wort über die Notwen-
digkeit einer Bußbewehrung für missbräuchliche
Datenabrufe oder Verwendung. Der Datenschutzbeauf-
tragte des Bundes hatte den Rechtsausschuss aufgefor-
dert, solche Sanktionen zu schaffen. Der Rechtsaus-
schuss hat deren Notwendigkeit nicht verstehen können
oder wollen. Und das bedeutet, dass es keine speziellen
Sanktionen geben wird, die potenziellen Missbräuchen
entgegenwirken könnten.
Die Entwurfsverfasser irren sich gewaltig: Es ist
keine bedeutende Hemmschwelle gegen Missbräuche,
wenn sich Anfragende beim Portal anmelden müssen. Es
ist keine bedeutende Hemmschwelle, dass Abfragen pro-
tokolliert werden. Denn eine IP-Adresse lässt sich kin-
derleicht fälschen, und falsche Anmeldungsdaten wer-
den sich beschaffen lassen. Wer illegal Auskunft aus
dem Portal erhalten will, dem wird das auch gelingen. Er
wird ganz einfach lügen, um an fremde Daten heranzu-
kommen. Er wird sich natürlich auch keinen Deut um
die im Entwurf geregelte Löschungspflicht scheren.
Dies ist das enorme Risiko, das die Entwurfsverfasser
setzen. Sie sind für dieses Risiko verantwortlich. Wer die
Segnungen moderner Technologie nutzen möchte, der
hat auch die Pflicht, sich um ihre Flüche zu kümmern.
Dieser Verantwortung, dieser Pflicht entzieht sich der
Entwurf. Meine Fraktion wird ihn daher ablehnen.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch
das Zwangsvollstreckungsrecht bedarf einer Anpassung
an die gesellschaftlichen Realitäten. Die Zeiten, in denen
eine Pfändung ins bewegliche Vermögen des Schuldners
noch in aller Regel Aussichten auf Befriedigung des
Gläubigers brachte, sind lange vorbei. Heute liegt das
Vermögen – wenn es denn eins gibt – zum Beispiel auf
Bankkonten oder ist in Immobilien investiert. Das
Zwangsvollstreckungsrecht hängt jedoch noch in ver-
gangenen Zeiten fest und fordert immer noch zwingend
einen erfolglosen Pfändungsversuch in der Wohnung des
Schuldners, bevor der Gläubiger über eine eidesstattli-
che Versicherung Informationen über die Vermögensver-
hältnisse des Schuldners erlangen kann.
Das Gesetz zur Reform der Sachaufklärung will dies
ändern, und das findet unsere Zustimmung. Zukünftig
soll der Gläubiger bereits vor Einleitung der Beitrei-
bungsmaßnahmen Informationen über die Vermögens-
verhältnisse des Schuldners erlangen können, und zwar
entweder von diesem selbst oder ergänzend mit der Ein-
holung von Auskünften zum Beispiel beim Kraftfahr-
zeugbundesamt durch den Gerichtsvollzieher. Das be-
schleunigt die Zwangsvollstreckung und spart Kosten.
So werden die Gläubigerrechte effektiver geschützt und
wirkungsvoll gestärkt.
Aber auch im Zwangsvollstreckungsrecht hat der
Schuldner Rechte, und es sind auch diese zu achten.
Zwangsvollstreckung geschieht nicht um jeden Preis. In
der ursprünglichen Fassung des Gesetzentwurfs waren
die datenschutzrechtlichen Regelungen besonders im
Rahmen der neuen Auskunftsrechte des Gerichtsvollzie-
hers nach § 802 Abs. l ZPO unzureichend. Auch der
Bundesdatenschutzbeauftragte hat darauf hingewiesen,
und dem hätten wir nicht zustimmen können. Wir haben
die Regelungen in der Ausschussarbeit verbessert. An-
statt der Befugnis zu einem undifferenzierten und viel-
leicht auch überschüssigen Datenabruf für den Gerichts-
vollzieher ist jetzt die Erhebung der Daten nur dann
zulässig, „soweit dies zur Vollstreckung erforderlich ist“.
Der Gerichtsvollzieher hat jetzt die Pflicht zur Sperrung
und Löschung nicht erforderlicher Daten, und auch das
Ausmaß der Daten, die an den Gläubiger weitergegeben
werden, sind eingeschränkt. Es ist nunmehr geregelt,
dass der Schuldner über das Ergebnis einer Datenerhe-
bung innerhalb von vier Wochen informiert wird. Das
halten wir für wichtig und richtig. Damit werden die
Gläubigerrechte wie auch die datenschutzrechtlichen
Belange der Schuldner angemessen berücksichtigt.
Auch bei den Vermögensverzeichnissen und dem
Schuldnerverzeichnis war dringender Modernisierungs-
bedarf gegeben. Dass diese in Papierform geführt und
lokal bei den einzelnen Vollstreckungsgerichten verwal-
tet werden, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Folge
ist ein unnötig hoher Verwaltungsaufwand bei den ein-
zelnen Gerichten. Auch die Effektivität der Vollstre-
ckungsmaßnahmen wird dadurch behindert. In dem Ge-
setzentwurf wird dies richtig angepackt: Künftig soll die
Vermögensauskunft des Schuldners vom Gerichtsvoll-
zieher als elektronisches Dokument aufgenommen und
in landesweit vernetzten Datenbanken gespeichert wer-
den. Das Schuldnerverzeichnis soll als landesweites In-
ternetregister ausgestaltet werden.
Durch eingehende Beratung haben wir aus dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf nun eine „runde Sache“ ge-
macht. In der jetzigen Fassung der Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses können und werden wir deshalb
dem Bundesratsgesetzentwurf zustimmen.
Den Antrag der FDP zur Zwangsvollstreckung lehnen
wir jedoch mit Nachdruck ab. Hinter ihm verbirgt sich
der Einstieg in die Privatisierung des Gerichtsvollzieher-
wesens. Das wollen und können wir nicht gutheißen. Die
Materialisierung von Forderungen, deren Berechtigung
mit staatlicher Autorität unabhängiger Gerichte festge-
stellt wird, wollen wir nicht Privaten – und dann auch
noch zu überzogenen Preisen – überlassen. Gerichtsvoll-
ziehung muss staatliche Aufgabe bleiben.
Wir wollen auch keine Einziehung nicht titulierter
Forderungen durch Gerichtsvollzieher. Sie wären dann
keine Vollzieher des Gerichts – sprich: von gerichtlichen
Entscheidungen –, sondern ein mit staatlicher Autorität
agierendes Inkassounternehmen, eine Entwicklung, die
unsere Zustimmung nicht finden wird.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Wir beraten heute in zwei-
ter und dritter Lesung gleich zwei Gesetzentwürfe zur
Modernisierung der Zwangsvollstreckung, zum einen
den Entwurf der Bundesregierung zur Internetversteige-
rung und zum anderen den Entwurf des Bundesrates zur
Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung.
25388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Dieser Gesetzentwurf wurde von einer Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe vorbereitet. Sie wurde im Jahr 2003 einge-
setzt mit dem Auftrag, das Zwangsvollstreckungsrecht
und das Zwangsvollstreckungsverfahren zu modernisie-
ren.
Hinter dem – zugegeben – nüchternen Titel „Reform
der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung“ ver-
birgt sich ein für den Gläubiger außerordentlich wichti-
ges Reformwerk. Das Zwangsvollstreckungsverfahren
wird grundlegend umgestaltet und an die Lebenswirk-
lichkeit des 21. Jahrhunderts angepasst.
Das wird auch Zeit. Denn als der Gesetzgeber im
19. Jahrhundert das heute noch geltende Zwangsvollstre-
ckungsrecht schuf, herrschten völlig andere Lebensver-
hältnisse als heute. Seit mehr als 100 Jahren beginnt je-
des Zwangsvollstreckungsverfahren damit, dass der
Gerichtsvollzieher sich nach pfändbaren Sachen in der
Wohnung des Schuldners umsieht. Die Erfahrung lehrt
uns, dass diese Suche heute meist erfolglos ist. Wer hat
denn heute noch einen Sparstrumpf zu Hause und wann
trifft der Gerichtsvollzieher schon auf Schmuck oder
teure Möbel, deren Pfändung sich lohnt?
Seit Jahren schon hat die Forderungspfändung, also
insbesondere die Pfändung von Arbeitslohn und Konto-
guthaben, der Sachpfändung den Rang abgelaufen. Bis-
lang hatte der Gläubiger allerdings keine Möglichkeit zu
erfahren, bei welcher Bank der Schuldner Konten hat
und ob er in Lohn und Brot steht, sofern der Schuldner
nicht selbst darüber Auskunft gab.
Das ändern wir nun. Ein Kernstück der Reform ist es,
dass der Gläubiger den Gerichtsvollzieher künftig beauf-
tragen kann, Auskünfte darüber einzuholen, wo der
Schuldner arbeitet, ob er über Bankkonten oder Depots
verfügt, aber auch ob auf ihn ein Fahrzeug zugelassen
ist. Der Gerichtsvollzieher kann hierzu bei den Trägern
der Rentenversicherung, beim Bundeszentralamt für
Steuern und beim Kraftfahrt-Bundesamt nachfragen.
Natürlich ist bei der Einführung solcher neuen Aus-
kunftsrechte das Recht des Schuldners auf informatio-
nelle Selbstbestimmung zu beachten. Die anfänglich von
der Bundesregierung gegen den Gesetzentwurf in die-
sem Punkt geäußerten Bedenken werden durch die Än-
derungsvorschläge des Rechtsausschusses ausgeräumt.
Das Gesetz, das wir heute beschließen, schafft nicht
nur die Voraussetzungen für ein effektives und modernes
Zwangsvollstreckungsverfahren. Auch die Vorschriften
über das für den Wirtschaftsverkehr so wichtige Schuld-
nerverzeichnis und die Verwaltung der Vermögensver-
zeichnisse werden reformiert. Die Führung dieser Ver-
zeichnisse wird künftig elektronisch erfolgen und
zentralen Vollstreckungsgerichten zugewiesen. Dabei
verliert der Gesetzentwurf den gerade im elektronischen
Rechtsverkehr so wichtigen Datenschutz nicht aus den
Augen.
Ich möchte den Berichterstattern danken für die au-
ßerordentlich zügigen, aber gleichwohl intensiven parla-
mentarischen Beratungen. Sie haben es ermöglicht, dass
kurz vor Ende der Legislaturperiode mit der Reform der
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung ein wichti-
ges Projekt, das die Regierungsfraktionen bereits in ih-
rem Koalitionsvertrag vereinbart hatten, noch Gesetz
wird.
Ich erwähnte schon den elektronischen Rechtsver-
kehr. Mit dem zweiten Gesetzentwurf, der dem Gerichts-
vollzieher die Versteigerung gepfändeter Gegenstände
im Internet wesentlich erleichtern wird, gehen wir mit
einem kurzen und prägnanten Gesetz einen wesentlichen
Schritt hin zu mehr Erfolg bei der Praxis der Verwertung
in der Zwangsvollstreckung. Dies dient sowohl den
Schuldnern als auch den Gläubigern und verdient daher
breite Zustimmung.
Anlage 36
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Internationale Kre-
ditfinanzierung in der Entwicklungspolitik auf
eine neue Grundlage stellen (Tagesordnungs-
punkt 33)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Zu Beginn meiner
Rede möchte ich die Chance nutzen, im Namen der
CDU/CSU-Arbeitsgruppe Ihnen, Herr Hilsberg, auf-
grund Ihrer letzten Rede hier im Plenum des Deutschen
Bundestages für die gemeinsame Zusammenarbeit im
Bereich der Entwicklungspolitik in den letzten Jahren zu
danken.
Wir debattieren heute einen Antrag zur „Internationa-
len Kreditfinanzierung“, ein Thema, das nicht nur eines
Ihrer persönlichen Kernanliegen in der internationalen
Entwicklungspolitik, sondern auch für uns ein wesentli-
ches Element im Rahmen der internationalen Armuts-
minimierung ist. Unser Antrag greift die richtigen The-
men auf, denn es besteht die Gefahr, dass viele der
ärmsten Länder der Welt sich wieder erneut hoch ver-
schulden können. Bedauerlicherweise floss schon bisher
aus den Staatskassen der Entwicklungsländer zu oft zu
viel Geld zur Tilgung von Zinsen, sodass nichts mehr
übrig blieb, um die Millennium-Entwicklungsziele zu
erreichen. Schulden behindern die Entwicklung unserer
Partnerländer, deshalb müssen wir wachsam sein und die
Schuldentragfähigkeit als Präventionsinstrument ver-
stärkt umsetzen.
Die Impulse von 1996, der stufenweise Schulden-
erlass und der 1999 propagierte G-7-Schuldenerlass ha-
ben hier erste Erfolge erzielt.
Durch die sogenannte HIPC (Heavily Indebted Poor
Countries) wurde bisher 38 der ärmsten Länder effektiv
geholfen. Weitere Verbesserung versprach die darauf fol-
gende Entschuldungsrunde 2005 der G-8-Staaten in
Gleneagles. Hier wurden nochmals 45 Milliarden Euro
Schulden mit der MDRI-Entschuldungsinitiative erlas-
sen: ein weiterer wichtiger Schritt der Industrieländer,
die ihre Verantwortung bisher sichtbar ernst genommen
haben.
Im Gegenzug müssen aber auch unsere Partnerländer
wissen, dass neue Schulden, die nicht direkt auf die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25389
(A) (C)
(B) (D)
aktuelle Wirtschaftskrise zurückzuführen sind, nicht ak-
zeptabel sind. Es ist eindeutig eine Form der „schlechten
Regierungsführung“, wenn in Erwartung kommender
Schuldenerlasse eine maßlose Haushaltspolitik betrieben
wird. Auch das muss eine Botschaft in diesem Zusam-
menhang sein. Gleiches gilt für die Forderung nach dem
internationalen Insolvenzrecht. Hier muss die Zukunfts-
perspektive eines jeden Partnerlandes im Mittelpunkt
stehen. Darauf müssen sich die Strukturen und Mecha-
nismen zur Regelung ausrichten.
Genau für diese Konkretisierung der Mechanismen
setzt sich Bundeskanzlerin Merkel unmissverständlich
ein. Ihrem Schwung und Engagement auf dem G-20-
Gipfel in London ist es zu verdanken, dass die Kredithil-
fen dem IWF und der Weltbank zu Verfügung gestellt
wurden.
Eine weitere positive Entscheidung des Gipfels sind
die „strukturierten Finanzprodukte“, die die zukünftig
mögliche Verschuldungssituation unserer Partnerländer
verhindern können. Wir ermöglichen mit diesen neuen
Produkten, dass auch die Unternehmen in Entwicklungs-
ländern die Chance haben, in der Krise zu überleben.
Wir nehmen die Herausforderung an, mithilfe der Welt-
bank und des IWF die Verbindlichkeiten nach nachhalti-
gen Regeln umzuschulden. Nichtsdestotrotz wirken auch
unsere bisherigen Instrumente, wie die schon genannte
HIPC und MDRI.
Ich möchte gerade hier im Deutschen Bundestag die
Chance nutzen, auch die direkte Wirkung bei den Men-
schen vor Ort aufzuzeigen, und dies anhand von drei
konkreten Beispielen für die Entwicklungserfolge unse-
rer Initiativen:
Schauen wir nach Bolivien. Eine Gemeinde am Titi-
cacasee in 4 000 Meter Höhe. In 98 Prozent der Haus-
halte liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei 200 US-Dollar.
Rund 70 Prozent der Haushalte haben weder Toilette
noch Stromversorgung. Die Grundbedürfnisse der Men-
schen sind nicht gedeckt. Der mit Bolivien vereinbarte
Schuldenerlass trägt ganz konkret dazu bei, diese Situa-
tion zu verbessern. Die bolivianische Regierung über-
weist die Ersparnisse aus dem Schuldenerlass nämlich
entsprechend einem dafür landesweit ausgehandelten
Verteilungsschlüssel an die Landkreise und Gemeinden.
Die Gemeinden entscheiden dann selbst über die Pro-
jekte. Beachtlich ist, dass durch diese Entschuldungs-
initiative sogar ein eigenes Gesetz zur Bürgerbeteiligung
entwickelt wurde. Die HIPC ist also ein guter Weg, da-
mit Selbstbestimmung gefördert wird. Für die Menschen
am Titicacasee heißt das konkret, dass sie jährlich mit
80 000 US-Dollar aus der Entschuldung rechnen kön-
nen. Sie haben sich in diesem Rahmen für den Bau eines
Schulgebäudes entschieden.
Schauen wir nach Uganda. Dort hat die HIPC-Initia-
tive seit Mai 2000 einen Schuldenerlass von 2 Milliarden
Dollar erreicht. Und die Fortschritte sind messbar:
Durch die Abschaffung des Schulgeldes konnte die Zahl
der Grundschüler von 1996 bis 2001 mehr als verdoppelt
werden. Durch die weitere Gleneagles-Initiative MDRI
stieg der Schuldenerlass um weitere 3,5 Milliarden US-
Dollar auf insgesamt 5,5 Milliarden US-Dollar. Mittler-
weile liegt die Einschulungsrate bei 100 Prozent. Die
Gebühren der medinzinischen Grundversorgung wurden
abgeschafft. Dadurch verdoppelte sich in Uganda die
Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen. Die Säug-
lings- und Kindersterblichkeit ist ebenfalls gesunken. Im
Jahr 2002 wurde die Fläche der nationalen Naturschutz-
gebiete deutlich ausgeweitet. Waren vorher rund 10 Pro-
zent des Landes geschützt, so ist es inzwischen knapp
ein Viertel der gesamten Landesfläche. Wir sehen, der
internationale Beitrag wirkt, und auch Deutschlands Bei-
trag ist für beide Initiativen angemessen hoch. 7,1 Mil-
liarden US-Dollar im Rahmen von HIPC und 3,5 Mil-
liarden US-Dollar im Rahmen von Gleneagles hat
Deutschland bereits geleistet. Die Gleneagles-Mittel für
den Zeitraum 2007 bis 2016 von 624 Millionen Euro
wurden bereits rechtsverbindlich zugesagt.
Schauen wir nach Indonesien. Deutschland und Indo-
nesien haben im September 2007 eine Schulden-
umwandlung von 50 Millionen Euro vereinbart. Koope-
rationsziel, unter dem Namen „Debt2Health“, ist ein
Erlass der Forderungen der bilateralen FZ. So sollte In-
donesien mindestens 25 Millionen Euro für Maßnahmen
zur Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und TB inves-
tieren. Der Effekt für Indonesien war zweifach positiv.
Zum einen wurde der nationale Gesundheitssektor geför-
dert, zum anderen verringerte sich die Auslandsschuld.
Deutschland ist das erste Gläubigerland, dass die
„Debt4Health“-Initiative durchgeführt hat. 2008 kam in
gleicher Form der Zusammenarbeit Pakistan hinzu.
Die positiven Ergebnisse motivieren uns. Wir müssen
zukünftig dafür sorgen, noch mehr Gläubiger für diese
Initiative zu mobilisieren. Die bisherigen Entschul-
dungsinitiativen haben zu einer spürbaren Entlastung
vieler in der Vergangenheit hoch verschuldeter armer
Länder geführt. Allen Unkenrufen zum Trotz sind die
Ziele aus dem Kölner Gipfel 1999 weitgehend erreicht
worden. Dennoch konnten sich 17 Länder bisher nicht
für die vollständige Entschuldung unter HIPC und
MDRI qualifizieren; sechs dieser Länder haben die
strengen Kriterien durch „schlechte Regierungsführung“
noch nicht erreicht und somit noch keinerlei Entschul-
dung erhalten. Damit wir die Menschen in diesen Län-
dern aber nicht vergessen, begrüße ich die sogenannte
„Sunset-Klausel“ des IWF und der Weltbank, die ein
Inkrafttreten der Entschuldungsinitiativen über 2006
hinaus offenhält. In diesen Ländern müssen unsere Be-
mühungen sein, die langsame demokratische Transfor-
mation so voranzutreiben, dass die Kriterien für den
Schuldenerlass mittelfristig erfüllt sind. Dieser Antrag
bietet verantwortungsbewusste Lösungswege für die
derzeit betroffenen Staaten, bei der Umsetzung von „gu-
ter Regierungsführung“ auch die Vorteile der internatio-
nalen Initiativen zu erhalten.
Es muss jedoch klar sein, dass wir den Missbrauch
der Entschuldung nicht dulden. Wer die Initiativen nicht
für die Entwicklung des Landes benutzt, sondern viel-
mehr mit der Finanzierung anderer Zwecke, wie der
Ausstattung der Sicherheitskräfte, liebäugelt, darf von
den Gebern keine Hilfe erhalten. Dies gilt gleicherma-
ßen für den Schuldenerlass wie auch für allgemeine
Budgethilfe.
25390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Fazit: Mit dem Ziel, einen wiederkehrenden Zyklus
von Überschuldung – Entschuldung – erneuter Über-
schuldung zu vermeiden, haben Weltbank und IWF ein
gemeinsames Rahmenwerk zur Schuldentragfähigkeit
von Niedrigeinkommensländern entwickelt, mit der
Abkürzung DSF, und im April 2005 verabschiedet. Wir
unterstützen DSF, da es definierte Kriterien und opera-
tionale Richtlinien für die Beurteilung der Schuldentrag-
fähigkeit eines Landes vorsieht.
Schuldenerlass ist ein wichtiger Schritt zur nachhalti-
gen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung armer
Länder – aber niemals der ganze Weg dorthin. Mit der
erfolgreichen Umsetzung von HIPC und MDRI ist ein
wichtiger Schritt getan, um die hoch verschuldeten ar-
men Länder zu entlasten und zusätzliche Spielräume für
die Entwicklung zu schaffen. Unser Antrag stellt sich
ebenso dieser Verantwortung. Ohne eine wirtschaftliche
Dynamisierung der Entwicklungsländer und Verbesse-
rung im Gouvernance-Bereich sind die Armutsprobleme
dieser Länder allerdings nicht lösbar und die langfristige
Schuldentragfähigkeit nicht erreichbar. Ohne Armutsre-
duzierungsstrategien stößt Entschuldung an ihre Gren-
zen. Es ist die Pflicht der Partnerländer, ihre Entwick-
lung investitionsorientiert auszugestalten.
Stephan Hilsberg (SPD): Seit der Verabschiedung
der Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete arme
Länder, HIPC, 1996 und der Kölner Schuldeninitiative
HIPC II 1999 wurde mehr als 30 Staaten ein Schuldener-
lass von circa 80 Milliarden US-Dollar gewährt. Trotz
dieses Erfolges kommt es nun darauf an, zu verhindern,
dass die ärmsten Länder dieser Welt in eine erneute
Schuldenspirale geraten. Diese Erkenntnis zeigt sich vor
allem in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise
mit neuer Dringlichkeit. Bereits vorab war jedoch klar,
dass allein das Vertrauen in den freien Kapitalverkehr
und die deregulierten Märkte nicht das richtige Umfeld
war, einen notwendigen weiteren Impuls in den Ent-
schuldungsinitiativen für die Entwicklungs- und Schwel-
lenländer zu setzen. Mit dem Ausbruch der Krise im
vergangenen Jahr wurde zudem offensichtlich, dass sich
im internationalen Finanzmarkt systemimmanente
Schwachstellen etabliert haben, die vor allem den Ent-
wicklungs- und Schwellenländern in ihrer Entwicklung
zum Nachteil gereichen.
An dieser Stelle setzt der Antrag an, mittel- und lang-
fristige Maßnahmen zur Neuausrichtung der internatio-
nalen Kreditfinanzierung einzuleiten. Hierfür fordern
wir die Etablierung eines nachhaltigen Entschuldungs-
systems, das neue Wege und Mechanismen bei Fragen
der Insolvenz von Staaten und der internationalen Koor-
dinierung verschiedener Gläubigergruppen von ver-
schiedenen Schuldnerkassen vor und während einer
Verschuldungskrise bestreitet. Als Grundlage für dieses
neue Entschuldungssystem sehen wir die Schaffung
weltweit anerkannter Verhaltensregeln und Standards im
Interesse einer verantwortlichen Kreditvergabe. Das be-
deutet den Ausbau des Rahmenwerks zur Schuldentrag-
fähigkeit von Niedrigeinkommensländern des IWF und
der Weltbank unter Berücksichtigung der landesspezi-
fisch festzustellenden Schuldensituation. Im Ergebnis
wird die Umsetzung unseres Antrags einen wesentlichen
Beitrag dazu leisten, dass den ärmsten Ländern dieser
Welt umfassende und selbstverantwortliche Investitio-
nen zur Verfügung stehen werden, die zugunsten der In-
frastruktur und der Energie- und Wasserversorgung so-
wie der Reform der Sozial-, Finanz- und Steuersysteme,
der Bildung und Gesundheit aufgeboten werden können.
Darüber hinaus bietet dieses zu etablierende Entschul-
dungssystem die Chance, endlich einvernehmlich auch
die Fragen juristisch nicht durchsetzbarer Schulden zu
regeln. Der Antrag greift an dieser Stelle wesentliche
Empfehlungen der UN-Expertenkommission zur Reform
des internationalen Währungs- und Finanzsystems unter
Leitung von Joseph Stiglitz, die unter aktiver Beteili-
gung der deutschen Bundesregierung im März 2009 er-
arbeitet wurden, auf.
Zudem fordert der Antrag, durch kurzfristige Maß-
nahmen die negativen Auswirkungen der Wirtschafts-
und Finanzkrise auf die Entwicklungs- und Schwellen-
länder abzufedern. Die dazu getroffenen Beschlüsse des
Londoner G-20-Gipfels im April 2009 hinsichtlich zügi-
ger Kredithilfen für Entwicklungs- und Schwellenländer
wurden auf breiter Basis begrüßt. Nun kommt es darauf
an, diese auch inhaltlich auszugestalten. Hier leistet un-
ser Antrag entscheidende Beiträge, die ein faireres Ver-
halten der internationalen Finanzakteure fordern. Dazu
gehört, die politische Aufsicht gegenüber strukturierten
Finanzprodukten wie beispielsweise den Vulture Fonds
zu intensivieren, die im Zusammenhang mit der Ver-
schuldungssituation von Entwicklungs- und Schwellen-
ländern stehen können.
Auch im Einflussbereich der Ratingagenturen bedarf
es notwendiger Umstrukturierungen. Vor allem fordern
wir, den Interessenkonflikt zwischen Bewertung und be-
zahlter Beratung ein und derselben Institution aufzulö-
sen. Es muss klar erkennbar sein, auf welcher Grundlage
die Ratingagenturen die Bonität ihrer Kunden, zu denen
auch Entwicklungs- und Schwellenländer gehören, beur-
teilen. Es ist nicht vollständig von der Hand zu weisen,
dass die Überbewertung von Finanzprodukten durch Ra-
tingagenturen in der Vergangenheit die Insolvenz von
Staaten mit verursacht hat.
Darüber hinaus setzt der Antrag maßgebliche Impulse
für die Regulierung der sogenannten Steueroasen, die
aus entwicklungspolitischer Sicht vor allem hinsichtlich
des Kapitalabflusses aus Entwicklungs- und Schwellen-
ländern eine entscheidende Rolle spielen. Durch Kapi-
talflucht gehen unseren Partnerländern jährlich rund
5 bis 10 Prozent des BIP verloren. Mit einer Reform der
internationalen Kreditfinanzierung zeigen wir hier eben-
falls Lösungswege für die Behandlung von Steueroasen
auf.
Wie Sie sehen, umfasst unser Antrag ein ganzes Füll-
horn verschiedener notwendiger Maßnahmen, um einen
internationalen Impuls in der entwicklungspolitischen
Kreditfinanzierung zu setzen. Er erscheint sowohl ambi-
tioniert als auch realistisch und dringend erforderlich.
Lassen Sie uns mit diesem Antrag an der HIPC-II-Initia-
tive ansetzen und hier eine Agenda beschließen für die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25391
(A) (C)
(B) (D)
Fortsetzung einer nachhaltig verantwortlichen und er-
folgreichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
In diesem Sinn: Stimmen Sie dem Antrag zu.
Hellmut Königshaus (FDP): Verfahrensfragen soll-
ten im Rahmen parlamentarischer Debatten in der Regel
am Ende einer Rede behandelt werden, es sei denn, der
Antragsteller hat jedes Maß an parlamentarischer Ernst-
haftigkeit vermissen lassen, wie das hier leider der Fall
ist.
Muss man in der vorletzten Sitzungswoche dieser
16. Legislaturperiode noch daran erinnern, was die
Funktion und Aufgabe der parlamentarischen Beratung
ist? Der Bundestag ist der Ort, an dem unterschiedliche
Auffassungen über den richtigen politischen Weg formu-
liert und diskutiert werden, wo Anträge geprüft und Fol-
gerungen gefunden und gegeneinander abgewogen
werden müssen. Das ist in diesem Fall wegen des be-
fremdlichen Vorgehens der antragstellenden Fraktionen
leider nicht möglich.
Wir durchleben gerade die schwerste Finanz- und
Wirtschaftskrise seit achtzig Jahren. Obwohl wir deren
globale Auswirkungen erst nur erahnen können, ist heute
schon klar, dass die realwirtschaftlichen Auswirkungen
der durch Finanzspekulationen der Industrieländer aus-
gelösten Wirtschaft- und Finanzkrise vor allem die Ent-
wicklungs- und Schwellenländer hart treffen werden.
Angesichts dieser Krise will die sogenannte Große
Koalition einen so entscheidenden Antrag morgens um
2.55 Uhr debattieren und sofort abstimmen lassen, nach-
dem er überhaupt erst am heutigen Morgen den anderen
Fraktionen zur Kenntnis gebracht worden ist. Eine poli-
tische Auseinandersetzung unter Einbeziehung einer
Meinungsbildung in den zuständigen Ausschüssen wird
damit ausgeschlossen. Ein solches Verfahren können wir
nicht akzeptieren, erst recht nicht angesichts der Dimen-
sion der Herausforderungen, denen wir uns mit der inter-
nationalen Kreditfinanzierung gegenübersehen. Damit
werden wir unserer parlamentarischen Aufgabe und dem
Thema nicht gerecht.
Wir brauchen vielmehr eine umfassende Debatte auf
nationaler, europäischer und internationaler Ebene, wie
wir eine kohärente Reform der internationalen Kredit-
finanzierung erreichen können. Angesichts internationa-
ler Verflechtungen im Kreditwesen brauchen wir statt
Schnellschüssen und nationalen Alleingängen ein inter-
national abgestimmtes Vorgehen.
Als einer der größten Gläubiger der von der HIPC-
Initiative betroffenen Staaten muss Deutschland ein Inte-
resse an der Effektivität von Entschuldungsmaßnahmen
haben. Als Beispiel für die leider stattdessen festzustel-
lende Ineffektivität bisheriger Entschuldungsaktivitäten
kann Bolivien, ein Schwerpunktland der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit, herangezogen werden: Es
gehört zu den am häufigsten entschuldeten Ländern.
Nach dem Erlass von 1,3 Milliarden US-Dollar im Jahr
2001, bei denen der deutsche Anteil knapp 350 Millio-
nen Euro betrug, wurden in Folge des G-8-Gipfels in
Gleneagles weitere knapp 2 Milliarden US-Dollar Schul-
den erlassen, weil die Verbindlichkeiten Boliviens wie-
der auf über 5 Milliarden US-Dollar angestiegen waren.
Ungeachtet dieser massiven Schuldenerlasse hat Boli-
vien seit 2006 wieder neue Darlehen aufgenommen. Die
Gefahr erneuter Schulden ist aufgrund fehlender Vorga-
ben an das Finanzmanagement vorprogrammiert.
Das Beispiel macht deutlich, dass die Entschuldung
nicht konsequent genug an Auflagen in Bezug auf die
Verwendung der freiwerdenden Mittel, die Ansprüche an
eine solide Haushaltsführung und Good Governance, die
Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft und
den Aufbau einer soliden Wirtschaftsstruktur gekoppelt
wird.
Ein Großteil der Länder, die in den Genuss der Ent-
schuldung kommen, verfügt meistens nicht über ausrei-
chende Finanz- und Wirtschaftsstrukturen, um erneute
Verschuldungen auszuschließen. Entscheidend ist inso-
fern, dass die Entschuldung einhergeht mit Veränderun-
gen im Finanz- und auch Rechtssystem. Stichworte sind
unter anderem fehlende Stabilität im Finanz- und Wirt-
schaftssektor, Aufbau eines fiskalischen Systems, feh-
lende Eigentums- und Eigentumssicherungsrechte.
Wir begrüßen daher ausdrücklich den Versuch, die
Praxis der Entschuldung auf eine rechtsstaatliche Grund-
lage stellen zu wollen. Seit Jahren kritisieren die Libera-
len die bestehende Entschuldungspraxis der Bundesre-
gierung; denn die Entschuldung einzelner Länder hängt
mehr von politischen Faktoren, als von dem Vorliegen fi-
nanz- und entwicklungspolitischer Faktoren ab. Die Ein-
richtung einer internationalen Insolvenzordnung würde
dem Verfahren einen ordnungspolitischen Rahmen ge-
ben, an den sich Geber und Nehmer halten könnten.
Nicht politische Willkür, sondern das Vorliegen festge-
legter Kriterien schafft Rechtssicherheit für beide Seiten.
In diesem Zusammenhang können wir den zögerli-
chen Prüfauftrag der Koalition nicht nachvollziehen. Die
FDP-Fraktion setzt sich hier klar für die Umsetzung ei-
ner internationalen Insolvenzordnung ein. Wir begrüßen
den Verstoß des Antragstellers, ordnungspolitische
Rahmenbedingungen herzustellen. Angesichts der Halb-
herzigkeit bei der Umsetzung und in Anbetracht der Um-
gehung einer parlamentarischen Debatte müssen die Li-
beralen bei dem Antrag aber mit Enthaltung stimmen.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Der vorliegende Antrag
der Koalitionsfraktionen würde erheblich an Überzeu-
gungskraft gewinnen, wenn nicht immerzu die Rede da-
von wäre, dieses oder jenes prüfen zu wollen, sondern
wenn konkrete Vorschläge und die Aufforderung zur
Umsetzung formuliert würden. So, wie der Antrag jetzt
formuliert ist, entsteht der Eindruck, dass gute Ansätze
auf die lange Bank geschoben werden sollen; ein Ein-
druck, der allerdings durchaus mit den Erfahrungen aus
der zu Ende gehenden Wahlperiode korrespondiert.
Ein Beispiel: Ich begrüße es, dass sich die Regie-
rungsfraktionen des Themas illegitime Schulden anneh-
men. Warum aber so zaghaft? Die norwegische Regie-
rung unter Federführung einer linken Finanzministerin
und eines linken Vizeministers für Entwicklungszusam-
25392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
menarbeit ist bereits vor über zwei Jahren mit gutem
Beispiel vorangegangen und hat illegitime Schulden er-
lassen, ohne sie mit der ODA-Quote zu verrechnen. Die
Linke fordert auch hier die schnelle Festlegung von Kri-
terien für die Illegitimität von Schulden und die entspre-
chende Streichung solcher Schulden. Als Leitkriterien
schlägt die Linke vor, dass solche Schulden als illegitim
anzuerkennen sind, die ohne demokratische Entschei-
dung aufgenommen wurden und nicht zur Entwicklung
des Landes beigetragen haben.
Einige hoffnungsvolle Debatten zu dieser Frage gab
es ja durchaus in der nun zu Ende gehenden Wahlperiode
in unserem Ausschuss. Es darf aber nicht bei Absichts-
erklärungen bleiben. Ich hoffe, dass wir in der nächsten
Wahlperiode auch auf der Umsetzungsebene weiterkom-
men. Die Linke steht dafür bereit.
Statt lange zu prüfen, wie die Schuldentragfähigkeit
der ärmsten Länder bewertet werden kann, sollten wir
viel grundsätzlicher diskutieren. Die Linke fordert eine
Ausweitung des Schuldenerlasses, und zwar ohne wirt-
schaftspolitische Konditionen, wie sie mit den HIPC-Ini-
tiativen verbunden waren und die oftmals dazu führen,
dass die entschuldeten Staaten sofort wieder in die
Schuldenfalle geraten. Wir fordern, dass viel mehr zins-
lose Kredite und Zuschüsse in der Entwicklungsfinan-
zierung eingesetzt werden. Die Linke setzt sich für faire
Schiedsverfahren für insolvente Staaten ein. Dabei müs-
sen auch Schulden bei privaten Gläubigern einbezogen
werden.
Die Weltwirtschaftskrise hat viele Länder wieder zu-
rück in die Schuldenfalle getrieben, aus der sie schon
entkommen zu sein schienen. Dazu hat auch die neolibe-
rale Politik der multilateralen Banken und der Geber bei-
getragen. Die Linke kritisiert deshalb, dass die G 20 mit
deutscher Zustimmung ausgerechnet den Internationalen
Währungsfonds zum großen Krisenmanager gemacht
und seine Mittel verdreifacht haben, ohne diesen Schritt
mit konkreten Reformschritten zu verbinden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, jetzt ist nicht mehr die Zeit, zu prüfen, sondern
zu handeln. Vieles wird auch vom Verlauf der UNO-
Gipfelkonferenz zur Weltfinanzkrise nächste Woche ab-
hängen.
Ich habe bereits in der letzten Sitzungswoche kriti-
siert, dass die Bundesregierung die Vorbereitung des
UNO-Gipfels nicht konstruktiv begleitet, sondern ihn
– bei aller Hochachtung vor Frau Wieczorek-Zeul –
durch die Teilnahme einer Ministerin anstelle der Kanz-
lerin diplomatisch abwertet. Schwerer wiegt, dass die
Bundesregierung beim Ringen um die Abschlusserklä-
rung offenbar den Entwurf des Präsidenten der UN-Voll-
versammlung, der auf den Vorschlägen der Stiglitz-
Kommission beruht und einige sehr wichtige Punkte ent-
hält, nicht unterstützt.
Ich wiederhole unsere Forderung nach einer Neuord-
nung der Weltfinanzsystems und damit auch der Kredit-
fazilitäten für die Entwicklungsfinanzierung. Regionale
Banken wie der Banco del Sur müssen gestärkt werden.
Die globalen Kreditvergabefazilitäten müssen auf den
Prüfstand bzw. mit neuen Governance-Strukturen verse-
hen werden. Wir brauchen eine demokratische Kontrolle
der multilateralen Banken innerhalb der UNO, etwa im
Rahmen der UNCTAD oder eines neu einzurichtenden
Weltentwicklungsrats.
Ich kann nur an die Bundesregierung und die anderen
G-20-Regierungen appellieren, den UNO-Gipfel sehr
ernst zu nehmen und die Regelungskompetenzen bei der
Neuordnung des Weltfinanzsystems genau dorthin zu
verlagern, wo alle Staaten daran beteiligt werden kön-
nen: weg von G 8 und G 20, hin zu den Vereinten Natio-
nen.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass es
nottut, am Ende dieser Legislaturperiode erneut über die
Verschuldung von Entwicklungsländern zu diskutieren,
ist ein schlechtes Zeichen. Die Ansätze, die bislang in
der Schuldendiskussion verfolgt worden sind, konnten
zwar zwischenzeitliche Erfolge erzielen; in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise sind diese Ansätze jedoch
gefährdet. Von dieser Krise sind natürlich auch Staaten
betroffen, die bereits entschuldet worden sind, und zwar
durch den Rückgang des Welthandels und der Export-
erlöse, durch den Rückgang der Direktinvestitionen,
durch starke Währungsschwankungen, weniger Nach-
frage nach Rohstoffen und gesunkene Rohstoffpreise
und durch sinkende Überweisungen von Migranten und
Migrantinnen in ihre Herkunftsländer. Berichte der Ver-
einten Nationen gehen davon aus, dass in mindestens
60 Ländern eine Verringerung des Pro-Kopf-Einkom-
mens zu erwarten ist. Die in dieser Woche veröffent-
lichten Zahlen der FAO belegen eine dramatische Zu-
nahme der Hungernden auf über eine Milliarde. Bei
gleichbleibenden Trends werden die MDG in vielen
Ländern nicht erreicht. Die heutige Debatte konzentriert
sich auf das Problem der Verschuldung und die Art und
Weise, damit umzugehen. Eine ganze Reihe von den
24 Staaten, die die Entschuldungsinitiative für hochver-
schuldete arme Länder – HIPC – und die auf dem G-8-
Gipfel in Gleneagles 2005 beschlossene multilaterale
Entschuldungsinitiative durchlaufen haben, stehen er-
neut am Rande einer nicht tragfähigen Verschuldung.
