Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 f auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Beschäfti-
gungschancen älterer Menschen
– Drucksachen 16/4371, 16/4421 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
besserung der Beschäftigungschancen
älterer Menschen
– Drucksache 16/3793 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales (11. Au-
sschuss)
– Drucksache 16/4578 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Kornelia Möller
Rede
bb)Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/4581 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Detlef P
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
zung
en 9. März 2007
.00 Uhr
Weichenstellung für eine Verbesserung der
Beschäftigungschancen Älterer
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Beschäftigungspolitik für Ältere – für ein
wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches
Gesamtkonzept
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bun-
desagentur für Arbeit ermöglichen – Künst-
lerdienste sichern
– Drucksachen 16/241, 16/3027, 16/3779,
16/4578 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Kornelia Möller
c) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
text
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Anpassung der Regelalters-
grenze an die demografische Entwicklung
und zur Stärkung der Finanzierungsgrund-
lagen der gesetzlichen Rentenversicherung
(RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz)
– Drucksachen 16/4372, 16/4420 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur An-
passung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stär-
ng der Finanzierungsgrundlagen der ge-
zlichen Rentenversicherung (RV-Alters-
nzenanpassungsgesetz)
Dirk Niebel,
arr, weiterer
ku
set
gre
– Drucksache 16/3794 –
8662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Petra Pau
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
– Drucksache 16/4583 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der LINKEN
Nein zur Rente ab 67
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Kultur der Altersarbeit – Anpassung
der gesetzlichen Rentenversicherung an län-
gere Rentenlaufzeiten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider
(Saarbrücken), Klaus Ernst, Karin Binder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im
RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (Rente
mit 67) verlängern
– Drucksachen 16/2747, 16/3812, 16/3815,
16/4583 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Hüseyin-
Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Altersteilzeit fortentwickeln
– Drucksache 16/4552 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Hüseyin-
Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Rente mit 67 – Berichtspflicht zum Arbeits-
markt nicht verwässern – Bestandsprüfungs-
klausel konkretisieren
– Drucksache 16/4553 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Zu dem Entwurf eines RV-Altersgrenzenanpassungs-
gesetz – „RV“ soll wohl „Rentenversicherung“ heißen –,
über den wir später namentlich abstimmen werden, liegt
je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP, Die
Linke sowie des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister Franz Müntefering.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
Soziales:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Konzept der Bundesregierung zum Übergang vom
Erwerbsleben ins Rentenalter enthält vier zentrale Ele-
mente: Erstens. Die Anhebung des Renteneintrittsalters
– schrittweise von 2012 an bis zum Jahre 2029 – auf
67 Jahre, mit Sonderregelungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mit 45 Beitragsjahren. Zweitens. Die
Erhöhung der Beschäftigungschancen Älterer mit der
Initiative „50 plus“. Über diese beiden Punkte entschei-
det der Deutsche Bundestag, entscheiden wir heute.
Der dritte Punkt des Konzepts heißt: Ausbau der be-
trieblichen Säule und der privaten Säule – Riesterrente –
zusätzlicher Altersvorsorge. Und viertens. Das Bemühen
um alternsgerechte und altengerechte Arbeit und die Aus-
gestaltung der Phase des Übergangs von der Beschäfti-
gung zur Rente. Diese beiden Elemente stehen noch zur
Diskussion und zur Entscheidungsfindung an.
Wer vor 50 Jahren sein Berufsleben begann, der kennt
noch die 48-Stunden-Woche und weiß, dass damals im
Schnitt zehn Jahre lang Rente gezahlt wurde. Heute ha-
ben wir die 35-bis-40-Stunden-Woche und zahlen 17 Jah-
re lang Rente. Wir treten im Durchschnitt nicht mehr mit
16 ins Berufsleben ein, sondern mit 21. Wir arbeiten auch
in Zukunft nicht länger, sondern weniger lang als die Ge-
nerationen vor uns. 1960 kamen auf einen Rentner acht
Personen im Erwerbsalter. Heute sind es 3,2 Personen.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
2030 werden auf einen Rentner noch 1,9 Personen im
Erwerbsalter kommen; die Rente würde dann durch-
schnittlich 20 Jahre lang gezahlt.