Und das, obwohl ihnen die Schulden beim IWF, der
Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank
– die vor dem Stichtag Ende 2003/Anfang 2004 angefal-
len waren – erlassen worden sind. Wer von uns hätte
1999 bei der Kölner Schuldeninitiative HIPC II im Um-
feld des G-8-Gipfels daran gedacht, dass dieses Problem
uns zehn Jahre später erneut beschäftigen würde?
Substanzielle Risiken bestehen heute beispielsweise
für Kamerun, Äthiopien, Honduras, Malawi, Nicaragua,
Niger und Ruanda. Einige Staaten wie Uganda und Boli-
vien haben etwas „Luft“ durch den Aufbau von Wäh-
rungsreserven. In vielen der erwähnten Länder blieb die
erhoffte Diversifizierung der Wirtschaft aus, sodass die
Abhängigkeit von den Rohstoffpreisen hoch blieb. Und
noch etwas kommt hinzu. Die Debatte um eine tragfä-
hige Entschuldung hat sich mit klassischen Einnahme-
und Ausgabenerwartungen befasst. Sie hat bis heute ver-
säumt, die Auswirkungen des Klimawandels und ande-
rer ökologischer Herausforderungen mit Blick auf die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25393
(A) (C)
(B) (D)
finanzielle Solidität von Staaten systematisch zu bewer-
ten. Diese Auswirkungen – wie Naturkatastrophen und
extreme Wetterereignisse – sind leider keine punktuellen
Ereignisse mehr, sondern tauchen in einer Häufigkeit
auf, die berücksichtigt werden muss. Grundlegend sind
vor allem jedoch die strukturellen Schwächen des Um-
gangs mit Schulden. Von uns Grünen wird seit langem
– neben konkreten Entschuldungsinitiativen – ein struk-
tureller Neuansatz befürwortet: die Einführung eines fai-
ren und transparenten Insolvenzverfahrens, bei dem alle
Beteiligten am Tisch sitzen und das im Falle der
Überschuldung oder Insolvenz zum Tragen kommt.
Diesen Ansatz verfolgen auch das NRO-Netzwerk
„Erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung“
und aktuell die sogenannte Stiglitz-Kommission, UN-
Commission of Experts on Reforms of the Interanational
Monetary and Financial System. Letztere spricht sich für
einen Insolvenzgerichtshof – International Bankruptcy
Court – aus. Zur Erlassjahrkampagne möchte ich hinzu-
fügen, dass sie wirklich auf der Höhe der Zeit die Ver-
schuldungsdiskussion führt und eine erhebliche Unter-
stützung für die politische Meinungsbildung in diesem
Themenbereich ist. Bei bestehenden Verfahren sind die
Gläubiger Partei, Richter und Jury zugleich. Das ist we-
nig legitim, undemokratisch und, wie wir sehen, noch
nicht einmal sonderlich erfolgreich. Letztendlich ent-
scheidet der Pariser Club auf der Grundlage der Exper-
tenmeinung aus dem Internationalen Währungsfonds. Zu
behaupten, dass dabei die Interessen der Schuldner ange-
messen berücksichtigt werden, ist schlicht unhaltbar.
Und selbst die Gleichbehandlung der Gläubiger ist nicht
gegeben. Handlungsbedarf im Sinne eines solchen Neu-
beginns erkennt der vorliegende „Last-Minute-Antrag“
der Koalition im Grundsatz an. Verständigen konnte sich
die Koalition jedoch lediglich auf wachsweiche Prüfauf-
träge. Dies zeigt, dass in der Bundesregierung – vor al-
lem auch im Finanzministerium – kein Wert auf eine ge-
zielte Initiative Deutschlands gelegt wird. Da war
sowohl das Parlament als auch die Regierung schon ein-
mal weiter! Ende der 90er-Jahre wurde im Kontext der
Asienkrise bereits über neue Insolvenzverfahren disku-
tiert, und die Regierung wurde vom Bundestag beauf-
tragt, diesen Vorschlag international einzubringen, was
sie getan hat, wenn auch schließlich – auf Druck der
USA und anderer Staaten – die Initiative zur Einführung
von geregelten Insolvenzverfahren nicht weiterverfolgt
wurde. Wir brauchen also keine „nie endenden Prüfauf-
träge“, sondern den politischen Willen, erneut über neue
Verfahren zu verhandeln. Dabei könnte – allerdings
nicht mit dieser Regierung – Deutschland Vorreiter sein.
Ein Wort noch zum sogenannten Rahmenwerk zur
Schuldentragfähigkeit von Niedrigeinkommensländern,
Debt Sustainability Framework, DSF. Das von Weltbank
und Währungsfonds eingeführte Konzept geht von dem
sinnvollen Gedanken aus, dass sich die Neuvergabe von
Mitteln an der Schuldensituation der Länder orientieren
sollte. Die Kreditvergabe soll so verantwortlicher wer-
den. Wir müssen allerdings heute feststellen, dass dieser
Ansatz eine kritische Höhe der Verschuldung nicht ver-
hindern konnte. Zum einen halten sich weder die Gläubi-
ger noch die Empfänger von Krediten daran, zum ande-
ren wird die Flexibilität des DSF selbst von den G 20
stark infrage gestellt. So wie wir in Zeiten der Wirt-
schaftskrise mit staatlichen Impulsen – wie beispiels-
weise Konjunkturprogrammen – arbeiten, brauchen auch
Entwicklungsländer „frisches Geld“, um auf die Krise
reagieren zu können. Dieses führt natürlich zu höheren
Schulden. Im besten Fall erhalten sie nicht zurückzuzah-
lende Zuschüsse. Gleichwohl erwarten selbst die Finanz-
institutionen eine zunehmende Kreditnachfrage. Es hat
23 Jahre vom ersten Ausbruch der Schuldenkrise 1982
gedauert, bis sich die Staatengemeinschaft 2005 auf eine
Streichung der Schulden für eine kleine Gruppe von
Staaten verständigen konnte. Wir haben wirklich keine
Zeit zu verlieren, einen neuen Konsens zum Umgang mit
überschuldeten Staaten international zu vereinbaren. Der
Antrag greift ein wichtiges Thema auf, ohne mit Verve
politisches Engagement oder Neudeutsch „Leadership“
einzufordern. Mehr als eine Enthaltung meiner Fraktion
ist da nicht drin.
Anlage 37
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– Die Situation von Frauenhäusern ver-
bessern
– Forderung nach einem Bericht der Bun-
desregierung über die Lage der Frauen-
und Kinderschutzhäuser
– Finanzierung von Frauenhäusern bun-
desweit sicherstellen und losgelöst vom
SGB II regeln
– Grundrechte schützen – Frauenhäuser
sichern
– Antrag:
– Für eine Absicherung von Frauen- und
Kinderschutzhäusern
(Tagesordnungspunkt 35)
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Wir sind uns alle ei-
nig: Frauen müssen vor häuslicher Gewalt geschützt
werden, ohne Wenn und Aber. Die Zahl der Betroffenen
wurde schon mehrfach genannt, aber lassen Sie sie mich
wiederholen, damit uns wirklich allen bewusst ist, wie
hoch die Zahl betroffener Frauen ist. Mindestens jede
vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren, die in einer
Partnerschaft lebt oder gelebt hat, hat körperliche
– 23 Prozent – oder – zum Teil zusätzlich – sexuelle
– 7 Prozent – Übergriffe durch aktuelle oder frühere Be-
ziehungspartner mindestens einmal oder auch mehrmals
erlebt.
Auch die Zahl der betroffenen Frauen, die ihr Schick-
sal für unveränderbar halten, ist erschreckend: Mindes-
tens jede dritte Betroffene spricht mit niemandem über
25394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
die körperliche und/oder sexuelle Gewalt. Der Anteil ist
noch höher, wenn der Täter der aktuelle oder frühere Be-
ziehungspartner ist.
Für die betroffenen Frauen und ihre Kinder sind Frau-
enhäuser die zentrale Anlaufstelle. Opfer häuslicher Ge-
walt finden dort Schutz vor weiteren Misshandlungen
und Unterstützung, Gewalterfahrung zu überwinden und
ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Frauenhäuser
sind seit mehr als 30 Jahren unverzichtbare Einrichtun-
gen für Opfer von häuslicher Gewalt und haben als sol-
che unbestritten einen hohen gesellschaftlichen Stellen-
wert.
Um die Situation von gewaltbetroffenen Frauen nach-
haltig zu verbessern, müssen wir einerseits die Situation
von Frauenhäusern verbessern, andererseits aber auch
Prävention, Intervention und die Rückkehr der betroffe-
nen Frauen in ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes
Leben erreichen. Mit unserem Antrag „Die Situation von
Frauenhäusern verbessern“ bauen wir auf dem „Aktions-
plan II zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen“ der
Bundesregierung auf. Denn die Probleme bei der Bekämp-
fung von häuslicher Gewalt gegen Frauen sind äußerst
komplex. Der Aktionsplan legt deshalb einen Schwer-
punkt auf die Zusammenarbeit von Bund und Ländern
sowie auf die Zusammenarbeit von staatlichen Institutio-
nen und nichtstaatlichen Hilfsangeboten. Das Gesamt-
konzept des Aktionsplans schließt Zuständigkeitsberei-
che von Bund, Ländern und Kommunen ein. Die
Umsetzung des Konzeptes setzt daher eine gezielte
Kooperation zwischen Bund und Ländern voraus.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“
und „Frauenhandel“ spielen hier eine wichtige Rolle, da-
neben natürlich auch die Unterstützung von Verbänden
wie der bundesweiten Vernetzungen der Frauenhäuser
– „Frauenhauskoordinierung e. V.“ –, der Frauenbera-
tungsstellen und Frauennotrufe – „Bundesverband Frau-
enberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen
Gewalt e. V.“ – sowie der Fachberatungsstellen im Be-
reich der Bekämpfung des Frauenhandels und der Ge-
walt im Migrationsprozess – „Bundesweiter Koordinie-
rungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen
im Migrationsprozess e. V.“ –. Politik und Verwaltung
profitieren von dem Fachverstand der Einrichtungen und
erhalten so Einblick in die Realität der Betroffenen.
Gleichzeitig können über die Vernetzungsstellen wich-
tige Informationen in das Hilfesystem gegeben werden.
Für die Frauenhäuser ist jedoch primär die Sicherstel-
lung der Finanzierung wichtig. Welche Schwierigkeiten
hier noch vor uns liegen, hat spätestens die Anhörung
deutlich gemacht. Der Bund hat wohl nicht die Rege-
lungshoheit, um eine einheitliche Regelung der Finan-
zierung per Bundesgesetz zu schaffen. Er kann lediglich
Gespräche mit Ländern und Kommunen führen, an sie
appellieren und Empfehlungen aussprechen, damit der
erforderliche Schutz für die betroffenen Frauen und Kin-
der gewährleistet wird. Die Hilfe muss schnell und un-
bürokratisch erfolgen, und die Schutzeinrichtungen soll-
ten allen betroffenen Frauen und Kindern gleichermaßen
offenstehen.
Für uns bedeutet dies, nun zu prüfen, ob nicht doch
eine bundesgesetzliche oder zumindest bundesweit ein-
heitliche Finanzierung von Frauenhäusern rechtlich zu-
lässig und möglich ist. Dies werden wir tun, auch um
den Frauenhäusern die notwendige Planungssicherheit
zu geben. Daneben greift unser umfassender Antrag aber
auch die weiteren in der Anhörung angesprochenen As-
pekte und Probleme auf. Darauf ist meine Kollegin ja
bereits eingegangen.
Feststellen lässt sich Folgendes: Die Probleme sind
noch nicht gelöst, aber wir haben die wichtigsten Punkte
herausarbeiten können und in Angriff genommen. Für
eine nachhaltige Bekämpfung von häuslicher Gewalt ist
die Zusammenarbeit aller Verantwortlichen in staatli-
chen und nichtstaatlichen Institutionen erforderlich.
Michaela Noll (CDU/CSU): Wann lebt eine Frau am
gefährlichsten? Wenn sie eine dunkle Bahnhofsunterfüh-
rung durchquert? Wenn sie über ein stillgelegtes Be-
triebsgelände läuft? Das könnte man meinen, aber wir
wissen: Eine Frau lebt am gefährlichsten zu Hause. Dort
erfährt jede vierte Frau in Deutschland mindestens ein-
mal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner. Sie wird
beschimpft, geschlagen, gedemütigt, gequält, bedroht,
vergewaltigt und manchmal sogar getötet. Trotz aller
Emanzipation und lang erkämpfter Gleichberechtigung
ist Gewalt zwischen Frauen und Männern noch immer
alltäglich. Häusliche Gewalt trifft vor allem Frauen und
Kinder – unabhängig von Nationalität, Kultur und
Schicht.
Um Gewalt gegen Frauen, insbesondere im häusli-
chen Bereich, wirkungsvoll und nachhaltig zu bekämp-
fen, bedarf es eines umfassenden Gesamtkonzeptes. Be-
reits 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter
Strafe gestellt und die Arbeitsgruppe Frauenhandel ein-
gerichtet. 1999 beschloss die Bundesregierung den Ak-
tionsplan I zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
2002 trat das Gewaltschutzgesetz in Kraft, das den ge-
waltbetroffenen Frauen die Möglichkeit gab, den Mann
der Wohnung zu verweisen. 2007 folgte der Aktions-
plan II, der mit über 130 Einzelmaßnahmen dort an-
setzte, wo nach dem Aktionsplan I besondere Hand-
lungsnotwendigkeiten bestehen, etwa bei der Berück-
sichtigung von Frauen mit Migrationshintergrund oder
Frauen mit Behinderungen. Der Aktionsplan betont in
diesem Zusammenhang die Bedeutung eines breit gefä-
cherten Unterstützungssystems mit Frauenhäusern, Zu-
fluchtswohnungen, Notrufen, Frauenberatungsstellen
und Interventionsstellen.
Meist haben die betroffenen Frauen einen langen Lei-
densweg hinter sich, bevor sie überhaupt Anzeige gegen
ihren gewalttätigen Mann erstatten. Im Durchschnitt be-
nötigt eine Frau sechs Anläufe, um sich von ihm zu tren-
nen. Diese Abhängigkeit zu durchbrechen, braucht Zeit.
Vor allem braucht die betroffene Frau Hilfe. Sie braucht
Unterstützung. Sie braucht Schutz vor weiteren Gewalt-
taten. Sie braucht einen sicheren Ort. Diese oftmals
letzte Zufluchtsstätte und die Chance auf den Einstieg in
ein neues selbstbestimmtes Leben bieten ihr die Frauen-
häuser.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25395
(A) (C)
(B) (D)
In Deutschland existieren mehr als 330 Frauenhäuser
und circa 60 Frauenzufluchtswohnungen, die insgesamt
rund 7 000 Plätze für gewaltbetroffene Frauen und deren
Kinder zur Verfügung stellen. In diese Frauenhäuser flie-
hen jährlich circa 45 000 misshandelte Frauen mit ihren
Kindern. In meinem Wahlkreis Mettmann gingen 2008
allein 248 Meldungen bei der Interventionsstelle gegen
häusliche Gewalt ein. 68 Frauen suchten Schutz und
Hilfe im Frauen- und Kinderschutzhaus.
Als zentrale Anlaufstelle und Einrichtung für Opfer
von häuslicher Gewalt sind Frauenhäuser seit 30 Jahren
unverzichtbar geworden. Schon in unserem Antrag
„Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter be-
kämpfen“ haben wir auf ihre hohe Bedeutung hingewie-
sen. Frauenhäuser leisten viel, zum Beispiel: Krisenin-
tervention und Betreuung in akuten Gewaltsituationen;
Information und Hilfe bei der Bewältigung aller Fragen
der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Absiche-
rung, gegenbenenfalls einschließlich der Begleitung zu
Ämtern und Gerichten; Begleitung und Unterstützung
bei der weiteren Lebensplanung; psychosoziale Bera-
tung und Hilfe bei der Bewältigung der Gewalterfahrun-
gen; Beratung bei der Erziehung und Betreuung der Kin-
der einschließlich der Unterstützung in Fragen der
elterlichen Sorge und des Umgangsrechts und vieles
mehr.
Doch die Regelungen der Finanzierung variieren je
nach Bundesland und Kommune. Diese unterschiedli-
chen Finanzierungsregelungen stellen die Einrichtungen
oft vor schwerwiegende Probleme: Häuser werden aus
mehreren Töpfen finanziert; Frauen suchen Schutz in
dem Frauenhaus einer fremden Kommune, es liegt aber
keine Kostenübernahmeerklärung der Herkunftskom-
mune vor; tagessatzfinanzierte Frauenhäuser müssen das
Ausfallrisiko nicht gedeckter Kosten tragen; es fallen
Sonderkosten für barrierefreie behindertengerechte Aus-
stattungen der Frauenhäuser an, um nur einige zu nen-
nen.
Es ist daher wichtig, den Frauenhäusern Planungssi-
cherheit zu ermöglichen, und dafür muss eine verlässli-
che Finanzierung sichergestellt sein. Die überwiegende
Anzahl der Frauenhäuser würde eine einheitliche Finan-
zierung begrüßen. Wir wollen, dass akut von Gewalt be-
drohte Frauen und ihre Kinder jederzeit und unabhängig
von der Verfügbarkeit eines eigenen Einkommens, unab-
hängig von Herkunft, Nationalität und Aufenhaltsstatus
unbürokratisch einen Platz in einem Frauenhaus finden
können. Deshalb habe ich es sehr begrüßt, dass wir ver-
gangenes Jahr im November die erste Anhörung im
Deutschen Bundestag zur Situation der Frauenhäuser
durchgeführt und uns intensiv mit ihrer Planungsunsi-
cherheit auseinandergesetzt haben.
Unser umfassender Antrag spricht alle kritischen
Punkte aus der Anhörung an und fragt, wie in Zusam-
menarbeit mit den Bundesländern die Situation der Frau-
enhäuser und damit die Situation der von Gewalt betrof-
fenen Frauen verbessert werden kann.
Wir wollen unter anderem wissen, ob eine bundesweit
einheitliche Finanzierung von Frauenhäusern rechtlich
zulässig und möglich ist oder nicht; dass die Situation
der Frauenhäuser ein Schwerpunktthema des für 2010
anstehenden Berichts der Bundesregierung zur Gleich-
stellung von Frauen und Männern wird; dass die Emp-
fehlungen des CEDAW-Ausschusses zum 6. Staatenbe-
richt der Bundesregierung berücksichtigt werden, die
eine gesicherte Finanzierung von Frauenhäusern und ei-
nen freien Zugang für alle Frauen und Kinder fordern;
dass im Dialog mit Bundesländern und Einrichtungsträ-
gern Leitlinien zur Finanzierung von Frauenhäusern for-
muliert werden; dass die Finanzierung von Frauenhäu-
sern – einschließlich der flankierenden Leistungen wie
Förderung und Betreuung – auf eine zuverlässige, aus-
kömmliche und kontinuierliche Basis gestellt wird; dass
die gesetzlichen Vorschriften des SGB II, SGB XII und
AsylbLG im Hinblick auf die besonderen Belange der
von Gewalt betroffenen Frauen überprüft werden; dass
unnötige bürokratische Hürden bei Kostenerstattungsre-
gelungen, etwa im Falle mehrfachen Frauenhauswech-
sels oder bei Kurzzeit- und Wochenendaufenthalten,
abgebaut werden; dass die Aufnahme „ortsfremder“
Frauen nicht unnötig erschwert wird und dass auch aus-
ländische Frauen, die Schutz suchen, ausreichenden Zu-
gang zu Frauenhäusern haben.
Unser Antrag ist umfassend. Wir wollen Frauen und
Kinder darin stärken, ein Leben ohne Gewalt und Angst
zu führen und ihre Rechte wahrzunehmen. Wir wollen so
viele von ihnen wie möglich dazu ermutigen, sich nicht
mit Gewalt abzufinden, sondern einen aktiven Schritt zu
ihrer Vermeidung und Bekämpfung zu machen. Deswe-
gen müssen wir die Frauenhäuser dabei unterstützen,
den Schutzsuchenden helfen zu können. Unser Antrag
stellt dafür die richtigen Weichen. Ich bitte Sie im Na-
men der hilfesuchenden Frauen: Unterstützen Sie uns!
Renate Gradistanac (SPD): Im Jahr 2007 hat eine
Richterin einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für eine
vorzeitige Scheidung mit folgendem Argument abge-
lehnt: Die Ausübung des Züchtigungsrechts begründet
keine unzumutbare Härte. – Antragstellerin war eine
Deutsche mit Migrationshintergrund. Zuvor hatte die
gleiche Richterin Maßnahmen zum Schutz derselben
Frau nach dem Gewaltschutzgesetz getroffen. Sie hatte
der Frau zum einen die gemeinsame Wohnung zugewie-
sen und zum anderen ein Näherungsverbot gegen den
Ehemann erlassen. Obwohl der Fall bundesweit eine
große öffentliche Empörung ausgelöst hat, zeigt er uns
doch, wie Gewalt gegen Frauen auch heute immer noch
verharmlost und entschuldigt wird.
Für einen effektiven Gewaltschutz brauchen wir ein
gesellschaftliches Klima, in dem Gewalt gegen Frauen
konsequent geächtet und bekämpft wird. Deshalb haben
wir vor zehn Jahren, unter Rot-Grün, den ersten nationa-
len Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen aufgelegt. Das Gewaltschutzgesetz trat im Jahr
2002 in Kraft. Seitdem können Opfer von Gewalt, zu-
sätzlich zur Möglichkeit des Aufenthalts im Frauenhaus,
eine Wegweisung des Täters aus der gemeinsamen Woh-
nung durchsetzen. Seit fünf Jahren liegt die erste reprä-
sentative Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Frauen
vor. 40 Prozent der befragten Frauen haben seit dem
16. Lebensjahr körperliche oder seelische Gewalt oder
25396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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beides erlebt. Jede vierte Frau hat Gewalt im häuslichen
Umfeld durch den Partner erlebt, wobei kein Zusam-
menhang zwischen Gewalt und Bildungsstand bzw.
Schichtzugehörigkeit feststellbar war. Mit dem im Jahr
2007 in Kraft getretenen Gesetz zur Strafbarkeit beharr-
licher Nachstellungen haben wir Stalking-Opfer besser
geschützt. Ebenfalls im Jahr 2007 hat die Bundesregie-
rung schließlich den zweiten Aktionsplan mit seinen
133 Maßnahmen aufgelegt. Er unterstreicht die Bedeu-
tung der Frauenhäuser und fordert eine Vernetzung der
Frauenhäuser untereinander und mit Frauenberatungs-
stellen und -notrufen.
Heute beraten wir abschließend über vier Anträge zur
Verbesserung der Situation der Frauenhäuser. Unser
schwarz-roter Koalitionsantrag hat das Ziel, den Frauen
bessere Schutzrechte zu ermöglichen, die vor Gewalt
Schutz in einem Frauenhaus suchen. Er greift die Pro-
bleme und Forderungen auf, die uns aus der Praxis der
Frauenhausarbeit berichtet wurden. Die Anhörung zur
Situation der Frauenhäuser hat deutlich gemacht, dass
die Finanzierung der Frauenhäuser in den Bundeslän-
dern einem Flickenteppich gleicht, der unterschiedlicher
nicht sein könnte. Man kann sich daher durchaus fragen,
ob hier noch von gleichwertigen Lebensbedingungen
ausgegangen werden kann. Wir wollen daher, dass ge-
prüft wird, ob eine bundeseinheitliche gesetzliche Rege-
lung nicht doch möglich ist. Infrage käme zum Beispiel
eine institutionelle Förderung, wie sie in Schleswig-Hol-
stein erfolgt.
Angesichts der unterschiedlichen Finanzierungsrege-
lungen in den Ländern und Kommunen ist es mir auch
wichtig, dass Leitlinien zur Finanzierung von Frauen-
häusern formuliert werden, die sach- und fachgerechte
Kriterien und Qualitätsstandards enthalten. Diese sollen
im Dialog mit den Bundesländern und Einrichtungsträ-
gern erstellt werden. Wir fordern Verbesserungen bei
den gesetzlichen Regelungen zur Kostenerstattung. Bü-
rokratische Hemmnisse müssen abgebaut werden. Wir
erwarten, dass die gesetzlichen Vorschriften der Sozial-
gesetzbücher II und XII sowie das Asylbewerberleis-
tungsgesetz besser an die besondere Situation der Ge-
waltopfer angepasst werden. Auch für die Frauen, die
grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen nach die-
sen Gesetzen haben, muss ein niedrigschwelliger Zu-
gang zu den Frauenhäusern ermöglicht werden. Hierfür
brauchen wir gesetzliche Regelungen, die unter anderem
die besonderen Probleme von Frauen in Ausbildung und
Studium sowie von Frauen mit Migrationshintergrund
berücksichtigen. Frauenhäuser müssen allen betroffenen
Frauen und ihren Kindern gleichermaßen offenstehen.
Im Jahr 2005 haben wir für das SGB II eine klarstel-
lende Regelung zur Kostenerstattung getroffen, nach der
die bisherige Wohnortkommune der Standortkommune
des Frauenhauses die anfallenden Kosten zu erstatten
hat. Damit haben wir das für die Frauen unzumutbare
Hin und Her zwischen den betroffenen kommunalen
Trägern eigentlich beendet. Die Anhörung hat allerdings
gezeigt, dass es hier in der Praxis – das ist ein Skandal –
Probleme gibt. Ich appelliere daher an die Länder und
Kommunen, die Frauenhäuser finanziell sicherzustellen,
anstatt sie durch Kürzungen zu beeinträchtigen. Solange
es Gewalt gegen Frauen gibt, werden wir unsere Frauen-
häuser brauchen.
Caren Marks (SPD): Körperliche und sexuelle Ge-
walt gegen Frauen ist nach wie vor keine Seltenheit. In
Deutschland hat jede vierte Frau Gewalt im häuslichen
Umfeld durch den Partner erlebt.
Die Folgen der Gewalt sind vielfältig. Im Fall der
Trennung heißt dies für Frauen häufig: erhöhte Gefahr
für Leib und Leben, Verlust sozialer Kontakte, drohen-
der sozialer Abstieg bis hin zur Armut sowie die Gefahr
gesundheitlicher und psychischer Folgen. Die Auswir-
kungen auf betroffene Kinder sind dabei noch gar nicht
in den Blick genommen.
Für die SPD ist klar, es ist unser politischer Auftrag,
der Gewalt gegen Frauen entschlossen und nachhaltig
entgegenzuwirken. Dabei müssen wir die gesellschaftli-
chen Rahmenbedingungen herstellen, um den betroffe-
nen Frauen den notwendigen Schutz zu gewähren.
In den über zehn Jahren Regierungsverantwortung hat
die SPD viel erreicht. So haben wir beispielsweise mit
dem Gewaltschutzgesetz die Möglichkeit geschaffen,
dass gewalttätige Partner in akuten Gefahrensituationen
die gemeinsame Wohnung verlassen müssen. Dennoch
sind Frauenhäuser und andere Schutzeinrichtungen als
Zufluchtsort nach wie vor unverzichtbar und der Bedarf
an Frauenhausplätzen entsprechend hoch. Denn es gibt
Situationen, da ist es eben für Frauen besser, den Ort der
Gewalt selbst zu verlassen.
Deutschland verfügt gegenwärtig über rund
7 000 Plätze für von Gewalt betroffene Frauen und ihre
Kinder. Wenn wir die sinnvollen Empfehlungen des
Europarats ernst nehmen, müssten wir in Deutschland
noch rund 12 000 Plätze zur Verfügung stellen. Hier ist
also Handlungsbedarf.
Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen sind ein un-
verzichtbarer Bestandteil der Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen und Kinder. Hier wird wichtige gesell-
schaftliche Arbeit geleistet, hier muss schnell und
unbürokratisch Hilfe geleistet werden. Für diese Arbeit
brauchen Frauenhäuser verlässliche Strukturen und eine
ausreichende Finanzierung. Die Finanzierung ist in den
einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt.
In einer Anhörung im Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend im November letzten Jahres
äußerte die Mehrheit der Sachverständigen, dass die
Finanzierung nicht in allen Bundesländern gesichert ist.
Vielfach wurde daher eine bundeseinheitliche Finanzie-
rung gefordert. Auch wenn eine solche aufgrund unserer
föderalen Strukturen nicht ganz einfach herzustellen
wäre, wollen wir von der SPD dies entsprechend prüfen
lassen. So steht in unserem Antrag, dass die Bundes-
regierung eine bundesgesetzliche bzw. bundesweit ein-
heitliche Finanzierung von Frauenhäusern auf ihre recht-
liche Zulässigkeit prüfen soll. Unstrittig ist, dass die
Länder und Kommunen natürlich ebenfalls gefordert
sind, aktiv zu werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25397
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(B) (D)
Ein Blick auf die reale Situation gibt Antworten auf
die Frage, warum die Finanzierung der Frauenhäuser so
problematisch ist. In den meisten Bundesländern bilden
Tagessätze, die auf der Grundlage individueller Leis-
tungsansprüche der Bewohnerinnen nach den entspre-
chenden Regelungen der Sozialgesetzbücher oder des
Asylbewerberleistungsgesetzes an die Einrichtungen ge-
zahlt werden, die wichtigste Finanzierungsgrundlage.
Hier wird ein Problem offenbar: Für bestimmte Perso-
nengruppen, zum Beispiel Studentinnen, Migrantinnen
oder Auszubildende, ist die Tagessatzfinanzierung im-
mer dann besonders problematisch, wenn sie selbst
keine Leistungsansprüche haben, was häufig der Fall ist.
Die Höhe der Tagessätze ist aufgrund unterschiedlicher
Vereinbarungen zwischen den Kommunen und den Ein-
richtungen nicht einheitlich. In den meisten Bundeslän-
dern erhalten die Einrichtungen ergänzend oder alternativ
eine direkte Förderung aus Landes- oder kommunalen
Etats.
Es wird deutlich, dass wir nicht von Einheitlichkeit
und vergleichbaren Ausgangssituationen für die Einrich-
tungen reden können. Ein abgestimmtes Vorgehen der
Länder wäre sehr zu begrüßen und läge im Interesse des
Schutzes für die betroffenen Frauen. Als frauenpoliti-
sche Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion werbe ich
für die zügige Erarbeitung von Leitlinien zur Finanzie-
rung der Frauenhäuser.
Um Frauen und ihren Kindern jederzeit und unabhän-
gig von der Verfügbarkeit eigenen Einkommens, aber
auch unabhängig von Herkunft, Nationalität und Aufent-
haltsstatus in akuten Gewaltsituationen unbürokratisch
einen Platz anbieten zu können, benötigen Frauenhäuser
Planungssicherheit. Planungssicherheit wiederum setzt
eine sichere und ausreichende Finanzierung voraus. Der
von vielen Bundesländern gewählte Weg der Tagessatz-
finanzierung ist unter diesem Gesichtspunkt nicht die
beste Finanzierungsgrundlage. Denn die Tagessatzfinan-
zierung gewährt den Frauenhäusern keine Planungs-
sicherheit. Hinzu kommt: Die durch die Tagessätze nicht
gedeckten Kosten verbleiben allzu oft bei den Einrich-
tungen. Wir müssen alles dafür tun, dass betroffene
Frauen nicht wegen der angespannten Finanzierungslage
abgewiesen werden oder ihre Aufenthaltsdauer aus die-
sem Grund beschränkt werden muss. In allen Ländern
müssen ein gleichwertiger Zugang sichergestellt und ein
ausreichendes Angebot an Plätzen vorgehalten werden.
Nur mit einer institutionellen Förderung der Frauenhäu-
ser könnte dies auf Dauer gewährleistet werden. Erwäh-
nen möchte ich an dieser Stelle, dass zu den Aufgaben
der Häuser auch die präventive und nachsorgende Arbeit
sowie die Förderung und Betreuung von aufgenomme-
nen Kindern gehören.
Die Bundesländer möchte ich daran erinnern, dass der
Bund im Rahmen des Konjunkturpakets II insgesamt
circa 17 Milliarden Euro für Investitionen der öffentli-
chen Hand für die Jahre 2009 und 2010 zur Verfügung
stellt. Diese Finanzhilfen des Bundes für Zukunftsinves-
titionen in Kommunen und Ländern sollen auch im Be-
reich der sozialen Einrichtungen ankommen. Ich möchte
daher an die Länder und Kommunen appellieren, bei ih-
ren Planungen für eine bessere Infrastruktur die Frauen-
häuser nicht zu vergessen. Mit den Mitteln aus dem
Konjunkturpaket können bzw. sollten Einrichtungen ver-
stärkt barrierefrei ausgebaut bzw. umgestaltet werden.
Denn hieran hapert es noch in vielen Einrichtungen.
Ebenso sind Investitionen in Energieeffizienz lohnende
Zukunftsinvestitionen. Investitionen zum Schutz von
durch Gewalt bedrohten Frauen und Kindern sind sinn-
volle Investitionen in deren und unsere Zukunft.
Sibylle Laurischk (FDP): Die Finanzierung von
Frauenhäusern ist seit der Gründung eines Frauenhauses
in meiner Heimatstadt Offenburg ein ganz zentrales An-
liegen meiner politischen Arbeit. Als Familienanwältin
kenne ich die Dimensionen häuslicher Gewalt mit all ih-
ren auch langfristigen Wirkungen nicht nur auf die
Frauen selbst, sondern auch auf die Kinder.
Bereits 2004 habe ich das Thema mit einer schriftli-
chen Frage an die Bundesregierung auf die Agenda des
Bundestages gebracht, im März 2008 habe ich mit einer
Kleinen Anfrage versucht, die Bundesregierung zu ei-
nem klaren Bekenntnis zu einer verlässlichen Finanzie-
rung von Frauen- und Kinderschutzhäusern zu bringen –
erfolglos, in der Antwort wurde lediglich auf den
Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen verwiesen, der kein Wort zur
Frauenhausfinanzierung enthält, im Übrigen sei die Fi-
nanzierung Angelegenheit der Länder und Kommunen.
Der von uns im April 2008 daraufhin geforderte Be-
richt über die Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser
liegt bis heute nicht vor, lediglich Stellungnahmen aus
den Ländern sind vom Ministerium an uns weiterge-
reicht worden. Ich freue mich durchaus, dass alle Frak-
tionen dieses Anliegen einer gleichmäßigen, auskömmli-
chen Finanzierung teilen, wenngleich sie auch auf
unterschiedliche Weise das Ziel einer auskömmlichen
und verlässlichen Finanzierung zu erreichen hoffen. Die
Anhörung im November 2008 hat dies deutlich gemacht.
Der CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen hat
sich in seinen Concluding Observations besorgt gezeigt
über die hohe Zahl von Gewalttaten gegen Frauen und
Mädchen, insbesondere gegen Migrantinnen. Der Aus-
schuss fordert von der Bundesregierung, mit Bund, Län-
dern und Kommunen gemeinsam zu einer sicheren
Frauenhausfinanzierung zu kommen. Das Zuständig-
keitsgerangel, das zu einem Pingpong der Nichtzustän-
digkeit sich auswächst, ist international also kaum ver-
mittelbar. In diesem Gestrüpp verheddert sich die
Verantwortung für die Finanzierung von leider dringend
notwendigen sicheren Zufluchtswohnungen und -häu-
sern für Frauen und Kinder, die häuslicher Gewalt aus-
gesetzt sind. Es ist nicht zu erklären, dass diejenigen, die
Opfer von Gewalttaten werden, selbst für die Finanzie-
rung ihrer Situation zuständig sein sollen, oder gar dieje-
nigen, die oft ehrenamtlich und über die Maßen den
geschlagenen Frauen und Kindern helfen. Letztendlich
trägt die Bundesregierung für diese unzulängliche Finan-
zierung von Schutzräumen die Verantwortung, zumin-
dest im Rahmen des Völkerrechts. Die Koalition hat
trotz unserer vielfältigen Initiativen lange überlegen
müssen, bis sie dann den vorliegenden Antrag, der im
25398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Wesentlichen Prüfaufträge enthält, zustande gebracht
hat.
Aus meiner unmittelbaren Anschauung kann ich sa-
gen, dass ein großer Teil der Arbeit eines Frauenhauses
in die Sicherstellung der Finanzierung geht, zulasten der
eigentlichen, inhaltlichen Arbeit mit den Frauen und
Kindern. Besonders beklagenswert ist dann, dass die
Trägervereine durch ehrenamtliche Tätigkeit, zum Bei-
spiel durch den Betrieb eines Secondhandladens, oft
noch von der Umsatzsteuer bedroht sind, ein Thema, das
uns wiederholt im Unterausschuss Bürgerschaftliches
Engagement beschäftigt und leider weiter beschäftigen
wird.
In unserem zentralen Anliegen sind wir uns alle einig:
Die ungleiche Finanzierung von Frauen- und Kinder-
schutzhäusern in Deutschland ist beschämend und ge-
hört zugunsten einer gleichmäßigen, am Bedarf orien-
tierten Finanzierung abgeschafft. Der Weg dorthin ist
jedoch aufgrund unserer föderalen Verfassung und sicher
auch wegen der tatsächlich unterschiedlichen Bedarfs-
lage –, ich erinnere nur an die verschiedenen Lebenssi-
tuationen in Stadt, Großstadt und Land – äußerst komplex.
Diese Komplexität spiegelt sich auch in den Antragsbera-
tungen und der dazu durchgeführten Anhörung wider.
Eine Zuständigkeit des Bundes speist sich für meine
Begriffe auch aus seiner Zuständigkeit für den Opfer-
schutz und die Integration, da bereits jetzt viele Frauen-
häuser als interkulturelle Häuser geführt werden, gerade
in Großstädten, um der großen Nachfrage gerecht zu
werden. Zwangsverheiratungen kann man wohl verbie-
ten, aber erst eine wirkungsvolle Aufklärungsarbeit und
sichere Zufluchtstätten für von Zwangsheirat bedrohte
Frauen und Mädchen können die Zahl von Zwangsheira-
ten tatsächlich verringern. Auf der heute und morgen ta-
genden 19. Gleichstellungs- und Frauenministerkonfe-
renz der Länderminister wird es hoffentlich zu diesem
Thema Ergebnisse geben. Das darf aber die Bundes-
regierung nicht aus ihrer Zuständigkeit entlassen.