Man kann das alles ignorieren. Klug wäre das nicht
und verantwortlich schon gar nicht. Wir haben aber die
Verantwortung, und zwar für heute und für morgen, auch
für die kommenden Generationen. Wir müssen handeln.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das Problem ist nicht neu, und einiges ist in den vergan-
genen Jahren schon getan worden, um die Balance zwi-
schen den Generationen zu wahren und um das System
der beitragsgestützten Alterssicherung, der klassischen
Rente, zukunftsfest zu machen und so lukrativ wie mög-
lich zu halten. Der Rentenniveausatz sinkt bis 2030 auf
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8663
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Franz Müntefering
rund 43 Prozent. Die Rentenversicherungsbeiträge sollen
bis 2020 nicht über 20 Prozent, bis 2030 nicht über
22 Prozent steigen. Der Eintritt aus Arbeitslosigkeit in
vorgezogene Rente mit Abschlag ist bald erst mit 63 Jah-
ren möglich. Aus der Bundeskasse fließen jährlich rund
78 Milliarden Euro in indirekte oder direkte Rentenzah-
lungen – übrigens: 78 Milliarden Euro von 265 Milliar-
den Euro, die der Haushalt insgesamt umfasst. Ich sage
das für die, die schlichtweg mehr Geld aus der Steuer-
kasse fordern. Auch um diese Perspektive nicht leichtfer-
tig ins Rutschen zu bringen, verschieben wir das Renten-
eintrittsalter ab 2012 in achtzehn Jahresschritten bis
2029 von 65 auf 67 Jahre. Meine Damen und Herren,
wenn daran Kritik geübt wird, gibt es vor allen Dingen
zwei Fragen, die man ernst nehmen muss. Die erste Frage
heißt: Gibt es denn Arbeit für die, die schrittweise länger
arbeiten sollen und wollen? Die zweite Frage lautet: Kann
man physisch und psychisch bis 67 Jahre arbeiten?
Zur Antwort auf die erste Frage, ob es denn Arbeit
gibt, trägt die Initiative „50 plus“ bei, die wir heute
ebenfalls auf den Weg bringen. 1998 waren 39 Prozent
der über 55-Jährigen in Deutschland in Beschäftigung.
Heute sind es 48 Prozent. Noch vor 2010 wollen wir bei
über 50 Prozent sein. Ich habe keinen Zweifel, dass wir
das schaffen werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: Und was ist mit den anderen?)
Ich bin sicher, das schaffen wir so wie die skandinavi-
schen Länder auch. Dort liegt diese Zahl bei über
70 Prozent. So anders als bei uns sind die Lebens- und
Arbeitsbedingungen dort nicht. Seit Anfang 2006 ist die
Zahl der Arbeitslosen in der Gruppe der über 50-Jähri-
gen in Deutschland um 170 000 gesunken. Es gibt zur-
zeit 853 000 offene Stellen in Deutschland, 624 000 da-
von sind unmittelbar bei der BA gemeldet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist, ob
wir als Gesellschaft wollen. Ob wir wollen, dass Arbeit-
nehmer nicht mehr mit 50, 55 oder 60 Jahren als un-
brauchbar ausgegliedert werden. Ob wir wollen, dass sie
eine echte Chance haben. Wir jedenfalls wollen das.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Allerdings müssen einige große Unternehmen damit auf-
hören, ihre Mitarbeiter auf Kosten der sozialen Siche-
rungssysteme so früh wie möglich in die Frühverrentung
zu drängen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr rich-
tig!)
Die Initiative „50 plus“ nimmt bestehende Aktivitäten
auf, die schon seit einigen Jahren zu Erfolgen führen,
und gibt ihnen neue Impulse. Viele Firmen erkennen in-
zwischen den Vorteil eines vernünftigen Altersmix in ih-
rer Belegschaft. Es tut sich etwas. Das verstärken wir mit
unserer heutigen Entscheidung. Durch Kombilohn, Ein-
gliederungszuschuss und Weiterbildungsangebote wird
die Integration der über 50-jährigen Arbeitslosen von der
BA und vom Bund gefördert. Die Initiative „50 plus“
kann ein neuer Anfang werden. Man muss es, wie ge-
sagt, nur wollen.
Auf die zweite Frage, ob man überhaupt bis 67 arbei-
ten kann, gibt es zwei Antworten, die einander ergänzen:
Die erste Antwort lautet: Man kann. In zahlreichen
Berufen geht das, aber nicht in allen. Wir müssen in ei-
ner älter werdenden Gesellschaft systematisch darange-
hen, altersgerechte Arbeiten und altengerechte Arbei-
ten zu entwickeln und zu aktivieren. Die Humanisierung
der Arbeitswelt, der Arbeitsschutz ist wichtig. Das ist
keine Aufgabe von gestern und vorgestern, sondern
bleibt eine zentrale Herausforderung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Arbeit wird immer anstrengend sein; keine Illusion.
Der Verschleiß ist unabwendbar. Aber durch aktiven Ar-
beitsschutz, gezielte Prävention und vernünftige Arbeits-
zeitgestaltung ist ein Teil der Belastungen vermeidbar,
die heutzutage insbesondere zulasten der Augen, des Rü-
ckens und der Psyche gehen. Ich fordere Arbeitgeber
und Gewerkschaften auf, sich dieser Herausforderung
bewusst und gezielt zu stellen. Seitens der Politik wer-
den wir helfen, soweit das nur geht.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Aber das ist eine Aufgabe, die vor Ort in den Betrieben
bewältigt werden muss. INQA ist eine Initiative, in der
bereits eine Reihe von Firmen, unterstützt von der Poli-
tik, an dieser Herausforderung arbeiten, und zwar mit
Erfolg.
Die zweite Antwort auf die Frage, ob man überhaupt
bis 67 arbeiten kann, lautet: Das ist individuell sehr un-
terschiedlich. Deshalb braucht man individuelle Antwor-
ten. Sie hängen davon ab, welche Arbeit getan werden
soll. Das Argument, dass der 66-jährige Maurer nicht
mehr oben auf dem Gerüst stehen kann, ist in sehr vielen
Fällen richtig. Der 64-jährige Maurer kann das aller-
dings auch nicht mehr.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So ist es!)
Wenn Invalidität gegeben ist, wird es auch in Zukunft
die teilweise oder volle Erwerbsminderungsrente geben.
Teilrente bleibt grundsätzlich möglich, und die Frage
nach dem Zuverdienst ist gestellt. Altersteilzeit in der
klassischen – überwiegend praktizierten – Form wird es
auch über 2009 hinaus geben. Der Eintritt in die vorge-
zogene Rente ab 63 muss nicht zu den vollen Abschlä-
gen führen, wenn rechtzeitig dafür gesorgt wird, dass mit
Zusatzbeiträgen an die Rentenversicherung gegenge-
steuert wird. Arbeitszeit- und Wertkonten können in Ta-
rifverträgen eine größere Rolle spielen als bisher.
Das alles sind Punkte, die – systematischer als bisher –
für den Übergang aus dem Erwerbsleben in die Rente
genutzt werden können. Wichtig für die materielle Si-
cherheit im Alter ist, ob es uns in Deutschland gelingt,
generell den Wohlstand zu halten und zu mehren oder
nicht. Neben die gesetzliche Rente, die das Kernstück
der Alterssicherung in Deutschland bleiben wird, muss
zunehmend die zusätzliche Altersvorsorge treten. Rund
8664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Franz Müntefering
17 Millionen Menschen nehmen an einer betrieblichen
Altersvorsorge teil. Inzwischen sind über 8 Millionen in
die Riesterrente eingestiegen. Hier wollen wir im Laufe
des Jahres noch eine Verbesserung erreichen. Die Koali-
tion will, dass Familien mit aufwachsenden Kindern in
der Riesterrente noch stärker gefördert werden als bis-
her. Wir wollen zudem – da muss die Gestaltung noch
vereinbart werden – den Ankauf von selbstgenutztem
Wohneigentum oder Wohnrechten über die Riesterrente
noch deutlicher als bisher ermöglichen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir haben den Insolvenzschutz für die Betriebsrenten
verbessert. Wir stützen den Anspruch auf Portabilität
solcher Vorsorge. Wenn die Firma insolvent wird oder
wenn der Arbeitnehmer das Unternehmen freiwillig
wechselt, bleibt die angesparte Altersvorsorge sicher;
dafür garantieren wir.
Wenn die Erhöhung des Renteneintrittsalters 2012
konkret wird, wird die Initiative „50 plus“ schon fünf
Jahre wirken. Sie wird auch darüber hinaus die Erhö-
hung des Renteneintrittsalters flankieren. Die heutigen
Entscheidungen sind richtig. Es gibt keinen Grund, den
Menschen in Deutschland wegen dieser Entscheidungen
Angst zu machen. Im Gegenteil: Unser Land braucht den
Erfahrungsschatz, das Wissen und das Können der älte-
ren Generation, um seine Wohlstandsfähigkeit auch in
Zukunft zu behalten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir sichern damit auch die Spielräume für verstärkte
Qualifizierung, Bildung, Ausbildung und Weiterbildung.
Im Jahr 2010 wollen wir in Deutschland 3 Prozent unse-
res Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwick-
lung ausgeben. Für den Bund bedeutet das, dass er rund
6 Milliarden Euro mehr für diese Zwecke einsetzen
muss. Diese Investition in die Innovationsfähigkeit un-
seres Landes ist keine Garantie, aber die einzige Chance,
dass Deutschland auch in Zukunft Hochleistungsland
und Wohlstandsland bleibt und damit auch ein Land mit
insgesamt guter Alterssicherung. Denn das sind wir. Es
gibt arme Rentnerinnen und Rentner; das ist wahr. Ihnen
haben wir mit der Grundsicherung eine materielle Ga-
rantie gegeben. Wahr ist aber auch: Es gab noch nie eine
Generation Älterer, die so zuverlässig und so stabil so-
zial abgesichert war wie diese; das soll so bleiben. Dafür
kämpfen wir als Regierung und als Koalition.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die vorgezogene Rente mit 63 wird 2029 in einem
Hochleistungsland höher sein als eine volle Rente mit 67
in einem Land, das an Schwung verloren hätte. Wir müs-
sen Hochleistungsland bleiben wollen. Deutschland darf
seinen Wohlstand nicht verlieren. Wir müssen jetzt in die
Zukunftsfähigkeit des Landes investieren. Was wir für
die Kinder und die jungen Menschen sowie die Weiter-
bildung ausgeben, ist der beste Garant dafür, dass die
Rente in Deutschland auch in Zukunft sicher ist und dass
die ältere Generation dann in einem Wohlstandsland eine
Rente hat, von der sie leben kann.