Das Thema hat aus der Schmuddelecke herausgefun-
den an das Licht der Öffentlichkeit, spätestens seitdem
in der ARD um 20.15 Uhr mit einem Bild aus einem
Frauenhaus für die Lotterie „Ein Platz an der Sonne“ ge-
worben wird. Bis aus einem Platz im Frauenhaus tat-
sächlich ein Platz an der Sonne des Lebens wird, ist es
ein weiter Weg.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ende 2008
wurde vor dem UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder
Form von Diskriminierung der Frau der Sechste Bericht
der Bundesrepublik Deutschland zum CEDAW-Überein-
kommen verhandelt. In beeindruckender Deutlichkeit
wurde dort die Frauenpolitik der Bundesregierung ge-
rügt, und zwar an vielen Punkten, die eine Allianz von
Frauenorganisationen in ihrem alternativen Schattenbe-
richt benannt und die auch die Linke hier bereits mehr-
fach vorgetragen hat. Der Ausschuss forderte die Bun-
desregierung zum Beispiel nachdrücklich auf, eine
ausreichende Anzahl von Frauenhäusern auf dem ge-
samten Staatsterritorium zur Verfügung zu stellen und
sie angemessen zu finanzieren. Wobei „ausreichend“
und „angemessen“ in diesem Fall heißt, sie müssen „al-
len Frauen offenstehen, unabhängig von der finanziellen
Situation des Opfers“.
Meine Fraktion Die Linke, hat mit ihrem heute zur
Abstimmung stehenden Antrag bereits Ende 2007 diese
wichtige Debatte zur teilweise beschämenden Situation
in Frauenhäusern angestoßen. Mit unserem Antrag for-
dern wir die Bundesregierung auf, für eine bundesein-
heitliche Sicherstellung von Frauenhäusern und Schutz-
einrichtungen zu sorgen. Wenn unser Antrag zügig eine
parlamentarische Mehrheit gefunden hätte und umge-
setzt worden wäre, hätte zumindest bei diesem Thema
der CEDAW-Ausschuss keinen Grund zur Kritik gehabt.
Die Chance wurde vertan! Trotzdem bewirkte der An-
trag der Linken ein kleines Wunder: 2008 fand – nach
mehr als 30 Jahren Frauenhausbewegung – die erste
Frauenhausanhörung im Bundestag statt.
In der Anerkennung einer Problemlage waren sich
alle relativ schnell einig. Es ging deshalb vor allem um
die zentrale Frage: Wer ist zuständig für die Lösung des
Problems: der Bund oder die Länder? Die Koalition
hätte gern die Länder für zuständig erklärt. Aber daran
zweifelten angesichts der Berichte der verschiedenen
Expertinnen mit realen Alltagserfahrungen selbst die
von Ihnen benannten Rechtsexperten. Denn es gibt zwi-
schen den Landesteilen ein erheblich gestörtes soziales
Gleichgewicht in der Versorgung mit Fluchtmöglichkei-
ten vor häuslicher Gewalt. In einem solchen Fall muss
nach dem Grundgesetz der Bund für Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse sorgen. Dazu nur einige Zahlen:
In Bayern steht für mehr als 17 000 Einwohnerinnen
und Einwohner 1 Frauenhausplatz zur Verfügung, in
Bremen für 6 200. In Rheinland-Pfalz werden bis zu
60 Prozent des Frauenhausetats aus kommunalen Mit-
teln bestritten, in Sachsen-Anhalt ganze 14 Prozent. Bis
zu 70 Prozent Eigenmittel müssen Frauenhäuser in
Nordrhein-Westfalen einwerben, in Berlin sind es nur
3 Prozent.
Vor allem die hohe Eigenmitteleinwerbung ist ein Di-
lemma: Statt sich auf ihre eigentlichen Aufgaben in Sa-
chen Nothilfe und Prävention konzentrieren zu können,
führen viele in den Frauenhäusern Beschäftigte einen
Überlebenskampf um ihre eigenen Arbeitsplätze.
Die Umstellung der Finanzierung des Frauenhausauf-
enthaltes auf Tagessätze in 13 Bundesländern hat die
Lage für die Opfer von häuslicher Gewalt noch dramati-
siert: Sie werden nun an den Kosten für ihre Zuflucht
und die ihrer Kinder beteiligt. Bei Ersparnissen oder ei-
genem Einkommen müssen sie diese ganz selbst tragen.
Frauenhäuser sind „kein Dach über dem Kopf“, für
das frau Miete zahlen sollte, sondern niedrigschwellige,
anonyme, unbürokratische und überregional vernetzte
Zufluchtsorte, Unterstützungs- und Beratungsangebote
für Opfer! Mietzahlung für die Opfer ist und bleibt ein
inakzeptables, absurdes Konstrukt! Deshalb fordert die
Linke eine pauschale, bedarfsgerechte und planungssi-
chere finanzielle Absicherung dieser wichtigen Arbeit
mit Schutzauftrag.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25399
(A) (C)
(B) (D)
Der CEDAW-Ausschuss hat ganz bewusst auf die
Verantwortung der Bundesregierung für die Finanzie-
rung hingewiesen. Eine bedarfsgerechte Finanzierung
von Beratung und Unterstützung für misshandelte
Frauen und Kinder muss Pflichtaufgabe von Ländern
und Kommunen werden. Die unterschiedlichen Rege-
lungen in den Ländern und Kommune sollten vereinheit-
licht werden.
Ich erkenne an, dass im Feststellungsteil des Antrags
der Koalition viele kritische Hinweise aus der Frauen-
haus-Anhörung aufgegriffen wurden. Im Forderungsteil
sucht man die Schlussfolgerungen aus den gewonnenen
Erkenntnissen leider vergeblich. Prüfen, empfehlen,
werben oder sich einsetzen reicht angesichts der prekären
Situation nicht aus. Selbst die eindeutigen Forderungen
des CEDAW-Ausschusses verwässern und degradieren
Sie zu Empfehlungen. Der Schritt von der Anerkennung
des Problems bis zu seiner Lösung war für einen Teil der
Koalition offensichtlich deutlich zu groß. Das ist ja
aktuell bei vielen Problemen so – aber hier geht es um
Gewaltopfer! Da ist jedes Zögern eigentlich Versagen!
Die Linke hat in ihrem Antrag klare Forderungen im
Interesse der Frauenhäuser und der Opfer von häuslicher
und sexualisierter Gewalt. Seien Sie also einmal mutig
und stimmen Sie zu, damit sich endlich wirklich etwas
ändert!
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Der Schutz von Frauen und Kindern vor Ge-
walt in Familie und Partnerschaft muss uns allen hier im
Hause ein sehr wichtiges Anliegen sein. Wir wissen
durch die Studie des Frauenministeriums von 2004, dass
40 Prozent aller Frauen bereits Gewalt durch Partner er-
fahren haben. Es ist ein Verdienst der Frauenbewegung,
dass wir heute ein gutes Schutz- und Hilfesystem für ge-
waltbetroffene Frauen und ihre Kinder in Deutschland
haben. Das rot-grüne Gewaltschutzgesetz hat 2001 eine
riesige Lücke geschlossen, indem es die Wegweisung
der Täter aus der gemeinsamen Wohnung ermöglicht
und damit den Opfern die nötige Zeit verschafft, die für
sie wichtigen nächsten Schritte einzuleiten. Wir wissen
aber auch, dass die Möglichkeiten des Gewaltschutzge-
setzes nicht für alle Frauen anwendbar sind. Für diese,
darunter viele Migrantinnen, sind die Frauenhäuser eine
zentrale Anlaufstelle.
Es gibt keinen Rechtsanspruch auf die „Leistung“
Frauenhaus. Die Finanzierung der Frauenhäuser ist je
nach Kommune und Bundesland vollkommen unter-
schiedlich. Eine Tendenz ist aber deutlich: Die Finanz-
mittel sind nicht ausreichend und sie sind häufig unsi-
cher. Das heißt, dass die Mitarbeiterinnen sich immer
wieder um die Existenzsicherung des Frauenhauses
kümmern müssen, dass die Lage häufig prekär ist – und
diese Arbeit dann in der täglichen Unterstützung der
Frauen und Kinder fehlt.
Wir wissen, dass es bereits jetzt eine unzureichende
flächendeckende Vorhaltung von bedarfsgerechten Frau-
enhausplätzen gibt. So kann beispielsweise in Nord-
rhein-Westfalen jährlich 5 000 Aufnahmegesuchen nicht
entsprochen werden. Vielerorts ist eine niedrigschwel-
lige, unbürokratische Aufnahme zu jeder Tages- und
Nachtzeit nicht gewährleistet. Hinzu kommen Ein-
schränkungen je nach Aufenthaltsstatus, Einkommens-
situation oder Herkunftskommune. Durch die Umstel-
lung auf Tagessatzfinanzierung haben Frauen ohne
Leistungsanspruch nach SGB II, wie Auszubildende,
Studentinnen, nichtdeutsche Frauen mit Freizügigkeits-
bescheinigung oder Wohnsitznahmebeschränkung oder
ohne rechtmäßigen Aufenthaltsstatus, keinen Anspruch.
Schön, dass die Anträge der Opposition und unsere
Anhörung eine Weiterbildung für die Koalition waren
und einen Erkenntnisprozess ausgelöst haben. Endlich
haben auch Sie, meine Damen und Herren von Union
und SPD, einen eigenen Antrag zu diesen Problemen
vorgelegt. Weniger schön ist allerdings, dass Sie sich da-
bei – wie so häufig – vor konkreten Schritten drücken.
Wir erhalten wieder einmal seitenweise Prüfwünsche der
Koalition an die Bundesregierung. Regieren heißt aber
handeln! Wir brauchen zügig Gespräche zwischen Bun-
desregierung und Ländern, wie bundesweit eine bedarfs-
gerechte gute Versorgung mit Frauenhausplätzen herzu-
stellen ist. Wir brauchen zügig konkrete Vorschläge, wie
der Zugang zum Frauenhaus unbürokratisch, unmittelbar
und unter Wahrung der Anonymität der Betroffenen ge-
währleistet werden kann. Wenn diese Gespräche nicht zu
einer Verbesserung der Situation führen, ist die Bundes-
regierung in der Pflicht, einen Gesetzentwurf vorzule-
gen, der den betroffenen Frauen einen umfassenden An-
spruch sicherstellt. Denn sie ist in der Verantwortung, für
gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Bundeslän-
dern zu sorgen. Bei der Versorgung mit Schutzeinrich-
tungen für von Gewalt betroffene Frauen ist das derzeit
nicht der Fall.
Wir waren uns einig: sowohl in der Wertschätzung
der Arbeit der Frauenhäuser wie in der Analyse, dass die
Finanzierung dringend zu verbessern und zu vereinheit-
lichen ist und dass es dadurch nicht zu einer Absenkung
der Qualität der Arbeit in den Frauenhäusern kommen
darf. Daher möchte ich an Sie appelllieren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen:
Springen Sie über Ihren Schatten, verschanzen Sie sich
nicht weiter hinter nebulösen Prüfaufträgen, werden Sie
aktiv, stellen Sie Sicherheit für gewaltbetroffene Frauen
und Kinder in diesem Land her.
Anlage 38
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Der Zukunft eine
Stimme geben – Für ein Wahlrecht von Geburt
an (Tagesordnungspunkt 39)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Das Thema
Generationengerechtigkeit ist zu Recht in aller Munde.
Es ist eine Binsenweisheit: Politische Entscheidungen
von heute haben massive Auswirkungen darauf, ob es
auch für die künftigen Generationen in unserem Land
Wohlstand, wirtschaftliches Wachstum, Sicherheit vor
Kriminalität und Gewalt und eine vernünftige soziale
Sicherheit gibt. Der Gedanke der Nachhaltigkeit und der
25400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Generationengerechtigkeit politischer Entscheidungen
hat inzwischen im Bewusstsein der Öffentlichkeit eine
wichtige Bedeutung erlangt. Dies begrüße ich außer-
ordentlich. Denn es entspricht einer zutiefst im christli-
chen Menschenbild wurzelnden Verantwortung vor der
Schöpfung, dass die politischen Entscheidungsträger die
Folgen ihres Handelns für die Nachgeborenen mit be-
denken sollten. Auch in der Politik besteht glücklicher-
weise in Deutschland inzwischen im Grundsatz Konsens
darüber, dass bei politischen Entscheidungen auch die
Auswirkungen auf die Interessen der jungen und der
kommenden Generationen berücksichtigt werden müs-
sen.
Vor diesem breiteren Hintergrund sehe ich auch den
heute zur Beratung anstehenden Gruppenantrag. Ich er-
kenne deshalb durchaus das ernsthafte Anliegen an, das
die Antragsteller umtreibt. Doch halte ich die von den
Antragstellern angebotene Lösung, die Einführung eines
Wahlrechts von Geburt an, für nicht zielführend.
Wir haben in der laufenden Wahlperiode bereits
mehrfach über Anträge und Gesetzentwürfe aus den Rei-
hen der Opposition beraten, in denen eine Absenkung
der Altersgrenze für die aktive Wahlberechtigung bei
den Wahlen zum Deutschen Bundestag von 18 auf
16 Jahren gefordert wurde. Schon bei diesen Gelegen-
heiten habe ich deutlich gemacht, dass ich es für ganz
entscheidend halte, dass das Wahlrecht an die Alters-
grenze der Volljährigkeit geknüpft bleibt. Der Gleichlauf
zwischen der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit und
dem Wahlrecht ist und bleibt nach meiner Überzeugung
richtig. Dies ist ein in sich stimmiges Gesamtkonzept, an
dem wir festhalten sollten. Minderjährige werden im Zi-
vilrecht vor den negativen Folgen ihres eigenen Han-
delns geschützt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass
der Jugendliche in seiner persönlichen Reife und Urteils-
fähigkeit in aller Regel noch nicht so weit entwickelt ist,
dass er für alle Folgen seines Tuns verantwortlich sein
sollte. Minderjährige werden deshalb mit gutem Grund
zivilrechtlich vor den negativen rechtlichen Konsequen-
zen ihres Handelns geschützt.
Es wäre nun ein massiver Systembruch, einem Min-
derjährigen die Verantwortung für politische Entschei-
dungen aufzuerlegen, die unser gesamtes Gemeinwesen
berühren, wenn man ihm auf der anderen Seite nicht ein-
mal die persönliche zivile Verantwortung für die Folgen
seines Tuns aufbürden will. Das halte ich für nicht
schlüssig und für nicht vertretbar.
Die Antragsteller tun so, als gäbe es dieses Problem
gar nicht. Sie verlagern die Diskussion vielmehr darauf,
den Eltern zu ermöglichen, das Wahlrecht des Kindes
treuhänderisch für das Kind auszuüben. Selbst wenn
man der Prämisse folgen wollte, dass dem Minderjähri-
gen trotz fehlender Geschäftsfähigkeit ein Wahlrecht
zustehen sollte – was ich aus den genannten Gründen
ausdrücklich nicht tue –, würde der Vorschlag der An-
tragsteller unlösbare Zielkonflikte aufwerfen, auf die der
Antrag eine Antwort schuldig bleibt. Die Antragsteller
nehmen offensichtlich einfach an, dass die Eltern das
Wahlrecht des Kindes nach bestem Wissen und Gewis-
sen so ausüben würden, wie dies dem Wohl und den In-
teressen des Kindes entspricht. Ich halte diese Vorstel-
lung – gelinde gesagt – für überaus naiv. Schon der
Gedanke, dass die Wahlrechtsausübung im Interesse des
Kindes in irgendeiner Weise kontrollierbar sein könnte,
ist völlig abwegig und wird im Antrag auch wohlweis-
lich gar nicht angesprochen. Genau das aber ist das Pro-
blem.
Das Konzept der elterlichen Verantwortung, die den
Schutz des Grundgesetzes genießt, funktioniert im Zu-
sammenhang mit dem Wahlrecht nicht. Nach Art. 6
Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz hat der Staat die Pflicht, da-
rüber zu wachen, dass die Eltern ihr Elternrecht im Sinne
des Kindeswohls ausüben. Dies geschieht dadurch, dass
zum Schutz des Kindes bei massiven Verstößen der El-
tern gegen ihre elterliche Verantwortung die elterliche
Sorge beschränkt und im Extremfall entzogen werden
kann. Das heißt, es gibt staatliche Sanktionsmöglichkei-
ten gegen Eltern, die ihre Elternverantwortung nicht er-
füllen oder ihr Elternrecht sogar missbrauchen.
Beim Wahlrecht nach den Vorstellungen der Antrag-
steller gäbe es dagegen überhaupt keine Sanktionen. Die
Eltern könnten ihre treuhänderische Stellung – juristisch
betrachtet – missbrauchen, indem sie schlicht ein mehr-
faches Wahlrecht für ihre eigene Person ausüben
würden. Niemand könnte und wollte das überhaupt kon-
trollieren. Diese Wahlrechtsausübung hätte aber Auswir-
kungen auf unser gesamtes Gemeinwesen und alle Bür-
gerinnen und Bürger. Gemessen an demokratischen
Maßstäben wäre das ein unhaltbarer Zustand. Die An-
tragsteller bleiben eine Antwort schuldig, wie sie diesen
Zielkonflikt lösen wollen.
Ein derart schwerwiegender Systembruch ist auch un-
ter Verweis auf die Generationengerechtigkeit nicht zu
rechtfertigen. Wenn wir dazu kommen wollen, die Inte-
ressen der jungen und nachfolgenden Generationen noch
besser zu berücksichtigen, gibt es dafür bessere Wege.
So halte ich es für einen sehr guten Schritt, dass die Bun-
desregierung mit Wirkung zum 1. Juni 2009 eine zwin-
gende Nachhaltigkeitsprüfung zum Bestandteil jeder Ge-
setzesfolgenabschätzung bei ihren Gesetzesvorhaben
gemacht hat. Das führt dazu, dass die Interessen der
kommenden Generationen bei den politischen Entschei-
dungen von heute zwingend mit bedacht und mit geprüft
werden müssen. Ich würde es begrüßen, wenn dieser An-
satz auch von anderen Gesetzgebern, etwa in den Län-
dern, geprüft und nach Möglichkeit auch übernommen
werden würde.
Aber auch uns Abgeordnete sehe ich in der Pflicht. Es
ist vor allem unsere Aufgabe, gerade auch auf die jungen
Leute und auf Familien mit Kindern zuzugehen, ihre An-
liegen und Interessen aufzunehmen und diese in unsere
politische Arbeit einzubringen. Die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages sind aufgerufen, die Interessen
des gesamten Volkes im Auge zu haben. Das heißt aber,
sie sollen und müssen auch die Interessen der Kinder
und Jugendlichen berücksichtigen. Dieser Aufgabe soll-
ten wir uns mit aller Kraft annehmen.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Am 27. September
dieses Jahres wird in Deutschland der Bundestag ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25401
(A) (C)
(B) (D)
wählt. Wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollen-
det hat und Deutscher oder Deutsche ist. Das sind unge-
fähr 65 Millionen Menschen. An diesem Tag entscheidet
sich, ob Deutschland in Zukunft sozialer, demokratischer
und gerechter wird oder ob die schwarz-gelbe Ideologie,
die uns in die Krise geführt hat, die Antwort auf die
Krise sein soll. Es geht damit gewiss um die Zukunft von
Kindern und Jugendlichen. Jetzt fordert der wohlmei-
nende Antrag, Kindern das Wahlrecht von Geburt an zu
geben. Dazu wollen die Antragsteller Art. 38 des Grund-
gesetzes ändern, der heute die Vollendung des 18. Le-
bensjahres als Voraussetzung festschreibt. In der Praxis
wählen dann die Eltern als Stellvertreter für ihre Kinder.
Sie machen also das Kreuzchen in der Wahlkabine für
ihre Kinder mit.
Vornweg: Es ist immer gut, darüber nachzudenken,
wie wir Kinder stärken und ihnen gerechter werden kön-
nen. Wir Sozialdemokraten haben große Sympathie für
alle Initiativen, die zu mehr politischer Partizipation von
jungen Menschen und einer Stärkung des demokrati-
schen Prinzips in unserem Land führen sollen. Schon
Willy Brandt hat dies mit dem oft zitierten Satz von
„Mehr Demokratie wagen“ zum Ausdruck gebracht.
Förderung von politischer Teilhabe und Politikverständ-
nis, das sind zentrale Anliegen von uns Sozialdemokra-
ten. Aber: So ehrenwert das Anliegen auch ist, Symbol-
politik hilft hier nicht weiter.
Vor nicht allzu langer Zeit haben wir hier die Absen-
kung des Wahlalters auf 16 Jahre diskutiert. Dafür gibt
es gute Gründe. Viele Argumente sprechen aber auch da-
gegen. Das alles will ich nicht noch einmal wiederholen.
Jetzt gehen die Antragsteller noch einen Schritt weiter:
In Zukunft soll jeder Deutsche oder jede Deutsche wäh-
len dürfen, egal wie alt. Das hört sich gut, gerecht und
urdemokratisch an. „Die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer,
freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“, heißt es in
Art. 38 des Grundgesetzes. Unmittelbar, frei, gleich und
geheim, das sind die Vorgaben unseres demokratischen
Wahlrechts.
Unmittelbar müssen die Wahlen sein. Nur wenn der
Wähler wirklich das letzte Wort hat, ist die Wahl unmit-
telbar. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1957
dazu gesagt, dass dieser Grundsatz in jedem Wahlverfah-
ren konsequent verwirklicht werden muss. Alle Zwi-
scheninstanzen sind verboten. Die Antragsteller meinen,
damit sind nur Wahlmänner, wie zum Beispiel in den
USA, verboten. Nur: Wo ist denn die Unmittelbarkeit für
die Kinder, wenn die Eltern für sie abstimmen? Sind die
Eltern denn keine Zwischeninstanz? Das ist doch nicht
logisch. Übrigens: Auch Briefwahl und Unterstützung
von Hilfspersonen, wie häufig in Altersheimen prakti-
ziert, sind kein Argument für ein Stellvertreterwahlrecht.
Diese Hilfspersonen wählen ja nicht selbst. Sie dürfen
nur dabei helfen.
Frei und geheim muss die Wahl sein. Dieser Grund-
satz gilt nicht nur in der Wahlkabine, sondern schon vor
der Wahl, wenn sich die Wähler ihren Willen erst bilden.
Was ist denn aber für die Kinder frei und geheim, wenn
ihre Eltern das Kreuzchen machen? Eltern wählen nach
ihrem Willen – geheim! Aber ob das der Wille, der freie
Wille der Kinder ist, weiß keiner. Die Eltern haben immer
das Letztentscheidungsrecht. Das Kind kann seinen Wil-
len nicht geheim abstimmen. Das passt doch nicht.
Gleich muss die Wahl nach Art. 38 des Grundgesetzes
sein. Das heißt, jede Stimme ist gleichviel wert und muss
gleichviel zählen. Das ist unser landläufiges Verständnis
von Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht versteht
diesen Grundsatz „streng und formal“. Nur: Bleibt das
mit einem Kinderwahlrecht auch so? In Wahrheit haben
doch nicht die Kinder die Stimme, sondern ihre Eltern.
Die vervielfachen ihr Wahlrecht. Ich will nicht, dass die
Stimme einer einzelnen Gruppe plötzlich mehr wert ist
als die einer anderen, und sei es auch nur die Gruppe der
Kinderlosen.
Was der Antrag fordert, ist nicht neu. Schon in der
vergangenen Legislaturperiode haben wir uns ernsthaft
und intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Die
Mehrheit der Sachverständigen in der damaligen öffent-
lichen Anhörung des Deutschen Bundestages hatte große
verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solche Re-
gelung. Ich gebe zu: Es gab auch andere Stimmen. Über-
zeugt haben die mich aber bis heute nicht.
Viele offene Fragen werden auch durch diesen neuen
Antrag nicht beantwortet. Wie ist es mit den Kindern in
der Obhut des Staates? Wie ist es mit Kindern, deren El-
tern geschieden sind? Was ist, wenn die Eltern minder-
jährig sind? Was ist, wenn sich die Eltern nicht einig
sind? Sie können doch komplett unterschiedliche Vor-
stellungen von der Zukunft des Kindes haben. Hier ist
Streit in der Familie vorprogrammiert. Das kann nie-
mand wollen. Dazu sagt der Antrag aber nichts. Im Ge-
genteil: Er weist darauf hin, lässt die Lösung aber offen.
Soll dann das Familiengericht entscheiden, wer was für
das Kind wählen darf?
Auch bei der zu erwartenden demografischen Entwick-
lung können wir nicht über das Wahlrecht Generationen-
gerechtigkeit herstellen. Da müssen wir schon auf andere
Weise etwas für die Kinder und Jugendlichen tun. Eine
starke Stimme für unsere Kinder und Jugendlichen? Das
hört sich ja erst einmal gut an. Das will ich auch. Doch
brauchen wir dazu ein Kinderwahlrecht?
Keiner behauptet, dass das Kinderwahlrecht automa-
tisch eine bessere Politik für die Kinder bringt. Was
mehr für die Kinder bringt, ist nur konsequentes Dran-
bleiben. Wir Sozialdemokraten haben den Anspruch auf
Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder durch
eine Tagesmutter ab 1. August 2013 festgeschrieben.
Wir haben den Ausbau der Ganztagsschulen beschlos-
sen. In unserem Wahlprogramm sprechen wir uns für die
Einrichtung einer nationalen Kinderkonferenz aus. Uns
kann und sollte noch viel mehr für Familien und Kinder
einfallen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt,
und das ganz ohne die Wählerstimmen der Kinder. Es
geht um die richtigen Antworten auf die Veränderungen
in unserer Gesellschaft.
Wenn das Grundgesetz geändert werden soll, müssen
wir gute Gründe und noch bessere Argumente haben.
Die Antragsteller meinen, dass die jetzige Regelung in
25402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Art. 38 Grundgesetz sogar gegen die Menschenwürdega-
rantie aus Art. 1 Grundgesetz verstößt. Das geht nun
wirklich zu weit. Dennoch will ich mich der Diskussion
nicht verschließen. Ich weiß: Viele Kinder und Jugendli-
che engagieren sich schon heute in ihrem Stadtteil oder
im Sportverein oder wählen ihre Schülervertretung. In
einigen Gemeinden dürfen 16-Jährige die kommunalen
Parlamente mitwählen. Demokratie ist für viele junge
Menschen dort ganz selbstverständlich. Damit haben wir
gute Erfahrungen gemacht. Ich hatte diese Woche eine
siebte Klasse aus dem Fichtenberg-Gymnasium in Ber-
lin-Steglitz zu Gast. Diese Schüler waren mit elf, zwölf
Jahren sicher schon selbst wahlfähig.
Wir haben mit guten Gründen das Wahlrecht ab 18 Jah-
ren. Beim Wehrdienst knüpft unsere Rechtsordnung an
das Alter von 18 Jahren an. Auch beim Strafrecht ist 18
eine Altersgrenze. Mit 18 Jahren kann ein Jugendlicher
zum ersten Mal nach Erwachsenenstrafrecht bestraft
werden. Er kann seinen Führerschein machen, oder ihm
wird erlaubt, zu rauchen. Das Wahlalter 18 hat viele, ge-
sellschaftlich akzeptierte Ansätze.
Am Anfang meiner Rede habe ich Art. 38 des Grund-
gesetzes zitiert. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen
wollen die Antragsteller das Grundgesetz in einer für die
parlamentarische Demokratie wesentlichen Bestimmung
ändern. Dazu reicht kein wohlgemeintes Anliegen. Dazu
bedarf es gerade beim Wahlrecht formal besonders
streng zu handhabender Gründe. Ihr Kinderwahlrecht ist
nicht unmittelbar, ist nicht frei und nicht geheim und ist
nicht gleich. Das lässt sich mit unserer Verfassung nicht
machen. Auch nicht nachts um halb eins.
Miriam Gruß (FDP): Dem ersten Satz dieses Antrags
stimme ich voll und ganz zu: Den Kindern in Deutsch-
land eine Stimme zu geben, ihre Beteiligungsrechte zu
sichern und sie ernst zu nehmen, unterstütze ich vollauf.
Allerdings wird dies nicht durch ein Wahlrecht von Ge-
burt an in Form eines Stellvertreterwahlrechts von Er-
wachsenen gewährleistet. Dieser Meinung ist auch die
Mehrheit der FDP-Bundestagsfraktion.
Ein Wahlrecht für Kinder, das treuhänderisch von den
Eltern ausgeübt wird, ist nicht nur verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich. Dadurch werden nicht die Rechte
der Kinder gestärkt, sondern die der Erwachsenen. Ganz
praktisch gedacht: Wie wird sichergestellt, dass der
Wille des Kindes tatsächlich umgesetzt wird? Und wie
soll dies beispielsweise bei geschiedenen Eltern funktio-
nieren, bei Patchwork-Familien? Welcher Elternteil darf
dann seine Stimme für sein Kind abgeben?
Ganz unabhängig von diesen praktischen Fragen ver-
letzt der Gesetzentwurf unsere Verfassung in ihren ele-
mentaren Grundsätzen. Eine Wahl als höchstpersönli-
ches Recht wäre nach diesen Plänen weder unmittelbar,
frei noch geheim, gemäß Art. 38 Abs. 1 des Grundgeset-
zes. Aber vor allem wird hier gegen die Wahlrechts-
gleichheit verstoßen. Zukünftig hätten Eltern mit Kin-
dern also viel mehr Stimmen als kinderlose Paare.
Im Regelfall würden die Eltern wohl die Stimmen ih-
rer Kinder ihrer eigenen politischen Heimat geben.
Diese stärkere Gewichtung von Familien mit Kindern
kollidiert massiv mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes.
Es wird realitätsfern vorausgesetzt, dass Eltern den
Wünschen ihrer Kinder entsprechend wählen. Mit dem
Willen des Kindes hat das nichts zu tun. Welchen politi-
schen Wunsch hat ein drei Monate altes Baby? Und wo-
her weiß der Sohn, dass der Vater wirklich in der Wahl-
kabine das Kreuz an der Stelle macht, an der er es sich
wünscht?
Unsere Gesellschaft wird nicht kinderfreundlicher,
nur weil Eltern bestimmen dürfen, welche Partei sie für
ihre Kinder wählen. Eine junge Frau wird sich nicht
durch eine ihr mit der Geburt übertragene Stimme davon
überzeugen lassen, ein Kind zu bekommen.
Wer das politische Gewicht der Familie stärken will,
muss dies über eine bessere Bildungs- und Familienpoli-
tik tun. Dazu zählen Faktoren wie die finanzielle Absi-
cherung bzw. Entlastung einer Familie und die Verein-
barkeit mit dem Beruf. Im Mittelpunkt sollten die Kinder
und Jugendlichen selbst stehen. Sie sollen dazu bewegt
werden, sich für Politik zu interessieren und sich zu en-
gagieren.
Denn Kinder haben subjektive Bedürfnisse, Wünsche
und Interessen. Sie nehmen aufmerksam und sensibel
ihre Umwelt wahr und kommen zu eigenen Bewertun-
gen. Kinder wollen ihre Lebenswelten und die Gesell-
schaft mitgestalten und sollten daher so früh wie mög-
lich in Entscheidungsfindungen einbezogen werden. Um
die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen zu
fördern, sollten Foren, Kinder- und Jugendseiten, Ju-
gendgemeinderäte und -parlamente sowie Kinder- und
Jugendverbände durch die jeweils zuständigen Ebenen
eingesetzt und gefördert werden.
Entscheidend dabei ist und bleibt: Die Kinder müssen
selbst entscheiden dürfen – und nicht ihre Eltern.
Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Der fraktionsüber-
greifende Antrag fordert ein Wahlrecht „von Geburt an“.
Ich bitte alle Leserinnen und Leser, nicht gleich auf Ab-
wehr zu schalten. Der Antrag hat einen rationalen Kern;
denn das Wahlrecht steht laut Grundgesetz jeder Bürge-
rin und jedem Bürger zu. Eine Altersgrenze schreibt das
Grundgesetz damit nicht vor.
Zweitens. Trotzdem schütteln viele den Kopf, sobald
sie sich vorstellen, dass Säuglinge im Kreißsaal wählen
könnten. Das verstehe ich gut. Die Zweifler sollten sich
allerdings auch fragen, warum das gesetzlich geregelte
Wahlalter ein Mindestalter von 18 Jahren vorschreibt.
Warum nicht 17 Jahre oder 16 Jahre oder 14 Jahre? Alle
Argumente, Minderjährige seien unmündig und Ältere
seien allemal klüger, sind wenig überzeugend.
Drittens. Deshalb tritt die Linke prinzipiell für mehr
Demokratie ein. Dazu gehört auch eine Senkung des
Wahlalters. Zumindest auf Kommunalebene ist es so
vielfach schon gelungen, dass aktive Wahlalter auf
16 Jahre zu senken. Wobei „16 Jahre“ eine ebenso will-
kürliche Festlegung ist wie „18 Jahre“ oder vordem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25403
(A) (C)
(B) (D)
„21 Jahre“. Mein Problem ist ein anderes, und dem wei-
chen die Antragsteller aus.
Viertens. Der Antrag impliziert, er wolle ein jugendli-
ches Korrektiv gegen eine zunehmende Majorität der
„Alten“ schaffen. Das ist kein wirklich demokratisches
Argument. Er grenzt an Altersrassismus und versucht,
Generationen gegeneinander in Stellung zu bringen,
Junge gegen Alte. Je mehr Ältere – noch – wählen kön-
nen, umso mehr Jüngere sollen dagegen aufgeboten wer-
den. Das ist abenteuerlich.
Fünftens. Zugleich wird Migrantinnen und Migran-
ten, die seit Jahren hier leben, das Wahlrecht verweigert.
Allen Bürgerinnen und Bürgern wird noch immer ver-
wehrt, via Volksentscheide oder Volksabstimmungen auf
Bundesebene ein eigentlich verbrieftes Grundrecht
wahrzunehmen, verweigert übrigens von etlichen Abge-
ordneten, die nun Babys zur Urne rufen oder deren El-
tern privilegieren wollen.
Sechstens. Kurzum: Die Linke stimmt gegen diesen
Antrag und plädiert stattdessen für eine ehrliche Debatte,
wie hierzulande endlich mehr Demokratie ermöglicht
werden kann. Etliche Vorschläge dafür lagen auf dem
Tisch. Sie wurden leider samt und sonders von der CDU/
CSU und von der SPD abgelehnt.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kurz
vor dem Ende dieser Legislaturperiode diskutieren wir
heute einen Gruppenantrag zum Wahlrecht von Geburt
an. Auch wenn es die Antragstellerinnen und Antragstel-
ler aus CDU/CSU, SPD und FDP anders sehen: Meine
Fraktion hält ihr Anliegen nicht für visionär, sondern für
illusorisch.
Die Forderungen des vorliegenden Antrags kommen
der Einführung eines Stellvertreterwahlrechts gleich.
Dies ist schlicht verfassungswidrig und wird von meiner
Fraktion entschieden abgelehnt!
Ihr Vorschlag würde den lang erkämpften Verfas-
sungsgrundsatz der Gleichheit der Wahl außer Kraft set-
zen, da Eltern faktisch über mehrere Stimmen verfügen
würden. Ein potenziertes Wahlrecht ist aber aus guten
Gründen in Deutschland ausgeschlossen. Ihr Elternwahl-
recht würde Eltern begünstigen, Kinderlose benachteili-
gen – das ist keine gerechte Antwort auf den demografi-
schen Wandel, sondern spaltet die Gesellschaft. Auch
weiterhin muss das Prinzip gelten: eine Person, eine
Stimme. Eine Aufteilung der Wahlbevölkerung in Klas-
sen darf es nicht geben!
Ein treuhänderisch wahrgenommenes Wahlrecht kann
dem Willen des Kindes keine verbindliche Geltung ver-
schaffen: Viele junge Menschen haben eine von den El-
tern abweichende politische Meinung. Obwohl viele
Kinder eine Wahlabsicht äußern können, bliebe es den
Eltern überlassen, diesem Wunsch zu entsprechen – oder
nach eigenen Erwägungen anders zu wählen. Im Übri-
gen möchten wir Frau von der Leyen nicht den Gewis-
senskonflikt zumuten, bis zu sieben ihrer dann acht
Stimmen den Grünen zu geben! Ihr Vorschlag untergräbt
auch das Prinzip der Höchstpersönlichkeit der Wahl. Die
faktische Übertragung des Stimmrechts von den Kindern
auf die Eltern ist – obwohl Sie dies suggerieren – keines-
falls vergleichbar mit der bestehenden Regelung, bei der
gebrechliche Hochbetagte oder Behinderte eine techni-
sche Hilfestellung durch andere Personen bei ihrer Stim-
mabgabe erhalten können. Denn auch bei diesen Men-
schen bleibt der Wahlakt stets eine freie und eben
höchstpersönliche Entscheidung!
Das grundlegende Prinzip der geheimen Stimm-
abgabe würde bei einem Stellvertreterwahlrecht ebenso
verletzt. Ganz praktische Schwierigkeiten ergeben sich
bei der Frage, welcher Elternteil in Vertretung wie ab-
stimmen soll. Nicht nur bei einem gemeinsamen Sorge-
recht von geschiedenen oder getrennt lebenden Elterntei-
len ist Konfliktstoff absehbar. Die „Uneinigkeit bei der
Ausübung des Wahlrechts“ als „Ausnahmefälle“ zu be-
zeichnen ist reines Wunschdenken und schlicht realitäts-
fern. Für solche Fälle haben Sie bereits bei früheren Ini-
tiativen den Gang zum Familiengericht vorgeschlagen.
Abgesehen von den praktischen Problemen dürfte der
dann entstehende Arbeitsanfall kurz vor Wahlen weder
vertretbar noch zu bewältigen sein. Gerade Unionskolle-
gen müssen zudem beantworten, wie das Stellvertreter-
wahlrecht konkret funktionieren soll: Dürfen ausländi-
sche Eltern endlich an die Wahlurne treten, wenn ihre
Kinder deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
sind?
Viele Formulierungen Ihres „Wahlalter 0“-Antrags
sind bewusst so mehrdeutig, dass sie auch ein leeres
Blatt Papier zur Abstimmung stellen könnten. Während
Frau Schmidt zu Recht junge Menschen als politische
Subjekte ernst nehmen will, sprach sich ihre Mitantrag-
stellerin Frau Landgraf im Familienausschuss dagegen
aus, „16-jährigen Kindern das Wahlrecht zu geben“!
Was gilt denn nun: Halten Sie unter 18-Jährige für poli-
tisch mündig, informiert und interessiert – oder eben
nicht? Diese Grundsatzfrage sollten Sie geschlossen be-
antworten.
Auffällig ist darüber hinaus, dass die Antragsteller
keine besondere Anstrengung unternommen haben, um
ihren diffusen Vorschlag im Parlament zur Diskussion zu
stellen: Der Antrag wurde seit seiner Veröffentlichung
vor einem Jahr nicht im Bundestag aufgesetzt. Eine
Plenardebatte in der vorletzten Sitzungswoche doku-
mentiert, wie ernst die Gruppenantragsteller selbst ihren
Vorschlag nehmen. Sie werden damit der eigentlichen
Herausforderung, nämlich der demokratischen Reprä-
sentation junger Menschen in einer alternden Gesell-
schaft, überhaupt nicht gerecht!
Wir Grüne meinen: Das Stellvertreterwahlrecht ist
aus verfassungsrechtlichen, demokratietheoretischen
und lebenspraktischen Gründen ein Irrweg! Richtig und
notwendig ist es stattdessen, das Wahlalter abzusenken,
die politische Bildung zu stärken und die aktiven Beteili-
gungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen auf
allen Ebenen auszubauen.
Junge Menschen müssen ihre Interessen eigenständig
vertreten können. Durch altersadäquate Beteiligung ler-
nen sie frühzeitig demokratische Denk- und Verhaltens-
weisen. Unsere Konzepte hierfür haben wir in mehreren
25404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Anträgen und Gesetzentwürfen in den Bundestag einge-
bracht.