Wir müssen den Gesamtzusammenhang sehen. Was
wir jetzt in die Köpfe und Herzen der jungen Menschen
sowie in Ausbildung, Qualifizierung, Forschung und
Technologie investieren, bildet die Grundlage dafür, dass
2020, 2030 die Renten in Deutschland hoch sein werden,
und zwar so hoch, dass die Menschen davon ordentlich
leben können. Das wollen wir. Und das können wir. Mit
den heutigen Entscheidungen helfen wir, dies vorzube-
reiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die steigende Lebenserwartung der Menschen in unse-
rem Land stellt wegen der damit verbundenen längeren
Rentenbezugsdauer eine große demografische Heraus-
forderung für die gesetzliche Rentenversicherung dar.
Die Antwort auf diese Herausforderung erfordert nach
unserem Dafürhalten einen Paradigmenwechsel, also ei-
nen grundlegend neuen Ansatz bei der Gestaltung des
Übergangs von der Arbeit in die Rente. Nicht mehr ein
möglichst frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess,
sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben
muss zum neuen Leitbild werden.
(Beifall bei der FDP)
Denn tatsächlich sind in der Vergangenheit im Rahmen
der Altersteilzeit ältere Arbeitnehmer regelrecht aus dem
Erwerbsleben gedrängt worden. Viele haben die Früh-
verrentung bzw. die Altersteilzeit aber auch bewusst als
einen vergleichsweise sicheren Hafen in Zeiten einer
schwierigen Arbeitsmarktlage für Ältere angesteuert.
Die Rente mit 67 ist nicht die einzige Möglichkeit,
der demografischen Herausforderung zu begegnen. Die
FDP setzt diesem Ansatz das Konzept eines flexiblen
Übergangs in die Rente bei gleichzeitigem Wegfall der
Zuverdienstgrenzen entgegen. Bevor ich Ihnen unser
Konzept erläutere, will ich kurz darauf eingehen, warum
wir Ihren Gesetzesvorschlag zur Rente mit 67 ablehnen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Weil Sie in
der Opposition sind!)
– In der Anhörung ist sehr deutlich geworden, wo die
Schwachpunkte liegen, Herr Brauksiepe. Das ist zum ei-
nen die Tatsache – insofern muss ich dem Minister wi-
dersprechen –, dass der weit überwiegende Teil der Be-
troffenen keine Chance haben wird, bis zum Erreichen
des neuen Renteneintrittsalters von 67 Jahren zu arbei-
ten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8665
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Heinrich L. Kolb
Professor Rürup – Ihr Berater, Herr Müntefering – hat
in der Anhörung offen gesagt, es werde unterstellt, dass
40 Prozent der Betroffenen tatsächlich diese zwei Jahre
länger arbeiteten. Das ist schon sehr viel, wenn wir be-
denken, dass zurzeit nur noch 22 Prozent der Rentenzu-
gänge aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäf-
tigung erfolgen.
Wollen Sie ernsthaft behaupten, Herr Müntefering,
Ihr Konzept „50 plus“ – der zweite Aufguss von Instru-
menten, die sich schon in der Vergangenheit als wir-
kungslos erwiesen haben – werde die Situation grundle-
gend ändern? Das können Sie getrost vergessen. Ich
denke, Ihr Gesetzentwurf zur Verbesserung der Beschäf-
tigungschancen älterer Menschen ist genauso ein Etiket-
tenschwindel wie das Gesetz zur Stärkung des Wettbe-
werbs im Gesundheitswesen. Was Sie uns damit
präsentieren, ist weiße Salbe. Es ist alter Wein in alten
Schläuchen. Die Wirkung liegt nahe bei null.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Wenn Sie das anders sehen würden, Herr Kollege
Brandner und Herr Kollege Schaaf, dann hätten Sie doch
in der Abstimmung in Ihrer Fraktion die Überprüfungs-
klausel mit einem konkreten Beschäftigungsziel scharf
schalten können und sich daran messen lassen, welche
Verbesserungen bei der Beschäftigung älterer Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich erreicht
werden können. Das haben Sie aber nicht getan.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)
Das ist der eine Punkt, den wir kritisieren.
Ein weiterer Punkt sind die massiven verfassungs-
rechtlichen und europarechtlichen Bedenken, die in
der Anhörung vorgetragen wurden und die Ablehnung
Ihres Konzeptes zwingend erforderlich machen. Sie ha-
ben nämlich bei dem Versuch, die Anhebung der Regel-
altersgrenze auf 67 etwas „aufzuhübschen“, eine Aus-
nahmeregelung für besonders langjährig Versicherte in
den Gesetzentwurf aufgenommen, die auf breiten Wider-
spruch der Sachverständigen wie auch der Deutschen
Rentenversicherung selbst gestoßen ist. Kritisiert wird,
dass das Vorhaben gegen das Prinzip der Teilhabeäqui-
valenz verstößt und Frauen, Arbeitslose und freiwillig
Versicherte keine Chance haben, von dieser Sonderrege-
lung Gebrauch zu machen. Insofern gibt es gute Gründe,
mit der Deutschen Rentenversicherung die Verfassungs-
mäßigkeit zu bezweifeln und mit dem Deutschen Juris-
tinnenbund die Unvereinbarkeit mit europäischem Recht
festzustellen.