Zentraler Aspekt einer neuen Beteiligungskultur ist
die Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Wir
haben dazu als einzige Fraktion einen Vorschlag zur Ab-
stimmung gestellt. Dies ist der Weg, auf dem alle, die
sich für mehr Beteiligung junger Menschen einsetzen,
weiter vorangehen sollten! Vor allem die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD lade ich herzlich ein, den
Worten ihres Parteivorsitzenden Müntefering Taten fol-
gen zu lassen und unseren Gesetzentwürfen zur Absen-
kung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahree zuzustimmen!
Damit würden wir mehr und früher Demokratie wagen,
das brächte mehr Generationengerechtigkeit und Ju-
gendfreundlichkeit.
Die von einigen der Antragsteller vertretene These,
die Einführung des Stellvertreterwahlrechts wäre im Ge-
gensatz zum grünen Wahlalter-16-Vorschlag durch ein-
fache Gesetzesänderung möglich, ist dagegen absurd.
Das Stellvertreterwahlrecht könnte zwar kurzfristig in
das Wahlgesetz geschrieben werden, bliebe jedoch ver-
fassungswidrig und würde damit spätestens bei einer ge-
richtlichen Überprüfung nichtig.
Der Schaufenster-Antrag zum Stellvertreterwahlrecht
ist ein Fall fürs Parlamentsarchiv – jetzt muss es um ehr-
geizige und vor allem umsetzbare Vorschläge zur Stär-
kung der demokratischen Rechte von Jugendlichen
gehen. Und deshalb fordern wir als grüne Bundestags-
fraktion geschlossen ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahren.
Ich fordere alle auf, dabei mitzumachen, anstatt durch
illusionäre Vorschläge eine Wahlalterherabsetzung zu
verhindern!
Anlage 39
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der Sicherheit in der Informa-
tionstechnik des Bundes (Tagesordnungs-
punkt 41)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Die Informations-
und Kommunikationstechnik entwickelt sich rasant. Das
erleben wir jeden Tag. Deutschland hat bereits 1991 mit
dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-
nik, BSI, eine Behörde geschaffen, die als zentraler
Dienstleister zuständig für die IT-Sicherheit der Bundes-
verwaltung ist. Seit 1991 wurde die Rechtsgrundlage des
BSI kaum verändert. Eine Novellierung ist daher über-
fällig. Mit dem Gesetz, das wir heute beraten, wird das
BSI auch in Zukunft zu einem hohen Sicherheitsstandard
für die IT-Struktur des Bundes und darüber hinaus bei-
tragen können. An den relevanten Schnittstellen der IT-
Infrastruktur von Bund und Ländern wird dies in Ab-
stimmung geschehen, sofern die Länder betroffen sind.
IT-Sicherheit ist ein integraler Bestandteil innerer Si-
cherheit geworden. Die Informations- und Kommunika-
tionstechnologie ist eine zentrale Voraussetzung für das
Funktionieren unseres Gemeinwesens. Vom Bankauto-
maten über die Energie- und Wasserversorgungen bis hin
zu Flughäfen und Bahnhöfen ist die IT-Infrastruktur von
zentraler Bedeutung. Angriffe auf diese Infrastruktur
können immense Schäden anrichten. Davon sind auch
die öffentliche Verwaltung und die Verwaltung des Bun-
des betroffen, sei es bei der täglichen Bürokommunika-
tion via E-Mail im gemeinsamen Netz des Bundes, sei es
im Sicherheitsbereich, wo es um den Zugriff auf sicher-
heitsrelevante Informationen geht. Nicht zuletzt ist auch
sichere Kommunikation in Krisensituationen zu gewähr-
leisten. Dies alles gilt es unter sich nahezu täglich verän-
dernden Rahmenbedingungen angemessen zu schützen.
Um zu erkennen, dass diese Bedrohung für die IT-In-
frastruktur und gerade die Kommunikationsnetze der
staatlichen Verwaltung nicht nur theoretisch ist, sondern
real existiert, braucht man nicht nach Estland zu
schauen, wo eine Botnetzattacke tagelang große Teile
des Behördennetzes lahmgelegt hat. Es gibt auch in
Deutschland immer wieder Angriffe auf einzelne Behör-
den mit dem Ziel, Kommunikation zu sabotieren. Soge-
nannte Denial-of-Service-Attacken oder verteilte De-
nial-of-Service-Attacken führen dazu, dass Server mit
Massen von Anfragen überflutet werden, die nicht verar-
beitet werden können, sodass die Server ihren Dienst
versagen und zusammenbrechen.
Auch die Zahl und Qualität von Computerviren, troja-
nischen Pferden, Würmern und weiteren Computer-
schädlingen hat zugenommen. Ein Beispiel der letzten
Monate ist Conficker. Der sogenannte Confickerwurm
hat sich seit 2008 weltweit stark ausgebreitet. Wie An-
fang des Jahres bekannt wurde, sind auch Rechner der
Bundeswehr von dem Schadprogramm angegriffen wor-
den.
Cyberangriffe haben nicht nur Manipulation und Sa-
botage zum Ziel. Angriffe zielen zunehmend auch auf
Spionage. So wurde im März 2009 bekannt, dass
kanadische Forscher ein sogenanntes Ghostnet, ein riesi-
ges Spionagenetz, entdeckt haben, das mindestens
1 295 Rechner in 103 Staaten infiltriert hat. Besonders
von den Angriffen betroffen: Rechner mit hohem Infor-
mationswert in Außenministerien, Sicherheitsbehörden,
Botschaften oder internationalen Organisationen.
Eine weitere Entwicklung, ein weiteres Risiko, das
auch der Lagebericht des BSI zur IT-Sicherheit für das
Jahr 2009 anspricht, ist, dass solche Angriffe zunehmend
auf Prozesssteuerung ausgerichtet sind. Ziel ist es nicht
mehr, nur unmittelbaren Schaden anzurichten, sondern
Infrastrukturen, die von der IT-Technik abhängig sind,
zu beeinflussen und zu manipulieren. Das ist eine reale
und zunehmende Gefahr vor allem für die Wirtschaft,
aber auch für staatliche Infrastrukturen.
Diesen Herausforderungen begegnen wir mit dem
neuen BSI-Gesetz, welches folgende Kernpunkte ent-
hält: Erstens. Das BSI wird nach § 4 als zentrale Melde-
stelle des Bundes für die Zusammenarbeit der Bundesbe-
hörden zuständig sein und in Sachen IT-Sicherheit
Informationen zu Sicherheitslücken, Schadprogrammen
oder Angriffen sammeln und auswerten. So können An-
griffe und Angriffsmuster besser erkannt und Gegen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25405
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(B) (D)
maßnahmen eingeleitet werden. In diesem Zusammen-
hang mit diesen Vorgaben wird das BSI innerhalb der
Bundesverwaltung Maßnahmen umsetzen können, um
Gefahren, die von Schadprogrammen ausgehen, abzu-
wehren. Bisher war das BSI lediglich beratend tätig ohne
eigene Befugnisse.
Zweitens. Mit § 5 regeln wir die Abwehr von Schad-
programmen. Er sieht die vorübergehende Speicherung
von Protokolldaten zum Erkennen und zur Abwehr von
Angriffen vor. Dabei haben wir in allen Fällen, in denen
es um den Austausch von Daten geht, auf verstärkte Da-
tenschutzstandards Wert gelegt. Bei der Suche nach
Schadprogrammen wird in einem abgestuften Verfahren
vorgegangen. Die Behauptung – die vor allem vonseiten
der FDP immer wieder in Umlauf gebracht wird –, dass
hier die gesamte Kommunikation zwischen Bürgern und
Behörden überwacht wird, ist blanker Unfug und soll
nur die Öffentlichkeit verunsichern.
Im Kern geht es darum, dass das BSI mit seinen Mög-
lichkeiten eine Art Schadprogrammscanner über den Da-
tenverkehr der Bundesbehörden legt. Nur so können
Schadprogramme erkannt und abgewehrt werden, bevor
sie Schaden anrichten.
Dabei folgt das Verfahren einem sehr strengen Daten-
schutzkonzept. Die Daten werden automatisiert – also
ohne dass jemand in irgendeiner Weise Einblick hat –
auf Schadsoftware gescannt. Wenn nichts gefunden
wird, werden die Daten sofort und spurlos gelöscht. Nur
in den wenigen Fällen, in denen Hinweise auf Angriffe
bestehen, wird manuell nachgeprüft. Diese manuelle
Nachschau findet ebenfalls unter engen Voraussetzungen
statt. Die Daten müssen nämlich automatisch pseudony-
misiert werden. Alle personenbezogenen Daten werden
also durch Pseudonyme ersetzt. Zusätzlich müssen die
betroffenen Kommunikationsteilnehmer im Nachhinein
informiert werden.
Eine Entpseudonymisierung oder Weitergabe von Da-
ten an Sicherheitsbehörden ist nur in sehr eng definierten
Grenzen möglich. Das betrifft zum einen die Strafverfol-
gung bei Straftaten, die mittels Schadprogrammen be-
gangen wurden, konkret: das Ausspähen und Abfangen
oder das Verändern von Daten oder Computersabotage.
Darüber hinaus ist auch die Weitergabe bei der Verfol-
gung erheblicher Straftaten insbesondere im Sinne des
§ 100 a Abs. 2 der Strafprozessordnung, also zum Bei-
spiel Mord oder Totschlag, möglich. Relevante Informa-
tionen dürfen dabei nur mit richterlicher Zustimmung
weitergegeben werden. Kernbereichsrelevante Inhalte
sollen – in den seltenen Fällen, in denen theoretisch
überhaupt solche Inhalte betroffen sind – nicht erfasst
oder sofort wieder gelöscht werden. Auch ist die Ver-
wendung von Daten, die sich auf das Zeugnisverweige-
rungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 beziehen, nicht zuläs-
sig.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hin-
zuweisen, dass es sich bei den Angriffen, die es abzu-
wehren gilt, nicht etwa um leicht erkennbare Viren han-
delt, die mit handelsüblichen Virenschutzprogrammen
erkennbar wären. Es handelt sich hier vielmehr um
Cyberattacken via Datenaustausch, bei denen auch mit
sogenannten Totalfälschungen gearbeitet wird. Bei die-
sen ist nicht erkennbar, ob zum Beispiel eine entspre-
chende E-Mail von einer Behörde stammt oder einem
Kriminellen. Um solche komplexen Angriffe geht es, für
die es in den meisten Fällen bislang eben keine ausrei-
chende zertifizierte Sicherheitssoftware gibt.
Der dritte zentrale Punkt des Gesetzentwurfs: Das
BSI wird in § 8 befugt, technische Vorgaben und ver-
bindliche Mindeststandards für die Sicherung der Infor-
mationstechnik innerhalb der Bundesverwaltung zu ma-
chen. Das betrifft auch Richtlinien für die Beschaffung
von IT-Produkten. Darüber hinaus werden die Regelun-
gen zur Zertifizierung durch das BSI modernisiert. Das
BSI ist darüber hinaus nur in begründeten Ausnahmefäl-
len befugt, selbst Software für Bundesbehörden herzu-
stellen.
Nicht mehr im Gesetz enthalten ist Art. 3 des ur-
sprünglichen Gesetzentwurfs, die Änderung des Teleme-
diengesetzes, die vorsah, dass Diensteanbieter personen-
bezogene Daten speichern dürfen, um Angriffe auf ihr
Angebot abzuwehren. Wir haben uns entschlossen, diese
Änderung im Rahmen des BSI-Gesetzes nicht weiter zu
verfolgen. Dennoch – da sind sich die Innenpolitiker der
Großen Koalition einig – besteht hier weiterhin Hand-
lungsbedarf.
Lassen Sie mich abschließend vor allem eines deut-
lich machen: Dieses Gesetz leistet einen außerordentlich
wichtigen Beitrag zur Sicherheit unserer gesamten IT-In-
frastruktur. Es ist wichtig, es heute zu beschließen. Es
duldet keinen Aufschub. Es ist ein Gesetz, in das viele
Änderungswünsche und Anregungen von Sachverständi-
gen und auch des Bundesdatenschutzbeauftragten aufge-
nommen wurden, was dazu geführt hat, dass sowohl der
Datenschutzbeauftragte als auch der Berichterstatter der
Grünen in der abschließenden Beratung im Innenaus-
schuss anerkennende Worte für das Gesetz gefunden ha-
ben.
Wir legen ein Gesetz vor, mit dem wir sicherstellen,
dass das BSI auch in Zukunft seine Aufgabe erfolgreich
erfüllen kann, und das unsere Zustimmung verdient.
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Ich möchte an
meinen Redebeitrag zur ersten Lesung zum BSI-Gesetz-
entwurf erinnern, wo ich viele kritische Fragen hatte und
enttäuscht und wütend war, dass dem Parlament so ein
schlechter und schlampiger Gesetzentwurf vorgelegt
wurde.
Nach den vielen E-Mails, die wir Abgeordnete beka-
men wegen des neuen § 15 des Telemediengesetzes, ha-
ben wir in den Koalitionsverhandlungen diesen politisch
und juristisch unzulänglichen § 15 abgeräumt. Die Pe-
tenten befürchteten, dass jedem Anbieter von Internet-
diensten wie Google, Amazon oder StudiVz das Recht
gegeben werden sollte, das Lese-, Schreib- und Suchver-
halten seiner Besucher ohne Anlass aufzeichnen zu kön-
nen, vorgeblich zum „Erkennen“ von „Störungen“.
Nachdem wir öffentlich gemacht hatten, dass wir den
§ 15 Telemediengesetz nicht weiter verfolgen, kam
keine einzige Reaktion mehr.
25406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Die schriftlich fixierte Kritik des Bundesdatenschutz-
beauftragten Schaar, der die fehlende Pseudonymisie-
rung der persönlichen Daten beanstandete, haben wir
ebenfalls umgesetzt. Nunmehr erfolgt bei der automati-
schen Auswertung bei allen Protokolldaten, die nicht so-
fort gelöscht werden, eine Pseudonymisierung. Die Ent-
schlüsselung dieser pseudonymisierten Daten darf nur
vom Präsidenten des Bundesamtes selbst angeordnet
werden. Und diese Entscheidung ist zu protokollieren.
Damit ist sichergestellt: Der Verantwortliche steht fest.
Nicht wie bei Bahn und Telekom, wo man erst suchen
muss, wer der Verantwortliche ist. Wir haben die Verant-
wortlichkeit festgelegt.
Die Sachverständigenanhörung, die wir durchgeführt
haben, hat die SPD-Fraktion bestärkt, weitere Verbesse-
rungsvorschläge einzufordern. Wir haben insbesondere
über Evaluierung und über die Rechtswegegarantie
Art. 19. Abs. 4, und damit über die Benachrichtigung,
diskutiert.
Sie werden jetzt sagen: Ja, wo ist sie denn, die Eva-
luierung? Mich haben hier die Argumente des Bundes-
amtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI)
und des Bundesministeriums des Innern überzeugt. Eine
offene, transparente Evaluierung würde in erster Linie
den Angreifern Informationen darüber geben, welche
Schadprogramme entdeckt wurden und welche nicht.
Das ist aber nicht das Ziel der Evaluierung. Wir haben
deshalb stattdessen die Kontrolle des Bundesdaten-
schutzbeauftragten gestärkt und eine Informationspflicht
an den Innenausschuss des Deutschen Bundestages ein-
gebaut, der auch VS eingestuft nachfragen und sich
grundlegend informieren kann. Das ist aus meiner Sicht
eine hervorragende Alternative.
Nun zur Benachrichtigung. Hier bin ich persönlich
nur zu 90 Prozent zufrieden. Falls im Einzelfall eine Be-
nachrichtigung unterbleiben soll, hätte ich diese Ent-
scheidung gerne dem Richter überantwortet. Nun wissen
wir alle, dass diese Einschaltung des Richters auch kri-
tisch betrachtet werden kann wegen sachlicher, fachli-
cher und quantitativer Überforderung. Legt man Wert
auf eine sachlich und fachlich gute Entscheidung, dann
ist der im Gesetzentwurf gemachte Vorschlag eine gute
Grundlage. Es entscheidet der Datenschutzbeauftragte
der Behörde, er muss dokumentieren, der Bundesdaten-
schutzbeauftragte übt die Kontrolle aus und der Innen-
ausschuss des Deutschen Bundestages ist zu unterrich-
ten.
Gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
haben wir die Übermittlung von personenbezogenen Da-
ten an die Strafverfolgungsbehörden bei Zufallsfunden
präzisiert, stark eingeengt und unter den Vorbehalt vor-
heriger gerichtlicher Zustimmung gestellt. Soweit die
Weitergabe Personen betrifft, die aus beruflichen Grün-
den ein Zeugnisverweigerungsrecht besitzen, soll auch
für das BSI der besondere Schutz gelten, wie wir ihn in
der Strafprozessordnung § 108 Abs. 3 kennen (Verwer-
tungsverbot, soweit keine Straftat betroffen ist, die im
Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe
bedroht ist). Soweit kritisiert wird, dass dies nicht weit-
gehend genug ist, halte ich entgegen, dass es im Rahmen
der Rechtsordnung sinnvoll ist, keinen Wertungswider-
spruch zu erhalten.
Den Kernbereichsschutz privater Lebensgestaltung
haben wir, wie vom Verfassungsgericht gefordert, zwei-
stufig ausgebaut: Soweit möglich, ist bereits technisch
sicherzustellen, dass Daten, die den Kernbereich privater
Lebensgestaltung betreffen, nicht erhoben werden. Be-
stehen aber auch nur Zweifel, dass Daten dem Kernbe-
reich zuzurechnen sein könnten, sind diese Daten unver-
züglich zu löschen.
In der Sitzung des Innenausschusses am 27. Mai 2009
hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Schaar die Wei-
terentwicklung des Gesetzentwurfes durch die Koali-
tionsfraktionen begrüßt. Er sieht im Großen und Ganzen
seine Forderungen als erfüllt an. Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen hatte kritisiert, dass es über-
haupt Zufallsfunde gibt. Ich möchte ihm hier im Plenum
erwidern, dass wir nicht vorgehen können wie bei der
Maut. Wenn aufgrund einer Entpseudonymisierung be-
kannt wird, dass eine erhebliche Straftat zu erwarten ist,
die mit mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist,
dann wird aus der Abwägung, ob man die Strafverfol-
gung einschalten kann oder nicht, der Ermessensspiel-
raum gegen null reduziert. Ich bin der Überzeugung, da
kann der Staat nicht die Augen verschließen, sondern
muss die Strafverfolgungsbehörden einschalten.
Bei der Maut gibt es keine echten Zufallsfunde. Hier
muss der Staat aktiv werden und nach bestimmten Infor-
mationen (zum Beispiel Kfz-Kennzeichen) fragen. Im
Gegensatz dazu sind im Falle des BSI diese Informatio-
nen unbeabsichtigte Nebenfolgen. Das aber ist etwas
ganz anderes.
Sie sehen, im Laufe der parlamentarischen Beratun-
gen ist aus dem Kabinettsentwurf ein völlig neues Ge-
setz entstanden, das effizient und rechtsstaatlich ist und
den Spagat von Sicherheit versus Freiheit schafft.
Gisela Piltz (FDP): Wenn man die Bedeutung von
Gesetzen an ihrem Platz in der Tagesordnung messen
würde, müsste man zu der Erkenntnis kommen, dass die-
ses Gesetz weitgehend bedeutungslos ist. Liest man aber
mal den Gesetzestext, reibt man sich verwundert die Au-
gen: Hier geht es um gravierende Eingriffe in Grund-
rechte! Diese werden heute Nacht quasi unter Aus-
schluss der Öffentlichkeit beraten. Dabei hat die auf
unsere Initiative im Innenausschuss durchgeführte öf-
fentliche Anhörung ergeben, dass dieses Gesetz ungeeig-
net und verfassungsrechtlich bedenklich ist. Ich kann nur
noch einmal wiederholen, dass die Sicherheit in der IT-
Technik von größter Bedeutung ist. Natürlich müssen in
unserer digitalen Welt die IT-Systeme geschützt werden.
Es ist selbstverständlich, dass darauf ein besonderes Au-
genmerk gelegt werden muss. Aber wie immer im Leben
gilt auch hier: Sicherheit darf nicht auf Kosten einer un-
verhältnismäßigen Einschränkung der Freiheit erkauft
werden.
Genau das aber geschieht hier. Das BSI soll künftig
jede elektronische Kommunikation mit Bundesbehörden
aufzeichnen und auswerten. Das bedeutet, dass jede
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25407
(A) (C)
(B) (D)
Mail, jeder Klick auf eine Website einer Bundesbehörde
jedes Bürgers, jedes Unternehmens, aber auch jedes Mit-
arbeiters des Bundes aufgezeichnet und überwacht wer-
den. Dabei werden rechtsstaatliche Sicherungen – man
muss ja eigentlich sagen: mal wieder – vernachlässigt.
Das ist umso dramatischer, als es sich um einen reinen
Aktionismus handelt. In der vorhin schon erwähnten An-
hörung haben die Sachverständigen übereinstimmend – mit
Ausnahme des Präsidenten des BSI selbst – festgestellt,
dass diese Datensammelwut überhaupt nicht zielführend
ist. Es hilft also nach Auffassung der Experten nicht ein-
mal! Und für eine solche Augenwischerei in Grund-
rechte einzugreifen, in das Telekommunikationsgeheimnis
und auch in den Kernbereich privater Lebensgestaltung,
mithin in die Menschenwürde, das ist wirklich unerträg-
lich.
Die sogenannte Große Koalition hat aus dieser Anhö-
rung nichts gelernt. Der Erfolg der Anhörung waren ei-
nige kosmetische Änderungen. Mehr nicht. Und diese
Änderungen machen das Gesetz nicht zustimmungsfähig.
Vorgesehen ist jetzt zwar eine Pseudonymisierung, die
aber wieder rückgängig gemacht werden kann. Anony-
misierung ist noch immer nicht vorgesehen. Da erstaunt
es dann schon, wenn ich gestern bei heise.de lesen muss,
dass Herr Dr. Helmbrecht, der Präsident des BSI, versi-
chert, das BSI interessiere sich ja gar nicht für die Perso-
nen. Ja, warum wird dann nicht wenigstens anonymisiert
erhoben? Das ist wirklich nicht mehr nachvollziehbar.
Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestal-
tung wurde überhaupt nicht verbessert. Noch immer sol-
len die erhobenen Daten in Zweifelsfällen hinsichtlich
der Betroffenheit des Kernbereichs diese „unverzüglich
dem Bundesministerium des Innern“ vorgelegt werden.
Das ist ein unerträglicher Dammbruch! Der Kernbe-
reichsschutz kann und darf nicht in die Hände des BMI
gelegt werden. Daran hat die Koalition nichts geändert,
nicht einmal nach der Anhörung, die in diesem Punkt
wirklich keinen Zweifel gelassen hat, dass das mit der
Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts überhaupt nicht
in Einklang zu bringen ist.
Bei der Benachrichtigung Betroffener über die Über-
wachung ihrer Kommunikation soll dafür nun der be-
hördliche Datenschutzbeauftragte des BSI entscheiden. Ich
bin mir ganz sicher, dass der Datenschutzbeauftragte des
BSI gute Arbeit leistet. Aber es ist wirklich nicht, nein,
es kann und darf wirklich nicht seine Aufgabe sein, zu
kontrollieren und zu entscheiden, ob von einer Benach-
richtigung unter Abwägung aller betroffenen Rechts-
güter, namentlich der Grundrechte der Betroffenen mit
Rechtsgütern wie der öffentlichen Sicherheit, abgesehen
werden kann. Das ist die Aufgabe eines unabhängigen
Richters! Und nicht des Datenschutzbeauftragten. Es
geht hier nämlich gar nicht um Datenschutz. Es geht um
Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis und die
Achtung der Justizgrundrechte, die bei heimlichen Maß-
nahmen nicht zum Tragen kommen, wenn nicht wenigs-
tens eine nachträgliche Benachrichtigung erfolgt.
Diese Regelung mit dem Datenschutzbeauftragten erin-
nert übrigens verdächtig an das BKA-Gesetz. Das ist der
Sündenfall für diese völlig abwegige Regelung gewesen,
statt Richter die behördlichen Datenschutzbeauftragten
einzusetzen. Das scheint ja jetzt hier so ein neuer Trend in
der Gesetzgebung zu sein: Statt unabhängiger richterli-
cher Kontrolle – wie sie das Bundesverfassungsgericht
stets anmahnt – werden jetzt die Datenschutzbeauftrag-
ten zu den Vollstreckern Ihrer Überwachungsgesetze ge-
macht. Und ich sage das hier einmal ganz deutlich, weil
das an diesem Tage hier im Plenum beim Gesetz über In-
ternetsperren schon einmal Thema war: Das ist eine Per-
vertierung der Tätigkeit der Datenschutzbeauftragten!
Die Anlehnung an die Überwachungsgesetzgebung
der jüngeren Zeit wird auch an anderer Stelle wieder
deutlich: Hier müssen wir nicht zum BKA-Gesetz zurück-
gehen, obwohl es da auch so drinsteht, sondern zum
Terrorismusbekämpfungsgesetz mit seinen zahllosen
unbestimmten Rechtsbegriffen, die dem Gebot der Nor-
menklarheit widersprechen. Auch im BSI-Gesetz ist
jetzt die Rede von „Sachen von besonderem Wert, deren
Erhalt im öffentlichen Interesse geboten ist“. Das wären
dann also vielleicht Skulpturen aus der Staatsgeschenke-
sammlung der Kanzlerin oder so etwas. Und deren Ge-
fährdung berechtigt dann das BSI, personenbezogene
Daten an die Polizeien des Bundes und der Länder wei-
terzugeben.
Der Versuch, den in der Anhörung dringlich angemahn-
ten Schutz von Berufsgeheimnisträgern zu verankern,
kann bei gutwilliger Betrachtung als untauglich angesehen
werden, bei böswilliger Betrachtung als weitere absicht-
liche Aushöhlung dieses für den Rechtsstaat unerläss-
lichen Schutzes besonderer Vertrauensverhältnisse. Da
der Koalition ja die Debatte sowie harsche Kritik um die
stete Einschränkung des Schutzes der Berufsgeheimnis-
träger bekannt sein dürfte – ich hoffe jedenfalls, dass die
Damen und Herren von CDU/CSU und SPD so etwas we-
nigstens noch wahrnehmen – tendiere ich zu letzterer
Ansicht. Denn nach dem BSI-Gesetz können künftig
auch Daten verwendet werden, die unter das Zeugnisver-
weigerungsrecht von Strafverteidigern oder Geistlichen
fallen, sofern es um Straftaten geht, die im Höchstmaß
mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind.
Das wäre also zum Beispiel ein einfacher Diebstahl.
In einem einzigen Punkt ist das Gesetz besser gewor-
den – aber noch lange nicht gut – und zwar durch die
Streichung der vorgesehenen Änderung des Telemedien-
gesetzes – von dem sollte die Bundesregierung einfach
mal die Finger lassen, denn eine vorgeschlagene Ände-
rung ist ja schlimmer als die nächste, das aber nur mal
nebenbei gesagt. Die ursprünglich vorgesehene Proto-
kollierung des gesamten Surfverhaltens ist erstmal vom
Tisch. Ich sage erstmal, weil in der Anhörung die Vertre-
ter der Koalition sich mitnichten davon verabschiedet
haben, sondern es nur jetzt nicht weiterverfolgen wollen.
Auch der geänderte Gesetzentwurf kann nicht verber-
gen, worum es geht: Das BSI wird zur allgemeinen
Schnüffelbehörde im virtuellen Raum. Es ist sinnvoll,
dass es eine Stelle gibt, die die Aufgabe wahrnimmt,
durch Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien
oder Ähnlichem die Sicherheit in der IT des Bundes zu
verbessern. Dazu würde auch gehören, öffentlich vor be-
kannten Sicherheitslücken zu warnen. Das aber soll nach
25408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
wie vor nicht verpflichtend sein. Damit wird verhindert,
dass andere aufmerksam und wachsam werden und sich
gegen Schädlinge wehren sowie Sicherheitslücken
schließen können.
Einem solchen Gesetz kann die FDP-Fraktion nicht
zustimmen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Stellen Sie sich einmal
Folgendes vor: Jedes Telefongespräch, das hierzulande
geführt wird, wird von einer zentralen Bundesbehörde
aufgezeichnet und mitgeschnitten – einfach so, ohne je-
den Anlass. Die Daten werden dann drei Monate lang
gespeichert und daraufhin untersucht, ob sie vielleicht
Rückschlüsse auf Straftaten zulassen. Ein Horrorszena-
rio? Zweifellos. Was uns die Bundesregierung mit ihrem
Gesetzentwurf zur Stärkung der Sicherheit in der Infor-
mationstechnik des Bundes präsentiert, ist nicht ganz so
schlimm – noch nicht, aber es geht in die von mir ange-
deutete Richtung.
Im Kern sieht der Gesetzentwurf Folgendes vor: Das
Surfen auf Homepages von Bundesbehörden wird ge-
speichert – drei Monate lang. Es wird gespeichert, wel-
che Bundesseiten die Bürgerinnen und Bürger ansteuern,
welche Suchbegriffe sie dort eingeben, welche Rubriken
sie besonders interessieren und wie oft sie auf die Seiten
zurückkehren. Und diese Daten werden nicht nur bei der
jeweils besuchten Behörde gespeichert, sondern zentral
vom Bundesamt für die Sicherheit in der Informa-
tionstechnik. Dadurch ist es dann möglich, das Surfver-
halten von Bürgerinnen und Bürgern weitgehend zu
überwachen und abzugleichen. Es liegt auf der Hand,
dass dies nicht nur einen gravierenden Einschnitt in das
Telekommunikationsgeheimnis darstellt, sondern auch
den Datenschutz verletzt. Die Beobachtung des Surfver-
haltens im Internet lässt Rückschlüsse auf die Persön-
lichkeit des Surfers zu, die bis hin zur Erstellung von
Persönlichkeitsprofilen reichen können. Die Fraktion
Die Linke lehnt diesen erneuten staatlichen Eingriff in
die Grundrechte entschieden ab.
Aufgrund des massiven Drucks, den die Öffentlich-
keit ausgeübt hat, musste die Bundesregierung einen
Großteil ihres Überwachungsvorhabens aufgeben. Das
ist sehr erfreulich. In der Anhörung des Bundestags-In-
nenausschusses haben praktisch alle Sachverständigen
kaum ein gutes Haar an dem Gesetzentwurf gelassen –
einzige Ausnahme war der Präsident des BSI, also jener
Behörde, bei der die Daten gesammelt werden sollen.
Aber auch das, was von dem Entwurf übrig geblieben
ist, ist noch schlimm genug. Es fehlt zum Beispiel an ei-
ner präzisen Bestimmung des Anlasses der Datenspei-
cherung: „Zum Erkennen, Eingrenzen oder Beseitigen“
von Störungen, heißt es im Gesetz. Das heißt: Daten
werden gesammelt, noch bevor etwa ein Hackerangriff
auf Bundesseiten überhaupt erkannt ist, nach dem
Motto: „Erst sammeln wir die Daten, und dann gucken
wir mal, ob etwas Schädliches darunter ist.“ Das ist im
Klartext eine Datenspeicherung ins Blaue hinein, die je-
des Datenschutzniveau unterläuft.
Es beruhigt uns nicht, dass die personengebundenen
Daten pseudonymisiert werden – das ist schließlich ein
Vorgang, der wieder rückgängig gemacht werden kann.
Denn sind diese Daten erst einmal an einem zentralen
Ort gespeichert, wecken sie ja nur neue Begehrlichkei-
ten. Wir kennen das Prinzip von der Autobahnmaut: Erst
war es Zweck der Autobahnüberwachung, Mautgebüh-
ren zu kassieren, dann wurde gesagt: Jetzt, wo wir die
Daten schon mal haben, können wir auch die Polizei für
Zwecke der Strafverfolgung ran lassen.
Die Skepsis der Fraktion Die Linke gegen den Ge-
setzentwurf speist sich auch aus den Erfahrungen, die
wir bisher aus dem Umgang dieser Bundesregierung mit
dem Datenschutz und den Grundrechten gemacht haben.
Denn da ist die Tendenz klar: Schritt für Schritt werden
immer mehr Daten gesammelt, immer mehr Grundrechte
beschnitten. Bei der Vorratsdatenspeicherung wurde
noch darauf verzichtet, zu erfassen, welche Internetsei-
ten die Bürgerinnen und Bürger besuchen. Das wird nun
nachgeholt. Wie lange wird es dauern, bis die Bundes-
regierung nachholt, woran sie nun gescheitert ist, und
auch von privaten Diensten wie Google oder Amazon,
das Internetverhalten der Nutzer personengebunden zu
speichern erlaubt? Und bis auch auf Pseudonymisie-
rungsverfahren verzichtet wird? Schon nach der jetzigen
Regelung soll es möglich sein, dass der Verfassungs-
schutz auf die Aufzeichnungen zugreift – und zwar ohne
richterlichen Beschluss, es genügt dafür die Zustimmung
des Bundesinnenministers. Da sind die nächsten Ge-
heimdienstskandale vorprogrammiert.
Nicht vergessen werden sollte, dass der Bund nicht
der Einzige ist, der an solchen Daten ein Interesse hat.
Man muss hier auch an private Dienste denken, an die
Privatwirtschaft und an ausländische Geheimdienste.
Die grundlegende Frage ist doch: Wenn man schon so
gravierend in Grundrechte eingreift, hat man dann we-
nigstens einen guten Grund dafür? Und da sagt die Linke
klar: Nein, es liegen keine ausreichenden Gründe vor.
Denn den Nachweis, dass die Datensammelei sachlich
notwendig ist, bleibt die Bundesregierung schuldig. Sie
versäumt es, überhaupt darzulegen, welches Ausmaß ge-
genwärtig Angriffe auf IT-Anlagen des Bundes haben,
der Gesetzentwurf zeichnet sich durch das Fehlen jegli-
cher harter Fakten aus. Der Sachverständige Patrick
Beyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat in
der Anhörung überzeugend darauf hingewiesen: Die
Sammlung personenbezogener Daten zur Abwehr von
IT-Angriffen ist weder nötig noch hilfreich, ja sie ist so-
gar eher kontraproduktiv. Selbstverständlich ist es legi-
tim, wenn der Bund seine Kommunikationstechnik
schützen will. Sinnvoll ist da der Einsatz von stetig opti-
mierten Schutzsoftwares, Firewalls usw., sinnvoll ist es,
kontinuierlich nach Sicherheitslücken zu suchen und sie
zu schließen. Aber personenbezogene Daten benötigt
man dazu nicht oder allenfalls in extrem wenigen Aus-
nahmefällen – doch wenige Ausnahmen können es nicht
rechtfertigen, alle Internetsurfer auf Bundesseiten unter
Generalverdacht zu stellen.
Darüber hinaus ist es mehr als fraglich, welchen Sinn
es macht, eine zentrale Bundesbehörde mit dem Schutz
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25409
(A) (C)
(B) (D)
sämtlicher Bundes-Kommunikationstechnik zu beauftra-
gen. Je mehr Daten an einer zentralen Stelle lagern,
desto anfälliger und bedrohter werden diese. Diese Lek-
tion müsste sich mittlerweile bei allen Internetnutzern
herumgesprochen haben. Sinnvoller als eine solche zen-
trale Lösung wäre daher ein dem Netz angepasster de-
zentraler Schutz.
Die Linke fordert, das Motto zu beachten: Der beste
Datenschutz besteht darin, Daten, die man nicht unbe-
dingt benötigt, gar nicht erst zu sammeln.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in der Informa-
tionsverarbeitung ist ein gutes Beispiel für die Arbeits-
weise dieser Koalition. Im ersten Schritt bekamen wir
ein desolates Gesetz, aus dem nicht recht klar wird, wa-
rum welche Mittel eingesetzt werden sollen und woge-
gen sie eigentlich wirken sollen. Klar ist nur: Der Schutz
von persönlichen Daten und Bürgerrechten steht
hintenan. Es folgte – wie immer nur auf Druck der Op-
position – eine Anhörung von Sachverständigen. Und
die ließen, wie auch fast immer, kaum ein gutes Haar am
Gesetzentwurf der Regierung. Das betraf in diesem Fall
besonders den Bereich des Datenschutzes und der Da-
tenweitergabe. Aber auch die Schnüffelmöglichkeit für
private Dienstanbieter wurde heftig kritisiert.
Nach dem für diese Regierung üblichen Gezerre haben
wir nun ein stark überarbeitetes Gesetz vor uns. Daraus
wird klar: Die Koalition hat ungefähr verstanden, was die
Sachverständigen ihr sagen wollten. Aber die Kritik-
punkte wirklich auszumerzen, das schafft sie nicht. Es
gibt nun eine Pseudonymisierung persönlicher Daten.
Aber die kann rückgängig gemacht werden. Ob die Daten
wirklich geschützt sind, hängt also von den Hürden für
diese Rückumwandlung ab. Und es gilt immer noch: Für
die Datenweitergabe braucht es keine richterliche Zustim-
mung. Das wäre aber dringend notwendig gewesen und
würde den rechtsstaatlichen Gepflogenheiten entsprechen.
Auch der Kernbereich der Persönlichkeitsrechte wird
nur halbherzig geschützt nach dem Motto „Soweit es
gerade passt“, statt so, wie es einem freiheitlichen Kern-
bestand gebührt. Ähnlich geht es den Berufsgeheimnis-
trägern: ein bisschen Schutz des Zeugnisverweigerungs-
rechts. Und „ein bisschen“ reicht bei so einer zentralen
bürgerrechtlichen Frage einfach nicht!
Das heißt in der Summe: Das Gesetz ist besser, als in
seiner ursprünglichen Fassung, aber es bleibt ein
schlechtes Gesetz.
Anlage 40
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden
(Neufassung) (inkl. 15929/08 ADD 1 bis 15929/
08 ADD 7) (ADD 1 und ADD 3 bis ADD 7 in
Englisch) (Zusatztagesordnungspunkt 9)
Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Die EU und
Deutschland haben sich ambitionierte Ziele in Sachen
Klimaschutz gesetzt. Der Weg zu mehr Klimaschutz for-
dert ein Umdenken auch im Bereich des Bauens und
Wohnens hin zu mehr Effizienz. Schließlich kommt dem
Gebäudebereich mit einem Anteil von 40 Prozent am
Gesamtenergieverbrauch in Deutschland eine entschei-
dende energie- und klimapolitische Bedeutung zu. Zu-
dem sind auch die Potenziale zur Energieeinsparung im
Vergleich zu anderen Bereichen immens: Der Energie-
bedarf von bestehenden Gebäuden lässt sich wirtschaft-
lich bis zur Hälfte reduzieren. Diese riesigen Spielräume
müssen und wollen wir nutzen.
Vor diesem Hintergrund unterstützt die Union den
vorliegenden Vorschlag des Europäischen Parlaments
und des Rates für eine Richtlinie zur Gesamtenergieeffi-
zienz von Gebäuden. Der Richtlinienentwurf stellt einen
weiteren wichtigen Baustein zur konsequenten Umset-
zung der europäischen Energie- und Klimaschutzpolitik
dar, indem er europaweit energetische Anforderungen an
der Wirtschaftlichkeitsschwelle formuliert. Die Richt-
linie ist ein Teil der Antwort auf die grundsätzliche
Frage: Wie können wir die Bürger und Unternehmen
dazu bringen, Energie effizienter zu nutzen?
Wir haben in den vergangen Jahren mit unserem Drei-
klang aus ordnungsrechtlichen Vorgaben, zielgerichteten
Förderprogrammen und Überzeugung durch Information
im Gebäudebereich viel erreicht. Diesen Weg werden
wir konsequent weiter beschreiten.
Wir von der Union sind davon überzeugt, dass der
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Dreh- und Angel-
punkt ist und dass dessen Gewähr eine besondere Beto-
nung verdient. Wirtschaftlichkeit bedeutet, dass sich In-
vestitionen, die den Bürgern und Unternehmen
abverlangt werden, in angemessenen Zeiträumen aus-
zahlen. Nur so können wir die Menschen animieren, ihr
gespartes Geld in die Hand zu nehmen und Investitionen
in Energieeffizienzmaßnahmen zu tätigen. Denn: Bürger
investieren in Energieeffizienz nicht in erster Linie we-
gen des Klimaschutzes – natürlich auch deswegen, aber
nicht in erster Linie –, sondern wenn es ihnen eine Kos-
tenersparnis bringt. Und nur wenn Ökologie und Ökono-
mie Hand in Hand gehen, können wir die Akzeptanz und
Zustimmung bei den Bürgern erhalten.
Anreize schaffen, statt nur Befehle erteilen, finanzielle
Hilfestellungen geben anstatt reiner gesetzlicher Vorga-
ben. Das ist, war und bleibt Position und Entscheidungs-
grundlage der Union. Diese Grundsätze finden sich im
bestehenden deutschen Energieeinsparrecht für den Ge-
bäudebereich wieder. Mit dem EnEG und vor allem der
EnEV haben wir erprobte und vor allem bewährte Instru-
mente in der Hand. Hiermit setzen wir in Europa Maß-
stäbe in Sachen Energieeffizienz im Gebäudebereich.
Deswegen sehen wir beim vorliegenden Richt-
linienentwurf noch Beratungsbedarf in einigen wesent-
lichen Punkten, wie etwa: die Vorgabe von Quoten für
energetische Standards bei Gebäuden, was zum Beispiel
den deutschen Passivhaus-Standard betreffen würde; das
Vorschreiben eines Zulassungs- und Zertifizierungssys-
tems; die umfangreichen zusätzlichen Berichtspflichten.
Wir sagen: Ziele vorgeben – ja; detailliert den Weg vor-
geben – nein. Wir wollen gemäß dem Grundsatz der
25410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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Subsidiarität Spielraum haben. Deshalb halten wir auch
am Energieausweis in seiner jetzigen Ausgestaltung fest.
Denn wir sind überzeugt: Energieausweise sind und
bleiben ein wichtiges Instrument der Information. Das
Wahlrecht zwischen Bedarfs- und Verbrauchsausweisen
hat sich bewährt. Deshalb halten wir daran fest. Über-
haupt sollten wir nicht zu bescheiden sein, sondern deut-
lich machen: Unsere bestehenden gesetzlichen Lösungen
haben sich bewährt und nehmen in Europa einen Spit-
zenplatz ein.
Neben dem festgeschriebenen Wirtschaftlichkeits-
grundsatz ist die EnEV auch ein Vorzeigemodell für eine
effiziente gesetzliche Lösung ohne großen Bürokratie-
aufwand. Die EU-Richtlinie hingegen sieht umfangreiche
Berichtspflichten, zum Beispiel zur Qualitätssicherung,
gegenüber der Kommission vor. Das bedeutet: mehr Büro-
kratie und zusätzliche Kosten, ohne aber einen Mehrwert
zu schaffen. Wir haben mit der EnEV 2009 bereits eine
funktionierende Lösung zur Qualitätssicherung. Daher
lehnen wir die Schaffung neuer, zusätzlicher Berichts-
pflichten ab.
Aus diesen dargestellten Gründen hat die Koalition
einen Entschließungsantrag formuliert, der den Leitfaden
für die Verhandlungen vorgibt. Damit wollen wir Sorge
tragen, dass Wirtschaftlichkeit, Praktikabilität und bewährte
Instrumentarien in die Richtlinie der EU einfließen.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag, denn es ist
Eile geboten: Bereits im Dezember will die Europäische
Kommission die Beratungen abschließen.
Rainer Fornahl (SPD): Nicht nur wir beschäftigen
uns heute erneut mit einem klimapolitisch bedeutsamen
Thema. Auch der Europäische Rat befasst sich heute mit
diesen Fragen. Das ist richtig und wichtig. Wenn wir die
hohen Ziele, die wir uns in Deutschland mit dem inte-
grierten Energie- und Klimapaket und auch auf EU-
Ebene gesetzt haben, erreichen wollen, müssen wir sie
auch engagiert angehen. Vieles haben wir schon getan.
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, dem Erneuer-
bare-Energien-Wärme-Gesetz, mit dem Energieeinspa-
rungsgesetz und der Energieeinsparverordnung 2009
haben wir bereits gute Grundlagen geschaffen, den Ener-
gieverbrauch und den CO2-Ausstoß erheblich zu senken.
Ein äußerst großes Potenzial zur Verringerung des
Energiebedarfs gibt es im Gebäudebereich. Mehr als
40 Prozent des Energieverbrauchs in Deutschland fallen
bei Gebäuden an, der größte Teil davon für die Heizung.
Besonders im Gebäudebestand sind noch viele Möglich-
keiten offen, den Energieverbrauch zu reduzieren.
19 Millionen Gebäude allein in Deutschland könnten
energetisch erheblich verbessert werden. Damit wäre
zum Beispiel eine Einsparung von 11 Prozent Primär-
energie möglich.
Eine Novellierung der 2003 in Kraft getretenen EU-
Richtlinie zur Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden,
GEEG, kommt daher zur rechten Zeit. Darin ist beab-
sichtigt, die energetischen Anforderungen an Gebäude
europaweit zu erhöhen. Denn nur dann ist es möglich,
auch die europäischen CO2-Reduktionsziele zu errei-
chen. Zentraler Bestandteil des Richtlinienentwurfs ist
es, Mindesteffizienzstandards für Gebäude sowie Heiz-
und Klimaanlagen festzuschreiben auf kostenoptimalem
Niveau. Was dies genau bedeutet, ist noch zu definieren.
In Deutschland gilt der Grundsatz, sich an der Wirt-
schaftlichkeit zu orientieren. Die Grenze der Wirtschaft-
lichkeit sollte daher auch in dieser Richtlinie berücksich-
tigt werden. Dazu später mehr.
Die Mindeststandards müssen ebenso wie die Me-
thode zu ihrer Erarbeitung noch festgelegt werden. Er-
fasst werden sollen damit sämtliche Gebäude, sowohl
die Neubauten als auch die Bestandsbauten, die grundle-
gend renoviert werden.
Ein weiteres Ziel der Richtliniennovellierung ist es,
den Anteil von Null- und Niedrigenergiehäusern erheb-
lich auszubauen. Die Mitgliedstaaten sollen verpflichtet
werden, mit Aktionsplänen dieses Ziel in das Bewusst-
sein der Menschen zu bringen und Quoten festzusetzen,
die bis 2020 erreicht werden sollen.
Zudem soll das Instrument Energieausweis gestärkt
werden. Er soll nicht mehr ein rein informatorisches Do-
kument sein, sondern Modernisierungsempfehlungen
basierend auf Wirtschaftlichkeitsberechnungen enthal-
ten. Die Kennzahlen sollen in allen Immobilienanzeigen
benannt werden. Die Aussteller von Energieausweisen
müssen ausgebildet und zugelassen sein.
Des Weiteren ist vorgesehen, Energieausweise und
Inspektionsberichte von Heiz- und Klimaanlagen stärker
zu kontrollieren.
Zum Vorschlag der EU-Kommission hat sich auch das
Europaparlament geäußert und zum Teil wesentlich
schärfere Regelungen gefordert, denen man aber zum
größten Teil nicht folgen kann.
Grundsätzlich sind die Ansätze des Richtlinienent-
wurfs begrüßenswert. Zwar teile ich in verschiedenen
Punkten die Bedenken des Bundesrates, der den Richtli-
nienentwurf vor allem aus grundsätzlichen Überlegun-
gen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip abgelehnt
hat. Doch ist das Thema von zu großer Bedeutung, als
dass man die Richtliniennovellierung wie gefordert län-
gere Zeit aussetzen könnte.
Die Unterstützung Deutschlands für das Vorhaben,
die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden europaweit
zu verbessern, ist sicher. Dass es Mindeststandards gibt,
ist in Deutschland keine Neuheit. Wir haben sie bereits
eingeführt; übrigens auf hohem Niveau. Eine wie vom
EU-Parlament vorgesehene Harmonisierung, die gege-
benenfalls dazu führen würde, diese Ansprüche in
Deutschland abzusenken, halte ich daher für nicht ziel-
führend. Die noch zu findende Methode soll eher über
eine Vergleichsmethodik einen Benchmark finden. Die-
sen können die Mitgliedstaaten im Sinne des Klima-
schutzes natürlich gerne überbieten.
Kritisch zu sehen ist der zu erwartende Bürokratieauf-
wand, einhergehend mit Kosten für die Mitgliedstaaten,
die keinen entsprechenden Nutzen haben. Die Kontroll-
systeme und das Akkreditierungsverfahren für die Aus-
weisaussteller sind personal- und kostenaufwendig.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25411
(A) (C)
(B) (D)
Nicht nur für den Einzelnen, auch für den Staat ist darauf
zu bestehen, dass das Prinzip der Wirtschaftlichkeit ein-
gehalten wird. Einer ambitionierten Klimaschutzpolitik
steht dieser Anspruch nicht entgegen. Im Gegenteil:
Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger beim Projekt Kli-
maschutz an unserer Seite wissen wollen, müssen wir ih-
nen deutlich machen, dass sich die Maßnahmen auch für
sie lohnen und sie nicht in zu hohem Maße belasten, we-
der finanziell noch mit Verwaltungsaufwand. Daher
muss sich der Aufwand in einem angemessenen Zeit-
raum amortisieren. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen
nicht durch Empfehlungen im Energieausweis dazu ge-
zwungen werden, unwirtschaftliche Maßnahmen durch-
zuführen. Sonst kommt es eher zu einem Investitions-
stau, als dass Sanierungen in Angriff genommen werden.
Die Regelungen zu den Energieausweisen sollen in
der Hand der Mitgliedstaaten bleiben. Der Ausweis ist
ein wichtiges Instrument zur Information, wie ein Haus
energetisch aufgestellt ist. Welche rechtliche Wirksam-
keit daraus abzuleiten ist, müssen die Mitgliedstaaten im
Rahmen ihrer Pläne zur Förderung der Energieeffizienz
bestimmen.
Die Kontrolle der Umsetzung muss ebenfalls den
Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Überzogene Be-
richtspflichten an die Kommission erhöhen den Auf-
wand, mehren aber nicht den Nutzen. Ähnlich sehe ich
das in der Frage eines Zulassungssystems für Aussteller
von Energieausweisen. Auch hier gebietet das Subsi-
diaritätsprinzip, dass die Mitgliedstaaten eigene Systeme
aufbauen oder anderweitig die Qualität sicherstellen.
Nicht akzeptabel ist weiterhin, Quoten für einen An-
teil von Niedrig- und Nullenergiehäusern festzuschrei-
ben. Dies widerspricht in solchem Maße den Ansprü-
chen an einen freien Markt, dass es nicht hinzunehmen
ist. Es gibt bessere Anreize, den Anteil tatsächlich zu
steigern. Außerdem ist die Frist für die Umsetzung zu
eng gesetzt. Obwohl wir alle natürlich um die Dringlich-
keit des Klimaschutzes wissen, muss die Umsetzung
dennoch praktizierbar bleiben. Daher fordert der Bun-
destag auf Initiative der Koalition die Verlängerung der
Frist um ein Jahr.
Da es an dem Richtlinienentwurf trotz seiner grund-
sätzlich positiven Bewertung noch Verbesserungsbedarf
gibt, wird die Bundesregierung aufgefordert, die oben
genannten Bedenken und Änderungsbestrebungen in die
Verhandlungen auf europäischer Ebene einzubeziehen.
Die Entschließung der Koalition, die heute zur Abstim-
mung steht, gibt dafür der Bundesregierung wichtige
Forderungen und Hinweise mit auf den Weg nach Brüs-
sel, damit das Ergebnis lautet: So viel für den Klima-
schutz tun wie möglich, aber so wenig Vorschriften zur
Umsetzung der Ziele wie nötig.
Zum Schluss darf ich darauf hinweisen, dass auf
nationaler Ebene noch genügend Handlungsbedarf be-
steht, das gewaltige Energiesparpotenzial im Gebäudesek-
tor wirklich zu realisieren: Informationsinitiativen zur In-
tensivierung der energetischen Gebäudesanierung bei
Haus- und Wohnungseigentümern sowie Mietern, Wie-
dereinführung der Investitionspauschale im Gebäudebe-
stand, Optimierung und Verzahnung der unterschiedlichen
Förderprogramme vom CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm der KfW bis hin zur Wohnungsbauförderung so-
wie der erfolgreiche Abschluss der Bemühungen des
Bundestages zur rechtlichen Regelung des Energie-Con-
tractings, die uns auch zu meinem außerordentlichen
Bedauern in dieser nun zu Ende gehenden 16. Legisla-
turperiode nicht gelungen ist, würden erheblich dazu
beitragen, Energie einzusparen und das Klima zu schüt-
zen.
Patrick Döring (FDP): Ich freue mich außerordent-
lich, dass es heute zu dieser Debatte kommt, zum einen
weil der von der FDP im Ausschuss vorgelegte Ent-
schließungsantrag eine so intensive und konstruktive
Diskussion in Gang gebracht hat, zum anderen weil die
Koalition den Ball aufgenommen und jetzt diese Ent-
schließung vorgelegt hat, der auch die FDP-Fraktion
gerne zustimmen wird.
Für die konstruktive und zielorientierte Zusammen-
arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen, vor allem mit
Volkmar Vogel, möchte ich mich ganz herzlich bedan-
ken. Wir haben hier, denke ich, ein kleines Lehrstück
darüber abgeliefert, wie guter Parlamentarismus funktio-
nieren kann. Gerade wenn ich mir anschaue, wie viele
Gesetze und Beschlüsse in dieser Woche nicht zustande
gekommen sind, weil die Koalitionäre sich kurz vor der
Wahl nicht die Butter auf dem Brot gönnen, dann ist eine
solche Entschließung, wie sie uns heute zur Abstim-
mung vorliegt, ja wahrhaftig keine Selbstverständlich-
keit.
Man kann das allerdings auch als Zeichen dafür se-
hen, wie groß das Problem ist, das sich uns hier stellt;
denn der von der Europäischen Kommission vorgelegte
und durch das Europäische Parlament weiter verschärfte
Richtlinienentwurf würde nichts anderes bedeuten als
die vollständige Regulierung der energetischen Gebäu-
desanierung auf europäischer Ebene. Die über viele
Jahre in Deutschland entwickelten, erprobten und im
Großen und Ganzen auch sinnvollen Mechanismen wür-
den damit über den Haufen geschmissen. Ineffiziente
Strukturen, Rechtsunsicherheiten und erhebliche Belas-
tungen für die Mitgliedstaaten und Gebäudeeigentümer
wären – bei mehr als nur fraglichem Nutzen – die Folge.
Anstatt verschiedene Systeme in den Mitgliedstaaten der
EU zuzulassen, die differenzierte Lösungen für die sehr
unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Län-
dern erlauben und einander befruchten können, will die
Kommission die Vorschriften stark vereinheitlichen. Mit
dem oft gepredigten Gedanken der Subsidiarität hat das
dann rein gar nichts mehr zu tun. Erschwerend kommt
noch hinzu: Die Vorschläge der Kommission sind auch
noch schlecht.
Nach den Vorstellungen der Kommission sollen bei-
spielsweise zahlreiche zusätzliche Kontrollmechanismen
eingeführt und damit vollkommen überflüssige Doppel-
strukturen geschaffen werden – etwa bei den Heizungs-
inspektionen. Ab 2019 sollen außerdem nur noch soge-
nannte Netto-Nullenergie-Gebäude gebaut werden, also
Häuser, die genauso viel Energie erzeugen, wie sie ver-
brauchen. Bereits 2014 dürften die Mitgliedstaaten nur
25412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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noch die Sanierung von Gebäuden fördern, die den von
der EU festgesetzten energetischen Mindeststandards
entsprechen. Das wäre dann das Ende des Denkmal-
schutzes in Deutschland.
Das sind nur einige Beispiele für den Regelungswahn
dieser Richtlinie; die Aufzählung ließe sich noch lange
fortsetzen. Damit schießt die Kommission weit über das
Ziel hinaus und wird, wenn die Richtlinie in dieser Form
Wirklichkeit wird, dem Klimaschutz mehr schaden als
nutzen. Denn auch wenn die Vorschriften sicherlich gut
gemeint sind, so lehrt doch leider die Erfahrung, dass
man der Umwelt nicht hilft, wenn man nur die gesetzli-
chen Vorgaben immer weiter verschärft. Im Gegenteil,
allzu oft werden dadurch Sanierungen verzögert, weil
die Eigentümer angesichts der hohen Anforderungen die
Investition lieber auf die lange Bank schieben werden.
Wenn die EU zum Beispiel, wie geplant, vorschreibt,
dass ab einer Renovierung mit einem Volumen von mehr
als 20 Prozent des Gebäudewertes auch die energeti-
schen Standards komplett erfüllt werden müssen, dann
wird aus einer Teilrenovierung in manchem Fall fast eine
Vollsanierung. Das bedeutet in vielen Fällen gigantische
Zusatzinvestitionen zum Beispiel in die Heiztechnik.
Das können aber gerade die kleineren, privaten Vermie-
ter, bei denen schon jetzt der größte Sanierungsdruck be-
steht, nur schwer leisten. Die lassen das mit der Renovie-
rung dann lieber erst einmal ganz sein.
Hinzu kommt, dass natürlich angesichts immer neuer
und immer schärferer Vorschriften langsam kein Eigen-
tümer mehr weiß, woran er eigentlich ist. Das Problem
können wir gegenwärtig bereits in Deutschland besichti-
gen. Mit der fortlaufenden Veränderung der energeti-
schen Vorschriften betreibt die Bundesregierung bereits
ein solches „Hase und Igel“-Spiel. Wir haben gerade erst
die neue EnEV in Kraft gesetzt – und schon kündigt die
Bundesregierung die nächste Verschärfung für 2013 an.
Da setzt die EU-Kommission jetzt noch etwas drauf.
Von einer verlässlichen Politik sind wir in diesem Be-
reich weit entfernt – mit der Folge, dass Investoren lie-
ber erst einmal weiter abwarten. Denn wer will schon
jetzt sanieren, wenn seine Investitionen in ein paar Jah-
ren durch den Gesetzgeber als veraltet eingestuft und da-
mit entwertet werden?
Kurz: Mit diesem Richtlinienentwurf wird die EU ge-
nau das Gegenteil von dem erreichen, was eigentlich un-
ser gemeinsames Ziel ist. Am Ende werden wir nicht
mehr, sondern weniger energetische Sanierungen in
Europa haben. Die FDP hat deshalb bereits im März dem
federführenden Ausschuss einen Entschließungsantrag
vorgelegt. Die Koalition hat diese Kritik erfreulicher-
weise aufgegriffen und einen sehr vernünftigen Ent-
schließungsantrag vorgelegt, in dem der Bundesregie-
rung klare Leitlinien für die weiteren Verhandlungen auf
europäischer Ebene mit auf den Weg gegeben werden.
Diesen Antrag wird die FDP-Fraktion heute gerne und
mit Nachdruck unterstützen.
Allerdings ist der Prozess damit natürlich noch nicht
abgeschlossen. Die Kommission beabsichtigt bekannter-
maßen, die Richtlinie bereits zum Ende des Jahres in
Kraft zu setzen. In den kommenden Monaten, bereits
kurz nach der Bundestagswahl, treten die Verhandlungen
in die heiße Schlussphase. Das neue Parlament und die
neue Bundesregierung werden also in dieser Sache
schon früh gefordert sein. Ich hoffe, dass dann alle Frak-
tionen dieses Hauses, die heute diesen Antrag unterstüt-
zen, genauso einmütig dafür arbeiten werden, dass die in
der Entschließung formulierten Ziele auch umgesetzt
werden.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Ergebnisse der bisherigen Bemühungen, die Gesamt-
energieeffizienz der Gebäude in Deutschland deutlich zu
verbessern, stellen sich für mich als unzufriedenstellend
und ernüchternd dar. Da kann die Große Koalition in ih-
rem Entschließungsantrag noch so jubeln. Denn die Zah-
len sprechen eine andere Sprache: Obwohl bis 2020 eine
Reduktion von 40 Prozent bei den CO2-Emissionen – be-
zogen auf 1990 – erreicht werden muss, quälen wir uns
im Gebäudesektor nur langsam voran. Bei dem jetzigen
Sanierungstempo werden wir noch 100 Jahre brauchen,
um unsere Bestandsgebäude auf einen akzeptablen Ener-
gieverbrauch zu bringen. Die Klimaschutzziele werden
wir auf diese Weise bis 2020 jedenfalls nicht erreichen.
Diese Entwicklung werden und wollen Bündnis 90/Die
Grünen nicht hinnehmen.
Die entscheidende Frage ist dabei: Welche Maß-
nahme bringt die besten Ergebnisse? Und da scheiden
sich schon die Geister. So wird aus meiner Sicht sehr
stark – zu stark – auf Spitzenleistungen beim Neubau fo-
kussiert, da – keine Frage – Deutschland schließlich bei
den Neubautechnologien mit weltweit führend ist. Nied-
rig- und Niedrigstenergiehäuser – ja sogar Null- oder
Plusenergiehäuser – haben ihren Markt oder durchaus
signifikante Nischen gefunden, und die KfW-Niedrig-
energiehäuser 40 oder 60 haben auch aufgrund der er-
folgreichen KfW-Förderprogramme die heutigen Neu-
baustandards vorweggenommen. Das alles wird von uns
positiv bewertet, aber die Wirkungen von Neubauten auf
den Klimaschutz sind bedauerlicherweise eher langsam
und nur langfristig zu sehen.
Seit Jahren gibt es eine starke Zurückhaltung in der
Neubautätigkeit, die in 2009 und 2010 einen nochmali-
gen Tiefpunkt erreichen dürfte. Die Gründe dafür sind
vielschichtig, sie finden sich in der aktuellen Wirt-
schafts- und Finanzkrise, im Abbau staatlicher Subven-
tionen – Abschaffung der Eigenheimzulage oder der de-
gressiven Abschreibung –, in den sich verstärkenden
regionalen Schrumpfungsprozessen aufgrund des demo-
grafischen Wandels aber auch in einer erheblichen Ver-
unsicherung bezüglich künftiger energetischer Neubau-
standards. Denn wenn bald nach der EnEV 2002 und der
EnEV 2007 jetzt schon die EnEV 2009 eingeführt wird
und gleichzeitig aber eine weitere Verschärfung um
minus 30 Prozent mit der EnEV 2012 angekündigt wird,
dann braucht man sich nicht wundern, dass die Devise
bei vielen Akteuren heißt: Erst einmal Abwarten!
Vier Energieeinsparungsverordnungen in zehn Jahren
sind definitiv des Guten zu viel, zumal nicht einmal die
Überwachung ihrer ordnungsgemäßen Umsetzung ge-
währleistet ist. Eine Studie des Verbandes Privater Bau-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25413
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herren, VPB brachte die Wahrheit ans Licht: Fast
50 Prozent aller untersuchten Gebäude, die nach 2002
errichtet wurden, entsprachen nicht oder nur teilweise
den Vorgaben der EnEV 2002, die Energieausweise wa-
ren in ähnlichen Größenordnungen mangelhaft. Die
Vollzugsdefizite sind uns allen bekannt – kein Wunder
bei dem kontinuierlichen Stellenabbau in den Bauauf-
sichtsbehörden der Kommunen und Länder –, aber diese
lassen sich nun einmal nicht heilen, indem man die An-
forderungen wie in der EnEV 2009 und in der geplanten
EnEV 2012 nochmals verschärft oder sich die Beschei-
nigung lieber direkt selbst ausstellt. Ich wäre jedenfalls
froh, wenn bis 2020 erst einmal die EnEV 2002 ein zu
eins bei allen Gebäuden umgesetzt würde, damit wäre
dem Klima mehr geholfen.
Der geringe Zuwachs an – wenn auch energieeffizien-
ten – Neubauten leistet somit keinen signifikanten oder
gar schnellen Beitrag zur Reduktion von CO2-Emissio-
nen. Schon aus diesem Grunde sehe ich die Bestrebun-
gen der EU-Kommission und auch des Europaparla-
ments, in dieser Situation dann ausgerechnet das
Nullenergiehaus als Standard ab 2019 vorschreiben zu
wollen, sehr kritisch. Ich halte diese Forderungen für
verfrüht, unausgegoren und sogar kontraproduktiv, da
sie a) den Schwerpunkt erneut nicht bei den Bestandsge-
bäuden setzen, sie b) zu einer noch weiteren Zurückhal-
tung bei Neubauten führen und sie c) eine noch gerin-
gere Wirkung auf den Klimaschutz haben werden als
Neubauten ohnehin. Forderungen nach dem Nullenergie-
hausstandard auch für Bestandsgebäude zeugen zudem
von einer ärgerlichen fachlichen Unkenntnis. Mit ist
schleierhaft, wie derartige Ziele nur annähernd wirt-
schaftlich aber auch bautechnisch umgesetzt werden sol-
len. Alles in allem wird dem Klimaschutz am Bau mit
solchem Aktionismus ein Bärendienst erwiesen, denn er
wird die allgemeine Zurückhaltung eher noch verstär-
ken. Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, dann
müssen wir alle Akteure auch mitnehmen, das heißt Ei-
gentümer bzw. Vermieter und Nutzer bzw. Mieter, und
sie nicht überfordern.
Daher gehören alle bisherigen Maßnahmen nochmals
auf den Prüfstand. Wir brauchen endlich Entscheidungen
darüber, wie wir mit den zwar – noch – reichlich fließen-
den, aber auch erkennbar begrenzten finanziellen Res-
sourcen möglichst schnell, möglichst effizient und mög-
lichst große Einsparungs- und Klimaschutzeffekte
erzielen. Und da muss der Fokus halt auf die Förderung
von Maßnahmen bei Bestandsgebäuden und nicht auf
„Exzellenzinitiativen“ gelegt werden.
Eine EU-Gebäuderichtlinie kann nur eingeschränkt
auf nationale und regionale Probleme Rücksicht neh-
men, denn dafür ist Europa zu heterogen. Daher sind die
Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht
hierfür auch zu Recht zuständig. Ich sehe hier auch ge-
nügend nationale Spielräume, das Schreckgespenst der
durch die EU bedrohten Subsidiarität muss nicht immer
wieder aufs Neue beschworen werden. Aber das aus der
Richtlinie abzuleitende Ordnungsrecht wird in Deutsch-
land angesichts der ungleichen regionalen Entwicklun-
gen und der heterogenen Markt- und Eigentumsverhält-
nisse künftig intelligentere, flexiblere und dennoch
ambitionierte Rahmenbedingungen vorgeben müssen.
Mit Maximalforderungen ist weder uns, noch den Ak-
teuren und schon gar nicht dem Klimaschutz gedient,
wir brauchen vielmehr den Fortschritt in der Breite bei
der Gebäudesanierung, und das geht nur, wenn mög-
lichst viele mitziehen und nicht „auf der Palme“ sitzen.
Lassen Sie uns also auf dem Teppich bleiben und lie-
ber darüber diskutieren, welche Lösungen aus unserer
Sicht infrage kommen.
Die neue EU-Gebäuderichtlinie zielt zu Recht auf
eine höchst unzufriedenstellende Situation bei den Ener-
gieausweisen ab. Ich habe schon 2006 in den Debatten
um die EnEV 2007 immer darauf hingewiesen, dass die
damals geplante und heute erlebte Praxis bei den Ener-
gieausweisen nichts als rausgeschmissenes Geld und
eine verlorene Chance für den Klimaschutz darstellt.
Verbrauchsausweise, wie sie noch heute ganz aktuell bei
Ebay für 4,99 Euro ersteigert werden können, sind das
Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Es ist in ho-
hem Maße ärgerlich, da wir hier in den letzten Jahren
eine große Chance vertan haben.
Daher fordern wir die Abschaffung des Verbrauchs-
ausweises und die verpflichtende Einführung des Be-
darfsausweises für alle Gebäude. Außerdem muss end-
lich die Geheimniskrämerei um die Energieausweise
beendet werden, das heißt bei Neuvermietung und Ver-
kauf müssen die Ausweise ohne Aufforderung Miet-
oder Kaufinteressenten vorgelegt werden. Auch gehört
der Energieausweis in allen öffentlichen Gebäuden ab
250 Quadratmeter Nutzfläche – ob mit oder ohne Publi-
kumsverkehr – öffentlich ausgehängt. Gerade die öffent-
liche Hand muß hier endlich mit gutem Beispiel voran-
gehen, daher können wir die Bedenken der CDU/CSU
und SPD überhaupt nicht nachvollziehen. Der Energie-
ausweis für diese Gebäude muß ja so oder so erstellt
werden, dann kann man ihn auch gleich aushängen.
Wir fordern ferner, dass in künftige Energieausweise
die Energiebilanz des gesamten Gebäudes einbezogen
wird, das heißt neben dem Energieverbrauch durch den
Betrieb soll auch die Energiebilanz der verbauten Mate-
rialien und der angewendeten Bauverfahren in die Be-
wertung mit einfließen. Konsequenterweise müssen
dann auch ökologische Baustoffe durch neue Förderpro-
gramme wieder stärker gefördert werden. Hier waren
wir schon einmal deutlich weiter.
Eine gute Dämmqualität und hohe Luftdichtigkeit
nach Sanierungsmaßnahmen mögen ja energetisch schön
und gut sein, aber die Frage der Raumluftqualität muss
künftig kritischer überprüft und dokumentiert werden.
Im Gebäudeinneren gibt es eine große Menge an poten-
ziellen Schadstoffquellen, zum Beispiel Möbel, Wand-
und Bodenbeläge, die sich durch Ausdünstungen schnell
als problematisch herausstellen können und das allseits
bekannte Sick Building Syndrom hervorrufen können.
Einen stark unterschätzten Aspekt bei der Energieein-
sparung und damit für den Klimaschutz am Bau stellt der
Faktor Mensch dar. Es gibt Studien, aus denen hervor-
geht, dass durch Beratung und ein daraus resultierendes
verbessertes Heizungs- und Lüftungsverhalten Nutzer
25414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
bzw. Mieter im Durchschnitt circa 10 Prozent – in Ex-
tremfällen bis zu 50 Prozent – an Energie einsparen
konnten. Meine Damen und Herren, wenn wir so ein
„Schulungsprogramm“ zum Beispiel innerhalb von fünf
Jahren umsetzen würden, könnten wir im Gebäudebe-
reich jährlich bis zu 3 Millionen Tonnen CO2 einsparen,
das wäre dreimal so viel, wie die KfW-Gebäudesanie-
rungsprogramme jährlich an Einsparung erbringen. Wir
brauchen daher eine stärkere Mittelumschichtung hin zur
Beratung und Information von Mietern, Nutzern aber
auch Eigentümern und Vermietern. Es sind auch hier
nicht immer die Investitionen in Baumaterialien, son-
dern die in die Köpfe, die sich als erfolgreich und effek-
tiv herausstellen.
Ich will zum Schluss meiner Rede noch kurz auf sinn-
volle bauliche Maßnahmen zu sprechen kommen. Wir
sollten uns – zumindest in den nächsten 10 bis 15 Jahren –
von der Komplettsanierung als dem Regelfall bei Be-
standsgebäuden verabschieden. Das würde uns finanziell
einen größeren Spielraum bieten und dadurch eine ver-
stärkte Förderung von kleineren Teilnahmen und weni-
ger großer Vollmaßnahmen ermöglichen. Wenn wir tat-
sächlich schnelle Effekte auslösen wollen, dann müssen
wir Folgendes beherzigen.
Erstens. In der Gebäudetechnik schlummert ein riesi-
ges Einsparungspotenzial – auch ohne Kesselaustausch.
Geringinvestive Maßnahmen wie zum Beispiel Dämm-
maßnahmen an den Rohrleitungen und Verteilerstatio-
nen, Austausch von ungeregelten Pumpen, Einbau elek-
tronischer Thermostate und ein hydraulischer Abgleich
können Einsparungspotenziale zwischen 5 und 25 Pro-
zent heben.
Zweitens. Wenn wir Gebäude sanieren, dann sollten
wir – was auch wirtschaftlich und sozial verträglicher
wäre – stets modular vorgehen: das heißt zunächst die
Dämmung der Decke über dem Kellergeschoss und der
obersten Geschossdecke bzw. Dachgeschoss, dann den
Austausch der Fenster und erst in einem weiteren Schritt
die Dämmung der Fassaden im Ganzen oder auch in Tei-
len.
Und wir sollten immer darauf achten, dass die Maß-
nahmen zeitlich und baulich aufeinander aufbauen und
eventuellen Nachbesserungen und Ergänzungen nicht im
Wege stehen. Unser Ziel muss es sein, dass der Klima-
schutz am Bau nicht nur energieeffizient, sondern auch
nachhaltig, ökologisch und wirtschaftlich ist.
Um dieses Ziel umzusetzen, brauchen wir qualifi-
zierte Architekten, Ingenieure, Energieberater, Hand-
werker und Baufachleute. Bei all den modernen Bauma-
terialien und technologischen Errungenschaften der
heutigen Zeit: Letztlich kommt es auf die Köpfe, auf die
Akteure, auf die Ausführenden an. Das sollten wir auch
als Abgeordnete nicht vergessen. Und daher sollten wir
auch nie die Sicherung eines hohen Qualitätsniveaus in
der Ausbildung, Bildung und Weiterbildung bei den
Bauberufen aus den Augen verlieren.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Die Fraktion Die
Linke im Bundestag begrüßt die Absicht des Europäi-
schen Parlaments und des Rates, mit dem vorliegenden
Entwurf für die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizi-
enz von Gebäuden, GEEG, die Mitgliedstaaten bei den
Bemühungen zur Verbesserung der Energieeffizienz von
Gebäuden zu unterstützen. Angesichts der erheblichen
Bedeutung des Gebäudesektors für den Gesamtenergie-
verbrauch in der Europäischen Gemeinschaft sind eine
Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudebereich und
die damit verbundene Reduzierung der CO2-Emissionen
ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz und zur Ge-
währleistung einer langfristig sicheren und bezahlbaren
Energieversorgung.
Den laut vorliegendem Vorschlag geplanten Verschär-
fungen, insbesondere der Einbeziehung der Gebäude mit
weniger als 1 000 Quadratmeter Nutzfläche, können wir
weitgehend zustimmen. Der Vorschlag geht einen gro-
ßen Schritt in die richtige Richtung und setzt für die
deutsche Politik hohe Maßstäbe. Die Debatte im Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung lässt aber
befürchten, dass die europäische Messlatte zu hoch liegt
für deutsche Bedenkenträger. Mit dem beschlossenen
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion zum Vor-
schlag des Europäischen Parlaments stellt sie das Prinzip
der Wirtschaftlichkeit über das der Erreichung der Kli-
maschutzziele. Das ist halbherzig und konterkariert eine
langfristig angelegte Umwelt- und Klimaschutzpolitik
im Allgemeinen und im Gebäudebereich im Besonderen.
Es entsteht der Eindruck, die Koalition will ja auch Kli-
maschutz, aber möglichst unverbindlich, möglichst ohne
europäische Standards, an denen die eigenen Maßnah-
men messbar sind, und viel kosten darf es auch nicht.
Den Mitgliedstaaten sollen entgegen dem Vorschlag
keine Quoten für den Anteil bestimmter energetischer
Standards bei Gebäuden vorgeschrieben werden, da
diese nicht mit dem freien Immobilienmarkt unter Wah-
rung der Eigentumsrechte vereinbar sind.
Überlassen wir den Schutz unserer Umwelt allen
Ernstes jetzt auch dem freien Markt? Entscheidet die Im-
mobilienwirtschaft, wie viel Umweltschutz wir uns leis-
ten können, was sich rechnet? Nein!
Die Linke will maximalen Klimaschutz, einen opti-
malen Schutz unserer Umwelt, unserer aller Existenz-
grundlage, unserer und aller zukünftigen Generationen.
Deshalb haben wir den Entschließungsantrag der Koali-
tion abgelehnt. Deshalb unterstützen wir den Vorschlag
des Europäischen Parlaments. Uns Linken ist schon klar,
das die Immobilienwirtschaft mit den Folgen der Umset-
zung nicht allein gelassen werden darf. Für uns ist der
Umweltschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
und deshalb auch von der Gesellschaft im Ganzen zu tra-
gen. Investitionen in Gebäude, die dem Erreichen der
Klimaschutzziele dienen, müssen mit geeigneten Förder-
programmen unterstützt werden.
Vielleicht ist der Vorschlag des Europäischen Parla-
ments noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Vielleicht
fehlt ihm noch ein allgemeinverbindliches Ziel. Ich
denke, wir brauchen ein verpflichtendes Gesamtziel für
die europäischen Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel die
Reduktion des gesamten Verbrauchs an nicht erneuerba-
rer Primärenergie bzw. der CO2-Emissionen im Gebäu-
desektor um mindestens 20 Prozent bis 2020 im Ver-
gleich zu 2008. Da darf durchaus nachgebessert werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25415
(A) (C)
(B) (D)
Was wir nicht brauchen, ist so ein Kleinmut, wie ihn die
Koalition auch bei diesem Thema an den Tag legt.
Die Weissagung der Cree-Indianer ist Ihnen allen hier
bekannt. Dennoch muss sie gelegentlich wiederholt wer-
den, damit sie sich tief ins Gedächtnis eingräbt: „Erst
wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet,
der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass
man Geld nicht essen kann.‘‘
Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Bun-
desregierung ist mit ihrer Entscheidung für eine ambitio-
nierte Energie- und Klimapolitik auf dem richtigen, einem
zukunftssicheren Weg. Dabei kann der Sektor mit dem
höchsten Energieverbrauch – das ist mit etwa 40 Prozent
der Gebäudebereich – einen entscheidenden Beitrag leis-
ten. Und dies ist möglich mit Vorteilen für alle Beteilig-
ten: von den Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger
von hohen Heizkosten bis zur Sicherung von Arbeits-
plätzen, besonders im Mittelstand.
Die Umsetzung des europäischen Energie- und Kli-
mapakets in den 27 Mitgliedstaaten der Union wird die
Energieversorgungssicherheit in ganz Europa stärken
und den Energieverbrauch europaweit reduzieren helfen.
Europäische Regeln helfen einerseits, die gesteckten
Ziele – „20-20-20-Prozent“ bzw. „20-20-30-Prozent“ –
gemeinsam in Europa zu erreichen. Denn nicht alle Mit-
gliedstaaten waren in der Vergangenheit in der Lage,
beim Klimaschutz Erfolge wie in Deutschland zu erzie-
len. Andererseits müssen wir aufpassen, dass eine mögli-
che europäische Überregulierung nicht bereits erfolgrei-
che nationale Strategien gefährdet.
Unsere erfolgreiche Strategie zur Energieeinsparung
im Gebäudebereich hat drei Säulen: Das Energieeinspar-
recht setzt verbindliche Standards für Neubauten und im
Bestand. Die neue Energieeinsparverordnung, EnEV 2009,
tritt am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft; die beispiel-
hafte Förderung von Energieeinsparmaßnahmen durch
unsere KfW-Förderprogramme, insbesondere im Gebäu-
debestand; Information und Beratung als Hilfe zur
Selbsthilfe.
Das Instrument zur Beschreibung der energetischen
Qualität von Immobilien ist der Energieausweis. Er wird
nunmehr ab 1. Juli dieses Jahres für alle Gebäude zur
Pflicht bei Neuvermietung und Verkauf. In Deutschland
waren Energieausweise für Neubauten seit langem ein-
geführt. Mit der Energieeinsparverordnung 2007 haben
wir Energieausweise auch im Gebäudebestand als wich-
tiges Marktinstrument bei Verkauf und Neuvermietung
eingeführt und hiermit die Europäische Richtlinie vom
16. Dezember 2002 über die Gesamtenergieeffizienz von
Gebäuden vollständig umgesetzt. Insofern begrüße ich
die europäischen Impulse als Auslöser nationaler Aktivi-
täten.