Auf diese massive Kritik haben Sie aber nicht re-
agiert. Sie haben keine Änderungsanträge vorgelegt, um
den Bedenken Rechnung zu tragen. Das ist ein klarer
Verstoß gegen das Struck’sche Gesetz, wonach angeb-
lich nichts so aus dem Bundestag herauskommt, wie es
hineingegangen ist.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
tion, Ihr Motto lautet vielmehr: Augen zu und durch.
(Beifall bei der FDP)
Ich kann mir vorstellen, dass die SPD-Fraktion nach den
jüngsten Umfragen am liebsten ganz auf die Debatte zur
Rente mit 67 verzichtet hätte. Aber dass Sie uns zumu-
ten, in eineinhalb Stunden zwölf Vorlagen im Parlament
durchzuhecheln, und dass Sie in einer Sitzung des feder-
führenden Ausschusses die Aussprache gar ganz verwei-
gert haben,
(Dirk Niebel [FDP]: Pfui!)
zeigt, dass es Ihnen lieber ist, ein mängelbehaftetes Ge-
setz im Rekordtempo durch das Parlament zu peitschen,
als gemeinsam nach einer tragfähigen Lösung zu suchen.
(Beifall bei der FDP)
Wir legen Ihnen heute einen Entschließungsantrag
vor, der Eckpunkte eines Konzeptes für einen flexiblen
Übergang in die Rente enthält, den sich einer Untersu-
chung der Bertelsmann-Stiftung zufolge zwei Drittel der
Befragten wünschen und den wir für besser geeignet hal-
ten, den Bedürfnissen der Menschen nach individueller
und abgesicherter Lebensgestaltung im Alter gerecht zu
werden.
(Beifall bei der FDP)
Ich will Ihnen dieses Konzept in seinen Grundzügen
beschreiben. Erstens soll nach unserem Konzept für alle
Versicherten ab 60 Jahren der Rentenzugang möglich
sein, wobei die Versicherten wählen können, ob sie eine
Vollrente oder eine Teilrente aus den bis zu diesem Zeit-
punkt erworbenen Entgeltpunkten beziehen wollen. Vo-
raussetzung für den flexiblen Rentenzugang ist alleine
die Grundsicherungsfreiheit. Die Prüfung erfolgt für die
Bedarfsgemeinschaft, sodass in der Regel auch Frauen
der flexible Rentenzugang ermöglicht wird. Wir gehen
davon aus, dass 90 Prozent der Versicherten diese Mög-
lichkeit werden nutzen können.
(Klaus Brandner [SPD]: Mogelpackung!)
Zweitens. Die Grenzen für Zuverdienst neben dem
Rentenbezug werden aufgehoben. Die Versicherten ent-
scheiden selbst, ob und in welchem Umfang sie neben
einem Rentenbezug noch erwerbstätig sein wollen.
(Beifall bei der FDP)
Dadurch wird es möglich, den Lebensstandard auch bei
einem vorzeitigen Rentenbezug zu halten. Für den Zu-
verdienst werden Sozialversicherungsbeiträge gezahlt.
Die durch die Rentenbeiträge erworbenen Entgeltpunkte
können vom Arbeitnehmer zur Erhöhung der eigenen
Rente eingesetzt werden.
Drittens. Es gibt einen individuellen Zugangsfaktor,
mit dem berücksichtigt wird, wie lange der Versicherte
arbeitet. Je länger er arbeitet, desto höher sind der Zu-
gangsfaktor und damit die Rente. Es erfolgt eine für jede
Alterskohorte, für jeden Jahrgang individuelle Berech-
nung des Rentenwertes. Dadurch wird eine gerechte Ver-
teilung der Lasten der Alterung auf die verschiedenen
Jahrgänge erreicht, während im Gesetzentwurf der Ko-
alition die Jahrgänge 1964 bis 1979 besonders stark be-
lastet werden.
8666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Heinrich L. Kolb
Viertens. Wir wollen eine flankierende Reform des
Arbeitsmarktes, sodass diejenigen, die aufgrund der
verstärkten Anreize länger arbeiten wollen, auch länger
arbeiten können.
(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:
Weniger Kündigungsschutz, keine Mitbestim-
mung – das passt zum Rentenkonzept der
FDP!)
Das ist das Konzept. Dieser in vier Punkten umrissene
Ansatz ist im besten Sinne ein liberales Konzept.
(Klaus Brandner [SPD]: Neoliberal!)
Er setzt auf die freie Entscheidung des Einzelnen, wäh-
rend Sie über die Köpfe der Betroffenen hinweg ein hö-
heres Renteneintrittsalter anordnen wollen. Er berück-
sichtigt die verbreiteten Ängste der Menschen in
unserem Lande, im Falle der Arbeitslosigkeit als ältere
Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer auf Hartz IV ver-
wiesen zu werden und jenseits niedriger Schongrenzen
eigenes Vermögen und eigene Altersvorsorge einsetzen
zu müssen.