Dank des in dieser Legislaturperiode verschärften Ener-
gieeinsparrechts in Deutschland haben wir in Europa un-
sere Spitzenstellung im Gebäudebereich behaupten kön-
nen. Auf der europäischen Ebene sieht das noch anders
aus. Um die beschlossenen europäischen Energie- und
Klimaschutzziele zu erreichen, ist die Europäische Kom-
mission gezwungen, die Instrumente ihres „Energie- und
Klimapakets“ strikt umzusetzen. Ein Baustein dieses Pa-
kets ist die Novelle der Europäischen Richtlinie über die
Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, die die Kommis-
sion Ende letzten Jahres vorgelegt hat. Zu dieser Novelle
gibt es bereits einen Beschluss des Europäischen Parla-
ments vom 23. April 2009 und des Bundesrates vom
6. März 2009. Die schwedische Ratspräsidentschaft wird
die Novelle noch bis Ende des Jahres finalisieren.
Vor dem Hintergrund der hohen aktuellen Bedeutung
von Energie- und Klimafragen halte ich eine Positionie-
rung des Deutschen Bundestages in dieser Frage für an-
gemessen. Es ist zu begrüßen, dass mit der vorliegenden
Novelle nunmehr sämtliche Mitgliedstaaten ihre energe-
tischen Standards an dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit
orientieren sollen. Dieser Grundsatz gilt in Deutschland
bereits seit langem. Es ist richtig, die Qualität von Ener-
gieeinsparmaßnahmen im Gebäudesektor zu stärken und
die Qualität der Energieausweise europaweit sicherzu-
stellen.
Allerdings müssen wir darauf achten, dass bewährte
und erfolgreiche Strategien in den Mitgliedstaaten wei-
terhin möglich bleiben, wenn sie erfolgreich sind und die
Qualität in diesem Bereich ebenfalls gewährleisten können.
Voraussetzung für Erfolg ist eine objektive Transparenz
der Gebäudequalität. Nur dann können wir überzeugen.
Ich denke, auch in Deutschland müssen wir daran arbeiten,
die Qualität der baulichen Umsetzung weiter zu verbessern.
Wir sollten die Volkswirtschaften in Europa allerdings
nicht durch vermeidbare zusätzliche administrative Auf-
lagen belasten. Darum geht es in unserem gemeinsamen
Antrag.
Ich bitte Sie, unser Anliegen zu unterstützen.
Anlage 41
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge der Bundesregie-
rung:
– Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Friedensmis-
sion der Vereinten Nationen im Sudan
(UNMIS) auf Grundlage der Resolution
1590 (2005) des Sicherheitsrates der Verein-
ten Nationen vom 24. März 2005 und Folge-
resolutionen
– Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der AU/UN-
Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf
Grundlage der Resolution 1769 (2007) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 31. Juli 2007 und Folgeresolutionen
(Tagesordnungspunkt 52 a und b)
Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Von niemandem
kann ernsthaft bestritten werden, dass die Lage in den
Krisengebieten des Sudan, vor allem in Darfur, weiter-
25416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
hin als äußerst prekär, vielfach als katastrophal bezeich-
net werden muss. Die innen- und auch außenpolitische
Situation, anhaltende Kämpfe zwischen Regierungstrup-
pen, Rebellen und verfeindeten Milizen verfestigen eine
unerträgliche humanitäre Lage für die Zivilbevölkerung.
Hinzukommen ein hohes Maß an Kriminalität, kaum
vorhandene Verwaltungsstrukturen und wenig Aussicht
auf baldige Besserung. Interethnische Gewalt, sichtbar
geworden erst vor wenigen Tagen wieder bei einem ge-
waltsamen Angriff auf einen Konvoi des Welternäh-
rungsprogramms, bei dem zahlreiche Menschen getötet
wurden, verhindert nach wie vor eine nachhaltige und
für die Menschen spürbare Verbesserung ihrer lebens-
notwendigen Bedürfnisse.
Vor diesem Hintergrund – nach über 20 Jahren Bür-
gerkrieg – ist Engagement von außen, von Afrikanern,
Europäern, Amerikanern – kurz: vonseiten der Weltge-
meinschaft in Form der UN – unabdingbar, will man die
Chance auf eine Beruhigung der Lage und damit Stabili-
sierung der Region nicht vertun.
Es gibt durchaus erste Anzeichen, die uns vorsichtig
hoffen lassen dürfen, dass etwas erreicht werden kann.
Seit dem „Umfassenden Friedensabkommen“ von 2005
ging es in den letzten Jahren schrittweise darum, dessen
Implementierung nach und nach voranzutreiben. Hier
sind tatsächlich vorsichtige Erfolge zu vermelden: Viele
Menschen, nach UN-Angaben circa 2 Millionen, die vor
dem Bürgerkrieg fliehen mussten, konnten seitdem
wieder in ihre Heimat, den Südsudan, zurückkehren. Mi-
litärische Truppen wurden unter Aufsicht der Weltge-
meinschaft in nennenswertem Umfang nachweislich ab-
gezogen. Eine gemeinsame Verwaltung von „Nord und
Süd“ wurde ernannt. Der Aufbau einer ganz neuen Ad-
ministration hat begonnen. Ehemals sich bekämpfende
Seiten werden in gemeinsamen Patrouillen zusammen-
geführt oder zu neuen gemeinsamen Polizeieinheiten
ausgebildet. Ich halte jene Fortschritte gerade auf diesen
Gebieten für essenziell für die Entwicklung des Landes.
Ohne einen gewissen Grad an Infrastruktur, die wie-
derum eine zumindest rudimentäre Verwaltungs- und Si-
cherheitsstruktur bedingt, ist der Aufbau von einem ge-
ordneten Zusammenleben nahezu unmöglich. Erst die
Abwesenheit von Hunger und die Sicherheit der eigenen
körperlichen Unversehrtheit schaffen die Voraussetzung
für eine schrittweise Vertrauensbildung und damit die
Grundlage für die von uns zu leistende Hilfe zur Selbst-
hilfe.
Seit Februar 2009 hat das Programm zur Entwaff-
nung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger
Kombattanten begonnen. Was hier so einfach klingt,
dürfte angesichts der Erfahrungen der Menschen mit
Bürgerkrieg, Flucht, Vertreibung und Tod eine Herkules-
aufgabe und nur mit erheblichen Schwierigkeiten umzu-
setzen sein. Dies alles geschieht mithilfe und Unterstüt-
zung der Weltgemeinschaft, die vermittelnd, erklärend
und unterstützend tätig, aber keineswegs allerorten un-
umstritten ist.
Ich will die Lage im Sudan und die Rolle der in Rede
stehenden Missionen nicht beschönigen. Wir sehen uns
mit erheblichen Problemen konfrontiert. Gerade bei
UNAMID und in Darfur bestehen größte Schwierigkei-
ten, die Lage zu stabilisieren. Ein wirksamer Schutz der
Zivilbevölkerung kann derzeit in meinen Augen nicht
gewährleistet werden. Dies liegt mit Sicherheit zum ei-
nen an der mangelnden Kooperation der sudanesischen
Regierung, zum anderen aber auch schlicht an organisa-
torischen Defiziten bei der Mission selbst. Aber seien
wir ehrlich: Wer hat wirklich gedacht, dass bei der Viel-
zahl der Probleme und der Organisationsform dieses Ty-
pus einer hybriden Mission ein schneller und reibungslo-
ser Einsatz bevorsteht?
Fakt ist: Ohne die beiden sich bedingenden Einsätze
UNMIS und UNAMID wäre die Lage im Sudan vor al-
lem für die zivile Bevölkerung noch weitaus schlimmer.
Wir sind bei der Schaffung der beiden Missionen ange-
treten mit dem klaren Willen, den Menschen vor Ort zu
helfen und ihre wirtschaftliche, soziale und politische Si-
tuation zu verbessern. Dieses Ziel wurde bislang nicht
bzw. nur für wenige und auch nur in kleinen Teilen er-
reicht. Aber dadurch wird unser Ziel doch nicht falsch.
In den nächsten Monaten stehen wir vor großen He-
rausforderungen. Neben dem bereits angesprochenen
Entwaffnungs- und Wiedereingliederungsprogramm bil-
den die für 2010 geplanten Wahlen und das Unabhängig-
keitsreferendum der südsudanesischen Bevölkerung
2011 weitreichende Meilensteine auf dem Weg zu einer
Normalisierung. Hierbei stehen wir mit UNMIS als sta-
bilisierendem Element an der Seite der Bevölkerung.
Wie bei UNMIS so gab es auch bei UNAMID seit
Ende des vergangenen Jahres zum Teil deutliche Verbes-
serungen, vor allem beim Aufwuchs der Truppe und bei
der Behebung von Schwierigkeiten bei Transportkapazi-
täten. Deshalb bin ich überzeugt, dass die nun deutlich
verstärkte Präsenz auch sichtbare Fortschritte bei der
Stabilisierung der Lage in Darfur mit sich bringen wird.
Eine Alternative sehe ich jedenfalls derzeit kaum.
Wir Deutsche nehmen zu Recht an beiden Missionen
teil und tragen dazu bei, den Frieden in dieser Region zu
konsolidieren. Neben finanzieller Hilfe zur Selbsthilfe,
wie etwa der Förderung von Ausbildungs- und Wieder-
aufbauprojekten, beteiligen wir uns auch an der Ausbil-
dung von Polizeikräften anderer afrikanischer Staaten,
um deren Einsätze, zum Beispiel bei UNAMID, zu pro-
fessionalisieren.
Bei UNMIS gehört Deutschland zu den größten Trup-
penstellern aus der Europäischen Union. Wir stellen ne-
ben militärischen Einsatzkräften auch Polizeivollzugsbe-
amte, die ebenfalls hauptsächlich Hilfe zur Selbsthilfe
geben, indem sie lokalen Polizisten ausbildend und
beratend zur Seite stehen. Überdies versuchen wir, mit
finanziellen und diplomatischen Mitteln die Vermitt-
lungsbemühungen der Vereinten Nationen und der Afri-
kanischen Union zu unterstützen und zu flankieren. Ich
halte diesen Dreiklang aus militärischer, ziviler und fi-
nanzieller Unterstützung für ausgesprochen wichtig.
Keine dieser Einzelmaßnahmen wird für sich allein ge-
nommen eine substanzielle Verbesserung der Lage vor
Ort bewirken. Dies haben wir bei anderen Missionen,
beispielsweise im Irak, schmerzlich erfahren. Dennoch
müssen wir uns auch fragen, ob wir, die UN, die EU oder
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25417
(A) (C)
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auch wir Deutsche genug tun oder ob wir angesichts des
großen Elends der Menschen, vor allem in Darfur, noch
mehr tun können. Sieht man von der kurzfristigen Not-
wendigkeit einmal ab, im Sudan für Ruhe und Frieden
zu sorgen, frage ich mich aber auch, was aus diesem
Land nach dem für 2011 angesetzten Referendum wer-
den soll. Was würde eine Abspaltung des Südsudan für
den Rest des Landes und vor allem für die Region be-
deuten? Hier droht eine völlige politische Instabilität, die
auch auf die Nachbarstaaten übergreifen könnte. Haben
wir die strategische Problematik dieser Frage überhaupt
in ihrer vollen Komplexität verstanden?
Neben unserer konkreten Hilfe vor Ort müssen wir
uns gleichzeitig wesentlich stärker um präventive Hilfe
für die gesamte Region kümmern. Was nützt es denn,
wenn wir einige wenige Landstriche tatsächlich befrie-
den können, wenn ringsherum von Stabilität keine Rede
sein kann. Wir müssen versuchen, den Menschen Per-
spektiven aufzuzeigen, die ihnen einen Ausweg aus dem
Teufelskreis von Krieg, Vertreibung, Hunger und Elend
eröffnen. Nicht von ungefähr konnte der internationale
Terrorismus auch in dieser Region der Erde an Boden
gewinnen. Nicht umsonst existiert das Phänomen der
neuen Piraterie vornehmlich in den Gewässern dieser
Region. Auch Bürgerkriege sind in dieser Gegend der
Welt keineswegs selten. Dies alles hat Ursachen, deren
Bekämpfung wir uns insgesamt stellen müssen. Das ist
besser, als nur jeweils die Brandherde zu löschen.
Damit dies jedoch zuerst einmal geschehen kann, ist
es richtig, die beiden Missionen UNMIS und UNAMID
im Interesse der Menschen zu verlängern bzw. die Betei-
ligung Deutschlands daran für ein weiteres Jahr sicher-
zustellen. Hierfür möchte ich im Namen meiner Fraktion
werben.
Brunhilde Irber (SPD): Etwas mehr als drei Monate
ist es her, da überschlugen sich die Ereignisse im Sudan,
zumindest in den Medien. Auf Betreiben des Chefanklä-
gers Luis Moreno-Ocampo erließ der Internationale
Strafgerichtshof Haftbefehl gegen den sudanesischen
Präsidenten Omar al-Bashir wegen Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Al-Bashir re-
agierte prompt: Er erklärte den Haftbefehl zu einer Ver-
schwörung des Westens und warf 13 ausländische
Hilfsorganisationen aus dem Land. Mehreren sudanesi-
schen NROs wurde der Zugang zur Krisenregion Darfur
verwehrt. Im Anschluss daran kündigte er an, seine Re-
gierung werde sich selbst um die Versorgung der Flücht-
linge kümmern. Danach verschwanden Darfur und der
Fall al-Bashir aus dem öffentlichen Blickfeld.
Wie aber sieht es aktuell im Sudan aus? Zuerst zur
Lage der Flüchtlinge: Ein Teil der Nothilfe, die zuvor
von Organisationen wie Oxfam, CARE oder Save the
Children geleistet worden ist, wird nun mit denselben lo-
kalen Mitarbeitern unter dem Schirm der UN weiterge-
führt. Nach den Berichten internationaler Beobachter ist
die Nahrungsmittelversorgung der Flüchtlinge in Darfur
damit weiterhin gewährleistet. Verschlechtert hat sich al-
lerdings die Menschenrechtssituation.
Wie steht es um UNAMID, die gemeinsame Mission
der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen?
Ende April waren rund 15 700 Soldaten und Polizisten
im Einsatz. Damit bleibt UNAMID auch weiterhin hin-
ter der ursprünglich vorgesehenen Mannschaftsstärke
von 26 000 Einsatzkräften zurück. Doch sollten wir bei
aller Kritik nicht aus den Augen verlieren, dass
UNAMID mit fast 16 000 Einsatzkräften eine der größ-
ten humanitären Missionen überhaupt ist. Die Einsatz-
kräfte trugen dazu bei, dass die humanitäre Situation in
den letzten Monaten stabil geblieben ist.
Auch gibt es einige positive Signale beim Aufbau der
Mission, die gerne übersehen werden. So hat sich die
Zusammenarbeit zwischen der Afrikanischer Union und
den Vereinten Nationen einerseits und der sudanesischen
Regierung andererseits in den letzten Monaten verbes-
sert. Im Rahmen des im Dezember 2008 gebildeten
Dreiparteienausschusses gelang es, die Widerstände der
Regierung al-Bashir gegen UNAMID teilweise abzufe-
dern. Mithilfe des Dreiparteienausschusses kann Ver-
ständigung in zahlreichen praktischen Fragen erzielt
werden. Zu diesen praktischen Fragen gehören zum Bei-
spiel die Visavergabe, Überfluggenehmigungen und
Waffeneinfuhr, die in der Vergangenheit immer wieder
zu massiven Verzögerungen beim Aufwuchs der Mission
geführt haben.
Auch die Koordination der in Darfur engagierten
Staaten hat sich verbessert. So haben sich bei den Ver-
einten Nationen in New York wichtige Staaten, darunter
Deutschland, zu einer „Freundesgruppe“ zusammenge-
schlossen. Gemeinsames Ziel der „Freundesgruppe“ ist
es, Wege zu finden, den Aufwuchs der Mission zu unter-
stützen.
Parallel zu diesen politisch-administrativen Fort-
schritten konnte die Logistik der Vereinten Nationen vor
Ort verbessert werden. Auch das Engagement verschie-
dener internationaler Geber, darunter auch Deutschland,
bei der Ausbildung und Ausstattung der afrikanischen
Kontingente trägt allmählich Früchte. Zahlreiche afri-
kanische Einheiten konnten nach Abschluss ihrer Aus-
bildung endlich ins Einsatzgebiet verlegt werden.
Deutschland leistet dabei über die Entsendung von Lo-
gistikexperten der Bundeswehr hinaus einen wichtigen
Beitrag. Das Auswärtige Amt stattete einen geschlosse-
nen Polizeiverband aus Senegal mit dem notwendigen
Material aus, um eine Verlegung nach Darfur zu ermög-
lichen. Ausrüstungsgegenstände im Wert von circa
3,5 Millionen Euro werden dafür nach Senegal gesandt.
Das THW unterweist die senegalesische Polizei in der
Anwendung des Materials.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung am Kofi
Annan International Peacekeeping Centre in Ghana spe-
zielle Ausbildungs- und Vorbereitungsunterstützung für
afrikanische Polizisten geleistet. Neben der Übernahme
der Kosten sind dafür drei Ausbilder entsandt worden.
Um die Versorgung der Bevölkerung in Darfur und im
benachbarten Tschad zu sichern, hat Deutschland die
Darfur-Flüchtlinge zu einem Schwerpunkt seiner Not-
und Übergangshilfe gemacht. Für die Flüchtlinge, die
auf beiden Seiten der tschadisch-sudanesischen Grenze
25418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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leben, sind allein in diesem Jahr Unterstützungsleistun-
gen in Höhe von rund 20 Millionen Euro vorgesehen.
Frieden in Darfur ist nur möglich, wenn eine politi-
sche Lösung der Probleme des Vielvölkerstaats Sudan
gefunden wird. Dieses Ziel werden wir mit UNAMID
allein nicht erreichen. Deshalb haben wir unser Engage-
ment für UNAMID in einen größeren, politisch-
diplomatischen Rahmen eingebunden. So unterstützt
Deutschland die Vermittlungsbemühungen der Afrikani-
schen Union und der Vereinten Nationen finanziell und
politisch, zum Beispiel über einen Beitrag zum Darfur
Community Peace Stability Fund der Vereinten Natio-
nen.
Vor allem aber engagieren wir uns für die friedliche
Beilegung des alten Nord-Süd-Konfliktes, der den Su-
dan seit seiner Unabhängigkeit einen fast ununterbroche-
nen Bürgerkrieg beschert hat. Zentrale Bedeutung für
die friedliche Bewältigung dieser Auseinandersetzung
kommt UNMIS zu. Hauptaufgabe der Mission ist die
Umsetzung des 2005 zwischen Norden und Süden
geschlossenen Umfassenden Friedensabkommens.
Beide Regierungen, sowohl die nordsudanesische unter
al-Bashir als auch die südsudanesische Autonomieregie-
rung von Salva Kiir, bekennen sich zu diesem Abkom-
men.
Trotzdem hat sich die Aussicht auf eine baldige fried-
liche Regelung des Nord-Süd-Konfliktes in den letzten
Monaten massiv verschlechtert. Die Wahlkommission
des Landes stellte im letzten Monat eine erneute Ver-
schiebung der ursprünglich für Juli vorgesehenen freien
Wahlen in Aussicht. Die Wahlen, wesentlicher Teil des
Friedensabkommens von 2005, wurden schon einmal
auf Februar 2010 verschoben. Wahrscheinlich ist April
2010 oder nach der Regenzeit in der zweiten Jahres-
hälfte. Damit gerät der gesamte Zeitplan für Sudans Zu-
kunft ins Rutschen.
Stein des Anstoßes sind die Ergebnisse der Volkszäh-
lung, die vor einigen Wochen veröffentlicht wurden.
Demnach hat Sudan insgesamt knapp 40 Millionen Ein-
wohner. Davon leben 31 Millionen im Nordteil und nur
8 Millionen, also knapp über ein Fünftel, im Süden. Das
Friedensabkommen von 2005 wurde aber unter der An-
nahme geschlossen, dass Südsudan ein Drittel der Lan-
desbevölkerung stellt. Auf dieser Grundlage wurden so-
wohl die Einnahmen aus dem Erdölexport als auch die
Regierungs- und Parlamentsposten aufgeteilt. Diese für
den Süden sehr günstige Aufteilung steht nun zur Dispo-
sition.
Salva Kiir, Präsident der Autonomieregierung im Sü-
den, hat die Zensusergebnisse daher auch nicht aner-
kannt. Denn das Ergebnis gefährdet nicht nur die Ein-
nahmen des Südsudan, sondern auch sein Streben nach
Unabhängigkeit. Der Grund dafür ist folgender: Wenn
die Wählerlisten auf Grundlage der neuen Volkszählung
erstellt werden und der Süden nur ein Fünftel der Wähler
stellt statt ein Drittel, kann die Regierung Salva Kiir
nicht mehr verhindern, dass ihre Gegner im Norden per
Dreiviertelmehrheit im Parlament die Verfassung ändern
und das geplante Unabhängigkeitsreferendum im Süden
aushebeln.
Schwindende Einnahmen aus dem Erdöl, wichtigster
Devisenbringer des Sudans, belasten die Lage zusätz-
lich. Wegen des vergleichsweise niedrigen Ölpreises in
den letzten Monaten fielen die Öleinnahmen von
608 Millionen Dollar im Oktober 2008 auf 159 Millio-
nen im April 2009. Diese finanzielle Misere schwächt
die Regierung und fördert die Zersplitterung der ehema-
ligen Rebellenbewegung. Das Wiederaufflackern von
Kämpfen in der Region hat dies leider bestätigt.
Einziger Lichtblick in dieser insgesamt düsteren Ent-
wicklung ist UNMIS. UNMIS hat seit Missionsbeginn
im Jahre 2005 wichtige Erfolge erzielt und ist die einzige
Kraft im Süden des Landes, welche die zunehmend fra-
gile Situation stabilisieren kann. UNMIS steht dabei vor
großen Herausforderungen.
Für eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen
2010 und des Referendums über die Unabhängigkeit des
Südens im Jahre 2011 müssen sich Nord- und Südsudan
noch in wesentlichen Fragen verständigen. Dies betrifft
zum Beispiel die Grenzziehung zwischen Nord- und
Südsudan, die Aufteilung von Ressourcen und den Sta-
tus der ölreichen Region um Abyei. UNMIS spielt eine
wichtige Rolle, um die Parteien bei der Lösung dieser
Fragen zu unterstützen, und bleibt als stabilisierendes
Element im Sudan deshalb bis auf Weiteres unverzicht-
bar.
Die Anwesenheit der Soldaten und Polizisten von
UNMIS macht es erst möglich, dass unsere humanitäre
Hilfe für die Menschen überhaupt ankommt. Mit unse-
rem militärischen und polizeilichen Beitrag zu UNMIS
sorgen wir dafür, dass unsere Unterstützung für das Pro-
gramm zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reinte-
gration von ehemaligen Kombattanten überhaupt erfol-
gen kann. Auch unsere Unterstützung der
Verwaltungsreform und Dezentralisierung sowie des
städtischen Wassersektors im Südsudan wäre ohne UN-
MIS nicht denkbar. Unsere Beteiligung am internationa-
len Multi Donor Trust Fund zum Aufbau des Südsudan
würde ohne UNMIS ins Leere laufen.
Trotz aller Kritik, die auch in den Medien immer wie-
der an UNMIS und vor allem UNAMID laut wurde, bitte
ich Sie zu bedenken, dass beide Missionen durch ihre
Patrouillen und ihre Präsenz zu einer Verbesserung der
humanitären Lage in Darfur und im Südsudan beigetra-
gen haben. UNAMID und UNMIS sind keine Bilder-
buchmissionen; das wissen wir alle. Doch zur Absiche-
rung der Flüchtlinge in Darfur und zur Begleitung des
Friedensprozesses zwischen Nord- und Südsudan sind
die Missionen ohne Alternative. Ich bitte Sie daher, für
die Verlängerung der beiden Mandate zu stimmen.
Darüber hinaus fordere ich die Bundesregierung auf,
die deutsche Beteiligung an beiden Missionen zu erhö-
hen. Um eine effektive Arbeit vor dem Hintergrund der
wachsenden Herausforderungen zu gewährleisten,
braucht es einen substanziellen deutschen Beitrag. Wich-
tig ist dabei, dass wir uns auch stärker als bisher beim
Staatsaufbau im Südsudan engagieren. Wenn wir ernst-
haft wollen, dass die südsudanesische Regierung mit den
bestehenden und kommenden Herausforderungen ir-
gendwann einmal selbstständig fertig wird, dann müssen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25419
(A) (C)
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wir die Ausbildung und Ausrüstung der staatlichen Stel-
len verbessern.
Zu guter Letzt möchte ich die Bundesregierung bitten,
die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Nordsudan
wieder aufzunehmen. Die Menschen im Nordsudan soll-
ten nicht für die Fehler ihrer Führung verantwortlich ge-
macht werden. Gerade deshalb möchte ich den Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern der Hilfsorganisationen
danken, die noch immer im Nordsudan tätig sind und un-
ter schwierigsten Bedingungen den Menschen vor Ort
helfen. Ihnen gebühren unsere Hochachtung und unsere
Unterstützung, damit sie auch in Zukunft ihre Arbeit
fortführen können, von der in unserer vernetzten Welt
letztlich auch wir hier in Deutschland profitieren.
Ursula Mogg (SPD): Die gute Nachricht ist: Es gibt
Hinweise auf positive Entwicklungsmomente in Darfur
und auch im südlichen Sudan. So vorsichtig wird man es
ausdrücken müssen, ohne die kleinen Fortschritte zu
ignorieren, zu denen auch der vergleichsweise wenig
aufwendige und wenig personalintensive Einsatz deut-
scher Soldaten und Polizisten seinen Teil beigetragen
hat.
Das Thema Darfur hat in den zurückliegenden Mona-
ten an öffentlicher Aufmerksamkeit stark eingebüßt.
Sachliche Gründe in nennenswertem Umfang gibt es da-
für aber nicht. Nach wie vor werden Menschen vertrie-
ben, verfolgt, verletzt, verstümmelt und ermordet. Nach
wie vor vermag ich keine wirksamen Bemühungen der
sudanesischen Regierung zu erkennen, diesem un-
menschlichen Treiben Einhalt zu gebieten. Wir wün-
schen uns in diesem Kontext, dass die symbolische Wir-
kung unseres Engagements im Rahmen von UNMIS und
UNAMID Mut macht. Dies gilt nicht zuletzt für die Un-
terstützung durch logistische Hilfe und durch Ausbil-
dungsangebote, die wir für die afrikanischen Partnerlän-
der bereitstellen. Die humanitäre Situation gibt speziell
im Zusammenhang des Darfur-Konflikts keinen Anlass
zur Beruhigung. Nach wie vor erleben wir das Elend der
großen Flüchtlingsbewegungen, die zu großen Teilen im
Tschad ein deprimierendes Dasein in ihren Lagern fris-
ten. Aus diesem Grund leistet Deutschland ein Vielfa-
ches der Hilfe, die wir im Rahmen von UNAMID und
UNMIS leisten, als entwicklungsorientierte und humani-
täre Unterstützung für diese Menschen.
Ich habe die Hoffnung, dass auch der vor gut drei Mo-
naten erlassene Haftbefehl des Internationalen Strafge-
richtshofs in Den Haag gegen den sudanesischen Staats-
präsidenten Omar al-Bashir wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen Wirkung zeigen
wird. Die sudanesische Regierung muss endlich geeig-
nete und wirksame Maßnahmen ergreifen, um ihrer Ver-
pflichtung gerecht zu werden, die sie gegenüber den
Menschen in ihrem Herrschaftsbereich und auch gegen-
über denen, die unter ihren Augen von dort vertrieben
worden sind, hat.
Die Vereinten Nationen haben, wie ich den Anträgen
der Bundesregierung entnehme, bereits die Absicht einer
Verlängerung mindestens von UNMIS auch über den
April 2010 hinaus angedeutet. Mit einer Verlängerung
des UNAMID-Mandats der UN über den Juli 2009 hi-
naus wird ebenfalls fest gerechnet. Es steht außer Frage,
dass angesichts der Schwierigkeit, hier humanitäre Fort-
schritte zu erzielen, nur eine dauerhafte Perspektive
spürbare und dann auch nachhaltige Auswirkungen ha-
ben wird.
Die Unterstützung des Deutschen Bundestages für die
Fortsetzung dieser Mandate ist – gegenüber den beteilig-
ten Parteien und Regierungen in der Region, aber auch
gegenüber der Weltöffentlichkeit – ein Bekenntnis gegen
die krassen Menschenrechtsverletzungen, die wir im
Kontext der beiden Konflikte nach wie vor zur Kenntnis
nehmen müssen.
Erlauben Sie mir diese persönliche Wertung: Die Ver-
längerung dieser Mandate und ihre grundsätzliche Billi-
gung ist das Mindeste, was wir den Werten unserer Zivi-
lisation und den Menschenrechten im Besonderen
schuldig sind. Es ist gut und richtig, dass die Länder der
Afrikanischen Union zur Beendigung der Konflikte im
Sudan Verantwortung übernehmen. Ebenso richtig ist es
aber auch, dass wir sie dabei nach bestem Vermögen un-
terstützen. Aus diesem Grund bitte ich um Ihre Zustim-
mung für die Verlängerung der beiden Mandate.
Marina Schuster (FDP): Präsident Obama hat in
seiner Kairoer Rede vieles angesprochen. Ich habe vor
allem einen Punkt in Erinnerung behalten: seinen Appell
an die Verantwortung eines jeden Individuums, nicht
wegzuschauen, wenn Unschuldige ermordet werden.
Dieser Aufruf zielte explizit auf den Sudan, auf Darfur.
Die Lage im Sudan stand bereits im Mittelpunkt einer
meiner ersten Reden in diesem Haus. Zum Ende der Le-
gislaturperiode stelle ich fest, dass sich seitdem nicht
viel geändert hat. Das ist frustrierend.
Präsident al-Bashir sitzt immer noch fest im Sattel
und setzt sein teuflisches Katz-und-Maus-Spiel fort. Er
ignoriert mit geschwellter Brust den Haftbefehl des
Internationalen Strafgerichtshofs und wird dafür von sei-
nen arabischen und afrikanischen Partnern auch noch be-
jubelt. Er behindert das Voranschreiten der Friedens-
initiativen und fast nebenbei auch die Versorgung von
Hunderttausenden Flüchtlingen. Er schiebt die eigentlich
für dieses Jahr geplanten Wahlen hinaus und riskiert da-
mit einen erneuten Krieg im Süden des Landes. Doch
auch die meisten Rebellen scheinen kein Interesse an
langfristigen Friedenslösungen zu haben, sowohl im
Norden, als auch im Süden. Sie haben ihre eigene
Agenda und ihre eigenen Interessen.
Gerade weil Verantwortung für viele Akteure im Su-
dan ein Fremdwort ist, muss diese Vokabel unser Han-
deln um so deutlicher bestimmen. Das bedeutet, wir
müssen einsehen, dass die Situation im Südsudan nicht
losgelöst von der Lage in Darfur betrachtet werden kann
und UNMIS somit nicht losgelöst von UNAMID. Beide
Missionen sind ein unverzichtbarer Bestandteil unseres
Beitrags für den Schutz der Zivilisten und die politische
Flankierung der bestehenden Friedensabkommen.
Ich habe die Soldaten, die dort ihren Dienst leisten,
im Einsatz besucht. Ohne Zweifel, die Bundeswehr leis-
25420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
tet eine gute und wertvolle Arbeit trotz der unglaublich
schwierigen Bedingungen vor Ort. Die Beteiligung an
den Missionen ist Teil unserer Verantwortung. Die FDP-
Bundestagsfraktion spricht sich somit für eine Verlänge-
rung der Dauer der beiden Mandate aus – überzeugt von
der Notwendigkeit unseres Eingreifens und in vollem
Respekt vor den Leistungen unserer Soldaten.
Unsere Zustimmung bedeutet aber kein einfaches Ab-
nicken. Als Abgeordnete bin auch ich verpflichtet, genau
hinzuschauen, immer wieder nachzufragen, auf Defizite
hinzuweisen und dabei nicht lockerzulassen. Genau
diese Hartnäckigkeit an der Sache vermisse ich bei der
Bundesregierung. Sehr geehrter Herr Außenminister, wir
verlangen von Ihnen keine Wunder. Wir verlangen von
Ihnen, dass Sie die Lösung der sudanesischen Agonie in
ihrem politischen Handeln angemessen berücksichtigen.
Und erlauben Sie mir die Bemerkung: Es wird dem Leid
der Sudanesen und dem Engagement unserer Soldaten
nicht gerecht, wenn wir hier im Morgengrauen über den
Sudan diskutieren.
Aber nun zu UNAMID: Zwei Jahre nach der Entsen-
dung ist die Mission in vielerlei Hinsicht noch immer
hoffnungslos unterversorgt. Wir alle wissen: Von
30 000 geplanten sind bislang nur 19 000 vor Ort. Ich er-
innere daran: Dieses Haus hat im letzten September die
Entsendung von bis zu zehn Polizeivollzugsbeamten so-
wie von bis zu 250 Soldaten beschlossen. Ein einziger
deutscher Soldat und gerade einmal sieben Polizisten
sind vor Ort. Noch schlimmer: Nach wie vor fehlen die
dringend benötigten Helikopter. Ein Armutszeugnis für
die Vereinten Nationen!
Zu UNMIS: Die Blauhelme sind ein wichtiger Stabi-
litätsfaktor zur Sicherung des Friedensabkommens von
2005. Doch auch hier zeigt sich: Die operativen Missio-
nen machen nur Sinn, wenn sie durch eine bestimmte
und international abgestimmte politische Dimension er-
gänzt werden. Das hat mir kürzlich auch Rainer Eberle
bestätigt, der deutsche Botschafter im Sudan.
UNAMID kann helfen, den Frieden in Darfur zu si-
chern. Um ihn zu erreichen, brauchen wir Diplomaten.
Die Blauhelme schauen in diesen Tagen dem Vorrücken
der JEM-Milizen nur zu. Al-Bashir muss aber auf diplo-
matischem Wege zum Einlenken überzeugt werden.
Und wir dürfen trotz der Aufmerksamkeit für Darfur
die Konflikte im Süden des Landes nicht vergessen.
UNMIS kann helfen, die so wichtigen Wahlen vorzube-
reiten. Doch al-Bashir muss politischen Druck von au-
ßen spüren, um es erst einmal soweit kommen zu lassen.
Die gesamtsudanesischen Wahlen und das Referen-
dum zur möglichen Unabhängigkeit des Südsudan ste-
hen noch aus. Viele kritische Fragen bleiben weiter offen
wie auch der Status der ölreichen Provinz Abyei.
Ich kann die Bundesregierung an dieser Stelle nur er-
mahnen. Natürlich ist Deutschland kein Topplayer in der
internationalen Sudanpolitik, aber eben auch kein
Zwerg. Die Bundesregierung hat gute Kontakte zu den
maßgeblichen Spielern. So etwa nach Washington. Also
prüfen und unterstützen Sie die ersten Schritte der neuen
Regierung und die Arbeit des Sonderbeauftragten
Gration! Nutzen Sie ihre Kontakte nach Peking! Und ich
frage Sie: Haben Sie den letzten strategischen Dialog mit
China genutzt, um eine konstruktivere Sudan-Politik
einzufordern?
Wenn sich die sudanesische Regierung einem politi-
schen Dialog weiter verweigert, muss die Staatenge-
meinschaft auch über neue Sanktionen gegenüber der
Khartumer Regierung nachdenken. Denn das Katz-und-
Maus-Spiel darf nicht auf dem Rücken der Bevölkerung
ausgetragen werden. Aber gibt es hier Fortschritte? In
den Antworten der Bundesregierung auf meine jüngste
Anfrage habe ich sie nicht erkennen können. Sie scheint
zu warten. Aber auf was?
Al-Bashir muss endlich spüren, dass er die internatio-
nale Gemeinschaft nicht länger teilen oder gegeneinan-
der ausspielen kann. Ich fordere die Bundesregierung
auf, ihre Verantwortung ernster zu nehmen. Das heißt
nicht weg-, sondern hinschauen, nicht ducken, sondern
handeln und vor allem einen langen Atem zeigen. Denn
eines dürfen wir nicht zulassen: dass die Glaubwürdig-
keit der Vereinten Nationen untergraben wird.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Leider diskutieren wir
hier im Bundestag fast immer nur im Zusammenhang
mit Militärmissionen über den Sudan. Friedensinitiati-
ven standen hier noch nie zur Diskussion. Allein die
Linke hat in einem Antrag vor zwei Jahren Vorschläge
für eine aktive Friedensdiplomatie und zur Bekämpfung
der sozialen Konfliktursachen eingebracht. Diese Debat-
ten sollten wir viel stärker führen.
Der Sudan droht auseinanderzubrechen. Sollte es so
weit kommen, wird es noch mehr Gewalt geben, noch
mehr Tote, noch mehr soziales Elend – und noch mehr
Bedrohung auch für die fragilen Staaten in der Nachbar-
schaft. Deshalb braucht der Sudan vordringlich eine
breit angelegte Friedensinitiative, die alle Akteure – zi-
vilgesellschaftliche und bewaffnete Gruppen – mit ein-
schließt. Die internationale Gemeinschaft muss eine
breit angelegte Friedensdiplomatie in Gang bringen, um
einen solchen Prozess zu unterstützen.
Die Ressourcen werden aber völlig falsch eingesetzt.
UNAMID und UNMIS kosten jährlich zweieinhalb Mil-
liarden US-Dollar. Zur Lösung der politischen und
sozialen Konflikte im Sudan haben sie erwartungsgemäß
nichts beigetragen.
Die Situation der Menschen in Darfur ist so hoff-
nungslos wie zuvor. Die UNAMID überwacht dort die
Umsetzung eines Friedensabkommens, das nur auf dem
Papier existiert, während sich die Zahl der Gewalt-
akteure vervielfacht hat. Die Versorgung der Millionen
Menschen in den Flüchtlingslagern mit dem Lebensnot-
wendigen ist durch die Ausweisung etlicher Hilfsorgani-
sationen noch schwieriger geworden.
Die Nachricht über den Angriff auf einen UN-Frach-
ter mit Hilfsgütern im Südsudan hat uns verdeutlicht,
dass auch der Süden des Sudan – trotz des Abkommens
von 2005 – von einer nachhaltigen Friedensordnung weit
entfernt ist. Zuletzt kamen über tausend Menschen bei
Kämpfen zwischen rivalisierenden Milizen ums Leben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25421
(A) (C)
(B) (D)
Soziale Konflikte, etwa um Landverteilung, werden
auch im Südsudan zunehmend ethnisiert und von lokalen
Eliten instrumentalisiert, während riesige Nutzflächen
im Sudan internationalen Investoren zum Kauf bzw. zur
Pacht angeboten und die Konflikte so potenziell weiter
verstärkt werden.
Ich wünsche mir, dass wir im Bundestag viel öfter
darüber diskutieren, wie wir all diesen Herausforderun-
gen begegnen, wie wir die Menschen im Sudan dabei
unterstützen können, selbstbestimmt einen friedlichen
– gemeinsamen – Weg zu gehen.
Es muss eine Perspektive für den gesamten Sudan
entwickelt werden. Diese Perspektive kann nur aus der
sudanesischen Gesellschaft selbst entstehen und er-
kämpft werden. Die internationale Gemeinschaft sollte
aber solche Prozesse unterstützen und Foren bereitstel-
len. Wichtig ist: Sie muss dabei als unparteiischer Ak-
teur auftreten.
Wir unterstützen die Forderung sudanesischer Exper-
tinnen und Experten sowie zivilgesellschaftlicher Grup-
pen nach einer nationalen Friedenskonferenz unter Ein-
beziehung aller Akteure: sudanesische Regierung,
Milizenführer, lokale Politikerinnen und Politiker, Stam-
mesführer und religiöse Führer, Nichtregierungsorgani-
sationen, Frauenorganisationen usw.
Waffenstillstands- und Friedensgespräche müssen auf
allen Ebenen gefördert und unterstützt werden. Diplo-
matischer Druck auf die Beteiligten muss entwickelt
werden, um bereits vorhandene Ansätze und Initiativen
voranzutreiben. Ich beziehe mich dabei zum Beispiel auf
die Verhandlungen auf Initiative von Katar, die seit März
auf Eis liegen, oder auf die zivilgesellschaftliche Initia-
tive, die – von UN und AU unterstützt – im letzten
Monat in Äthiopien Vertreterinnen und Vertreter der su-
danesischen Zivilgesellschaft mit Vertreterinnen und
Vertretern der Regierung zusammenbringen wollte und
von der sudanesischen Regierung boykottiert wurde.
In diesem Zusammenhang kritisiert die Linke, dass
der Auslieferungsbefehl des Internationalen Strafge-
richtshofs gegen den Präsidenten al-Bashir kein Beitrag
zur Verbesserung der schlimmen Menschenrechtslage im
Sudan, sondern im Gegenteil kontraproduktiv war und
der Regierung einen Vorwand zum Boykott von Frie-
densverhandlungen an die Hand gegeben hat.
Die Linke fordert, dass die internationale Gemein-
schaft sich stärker der Bekämpfung der sozialen und
wirtschaftlichen Konfliktursachen zuwendet. Es stün-
den ausreichend Mittel zur Verfügung, die – auf sinn-
volle Weise in die zivile Entwicklung im Darfur und
Südsudan investiert – zur Entschärfung der Konflikte
dort beitragen könnten. Die Linke fordert zivile Entwaff-
nungsinitiativen, die von umfassenden Sozialprogram-
men in den Konfliktregionen unterstützt werden.
Die Konflikte im Sudan haben auch eine internatio-
nale Dimension. In eine dauerhafte Friedenslösung müs-
sen auch die Nachbarstaaten wie Tschad, Äthiopien,
Eritrea, die Zentralafrikanische Republik eingebunden
werden, ebenso internationale Akteure, die im Sudan
auftreten, etwa die Arabische Liga oder China. Die
Linke fordert außerdem ein striktes Waffenembargo –
nicht nur für den Sudan, sondern für die ganze Region.
Ich hoffe, dass wir in der nächsten Legislatur dazu
kommen werden, nicht immer nur über Ja oder Nein zu
Militäreinsätzen zu debattieren, sondern darüber, wie
wir zu einer dauerhaft friedlichen und sozial gerechten
Entwicklung in der Region beitragen können. Mit
UNMIS und UNAMID wird uns das nicht gelingen.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Am kommenden Samstag ist Weltflüchtlingstag.
Gerade angesichts dessen möchte ich noch einmal an
die Menschenrechtsverbrechen in Sudan/Darfur erin-
nern: 2,7 Millionen Menschen auf der Flucht und
300 000 Tote. Auch im Südsudan erleben wir wieder zu-
nehmende Gewalt, trotz des Umfassenden Friedensab-
kommens CPA.
In Darfur sterben die Menschen in den Kämpfen zwi-
schen der sudanesischen Armee und den Rebellen des
JEM, werden misshandelt und vergewaltigt. Sie drohen
zu verhungern, vor allem nach dem Rauswurf internatio-
naler Helfer durch den sudanesischen Präsidenten Omar
al-Bashir.
Auch im Südsudan eskaliert die Lage zurzeit wieder.
Allein in den Kämpfen im Mai zwischen Soldaten des
Nordens und Südens und zwischen verschiedenen Stäm-
men gab es 1 200 Tote. Die Zahl der Binnenflüchtlinge
ist um 20 000 auf 132 000 hochgeschnellt. Versorgungs-
schiffe sind von bewaffneten Gruppen geplündert wor-
den. Nahrungsengpässe in bestimmten Regionen heizen
ethnische Spannungen weiter an.
Leider haben weder UNAMID noch UNMIS an die-
sen Entwicklungen bislang etwas ändern können. Um es
klar zu sagen: UNAMID und UNMIS sind keine falsche
Antwort, sie sind nur keine ausreichende Antwort, um
Frieden im Sudan zu schaffen. Was fehlt ist noch immer
eine angemessene Umsetzung des erforderlichen Drei-
klangs aus wirksamer Friedensmission, nachhaltigem
Friedensengagement und Gerechtigkeit für die Opfer.
UNAMID kann die Menschen in Darfur nicht hinrei-
chend schützen, weil sie auch nach eineinhalb Jahren
erst zu zwei Dritteln steht und die Staatengemeinschaft
noch immer keine 18 Hubschrauber auftreiben kann. Die
Bundesregierung schafft es aktuell gerade einmal, zwei
von 250 lange zugesagten Soldaten zu entsenden.
Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diesen Stillstand, lö-
sen Sie ihre Zusagen ein. Wozu sitzen Sie denn sonst in
der sogenannten Freundesgruppe zur Unterstützung des
Aufbaus der UNAMID? Setzen Sie sich auch für den
freien Zugang humanitärer Hilfsorganisationen ein, da-
mit Sie den Menschen im Land wieder helfen können.
UNMIS hat mit der Ausstattung einer Beobachtermis-
sion der erneuten Gewaltwelle im Südsudan wenig ent-
gegenzusetzen. So weit hätte es aber nicht kommen
müssen, wenn die Fähigkeit der Mission zur Konflikt-
verhütung gezielter gestärkt worden wäre, etwa durch
mehr Polizei an den Brennpunkten. Noch ist es nicht zu
spät. Deutschland sollte sein Engagement jetzt in diese
Richtung ausbauen.
25422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Soldaten können keinen Frieden machen; das müssen
die Menschen vor Ort mit tatkräftiger Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft machen. Verstecken Sie
sich nicht hinter der Entsendung von Soldaten. Was wir
mehr denn je brauchen, sind kraftvolle und konzertierte
neue Friedensinitiativen und kein starres Festhalten an
einem Darfur-Friedensabkommen, das keiner mehr ak-
zeptiert. Noch immer stecken die Darfur-Friedensge-
spräche fest. Trotz der Vermittlungsmission von AU und
UNO und der Absichtserklärung von Doha verhandeln
al-Bashir und die JEM nicht weiter. Stattdessen verhängt
al-Bashir Todesurteile gegen Gefangene der JEM, ver-
stößt mit dem Rauswurf humanitärer NGOs explizit ge-
gen die Doha-Erklärung. JEM weigert sich unter diesen
Umständen, einen Waffenstillstand zu verhandeln, und
kämpft weiter. Gleichzeitig haben die Spannungen zwi-
schen Sudan und Tschad durch gegenseitige Bombarde-
ments einen neuen Höhepunkt erreicht.
Alle Hoffnungen klammern sich jetzt an das CPA von
2005. Es ist letztlich auch die Grundlage für Frieden in
Darfur. Doch dem CPA droht jetzt auch der Kollaps. Die
vorgesehen Wahlen und das Referendum 2011 zum Ver-
bleib des Südsudan werden immer fraglicher. Die Wäh-
lerregistrierung und Festlegung der Wahlkreise sind we-
gen offener Grenzfragen wie um Abyei weiter ungeklärt,
Presse- und Meinungsfreiheit fehlen, die Opposition hat
kaum Handlungsspielraum. Die SPLM hält die jüngste
Volkszählung für gefälscht, droht mit Wahlboykott und
wirft al-Bashir eine Zersetzung des Südsudan vor. Auch
sie selbst ist immer tiefer gespalten. Eine erste Gegen-
partei hat sich bereits formiert.
Sollten die Wahlen von den Parteien, der NCP und
SPLM, verschoben werden, was sich im Moment ab-
zeichnet, dann könnte eine gewaltige Rebellion im ge-
samten Sudan drohen mit verheerenden Folgen für die
Menschen, die regionale Stabilität und damit auch für
Europa. Wir müssen alles tun, um das zu verhindern.
Der aktuelle Rettungsversuch des CPA durch die Re-
gierung Obama ist deshalb umso wichtiger. Sie sollten
die neuen Gespräche am 23. Juni in Washington aktiv
unterstützen. Sie sollten aber auch zügig ihre Wahlhilfe
konkretisieren und die unabhängige Presse wirksamer
fördern. Immerhin war Deutschland 2005 Garantiemacht
des CPA. NCP und SPLM müssen endlich auch über
Darfur, also Sudan als Ganzes, reden und über das Ver-
hältnis zum Tschad.
Frieden und Aussöhnung im Sudan wird es nicht ohne
Gerechtigkeit für die Opfer geben. Aber noch immer
versucht das Regime al-Bashir, seine Verbrechen in Dar-
fur unter den Teppich zu kehren. Für viele ist der Inter-
nationale Strafgerichtshof deshalb die letzte Hoffnung.
Doch die sudanesische Regierung und einige andere
Mitgliedstaaten der UNO arbeiten offensiv gegen den
Internationalen Strafgerichtshof. Es darf nicht sein, dass
al-Bashir unbehelligt ein halbes Dutzend Länder bereist
und diese Staaten den verbindlichen Sicherheitsratsbe-
schluss einfach ignorieren.
Wie lange wollen sie dieser Demontage des Inter-
nationalen Strafgerichtshofes noch zuschauen? Wann ist
der Zeitpunkt gekommen, dass die EU endlich autonome
Sanktionen gegen die verantwortlichen Aufwiegler im
Sudan verhängt? Ich fordere sie auf: Stärken sie dem In-
ternationalen Strafgerichtshof bei seinem schwierigen
Einsatz für die Menschen im Sudan den Rücken und ent-
täuschen Sie nicht auch noch die letzte Hoffnung der
Menschen auf ein wenig Würde und Gerechtigkeit.
Dr. h. c. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärti-
gen Amt: Die Lage in Darfur ist weiter angespannt.
Kämpfe zwischen Regierungstruppen, Rebellen und Mi-
lizen halten an, wenn auch mit geringerer Intensität als
zu den Hochzeiten des Konflikts in den Jahren 2003 bis
2005. Die humanitäre Situation der Zivilbevölkerung
bleibt prekär.
Der politische Prozess stockt, und das Verhältnis zwi-
schen Sudan und Tschad hat sich wieder verschlechtert.
Anfang März hat die sudanesische Regierung nach dem
Erlass des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichts-
hofes gegen den sudanesischen Präsidenten 13 inter-
nationale humanitäre Hilfsorganisationen des Landes
verwiesen. Wir haben diesen Schritt aufs Schärfste ver-
urteilt und den Sudan aufgefordert, der humanitären
Hilfe ungehinderten Zugang nach Darfur zu ermöglichen
und mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusam-
menzuarbeiten. Der Druck der Weltgemeinschaft auf die
sudanesische Regierung hat seine Wirkung nicht ver-
fehlt: Inzwischen können wieder mehrere dieser Organi-
sationen ihre Arbeit in Darfur aufnehmen.
Zur Sicherung der Zivilbevölkerung und ihres Zu-
gangs zu humanitärer Hilfe ist die Präsenz von Blauhel-
men in Darfur weiterhin notwendig. Der deutsche militä-
rische Beitrag zu UNAMID, die inzwischen 60 Prozent
ihrer Stärke erreicht hat, ist ein politisches Zeichen an
die Vereinten Nationen, die Afrikanische Union und
auch die Bevölkerung des Darfur: Deutschland unter-
stützt euch.
Das militärische Engagement mit derzeit zwei Solda-
ten ist aber nur ein Teil unserer Anstrengungen für Dar-
fur. Sieben deutsche Polizeibeamte leisten bei UNAMID
ihren Dienst. Auch unterstützen wir die Vorbereitung
und Ausstattung afrikanischer Polizisten für UNAMID.
So haben wir eine senegalesische Polizeieinheit ausge-
rüstet, die in den nächsten Wochen in den Sudan verlegt
werden soll. Darfur und der benachbarte Tschad zählen
darüber hinaus weiterhin zu den Schwerpunkten der hu-
manitären Hilfe der Bundesregierung. Damit ordnet sich
unser militärisches Engagement ein in einen Gesamtan-
satz, der sich einzig am Wohl der Menschen des Darfur
orientiert.
Eine nachhaltige Verbesserung der Lage in Darfur
kann nur eintreten, wenn die Konfliktparteien die Ge-
walt einstellen, an den Verhandlungstisch zurückkehren
und getroffene Vereinbarungen einhalten. Hierzu ruft die
Bundesregierung alle Beteiligten nachdrücklich auf.
Der Südsudan steht vor entscheidenden Weichenstel-
lungen. Die Parteien des Umfassenden Friedensabkom-
mens bekennen sich weiterhin zu dessen Umsetzung.
Für 2010 sind Wahlen angekündigt, 2011 steht das Refe-
rendum über die Unabhängigkeit des Südsudan an. Die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25423
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(B) (D)
ehemaligen Konfliktparteien müssen dabei noch eine
Vielzahl offener Fragen lösen, zum Beispiel bei der
Grenzziehung zwischen Nord- und Südsudan, der Auf-
teilung von Ressourcen und dem weiterhin ungeklärten
Status der ölreichen Region um Abyei. Vor allem aber
müssen sich die Parteien ernsthaft mit der Perspektive
und den Folgen einer möglichen Unabhängigkeit des
Südsudan 2011 auseinandersetzen. Hierfür benötigen sie
weiterhin die Unterstützung und Aufmerksamkeit der in-
ternationalen Gemeinschaft. Wir engagieren uns durch
politische, militärische, polizeiliche und materielle Un-
terstützung.
Am 23. Juni haben die Vereinigten Staaten zu einer
Konferenz zur Unterstützung des Umfassenden Frie-
densabkommens eingeladen, an der auch wir aktiv teil-
nehmen werden. Die Bundesregierung wird dort erneut
bekräftigen, dass sie zur Unterstützung der Friedenspro-
zesse in Sudan bereit ist, zum Beispiel durch Hilfe bei
der Vorbereitung der Wahlen und bei Demilitarisierungs-
programmen.
Das Bundeswehrengagement mit derzeit 31 Soldaten
bei UNMIS ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung
des Südsudan. Ich möchte dabei auch den Beitrag von
fünf deutschen Polizisten zu UNMIS würdigen, die vor
allem bei der Ausbildung und Beratung lokaler Polizis-
ten tätig sind.
Die im Sudan eingesetzten deutschen Soldaten und
Polizisten leisten unter teils sehr schwierigen Bedingun-
gen einen international anerkannten Beitrag für die Mis-
sionen. Ich konnte mich hiervon bei meiner Reise in den
Sudan im letzten Februar persönlich überzeugen. Hierfür
gebührt unseren Soldaten und Polizisten ebenso wie den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hilfsorganisatio-
nen der ausdrückliche Dank dieses Hohen Hauses.
Ihre Unterstützung der Anträge der Bundesregierung
hilft, den Menschen im Sudan zu helfen. Deswegen bit-
ten wir Sie um Ihre Zustimmung.
Anlage 42
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Medien- und Onlinesucht als Sucht-
phänomen erforschen, Prävention und The-
rapien fördern
– Beschlussempfehlung und Bericht: Medien-
abhängigkeit bekämpfen – Medienkompe-
tenz stärken –
(Zusatztagesordnungspunkt 10 und Tagesord-
nungspunkt 67 j)
Dorothee Bär (CDU/CSU): Wir leben in einer Ge-
sellschaft, in der ungefähr jeder Zweite regelmäßig das
Internet nutzt. Neben den vielen Chancen und Möglich-
keiten, die uns das weltweite Netz bietet, ist die Nutzung
jedoch auch mit Risiken verbunden. Laut einer Studie
der Humboldt-Universität Berlin sind 5 Prozent der
40 Millionen Internetnutzer in Deutschland süchtig.
Weitere 10 Prozent stehen an der Schwelle zur Abhän-
gigkeit. Diese Zahlen machen deutlich, dass wir es mit
einem ernsthaften Problem zu tun haben, welches jeden
von uns treffen kann. Aus diesem Grund sehe ich drin-
genden politischen Handlungsbedarf. Bedauerlicher-
weise gibt es noch keine umfassenden wissenschaftli-
chen Studien zu dem Thema.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass dieses
Phänomen jetzt umfassend erforscht wird. Die For-
schung muss der Politik zur Seite stehen, wenn es gilt,
Antworten auf folgende drängende Fragen zu bekom-
men: Wo liegen die Grenzen zwischen intensiver Nut-
zung und Sucht? Wie kann man die Entstehung einer
Onlinesucht verhindern? Welche Therapiemöglichkei-
ten gibt es? Derzeit wissen wir nur, dass eine exzessive
Nutzung von über fünf Stunden täglich als bedenklich
einzustufen ist.
Wir können Onlinesucht nur dann wirksam bekämp-
fen, wenn wir sie in allen Ausprägungen kennen. Hier
muss in den kommenden Jahren viel Forschungsarbeit
betrieben werden, da das Phänomen relativ neu ist. Wir
brauchen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und
darauf aufbauend eine öffentlichkeitswirksame Aufklä-
rungskampagne. Denn die größte Gefahr der Online-
sucht liegt darin, dass sie ganz anonym im Netz stattfin-
det. Der Onlinesüchtige kann sich der sozialen Kontrolle
von Nachbarn und Freunden leicht entziehen. Anders als
der Alkoholiker, der beim ständigen Kaufen von Alko-
hol beobachtet werden kann, oder der Spielsüchtige, der
in den Casinos in seinem Umfeld als besonders regelmä-
ßiger Gast auffällt, bleibt der Onlinesüchtige im welt-
weiten Netz relativ anonym.
Für diesen Umstand müssen wir das direkte soziale
Umfeld sensibilisieren, und wir müssen darauf auf-
merksam machen, dass Onlinesucht eine Krankheit ist.
Onlinesucht kann viele verschiedene Ausprägungen ha-
ben. Besonders oft treten jedoch Onlinechatsucht,
Onlinespielsucht und Onlinesexsucht auf.
Den Betroffenen muss geholfen werden. Denn sie ha-
ben mit ähnlichen Symptomen zu kämpfen wie ein Al-
koholiker oder ein Spielsüchtiger: Sie leiden psychisch
und physisch. Aus diesem Grund ist es besonders wich-
tig, eine mögliche Anerkennung von Onlinesucht als
Krankheit durch die WHO zu prüfen. Mehrere Studien
belegen zudem, dass Jugendliche unter 20 Jahren beson-
ders gefährdet sind, einer Onlinesucht zu verfallen.
Neben den vielen anderen wichtigen Forderungen un-
seres Antrags ist eines daher entscheidend: Unsere Kin-
der müssen besser auf den Umgang mit dem Internet
vorbereitet werden. Sie müssen für die Chancen und
Risiken dieses Mediums sensibilisiert werden und von
vornherein einen verantwortungsvollen Umgang mit
dem Internet lernen. Wir leben in einer Gesellschaft, die
stark durch die Medien geprägt ist. Deshalb wird es Zeit,
dass der verantwortungsvolle Umgang mit den Medien
in den Klassenzimmern gelehrt wird. Prävention ist bes-
ser als jede nachträgliche regulierende Maßnahme und
wirkungsvoller als jedes Verbot. Ich fordere die Landes-
regierungen an dieser Stelle auf, die Einführung eines
25424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
Fachs Medienkunde zu prüfen und schnellstmöglich um-
zusetzen. Eltern, Lehrer und Erzieher müssen besser ge-
schult werden, um unsere Kinder besser anleiten zu kön-
nen. Die Bundesregierung hat in diesem Sinne mehrere
Initiativen zur Stärkung der Verantwortung und Kompe-
tenz von Medienanbietern und Mediennutzern auf den
Weg gebracht. Die Initiativen „Ein Netz für Kinder“ und
www.fragFINN.de sind besonders erfolgreich.
Das Internet und alle mit ihm verbundenen Begleit-
erscheinungen müssen stärker in den kulturpolitischen
Fokus gesetzt werden, um eine kritische Debatte um die
Gefahren des Internets stetig am Leben zu erhalten und
die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Monika Griefahn (SPD): Zunächst möchte ich mich
bei meiner Kollegin Dorothee Bär bedanken, die mit mir
gemeinsam diesen Antrag auf den Weg gebracht hat. Ich
betone dies, weil dabei einige Widerstände zu überwin-
den waren. Allerdings betone ich auch, dass sich auch
die Gesundheitspolitiker unserer beiden Fraktionen nach
einigen Gesprächen und einigen Bedenken unserem
Ziel, einen Antrag zu diesem Thema auf den Weg zu
bringen, in sehr konstruktiver Weise angeschlossen ha-
ben. Auf diesem Weg haben uns zudem die Familien-
und Jugendpolitiker sehr unterstützt. Vielen Dank also
allen Kolleginnen und Kollegen.
Es geht hier um ein sehr wichtiges Thema, das leider
lange Zeit ein Schattendasein gefristet hat – eine Form
der Sucht von Kindern und Jugendlichen, aber auch Er-
wachsenen beim Umgang mit Computer, Spielkonsolen
und anderen Medien. Es gibt bisher wenig fundierte wis-
senschaftliche Erkenntnisse darüber, ob ein Wirkungszu-
sammenhang zwischen der Nutzung – in vielen Fällen
der exzessiven Nutzung – von Medien und Computern
und den Symptomen einer Sucht besteht. Diese Erkennt-
nisse sind allerdings immens wichtig, um diese Formen
der Sucht als Krankheit anerkennen und vor allem ent-
sprechend therapieren zu können.
In der öffentlichen Debatte wird immer häufiger da-
von gesprochen, dass Kinder und Jugendliche, aber auch
Erwachsene aufgrund eines exzessiven Medienkonsums
bzw. der Internetnutzung in Form von Onlinespielen,
Chats oder dem Surfen Schule, Beruf und soziale Kon-
takte vernachlässigen. Teilweise verlieren Menschen re-
gelrecht den Bezug zu ihrer kompletten Umwelt. Ihre
Mitmenschen, häufig die Eltern sind mit diesen Ent-
wicklungen oft überfordert, auch weil es wenig kompe-
tente Anlaufstellen und Informationen dazu gibt.
In einer gemeinsamen Anhörung des Ausschusses für
Kultur und Medien mit dem Unterausschuss Neue Me-
dien haben uns Experten sehr eindringlich bestätigt, dass
in diesem Bereich etwas getan werden muss, vor allem
deshalb, weil man mittlerweile sehr eindeutig von einer
Zunahme von Suchterscheinungen sprechen könne.
Diese Hinweise beruhen auch auf der sogenannten Jim-
Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes
Südwest aus dem Jahr 2008, derzufolge im Jahr 2008
erstmals mehr Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren
angaben, einen eigenen Computer im Zimmer zu haben,
71 Prozent, als einen Fernseher, 61 Prozent. Vor diesem
Hintergrund führt das Deutsche Zentrum für Suchtfragen
des Kindes- und Jugendalters, DZSKJ, in Hamburg im
Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit seit An-
fang 2008 die Studie „Beratungs- und Behandlungsange-
bote pathologischen Internetgebrauchs“ durch, welche
im März 2010 fertiggestellt sein soll und unter anderem
Hinweise darauf geben soll, wie eine deutschlandweite
Diagnose für Medien- und Onlinesucht auf den Weg ge-
bracht werden könnte.
In der Anhörung, aber auch in den bereits vorliegen-
den Studien sind sich die Experten über Folgendes zu-
meist einig: Es braucht mehr Forschung in diesem
Bereich, um die Wirkungszusammenhänge besser erfor-
schen zu können. Medien- und Onlinesucht sollte als
Krankheit bei der Weltgesundheitsorganisation, WHO,
anerkannt werden, damit Behandlungsmöglichkeiten für
Betroffene entwickelt, bereitgestellt und letztlich auch
finanziert werden können. Die vorhandenen Beratungs-
angebote müssen ausgebaut und besser vernetzt werden. –
Diese Punkte haben wir in dem heute zur Abstimmung
vorliegenden Antrag aufgegriffen. Wir fordern die Bun-
desregierung auf, entsprechende Maßnahmen zu ergrei-
fen.
Über die Frage von Medien- und Onlinesucht als
Krankheit hinaus war uns ein Punkt besonders wichtig:
die Stärkung der Verantwortung und der Kompetenz so-
wohl von Medienanbietern als auch Mediennutzern. Die
Bundesregierung macht in diesem Bereich bereits eine
Menge, erwähnt sei das „Netz für Kinder“ und
www.fragFINN.de. Zudem haben wir uns als Parlament
für die Schaffung des Deutschen Computerspielepreises
eingesetzt, mit dem qualitativ hochwertige sowie kultu-
rell und pädagogisch wertvolle Computerspiele ausge-
zeichnet werden.
Aus unserer Sicht ist Medienkompetenz eine Schlüs-
selqualifikation in der modernen Informations- und
Kommunikationsgesellschaft und hilft, sich in einer me-
dial geprägten Welt zurechtzufinden. Deshalb war es uns
im Antrag wichtig, die Förderung und Unterstützung
von Medienkompetenz sowohl für Kinder und Jugendli-
che als auch für Erwachsene sowie die Verankerung der
Medienkunde als ein reguläres Schulfach in den Ländern
zu fordern.
Sie sehen, dass wir mit diesem Antrag ein sehr wichti-
ges Thema aufgegriffen haben, bei dem noch viel Hand-
lungsbedarf besteht. Diesen Handlungsbedarf haben wir
mit dem vorliegenden Antrag formuliert, weshalb ich
um Unterstützung dafür werbe.
Jürgen Kucharczyk (SPD): Bereits am 9. April
2008 haben der Ausschuss für Kultur und Medien und
der Unterausschuss Neue Medien eine öffentliche Anhö-
rung zum Thema durchgeführt. Das Ergebnis dieser An-
hörung war deutlich: Es sind zwar zahlreiche Suchtfälle
bekannt, aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Ex-
pertise ist eine Anerkennung von suchtartigem Verhalten
in Verbindung mit neuen Medien als Krankheit bei der
WHO allerdings nicht möglich. Mittel zur Entwicklung
und Finanzierung von Behandlungsmöglichkeiten der
bereits aufgetretenen Suchtfälle sind dadurch nicht vor-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25425
(A) (C)
(B) (D)
handen. Der gemeinsame Koalitionsantrag ist daher der
richtige Schritt zu dem längst überfälligen Ausbau der
Forschung nach einem möglichen zukünftigen Krank-
heitsbild.
Wie kommt es dazu, dass Jugendliche und Erwach-
sene sich nahezu vollkommen aus der Realität zurück-
ziehen und im Extremfall 10 bis 18 Stunden am Tag in
der virtuellen Welt verbringen und ihre sozialen Kon-
takte vernachlässigen? Die Frage nach der Motivation
muss flankiert werden von der Ausarbeitung effektiver
Behandlungsformen. Dazu gehört die flächendeckende
Vernetzung der bislang bestehenden Initiativen und die
Bildung von Schwerpunkten. Denn wie wir in der Anhö-
rung erfahren haben, sind drei Verhalten auffällig:
Onlinespielsucht, Onlinechatsucht und Onlinesexsucht.
Nach der aktuellen Studie des Kriminologischen For-
schungsinstituts Niedersachsen e. V. sind 3 Prozent der
Jungen und 0,3 Prozent der Mädchen einer Schülerbefra-
gung unter Neuntklässlern bereits abhängig von Compu-
terspielen. Bei 15-jährigen männlichen Spielern des Fan-
tasygames World of Warcraft gelten 8,5 Prozent als
abhängig. Selbst, wenn wir Studien des KFN nicht im-
mer unkritisch gegenüberstehen, sind das Werte, die
alarmieren und denen wir etwas entgegensetzen müssen.
Unser Antrag hat den Jugendschutz besonders im Fo-
kus: Jugendliche sind uns heute in vielen Fällen weit vo-
raus, wenn es um die Nutzung der neuen Medien geht;
aber sie sind auch gefährdet und besonders schutzbe-
dürftig. Zentraler Punkt ist daher die Förderung und Im-
plementierung von Medienkompetenz. Wir wollen errei-
chen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene – durch
die Zusammenarbeit von Eltern, Schulen und Medienpä-
dagogik – lernen, die neuen Medien verantwortungsvoll
zu nutzen. Insbesondere die Elterngeneration ist häufig
überfordert oder schlicht nicht wissend, wenn es um den
Internetkonsum ihrer Kinder geht. Dort müssen wir an-
setzen. Die Eltern müssen wir stärken, und ihre Auf-
merksamkeit müssen wir auf das Thema lenken, um die
Kinder und Jugendlichen wirksam zu schützen.
Dazu setzen wir auch verstärkt auf den Schutz durch
Technik, und wir wollen gemeinsam mit den Herstellern
den Einsatz von technischen Hilfsmitteln für den Kin-
der- und Jugendschutz prüfen. Infrage kommen etwa au-
tomatische Spielzeiteinblendungen oder die Einstellung
von Spielzeitkontingenten durch die Eltern. Kinder und
Jugendliche eignen sich die Medienwelt entsprechend
ihren altersspezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf
höchst unterschiedliche Art und Weise an.
Wir fordern deshalb die Länder auf, den Bereich
„Medienkompetenz“ in den Schulen zu stärken, für eine
umfangreiche Lehre Sorge zu tragen und Präventionsan-
gebote zu schaffen. Die Verankerung eines Schulfachs
Medienkunde ist allein deshalb sinnvoll, da angehende
Lehrerinnen und Lehrer speziell und umfassend ausge-
bildet werden. Zudem soll die Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung innerhalb der vorhandenen
Ressourcen eine bundesweite Aufklärungskampagne be-
ginnen. Denn nur mit flächendeckender Werbung für ei-
nen vernünftigen Umgang mit den neuen Medien errei-
chen wir auch diejenigen, die sich bislang zu
unvorsichtig im Netz bewegen.
Christoph Waitz (FDP): Die Medienlandschaft hat
sich in den letzten 15 Jahren gravierend geändert. Den
Konsumenten stehen immer mehr technische Geräte zur
Mediennutzung zur Verfügung. Der hohe Grad der Ver-
netzung durch das Internet bringt eine schier unendliche
Bandbreite an Medienangeboten in die Wohnungen der
Menschen. Noch nie konnten die Menschen weltweit aus
einer so großen Anzahl von Medienangeboten auswäh-
len.
Allein Computer- und Videospiele begeistern jedes
Jahr Millionen Menschen in Deutschland und Europa.
Die Akzeptanz dieser Spiele als Unterhaltungsgut zeigen
schon allein die jährlichen Besucherzahlen zur Leit-
messe Games Convention, die bislang mehrere Hundert-
tausend Menschen nach Leipzig geführt hatte. Compu-
terspiele sind Zeitvertreib, Lernanreiz und Ausdruck
besonderer Kreativität. Computerspiele sind Kultur- und
zugleich Wirtschaftsgut. Sie haben inzwischen ihren fes-
ten Platz innerhalb der Mediennutzung.
Die neue Medienlandschaft erfordert von den Men-
schen aber auch eine besondere Medienkompetenz, die
dabei hilft, aus der unübersichtlichen Masse von Ange-
boten die Angebote herauszufiltern, die der Einzelne tat-
sächlich nutzen möchte oder die für den Einzelnen tat-
sächlich geeignet sind.
Dennoch besteht auch bei der Nutzung neuer Medien
die Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung durch
übermäßige Nutzung dieser Angebote. Die Expertenan-
hörung im Kultur- und Medienausschuss des Deutschen
Bundestages hat uns einige dieser Fälle plastisch vor Au-
gen geführt. Fest steht: Einige Menschen verlieren bei
der Mediennutzung die Kontrolle. Warum dies geschieht
und was wir dagegen machen können, ist bislang für den
Bereich der Nutzung neuer Medien noch nicht ausrei-
chend erforscht. Bislang steckt insbesondere die klini-
sche Forschung noch in den Kinderschuhen. Dabei ist
gerade die umfängliche klinische Forschung Grundlage
für die Erstellung und Bekämpfung einer pathologischen
Veränderung des menschlichen Körpers.
Die uns heute vorliegenden Anträge der Koalition
und von Bündnis 90/Die Grünen thematisieren zu Recht
die exzessive Mediennutzung und die Auswirkungen
dieser übermäßigen Nutzung. So werden diese Auswir-
kungen mit den symptomatischen Ausprägungen anderer
Suchterkrankungen verglichen. Es wird von Medienab-
hängigkeit oder Onlinesucht gesprochen. Und es wird
konstatiert, dass wir über diese Phänomene einfach nicht
genug wissen, um zu erkennen, wie ernst die Problema-
tik ist und welche Maßnahmen helfen, um die Probleme
zu bekämpfen und abzustellen. Zu Recht wird deshalb in
beiden Anträgen die wissenschaftliche Erforschung der
Medienabhängigkeit gefordert. Diese Forderung unter-
stützt die FDP-Bundestagsfraktion.
Trotzdem können wir beiden Anträgen nicht zustim-
men. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen habe ich
für die FDP schon im Kulturausschuss dargelegt, dass es
25426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
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(B) (D)
für eine Definition eines Krankheitsbildes Onlinesucht
noch zu früh ist und weitere Untersuchungen erforder-
lich sind. Da gerade Onlinespiele oft grenzüberschrei-
tende Wirkung haben, fehlt insbesondere ein Vorschlag,
wie man durch internationale Absprachen und Selbstver-
pflichtungen an die Lösung des Problems herangehen
könnte. Auch die von Ihnen geforderte – eventuell ge-
setzlich zu verankernde – Festlegung von wöchentlichen
Spielzeitkontingenten für Minderjährige übersteigt die
Fürsorgepflicht des Staates. Hier greift Ihr Antrag unzu-
lässig in das Erziehungsrecht der Eltern ein. Und was
sich auf einer Spielekonsole durch die Eltern einstellen
und begrenzen lässt, ist im Bereich der Onlinespiele oft
ein untaugliches Mittel.
Kommen wir zum Antrag der Großen Koalition. Ihr
Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. So fordern Sie
einen ganzen Strauß von Maßnahmen, ohne das genaue
Ausmaß des Suchtpotenzials zu kennen. Nicht nur, dass
Sie damit Gelder verplanen, die dringend zielgerichteter
an anderer Stelle eingesetzt werden sollten. Sie greifen
mit Ihrem Antrag in die Tablettenkiste und verabreichen
dem Patienten einen fragwürdigen Tablettencocktail,
ohne die Erkrankung, geschweige denn die Symptome
genau zu kennen. Dabei ist die Gesundung eines Patien-
ten doch essenziell mit der vorherigen genauen Untersu-
chung verbunden.
Dann lese ich in Ihrem Antrag, dass die Computer-
spieleindustrie zur Einrichtung der „Stiftung zur Förde-
rung qualitativ hochwertiger interaktiver Unterhaltungs-
medien“ aufgefordert werden soll. Ich frage mich, was
diese Forderung in Ihrem Antrag zur Bekämpfung der
Medienabhängigkeit zu suchen hat. Schließlich könnten
alle Arten von Angeboten, ganz unabhängig von ihrer
Qualität, ein Suchtpotenzial auslösen. Mir ist jedenfalls
nicht zu Ohren gekommen, dass ein gut gemachtes,
hochqualitatives und vor allem interaktives Computer-
spiel kein Suchtpotenzial in sich tragen würde.
Wir müssen erst die wissenschaftliche Basis für wei-
tere Schritte schaffen und fachfremde Anliegen aus den
Anträgen entfernen. Grundsätzlich begrüße ich das in Ih-
ren Anträgen formulierte Anliegen. Lassen Sie uns daher
keine vorschnellen Handlungen und Maßnahmen einlei-
ten. Das Bundesministerium für Gesundheit hat das
Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Ju-
gendalters beauftragt, die wissenschaftlichen Studien
zum Thema „pathologischer Internetgebrauch“ auszu-
werten und zusammenzufassen. Im Zwischenbericht ist
zu lesen, dass in Deutschland nicht nur keine Studien er-
stellt wurden, sondern dass in den internationalen Stu-
dien die Kriterien der Entscheidung über das Vorliegen
der Störung willkürlich gewählt und nicht geprüft wur-
den. Auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung
ist mit einer schnellen Bewertung vorsichtig. Sonst
würde sie nicht am 3. Juli 2009 zu einer Konferenz zum
Thema „Internet und Computerspiele – Wann beginnt
die Sucht?“ einladen.
Dass CDU/CSU und SPD ihren Antrag heute ohne
Faktenbasis im Schnellverfahren durchpeitschen, dient
nicht der wirksamen Bekämpfung von Medienabhängig-
keit. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich bei der Ab-
stimmung enthalten.
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Medienabhängig-
keit ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche nicht-
stofflich gebundene Suchtformen wie etwa die soge-
nannte Internetsucht, Fernsehsucht, Handysucht oder
auch die Sucht nach Computerspielen. Der Antrag der
Koalitionsfraktionen beschränkt sich auf das Thema
Computerspiele- und Onlinesucht. Das ist in gewisser
Weise verständlich, denn diese Form der Abhängigkeit
hat unter Kindern und Jugendlichen stark zugenommen.
Die Computerspiele- und Onlinesucht ist ein aktuelles
gesellschaftliches Phänomen und sozusagen die negative
Begleiterscheinung der fortschreitenden Digitalisierung.
Die Stoßrichtung Ihres Antrags ist grundsätzlich auch
aus Sicht der Linken zu begrüßen. Dies gilt zum Beispiel
für den von Ihnen vorgeschlagenen Ausbau des Bera-
tungs- und Therapieangebots und für die Stärkung der
Medienkompetenz. Der Erwerb von Medienkompetenz ist
der Schlüssel, um den inhaltlichen Herausforderungen
des digitalen Zeitalters zu begegnen. Die Herausbildung
eines kritischen Verstandes und die Fähigkeit, Realität
von Fiktion zu unterscheiden, ist die unabdingbare
Voraussetzung für eine moderne Mediensozialisation.
Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und andere Er-
ziehungsberechtigte sind gefordert, sich in der Welt elek-
tronischer Medien selbstbestimmt zu orientieren und den
Umgang mit möglichen Gefahren und schädlichen
Medieninhalten zu erlernen. Die natürlichen Orte zum
Erwerb von Medienkompetenz sind Kindergärten, Kin-
dertagesstätten, Horte und Schulen. Und damit gehört
die Vermittlung von Medienkompetenz unbedingt in den
Ausbildungskanon von Erzieherinnen und Erzieher,
Lehrerinnen und Lehrern sowie Sozialpädagoginnen und
Sozialpädagogen. Und weil dies so wichtig ist, tritt Die
Linke dafür ein, die Förderung und Schulung von Me-
dienkompetenz in den Bundesländern institutionell ver-
pflichtend zu verankern.
Die Internetsucht ist noch nicht in den internationalen
Klassifikationen psychischer Störungen aufgenommen
worden, sprich: Sie ist bisher nicht als Krankheit aner-
kannt. Das liegt auch daran, dass bislang noch verschie-
dene Krankheitsbeschreibungen mit teils unterschied-
lichen Diagnosekriterien existieren. In den USA werden
vor allem die Begriffe „pathological internet use“, pa-
thologischer Internet-Gebrauch, oder „internet addiction
disorder“, Internet-Abhängigkeits-Syndrom, genutzt. Klar
ist: Die empirische wie epidemologische Unkenntnis auf
diesem Gebiet ist zurzeit noch riesig. Das bestätigen alle
Expertinnen und Experten. Solange aber das Krankheits-
bild nicht eingehender erforscht ist, erscheint eine vor-
schnelle Klassifizierung als Krankheit bei der WHO als
nicht ratsam.