(Beifall bei der FDP)
Darüber hinaus ist unser Modell – das wird der Regelfall
sein – in den Fällen besonders interessant, in denen bei
reduzierter Arbeitszeit und entsprechend reduziertem
Verdienst eine bisherige Beschäftigung fortgeführt wird.
Hier können durch den Abschlag auf die Teilrente ent-
stehende Lücken nicht nur wieder geschlossen, sondern
sogar überkompensiert, also eine auf Dauer höhere
Rente erreicht werden, was natürlich die Neigung, tat-
sächlich länger tätig zu bleiben, deutlich erhöhen wird.
Dass trotz oder gerade wegen der Möglichkeit eines
Rentenzugangs ab 60 die tatsächlichen Beschäftigungs-
quoten älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
steigen werden, zeigen die Erfahrungen in Dänemark
und in Schweden, wo in der Altersklasse 55 bis 65
61 zw. 69 Prozent der Betroffenen noch erwerbstätig
sind. In Deutschland sind es gerade einmal 45 Prozent.
Das ist der springende Punkt: Erst das Gefühl, nicht
mehr arbeiten zu müssen, aber weiter arbeiten zu kön-
nen, versetzt die Menschen in die Lage, sich für eine
möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben zu entschei-
den.
(Beifall bei der FDP)
Jüngere und ältere Arbeitnehmer stehen auch nicht in
einem Konkurrenzverhältnis, wie es uns die Erfinder der
Altersteilzeit weismachen wollen. Nein, die Älteren ver-
drängen keine Jüngeren, sondern sie treten, wie Profes-
sor Sinn in der Anhörung gesagt hat, mindestens additiv
hinzu, wenn sie nicht sogar Komplemente sind. Ältere
Arbeitnehmer sind in der Lage, Jüngere anzuleiten, ih-
nen zu zeigen, wie man arbeitet, und sie können die Ar-
beit organisieren. Wenn wir diesen Bereich des Arbeits-
marktes stärken, entstehen zugleich auch zusätzliche
Jobs für die Jüngeren. Deswegen bitte ich Sie heute, un-
serem Entschließungsantrag zuzustimmen, den Weg für
ein modernes und flexibles Konzept des Übergangs vom
Arbeitsleben in die Rente freizumachen und den Entwurf
zur Rente mit 67 abzulehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ilse Falk das
Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Ilse Falk (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute in zweiter und dritter Lesung die beiden
Vorhaben, nämlich Verbesserung der Beschäfti-
gungschancen älterer Menschen und Anpassung der Re-
gelaltersgrenze an die demografische Entwicklung, zur
Abstimmung stellen, und zwar unverändert zur Abstim-
mung stellen, dann tun wir das, weil wir überzeugt sind,
dass es auf mittlere Sicht zu dieser Anpassung kommen
muss, um gerade für die jüngere Generation schon heute
ein Stück Verlässlichkeit in der Rentenpolitik zu errei-
chen.
Lassen Sie mich eines vorweg sagen, weil es eng mit
dem Thema Rente verzahnt ist: Wir haben es in dieser
Koalition geschafft, die Arbeitslosigkeit innerhalb eines
kurzen Zeitraums signifikant zu senken, und, was noch
wichtiger ist, wir haben eine Trendwende im Bereich der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreicht. Seit
einigen Monaten verzeichnen wir hier einen beständig
wachsenden Aufwuchs.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle
[FDP]: Das ist bestimmt der Merkel-Auf-
schwung!)
Dies kann nicht oft genug betont werden, und es ist und
bleibt ein Verdienst der Großen Koalition, dieser Regie-
rung und damit der Bundeskanzlerin, die diese Regie-
rung führt.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Und auch von
dem vorhergehenden Kanzler! – Dr. Guido
Westerwelle [FDP]: Oder war es Schröder? Ist
es der Schröder-Aufschwung?)
Diese positive Entwicklung bedeutet Einnahmen für
die sozialen Sicherungssysteme und bewirkt natürlich
auch eine leichte Entspannung in der Rentenkasse.
Gleichwohl sind die beiden Gesetze, über die wir heute
sprechen, notwendig. Ich bin dem Bundesarbeitsminister
dankbar, dass er hierzu die Initiative ergriffen hat
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Okay, es ist
der Münte-Aufschwung!)
und angesichts der massiven Kritik der Opposition und
zahlreicher Verbände, allen voran der Gewerkschaften,
standhaft geblieben ist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Erfreulicherweise steigt die Lebenserwartung. Damit
werden viele in den Genuss einer Rentenbezugsdauer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8667
(A) (C)
(B) (D)
Ilse Falk
kommen, die im Vergleich zu der der Generationen vor
ihnen erheblich länger ist. Gleichzeitig – auch das ist die
Wahrheit – werden nach wie vor zu wenige Kinder gebo-
ren. Damit stößt der Generationenvertrag, wie wir ihn
seit Jahrzehnten kennen, an seine Grenzen. Deshalb
müssen wir bereits heute Maßnahmen ergreifen, um die
Rente für künftige Generationen zukunftsfest zu ma-
chen.
Verbesserte Rahmenbedingungen in der Familienpoli-
tik tragen hoffentlich zur Entschärfung bei. So sollen El-
terngeld und mehr Betreuungsplätze den Eltern die Er-
füllung des Kinderwunsches und die vielfach
gewünschte Vereinbarkeit von Familie und Beruf er-
leichtern.
Dass sowohl Erwerbstätigkeit als auch die Über-
nahme von Erziehungsaufgaben mit der Notwendigkeit
der Alterssicherung von Frauen heute immer eng ver-
knüpft ist, gilt zwar als selbstverständlich, bedarf aber
ganz sicher noch der Verbesserung. Das soll aber nicht
durch die Verabschiedung dieses Gesetzes erreicht wer-
den; vielmehr muss es ganz sicher an anderer Stelle noch
einmal aufgegriffen werden.
Die Anpassung der Regelaltersgrenze sichert die
langfristige Finanzierbarkeit unseres Rentensystems.
Gleichzeitig geben wir den jungen Menschen damit be-
reits heute ein Signal, worauf sie sich einzustellen haben.
Erstens: dass die gesetzliche Rentenversicherung
auch in Zukunft eine solide Basis der Altersversorgung
sein wird.
Zweitens aber auch: dass sie dringend zusätzlich so-
wohl private als auch – nach Möglichkeit – betriebliche
Altersvorsorge betreiben sollten.
Erstaunt habe ich gesehen, dass gerade junge Men-
schen nicht an den Demonstrationen gegen die rentenpo-
litischen Maßnahmen teilgenommen haben.
(Lachen bei der LINKEN – Volker Schneider
[Saarbrücken] [DIE LINKE]: Die stehen hier
vor der Tür! So sehen Sie an den Realitäten
vorbei, Frau Falk!)
Offensichtlich haben sie verstanden, dass es um ihre In-
teressen geht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Es war schon interessant, zu beobachten, dass über-
wiegend diejenigen demonstriert haben, die von den
heute zu beschließenden Maßnahmen überhaupt nicht
betroffen sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Andere, so scheint mir, haben noch nicht einmal reali-
siert, dass die Anpassung bis zum Jahr 2029 stufenweise
erfolgen wird.
Für die Aufgeregtheiten, die in den letzten Wochen
gerade bei den älteren Arbeitnehmern kräftig geschürt
worden sind, gibt es also keinerlei nachvollziehbaren
Grund. Ich sage das bei allem Verständnis dafür, dass
sich die Älteren mit den jungen Kollegen in dieser Frage
solidarisch fühlen.
Die langfristige Finanzierbarkeit der Rentenversiche-
rung ist allerdings nur ein Aspekt, den es zu berücksich-
tigen gilt. Ein weiteres wesentliches Anliegen der heute
zur Beratung anstehenden Maßnahmen ist, dass in Ge-
sellschaft und Wirtschaft ein Umdenken stattfinden
muss.
Einerseits werden sich die jüngeren Arbeitnehmer
darauf einstellen müssen, dass sie den gleitenden Über-
gang in die Rente nicht schon mit 50 Jahren planen kön-
nen, wie das ihre Eltern teilweise getan haben und zum
Teil immer noch tun. Hier gilt es aufzupassen. Während
das allgemeine Renteneintrittsalter langsam, aber kon-
tinuierlich gestiegen ist, sinkt das Alter des Zugangs in
die Erwerbsminderungsrente nach wie vor. Auch das
muss uns zu denken geben, zumal längst nicht immer
körperliche Beschwerden der Anlass sind, sondern im-
mer häufiger psychische Erkrankungen.
Andererseits muss es auch ein Umdenken in den
Unternehmen geben. Hier müssen Veränderungspro-
zesse forciert und aktiv begleitet werden. Dazu gehören
nach meinem Verständnis Themen wie Weiterbildung
und die Unterstützung lebenslangen Lernens. Außerdem
müssen für Arbeitnehmer, die körperlich anstrengende
Arbeit und/oder Schichtarbeit leisten, in der Tat Modelle
weiterentwickelt werden, die sie vor gesundheitlichen
Schäden bewahren. Beispiele wie Arbeitsplatzrotation
im Betrieb zur Verhinderung von einseitigen Belastun-
gen oder Anwendung der Erkenntnisse über die körperli-
chen Auswirkungen der Schichtarbeit müssen umgesetzt
werden. Die Bevölkerungsentwicklung zeigt: Wir müs-
sen in Kürze damit rechnen, dass ältere Arbeitnehmer
auch deswegen gesucht sein werden, weil es gar nicht
mehr genügend Berufseinsteiger geben wird, um den
Bedarf zu decken. Deshalb sind Unternehmen gut bera-
ten, die sich in ihrer Personalpolitik rechtzeitig auf die ver-
änderten Verhältnisse einstellen, schon heute darauf re-
agieren, die Beschäftigten länger in den Betrieben halten
und auch dazu übergehen, wieder ältere Menschen ein-
zustellen, statt sie über Frühverrentungsprogramme in
die Frührente zu schicken. Die Initiative „50 plus“ mit
einem Bündel von Maßnahmen wird hierbei unterstüt-
zend wirksam sein.