Problematisch erscheint ferner der fehlende Hinweis
darauf, wie die Kennzeichnung des Suchtpotenzials und
Spieldauereinblendungen bei Online-Rollenspielen recht-
lich bewerkstelligt werden sollen. Gesetzesregelungen
ausschließlich in Deutschland zu verabschieden, reicht
meines Erachtens überhaupt nicht aus, denn Anbieter
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25427
(A) (C)
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von so weit verbreiteten Online-Rollenspielen wie zum
Beispiel „Second Life“ sind zumeist in den USA ange-
siedelt oder haben allenfalls eine Niederlassung in einem
EU-Land wie beispielsweise „World of Warcraft“ in Paris.
Juristische Personen müssten demnach auch innerhalb
der EU und darüber hinaus habhaft gemacht werden
können. Vor allem Letzteres dürfte schwierig zu bewerk-
stelligen sein. Kein Wunder also, dass der Antrag der
Koalition in diesem, wie in weiteren Punkten, sehr vage
bleibt. Durchgängig ist insbesondere die Absicht zu finden,
dass das alles nicht mit Zusatzkosten verbunden sein
darf. Das aber ist schlicht nicht möglich. Ein vernünftiges
Beratungs- und Therapieangebot sowie Medienkompetenz
kosten immer Geld.
Ihre Überzeugung, das Regierungsprojekt „Ein Netz
für Kinder“ sei ein für Kinder geeigneter und geschützter
virtueller Raum, teile ich nicht. Die Kinder werden hier
den Interessen der Werbeindustrie als hilflose Opfer aus-
geliefert. Der Betrieb dieses Angebotes sollte meines
Erachtens erst nach einer gründlichen Überarbeitung
fortgesetzt werden. Ich sage es ganz deutlich: Werbung
und Bezahlangebote sind nicht mit dem Kinderschutz
vereinbar! Werbung darf kein automatisierter Teil unse-
res Lebens sein, schon gar nicht für Kinder. Und deshalb
werden wir Linken uns bei Ihrem Antrag – trotz guter
Ansätze – enthalten.
Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Große Koalition ist aufgewacht. Bei dem Fachgespräch
meiner Fraktion vor zwei Jahren wurde das Problem
erstmals im parlamentarischen Raum thematisiert, und
eineinhalb Jahre nach Einbringung unseres Antrages hat
sie das Thema nun auch für sich entdeckt, zwei Wochen
vor dem faktischen Ende der Legislaturperiode. Wir sa-
gen: endlich! Es ist höchste Zeit, dass etwas passiert. Ob
die von der Koalition vorgeschlagenen Maßnahmen aus-
reichen, ist allerdings eine zweite Frage.
Vor allem junge Menschen sind heutzutage dank
Handy und Internet besser informiert und vernetzt als
jede Generation zuvor. Welche positiven Auswirkungen
das für die Freiheit der Menschen haben kann, sehen wir
derzeit an den Berichten, die uns aus dem Iran erreichen.
Internet und Handy erfüllen dort derzeit die Funktion,
die die Presse dort nicht mehr wahrnehmen darf.
Für viele Menschen birgt diese schöne neue Medien-
welt aber auch eine Gefahr. die Gefahr, sich darin zu ver-
lieren. Sie wird zum zentralen Lebensinhalt, soziale
Kontakte werden vernachlässigt, Arbeit und Schule ge-
raten in den Hintergrund, mitunter sogar elementare Be-
dürfnisse wie Essen und Trinken. Die neu gewonnene
Freiheit kann Menschen also auch unfrei machen, näm-
lich dann, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, ihre Medi-
ennutzung selbstbestimmt zu gestalten.
Medienabhängigkeit ist ein relativ neues, aber deswe-
gen nicht minder problematisches Phänomen: Mittler-
weile gibt es Schätzungen, nach denen 3 bis 6 Prozent
aller Internetnutzer als abhängig gelten, noch einmal so
viele sind zumindest gefährdet. Die Mechanismen sind
vergleichbar mit denen anderer Suchtformen: unkontrol-
lierter und stundenlanger Konsum, stetige Erhöhung der
„Dosis“, ständige gedankliche Beschäftigung mit dem
Spiel, misslingende Reduzierungsversuche, Entzugs-
erscheinungen und Verheimlichung bzw. Bagatellisie-
rung des eigenen Konsums.
Dennoch wird diese Suchtform häufig noch nicht als
solche akzeptiert – erst vor kurzem konnte man auf dem
Onlineportal der „Welt“ lesen, dass es eine „Online-
sucht“ überhaupt nicht gebe. Wir freuen uns deshalb,
dass die Koalition hier wenigstens den ersten Schritt
wagt und vorschlägt, die Anerkennung von Mediensucht
nach WHO-Kriterien zu prüfen.
Die Koalition hat auch recht, wenn sie feststellt, dass
Medienabhängigkeit bislang viel zu wenig erforscht
wird. Darum fordern wir schon seit Jahren, mehr in die
Erforschung dieses Phänomens zu investieren. In dieser
Forderung haben uns die Experten bei der Anhörung im
Ausschuss für Kultur und Medien im letzten Jahr be-
stärkt. Die Forderung der Koalition, das nur im Rahmen
der „vorhandenen Mittel“ zu tun, ist – vorsichtig formu-
liert – sehr bescheiden, insbesondere wenn man berück-
sichtigt, wie wenig die Bundesregierung derzeit insge-
samt in die Suchtforschung investiert.
Gleichzeitig ist es dringend notwendig, die Beratung
und Therapie für Betroffene zu verbessern. Die Länder
sind hier in der Pflicht, diese Angebote auch entspre-
chend zu fördern. Auch die Aus- und Weiterbildung von
Therapeuten muss der neuen Situation angepasst wer-
den. Sie müssen in der Behandlung dieses neuen Phäno-
mens entsprechend geschult werden.
Bislang erfahren die Betroffenen und ihre Angehöri-
gen von staatlicher Seite wenig Hilfe. Ich finde es des-
halb auch erstaunlich, wenn die Koalition fordert, eine
Aufklärungskampagne durch die Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung (BZgA) „innerhalb der vor-
handenen Ressourcen“ zu starten. Meine Vermutung ist:
Mit Aufklärungskampagnen werden wir hier wenig aus-
richten, wenn Medienabhängigkeit und Medienkompe-
tenz nicht auf vielen Ebenen Thema der lebensweltbezo-
genen Prävention wird.
Noch ein Wort zu der besonderen Gefahr, die von
Onlinerollenspielen ausgeht: Wir haben vorgeschlagen,
diese Suchtgefahren durch ein Paket von gezielten Maß-
nahmen zu senken. Einige dieser Maßnahmen, wie
Spielzeiteinblendungen oder die Einrichtung von Zeit-
kontingenten, haben Sie lobenswerterweise in ihrem An-
trag aufgegriffen.
Wer hingegen, wie die Innenminister der Länder vor
zwei Wochen, nach pauschalen Verboten von Computer-
spielen ruft, macht es sich aber zu einfach. Computer-
spiele sind mittlerweile fester Bestandteil unserer Kultur
wie auch Bücher, Filme oder Musik. Verbote ändern an
den grundsätzlichen Problemen nichts, die Jugendliche
zu einem exzessiven Spielen bringen – egal, ob es sich
dabei um Gewalt- oder Suchtprobleme handelt. Vor al-
lem können diese Gesetze nicht die Eltern aus ihrer Ver-
antwortung entlassen, sich über die Freizeitbeschäfti-
gung ihrer Kinder ein Bild zu machen.
Altersfreigaben, Spielzeitkontingente und all die an-
deren Maßnahmen nützen wenig, wenn Jugendlichen
25428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
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– wie auch den Eltern, Lehrern und sonstigen Betreu-
ungspersonen – nicht die notwendige Medienkompetenz
vermittelt wird. Mit Medien umgehen will gelernt sein –
in jeder Hinsicht und von Anfang an. Dazu gehört auch,
Angebote kritisch zu hinterfragen und die Mittel des In-
ternets gezielt einzusetzen. Es reicht allerdings nicht aus,
wie von der Koalition vorgeschlagen, in einem Unter-
richtsfach „Medienkunde“ nur den technischen Zugang
zu erschließen und den Kindern Laptops auf die Schul-
bank zu stellen. Der Umgang mit Medien muss vielmehr
fächerübergreifend in den Unterricht mit einfließen.
Wir begrüßen natürlich, dass Medienabhängigkeit
jetzt endlich auch ein Thema für die Regierungsparteien
geworden ist. Ich frage mich allerdings, warum die
Koalition erst kurz vor Schluss mit diesem Antrag
kommt. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass es
sich bei diesem zudem noch sehr kurzfristig eingebrach-
ten Antrag eher um eine PR-Aktion handelt. Angesichts
der sehr bescheidenen Forderungen in dem vorliegenden
Antrag, die auch immer unter dem Vorbehalt „innerhalb
der vorhandenen Mittel“ stehen, frage ich mich zudem,
wie ernst Sie es wirklich mit diesem Thema meinen.
Aufgrund dieser berechtigten Zweifel können wir Ihrem
Antrag nicht zustimmen.
Anlage 43
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Erwerbsminderungsrente gerechter gestal-
ten
– Absicherung für das Erwerbsunfähigkeits-
risiko verbessern
(Zusatztagesordnungspunkt 11)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Er-
werbsminderungsrente sichert das Einkommen von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die vor Beginn des
Renteneintrittsalters nicht mehr oder nur noch einge-
schränkt erwerbsfähig sind. Es ist eine große soziale
Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung, dass sie
nicht nur der Alterssicherung dient, sondern auch denje-
nigen hilft, die aus gesundheitlichen Gründen schon vor
dem Renteneintrittsalter nicht mehr oder nicht mehr voll
arbeiten können.
Im vorliegenden Antrag wird nun gefordert, das Refe-
renzalter von 63 Jahren für den abschlagsfreien Bezug
der Erwerbsminderungsrente wieder einzuführen sowie
die Zurechnungszeit analog zu der Änderung des Zu-
gangsalters für eine abschlagsfreie Erwerbsminderungs-
rente anzupassen. Parallel zur Anhebung der Regel-
altersgrenze in der gesetzlichen Rente schrittweise von
65 auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029 wurden analog auch
bei allen anderen rentenrechtlichen Regelungen die Al-
tersgrenzen schrittweise um zwei Jahre angehoben. Das
ist nur konsequent und gerecht. Das Referenzalter für die
Ermittlung des Zugangsfaktors bei Renten wegen ver-
minderter Erwerbsfähigkeit wird deshalb beginnend im
Jahr 2012 von 63 Jahren stufenweise auf 65 Jahre ange-
hoben. Bei einem Rentenbeginn im Jahr 2024 und später
beträgt das Referenzalter für die Ermittlung der Renten-
abschläge 65 Jahre. In Anerkennung ihrer besonders lan-
gen Versicherungszeiten verbleibt es für Personen mit
35, ab dem Jahr 2024 40 Pflichtversicherungsjahren bei
dem bisherigen Referenzalter von 63 Jahren. Dies be-
trifft ausschließlich Personen, die im Alter ab 60 Jahren
eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Für jüngere
Personen hat sich die Rechtslage durch die Anhebung
der Altersgrenzen überhaupt nicht verändert. Für diesen
Personenkreis bleibt es wie bisher bei einem Abschlag
von 10,8 Prozent. Eine Verlängerung der Zurechnungs-
zeit um drei Jahre auf das 63. Lebensjahr aus Gründen
der Altersgrenzenanhebung würde dagegen die Perso-
nengruppe begünstigen, für die sich die Rechtslage gar
nicht verändert hat. Sie käme Versicherten zugute, bei
denen der Rentenfall der verminderten Erwerbsfähigkeit
vor dem Alter 63 eintritt.
Derzeit werden Erwerbsminderungsrenten ganz über-
wiegend an Versicherte vor dem 60. Lebensjahr ausge-
zahlt. Für diese Gruppe würde der Antrag zu einer Leis-
tungsverbesserung führen, obwohl sie gar nicht von der
Anhebung der Regelaltersgrenze betroffen sind, weil ihr
Rentenabschlag unverändert bei 10,8 Prozent bleibt.
Ob jemand bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze
arbeiten und dann die volle Altersrente beziehen kann
oder ob jemand wegen einer Beeinträchtigung seiner Ge-
sundheit bereits in jüngeren Jahren Erwerbsminderungs-
rente beantragen muss, für alle gilt: Zusätzliche Alters-
vorsorge ist zwingend notwendig, um Altersarmut zu
vermeiden und sich einen angemessenen Lebensstandard
sichern zu können. Die Große Koalition hat daher eine
nicht unwichtige Reform beschlossen: Für die private
kapitalgedeckte Altersvorsorge, Riester-Rente, sind seit
2008 auch alle Personen förderberechtigt, die eine Rente
wegen vollständiger Erwerbsminderung beziehen. Auch
sie sollen die Chance haben, zusätzlich weiter fürs Alter
zu sparen und eine zusätzliche Altersvorsorge aufzu-
bauen.
Wer Erwerbsgeminderten tatsächlich helfen will, der
sollte an der richtigen Stelle ansetzen. Der Antrag der
Grünen tut das nicht. Die von der Koalition beschlosse-
nen Neuregelungen gehen in die richtige Richtung.
Gregor Amann (SPD): Heute debattieren wir zwei
Anträge der Grünen und der FDP zum Thema Erwerbs-
minderungsrente. Folgendes möchte ich dazu ausführen:
Der Grundgedanke bei der Erwerbsminderungsrente,
EM-Rente, ist, dass wer aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr in der Lage ist, am Arbeitsleben teilzuneh-
men, eine Rente zum Lebensunterhalt erhält, wenn er be-
stimmte Bedingungen erfüllt. Immerhin fast 19 Prozent
derjenigen, die 2007 neu in Rente gingen, bekamen eine
EM-Rente. In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass
162 000 von 866 000 Rentenzugängen eine EM-Rente
bezogen. Die Zahlen belegen, dass das Thema Rente an
sich schon kein Randthema sein sollte und dass
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25429
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162 000 neue EM-Rentner allein in 2007 kein Pappen-
stiel sind.
Meines Erachtens ist das sogar eine gewaltige Zahl
von Menschen, die vorzeitig aus dem Arbeitsleben
scheiden; sehr viele davon, weil sie durch Arbeit kaputt
gemacht wurden. Aber die Zahlen aus dem Jahr 2007
zeigen auch, dass es heute weniger sind als zum Beispiel
im Jahr 2000, als noch 200 000 Menschen in die Er-
werbsminderungsrente gingen.
Dieser Rückgang hat seine Ursachen. Eine Ursache
ist, dass der Bezug einer EM-Rente heute weniger oft
gewährt wird, da strengere Normen an die gesundheitli-
che Überprüfung gestellt werden. Aber es konnten auch
in den vergangenen Jahren erhebliche Verbesserungen in
der Arbeitswelt erreicht werden, um alternsgerechtes
und altersgerechtes Arbeiten zu ermöglichen. So stiegen
auch im gleichen Zeitraum die Beschäftigtenzahlen für
über 55-Jährige von 38 Prozent auf über 52 Prozent. Das
ist ein Erfolg, denn die Teilnahme am Arbeitsleben hat
als Folge, dass sich Menschen mit ihrer Lebenserfahrung
einbringen können und sich daher gebraucht fühlen. Und
andererseits profitieren auch die Unternehmen und Kol-
legen von dieser Erfahrung.
Dieser Rückgang zeigt auch, dass Politik gestalten
kann. Natürlich mit Augenmaß, denn die EM-Rente, so
der Gedanke der Reform von 2002, sollte nicht länger
als breite Autobahn in den vorzeitigen Ruhestand be-
nutzt werden, aber stets als verlässlicher und gangbarer
Weg weiter offen sein, um den Menschen zu helfen, die
dringend der Hilfe bedürfen, da sie krank und kaputt
sind.
Natürlich ist der Zugang zur EM-Rente die Kehrseite
der Medaille „Rente mit 67“, denn auch uns ist bewusst,
dass nicht alle Menschen bis 67 arbeiten können. Aller-
dings können manche auch nicht bis 65 oder 60 arbeiten;
insofern ist das keine Problematik, die spezifisch mit der
Anhebung des Renteneintrittsalters zusammenhängt.
Dabei muss ich sagen, dass der vorzeitige Ruhestand
von manchen Arbeitgebern auch bewusst in Kauf ge-
nommen wird. Hier muss etwas geschehen. Es gilt noch
mehr auf die Vermeidung von Erwerbsminderung zu
dringen. Hier sind wir uns auch einig mit den Gewerk-
schaften.
Für die nächste Legislaturperiode haben wir uns als
SPD in unserem Regierungsprogramm als Ziel gesetzt,
dass wir vor allem eine neue Kultur der Arbeit entwi-
ckeln wollen. Es würde zu lange dauern, alle Punkte
dazu aufzuzählen, aber für unsere heutige Debatte passt
unter anderem, was sich unter dem Stichwort „Humane
Arbeitsbedingungen zum Erhalt der Beschäftigungsfä-
higkeit“ zusammenfassen lässt.
Arbeit nimmt einen großen Teil der Lebenszeit ein,
deshalb muss sie so gestaltet werden, dass Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer auch eine Chance haben, bis
zur Rente arbeiten zu können. Wir wollen moderne und
menschengerechte Arbeitsbedingungen fördern: Be-
triebe können voneinander lernen, das heißt Modellpro-
jekte mit Sozialpartnern als Best-Practice-Beispiel ent-
wickeln, wo Betriebe und Forschung helfen sollen,
branchenspezifisch gute Lösungen zu generieren. Arbeit
muss gesundheitsverträglich gestaltet werden. Das gilt
insbesondere auch für Schicht- und Wochenendarbeit
und für körperlich besonders belastende Arbeit.
Wir wollen die berufliche Rehabilitation weiter mo-
dernisieren und dabei insbesondere das betriebliche
Wiedereingliederungsmanagement stärken und der Re-
habilitation so weitgehend wie möglich den Vorrang vor
der Erwerbsminderungsrente geben. Denn in Arbeit und
damit im sozialen Zusammenhang zu bleiben, ist für uns
Sozialdemokraten eine der wichtigen Handlungsvorga-
ben.
Dennoch können wir uns keine perfekte Arbeitswelt
backen, und solche Veränderungen benötigen auch im-
mer Zeit, da es hier auch um einen Kultur- und Mentali-
tätswechsel geht. Wir brauchen also auch flexible Über-
gänge vom Erwerbsleben in die Altersrente. Diese
wollen wir Sozialdemokraten fördern.
Es geht dabei um Altersteilzeit. Die von der Bundes-
agentur für Arbeit geförderte Altersteilzeit wollen wir
bis 2015 verlängern, wenn ein Unternehmen eine frei
werdende Stelle mit einem Auszubildenden oder Ausbil-
dungsabsolventen neu besetzt. Die Möglichkeit, eine
Altersrente auch als Teilrente bei paralleler Teilzeitbe-
schäftigung in Anspruch zu nehmen, wollen wir bereits
mit dem 60. Lebensjahr ermöglichen. Aber auch im Rah-
men der Rentenversicherung ist eine höhere Flexibilität
möglich, ohne die Rentenversicherung mit Kosten zu be-
lasten: Hierzu soll sowohl den Versicherten als auch den
Unternehmen und tariflichen Fonds die Möglichkeit ge-
geben werden, mit zusätzlichen Beiträgen zur Renten-
versicherung bei einem früheren Rentenzugang die
Abschläge abzukaufen oder Zuschläge zur Rente zu er-
werben und so den Schutz im Alter oder eben auch bei
Erwerbsminderung zu erhöhen.
Der Ausbau der betrieblichen Altersversorgung als
zweite Säule und der geförderten privaten Vorsorge
– „Riester-Rente“ – als dritter Säule ist ein Erfolg sozial-
demokratischer Politik. Wir wollen die Absicherung
durch diese zusätzlichen Säulen verbessern. Zukünftig
soll auch das Risiko der Erwerbsunfähigkeit obligato-
risch und zu gleichen Konditionen abgesichert werden.
Zum vorliegenden Antrag der Grünen: Sie fordern,
das Referenzalter von 63 Jahren für den abschlagsfreien
Bezug der Erwerbsminderungsrente wieder einzuführen
sowie die Zurechnungszeit analog zu der Änderung des
Zugangsalters für eine abschlagsfreie Erwerbsminde-
rungsrente anzupassen.
Mit dem Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze
an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversi-
cherung – RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz – vom
20. April 2007 sind parallel zu der neuen Regelalters-
grenze von 67 Jahren auch alle anderen Altersgrenzen
um zwei Jahre angehoben worden. Das ist eine logische
Konsequenz. Das Referenzalter für die Ermittlung des
Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Er-
werbsfähigkeit wird beginnend im Jahr 2012 von 63 Jah-
ren stufenweise auf 65 Jahre angehoben. Bei einem Ren-
25430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
tenbeginn im Jahr 2024 und später beträgt das
Referenzalter für die Ermittlung der Rentenabschläge
65 Jahre. In Anerkennung ihrer besonders langen Versi-
cherungszeiten verbleibt es für Personen mit 35, ab dem
Jahr 2024 40 Pflichtbeitragsjahren bei dem bisherigen
Referenzalter von 63 Jahren.
Auch wir Sozialdemokraten sehen, dass durch das
langfristige Absinken des Rentenniveaus – politisch ge-
wollt, auch von den Grünen, da aufgrund der demografi-
schen Entwicklung notwendig – die Gefahr besteht, dass
zu viele EM-Rentner möglicherweise unter die Armuts-
grenze rutschen.
Aber der vorliegende Antrag ist ein Schnellschuss,
der zu kurz greift und daher nicht zur Lösung beiträgt.
Das Problem ist nicht so sehr das Referenzalter, sondern
vielmehr die Zurechnungszeit und die Abschläge, wel-
che EM-Rentner hinnehmen müssen. Ihre Vorschläge
zur Anhebung der Zurechnungszeit sind zu vage, und
das Thema Abschläge sprechen Sie überhaupt nicht an.
Wobei eine Abschaffung oder Reduzierung der Ab-
schläge natürlich mit hohen Kosten für die Rentenversi-
cherung, also für die Beitragszahler, verbunden ist.
Deshalb ist es bei diesem Thema – und Sie haben
Recht, das Thema EM-Renten muss angegangen werden –
auch dringend notwendig, über eine Absicherung des Er-
werbsminderungsrisikos in der zweiten und dritten Säule
zu diskutieren. Wir fördern die betriebliche und private
Vorsorge, um auf diesem Weg das Absinken des gesetz-
lichen Rentenniveaus auszugleichen. Wenn Letzeres
aber eine der Ursachen für eine zu niedrige EM-Rente
ist, dann muss auch hier die private und betriebliche Vor-
sorge ihren Teil zum Ausgleich beitragen. Wir Sozialde-
mokraten haben dies in unserem Regierungsprogramm
für die nächste Wahlperiode stehen; im vorliegenden
Antrag der Grünen steht nichts dazu. Der Antrag der
FDP spricht dieses Thema an, aber bei diesem Antrag
geht die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos zu-
lasten der allgemeinen Altersvorsorge. Die Menschen
brauchen beides und sollen sich nicht entscheiden müs-
sen zwischen dem einen oder dem anderen.
Daher lehnt meine Fraktion beide vorliegenden An-
träge ab. Sie sind mit heißer Nadel gestrickt und enthal-
ten nicht genügend Substanz. Allerdings: Das Thema Er-
werbsminderung muss in der nächsten Legislaturperiode
dringend angegangen werden!
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Acht Jahre nach In-
krafttreten der Neuregelung des Schutzes der Erwerbs-
unfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung ist es
an der Zeit, die Voraussetzungen für einen effizienten
Erwerbsminderungsschutz in der privaten Altersvor-
sorge zu verbessern und Benachteiligungen abzubauen.
Denn die Zahl der erwerbsgeminderten Menschen, die
Grundsicherung beantragen müssen, wird künftig an-
wachsen, wenn das Erwerbsunfähigkeitsrisiko für viele
Bürger unversicherbar bleibt.
Heute liegt der Anteil der Bezieher von Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung über 65 Jahre
bei 2,3 Prozent der Personen ihrer Altersklasse. Das wird
sich jedoch in Zukunft ändern. Denn die Anwartschaften
in der gesetzlichen Rentenversicherung werden immer
öfter nicht ausreichen, um eine Altersrente zu beziehen, die
das Niveau der Grundsicherung – derzeit circa 660 Euro
im Monat – erreicht. Wenn aber schon die reguläre ge-
setzliche Altersrente zunehmend nicht ausreichen wird,
um dem Armutsrisiko im Alter zu entgehen, wie viel
stärker sind dann erst diejenigen Bürgerinnen und Bür-
ger von der Armutsgefahr betroffen, die ohne ihr eigenes
Verschulden beeinträchtigt sind, für ihren Erwerb zu sor-
gen, also die erwerbsgeminderten Menschen.
Ziel einer vorausschauenden und den Bedürfnissen
der Menschen gerecht werdenden Rentenpolitik muss es
deshalb sein, stärkere Anreize zur privaten Vorsorge zu
setzen. Dazu gehört nicht nur die Stärkung der privaten
und betrieblichen Altersvorsorge als Ergänzung der Regel-
altersrente – dies ist ohnehin wichtig –, sondern auch die
Stärkung der privaten Vorsorge zur Absicherung des
Erwerbsminderungsrisikos. Die Nachfrage danach ist
groß. Dies bestätigen unzählige Kontakte mit Bürgern,
die einen privaten Versicherungsschutz suchen, ihn aber
nicht finden.
Die Absicherung gegen das Erwerbsunfähigkeitsri-
siko ist lückenhaft und muss verbessert werden. Bei der
Riester- und Basisrente soll nach den Vorstellungen der
FDP daher künftig jeder Versicherungsnehmer frei wäh-
len können, welcher Anteil der Beiträge in den Schutz
gegen Erwerbsminderung und welcher Teil in die
Lebensstandardsicherung fließt. Dadurch, dass der ver-
tragliche Schutz gegen Erwerbsminderung aufgrund des
Förderungsumfangs in seiner Höhe begrenzt ist und nur
eine Erwerbs- und keine Berufsunfähigkeitsrente geför-
dert wird, können auch ältere Personen mit vertretbaren
Beiträgen in die geförderten Produkte einbezogen werden.
Daneben sollen die Voraussetzungen für die Riester- und
Rürup-Förderung dahin gehend verbessert werden, dass
ein solches Wahlrecht auch für die Versicherungsunter-
nehmen sinnvoll gestaltbar wird.
Das FDP-Konzept verbessert die Absicherung für das
Erwerbsminderungsrisiko deutlich und hilft, Armut im
fortgeschrittenen Alter zu vermeiden. Damit reiht es sich
übrigens in eine Reihe von FDP-Anträgen ein, die
bestimmten Risikogruppen Lösungen bieten, um der
Gefahr von Altersarmut zu entgehen. Dazu gehören Ge-
ringverdiener und die sogenannten Soloselbstständigen.
Die FDP will die Anreize zur Eigenvorsorge stärken und
setzt dabei auf Wahl- und Gestaltungsfreiheit. Das hilft
den Menschen im Alter und entlastet gleichzeitig die
Kassen der Kommunen, auf die anderenfalls enorme
Kosten für die Grundsicherung zukommen werden.
Eine moderne Rentenpolitik doktert nicht immer und
immer wieder an der Rentenformel herum, wie es die
Bundesregierung uns in diesen Tagen beispielhaft mit
der „ewigen Rentengarantie“ wieder einmal vorführt. Das
sind die Menschen in diesem Lande leid. Eine moderne
Rentenpolitik handelt früh und geht mit ausreichendem
zeitlichen Vorlauf die Lösung der Probleme an, die die
Menschen tatsächlich betreffen. Deswegen bitte ich um
Zustimmung zu dem FDP-Vorschlag zu einer verbesser-
ten Absicherung des Erwerbsunfähigkeitsrisikos.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009 25431
(A) (C)
(B) (D)
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
Was heißt Erwerbsminderung? Es bedeutet, dass Men-
schen aufgrund einer schweren Erkrankung oder eines
Unfalls keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen können.
Es geht hier also um den Schutz einer Gruppe, die ohne
eigenes Verschulden nicht mehr in der Lage ist, ihren
Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Im Durchschnitt
trat die Erwerbsminderung im Jahr 2007 mit 50 Jahren
ein. Überlegen Sie dies und bedenken Sie, wie alt Sie
heute sind.
Wer 50 Jahre ist, soll nach Ihren Vorstellungen, liebe
Abgeordneten der Grünen, noch 17 Jahre arbeiten. Aber
diese Menschen können es nicht mehr. Ich will Sie auch
daran erinnern, dass die rot-grüne Bundesregierung den
Zugang zu den Erwerbsminderungsrenten 2001 er-
schwert und Abschläge von über 10 Prozent auf die Er-
werbsminderungsrenten eingeführt hat. Ihre Fraktion be-
fürwortet noch immer die Rentenkürzungen durch die
Riester-Rente und den Nachhaltigkeitsfaktor. Bei Ihrem
Kürzungswahn vergaßen Sie jedoch stets die Erwerbs-
minderungsrente und die Menschen, die auf diese ange-
wiesen sind.
Bei der Erwerbsminderung geht es nicht um Alt ge-
gen Jung, wie Sie so gerne behaupten. Es geht hier um
die Solidarität zwischen Menschen, die arbeiten können
und Einkommen erzielen, und solchen, die unter schwe-
ren gesundheitlichen und körperlichen Beeinträchtigun-
gen leiden. Seit dem Jahr 2000, also vor Beginn Ihres
Reformwahnsinns, ist die Durchschnittsrente der Zu-
gänge wegen voller Erwerbsminderung bei Männern im
Westen um fast 15 Prozent auf 712 Euro geschrumpft,
bei teilweiser Erwerbsminderung sogar um rund ein
Drittel. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, Sie haben die Erwerbsminderungsrente gekürzt, wo
Sie nur konnten.
Aber wir reden heute über Ihren neuesten Vorschlag
und nicht über Ihre bisherigen Rentenkürzungen. Ich
will Ihnen auch zugestehen, dass Sie dazugelernt haben.
Also schauen wir doch mal in Ihren Antrag. Was wollen
Sie? Wollen Sie die Abschläge von über zehn Prozent
abschaffen? Nein! Wollen Sie den Riester-Faktor zu-
rücknehmen? Nein! Wollen Sie den Nachhaltigkeitsfak-
tor streichen? Nein! Keine Ihrer bisherigen Kürzungen
wollen Sie zurücknehmen. Dennoch trägt Ihr Antrag den
schönen Titel: „Erwerbsminderungsrente gerechter ge-
stalten“. Sie wollen mit Ihrem Antrag Wahlkampf ma-
chen. Das mag Ihren Wahlergebnissen nutzen, verbessert
aber nicht die Situation der Betroffenen.
Wer nach der Substanz Ihres Antrages sucht, der wird
herb enttäuscht. Sie wollen für alle, die vor dem 60. Le-
bensjahr in Erwerbsminderungsrente gehen, die Zurech-
nungszeit um zwei Jahre verkürzen, ihnen also erneut
die Renten kürzen. Einzig, wer zwischen dem 60. und
dem 65. Lebensjahr in eine Erwerbsminderungsrente
geht, würde durch Ihren Vorschlag ein bisschen besser-
gestellt. Völlig vergessen haben Sie aber die Schwerbe-
hinderten; deren Renteneintrittsalter wollen Sie weiter
auf 65 Jahre anheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, Sie haben nichts aus der Vergangenheit
gelernt. Deshalb werden wir als Fraktion Die Linke Ih-
ren Antrag ablehnen.
Zum Schluss noch kurz etwas zum Antrag der FDP.
Während der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahr-
zehnten setzen Sie auf mehr Spekulation und Aktien in
der Vorsorge. Bravo, niemand zieht aus der Finanzkrise
weniger Konsequenzen als Sie! Aber immerhin bleiben
Sie – anders als die Grünen – Ihrem Privatisierungs-
wahnsinn und der Zerschlagung des gesetzlichen Siche-
rungssystems treu. Sie fordern in Ihrem Antrag: mehr
private Vorsorge, mehr Aktien und damit letztlich mehr
Risiken auf dem Rücken der Betroffenen. Dabei zeigt
die Krise mehr als deutlich: Versicherungen können es
auch nicht besser. Für die Menschen aber ist es ein Lot-
teriespiel. Erst wenn sie in Rente gehen, werden sie wis-
sen, ob sie eine Niete gezogen haben. Mit Nieten lässt
sich leider nur kein Lebensabend gestalten. Daher ver-
steht es sich von selbst, dass wir als Linke Ihren Antrag
ebenfalls ablehnen werden.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Zu Recht weisen Experten auf das steigende
Risiko von Armut im Alter bei erwerbsgeminderten Ver-
sicherten hin und fordern Nachbesserungen. Denn die
allgemeine Niveauabsenkung in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung betrifft auch die Erwerbsminderungs-
rente. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren das
Zugangsalter von Erwerbsgeminderten kontinuierlich
gesunken ist: in den letzten zehn Jahren um immerhin
zwei Jahre. Wenn wir nicht gegensteuern, verliert die Er-
werbsminderungsrente ihre Funktion für existenzielle
Sicherheit von Menschen mit einer Erwerbsminderung.
Die FDP hat in ihrem Antrag, den wir heute ebenso bera-
ten, einen anderen möglichen Ansatz gewählt. Sie macht
Vorschläge zur Nachbesserung in den Bereichen der pri-
vaten und betrieblichen Altersvorsorge, damit auch die
Erwerbsminderung in diesen Säulen abgesichert ist.
Wir Bündnisgrünen haben uns die Frage gestellt:
Welches ist der vorrangige Weg, damit Menschen, die
aus gesundheitlichen Gründen oder wegen einer Behin-
derung nicht bis zum Rentenalter arbeiten können, den-
noch vor Armut im Alter geschützt sind? Unsere grund-
sätzliche Antwort lautet: Der Schutz vor Armut im Alter
muss in der ersten Säule erfolgen. Denn wir wollen
nicht, dass nur Versicherte, die sich eine ergänzende Al-
tersvorsorge leisten können, vor Armut im Alter ge-
schützt sind. Dieser Grundsatz wird umso deutlicher,
wenn wir uns vergegenwärtigen, dass eine teilweise oder
vollständige Erwerbsminderung und Behinderung be-
reits in sehr jungen Jahren eintreten kann.
Damit die Erwerbsminderungsrente gerechter wird
und einen besseren Schutz vor Armut im Alter bietet, ist
es grundsätzlich erforderlich, die Zurechnungszeit bis zu
dem Zeitpunkt der abschlagsfreien Erwerbsminderungs-
rente anzuheben. Gegenwärtig müsste die Zurechnungs-
zeit bis zum 63. Lebensjahr fortgeführt werden; denn nur
so kann die Benachteiligung infolge einer gesundheitli-
chen Beeinträchtigung oder Behinderung in jungen Jah-
ren ausgeglichen werden. Wir fordern erneut, das
Zugangsalter für eine abschlagsfreie Erwerbsminde-
25432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 227. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
(A) (C)
(B) (D)
rungsrente mit 63 Jahren beizubehalten und somit die
Anhebung nach dem Altersgrenzanpassungsgesetz von
63 auf 65 Jahre wieder rückgängig zu machen. Bereits
bei der Debatte um die Rente mit 67 Jahren hatten wir
verdeutlicht, dass eine Anhebung des Zugangsalters für
die Erwerbsminderungsrente willkürlich ist. Eine ab-
schlagsfreie Erwerbsminderungsrente mit 63 Jahren ist
gerechter als Ausnahmeregelungen für langjährig und
besonders langjährig Versicherte, die eben das Glück ha-
ben, dass sie über eine robustere Gesundheit verfügen
oder unter weniger belastenden Arbeitsbedingungen ar-
beiten konnten.
Die Öffnung der Riester-Rente für das existenzielle
Risiko der Erwerbsminderung finden wir durchaus rich-
tig. Die anderen Vorschläge des FDP-Antrags lehnen wir
ab; sie sind überflüssig und haben mit solidarischer Ab-
sicherung nichts zu tun. Die FDP scheint vor allem bei
ihrer zweiten Forderung die Interessen der Versiche-
rungswirtschaft im Auge zu haben. Natürlich würden
sich die Versicherungen freuen, wenn sie den Garantie-
Möglichkeit, noch in dieser Wahlperiode eine sinnvolle
Verbesserung für Erwerbsgeminderte zu unterstützen.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Anlage 44
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Renate Schmidt (Nürnberg),
Klaus Hagemann, Jürgen Kucharczyk, Ute
Kumpf, Lothar Mark, Hilde Mattheis, Ortwin
Runde, Dr. Hermann Scheer und Dr. Angelica
Schwall-Düren (alle SPD) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 13 a)
Wir stimmen dem Vierten Gesetz zur Änderung des
Sprengstoffgesetzes zu, weil es einige notwendige Ver-
schärfungen enthält und damit das, was in einem Koali-
zins senken können. Dass dies nicht nötig ist, zeigen die
Tarifverträge der Chemie- und der Metallbranche. Mit
diesen Tarifverträgen wird deutlich, dass die Berufs- und
Erwerbsminderungsrente zu günstigen Konditionen für
die Versicherten in die betriebliche Altersvorsorge ein-
gebaut werden kann.
Ich fasse zusammen: Damit die Erwerbsminderungs-
rente auch gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte
und Behinderte besser vor Armut im Alter schützt, ist
ein ausreichender Schutz in der ersten Säule der Alters-
sicherung vorrangig geboten. Dazu fordern wir eine Bei-
behaltung des Referenzalters von 63 Jahren für eine ab-
schlagsfreie Erwerbsminderungsrente. Zusätzlich muss
die Zurechnungszeit angepasst werden, und zwar grund-
sätzlich bis zur abschlagsfreien Erwerbsminderungs-
rente.
Die SPD hat unseren Ansatz im Ausschuss kritisiert
und kündigt seit inzwischen zwei Jahren eigene Nach-
besserungen an. Heute hätte sie vermutlich die letzte
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
tionskompromiss erreichbar war.
Dennoch bleibt es unterhalb dessen, was nach den
Amokläufen von Jugendlichen zuletzt in Winnenden
notwendig ist, denn in allen Fällen, in denen Jugendliche
mit Waffen Menschen getötet oder verletzt haben, waren
diese Waffen für sie zu Hause erreichbar.
Wir halten deshalb eine weitere Verschärfung des
Waffenrechts in nächster Zukunft für unverzichtbar. Ins-
besondere dürfen Waffen zu sportlichen und Jagd-
zwecken nicht zu Hause gelagert werden.
Selbstverständlich ist das Waffenrecht nur ein, nicht
das einzige Instrument, um zunehmender Gewaltbereit-
schaft entgegenzuwirken. Dazu gehört ein Internet, das
frei von Gewaltverherrlichung ist – so schwer dies er-
reichbar sein mag. Dazu gehört Gewaltprävention an den
Schulen, insbesondere auch Schulsozialarbeit.
All das und einiges mehr muss in der nächsten Legis-
latur auf die politische Agenda.
nd 91, 1
2, 0, T
22
227. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2009
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28
Anlage 29
Anlage 30
Anlage 31
Anlage 32
Anlage 33
Anlage 34
Anlage 35
Anlage 36
Anlage 37
Anlage 38
Anlage 39
Anlage 40
Anlage 41
Anlage 42
Anlage 43
Anlage 44