Weil die Kritiker hartnäckig das Gegenteil behaupten,
möchte ich einige Anmerkungen zur sozialverträglichen
Ausgestaltung des Gesetzes machen. Der Union war es
ein großes Anliegen, denjenigen, die über Jahrzehnte
hinweg Beiträge gezahlt haben und damit über viele
Jahre Solidarität geübt haben, auch weiterhin einen
vorzeitigen Ruhestand ohne Abschläge zu ermöglichen.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:
Das nennt die Deutsche Rentenversicherung
„Umverteilung von unten nach oben“!)
Deshalb können diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzu-
weisen haben, weiterhin mit 65 Jahren abschlagsfrei in
Rente gehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
8668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Ilse Falk
Ich will aber nicht verschweigen, dass die Sachver-
ständigen in der Anhörung gerade hierzu kritische An-
merkungen gemacht haben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)
Wir halten die getroffenen Regelungen dennoch für rich-
tig und wichtig. Allerdings scheint es aus meiner Sicht
lohnenswert zu sein, die vorgetragenen Anregungen für
einen flexibleren Ausstieg aus dem Erwerbsleben mit
der gebotenen kritischen Sorgfalt ernsthaft zu bedenken.
(Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])
Dabei darf allerdings die Regelaltersgrenze von
67 Jahren ebenso wenig infrage gestellt werden wie die
mit diesem Gesetz verfolgte Zielrichtung.
Auf einen weiteren Punkt möchte ich in diesem Zu-
sammenhang hinweisen, der mir als Familienpolitikerin
besonders wichtig ist. Wer Kinder großzieht, übt eben-
falls Solidarität mit der Gesellschaft. Deshalb soll die
Familienleistung der Beitragsleistung gleichgestellt
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wer Kinder erzieht oder Angehörige pflegt, dem wird
diese Zeit auf die 45 Jahre angerechnet, also drei Jahre
Erziehungszeit, die sich zugleich rentensteigernd aus-
wirken, sowie die Kinderberücksichtigungszeiten, die
zwar nicht finanziell wirksam werden, aber sich mit bis
zu zehn Jahren pro Kind auf die Ermittlung der Beitrags-
jahre auswirken, plus eventuelle Pflegezeiten.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wie viele Kinder muss denn dann
eine Frau haben, dass sie auf 45 Jahre kommt?)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Falk, jetzt geraten Sie langsam in die Phase,
in der Sie die Redezeit Ihrer Kollegen in Anspruch nehmen.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Letzter Satz. – Uns ist klar, dass damit nicht der
Nachteil der lückenhaften Rentenbiografien der Frauen
ausgeglichen werden kann. Aber ohne diese Regelung
hätten noch viel weniger Frauen die Chance,
45 Beitragsjahre zu erreichen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir machen damit einen mutigen Schritt in einer Zeit,
die allen Anlass zu Optimismus gibt. Wir machen es für
die Menschen und nicht gegen sie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsi-
dentin! Warum das Konzept der Regierung nicht
funktioniert, ist mit zwei Sätzen aufgezeigt: Sie können
nicht sagen, wo die Menschen länger arbeiten sollen,
und Sie können auch nicht sagen, wie sie es machen sol-
len.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Das ist Ihr Problem. Deshalb geht Ihr gesamtes Konzept
nicht auf.
(Zurufe von der CDU/CSU)
– Da können Sie grölen, wie Sie wollen; das ist Fakt.
Schauen wir uns die Bauindustrie an: Nur 10 Prozent
erreichen das zurzeit geltende Renteneintrittsalter von
65 Jahren. 33 Prozent scheiden wegen Erwerbsunfähigkeit
vorher aus. Das Durchschnittseintrittsalter ist 58. – Sagen
Sie denen doch einmal, wie sie es hinbekommen sollen,
bis 65 zu arbeiten, ohne dass Sie das Gesetz ändern!
Wenn Sie das können, dann haben Sie vielleicht eine
Chance, hier ernst genommen zu werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Das Institut der Bundesagentur für Arbeit, das IAB,
hat festgestellt: 1,2 bis 3 Millionen zusätzliche Arbeits-
plätze sind notwendig, um das einigermaßen hinzube-
kommen. – Wo sollen die denn sein? Wir erleben doch
gerade das Gegenteil. Schauen Sie sich einmal um! Trotz
des Aufschwungs erleben wir einen Arbeitsplatzabbau.
Wo bitte schön sollen denn die Menschen arbeiten? Ihr
Konzept ist eine pure Luftnummer.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Zuruf von der
CDU/CSU: Wo leben Sie denn?)
Weil auch Sie von der Sozialdemokratie das wissen
– mein Kollege Schaaf weiß das ebenfalls –, haben Sie
den Antrag abgelehnt, der von einigen Sozialdemokraten
eingebracht wurde und darauf zielt, zumindest hinzube-
kommen, dass der Anteil – –
(Elke Ferner [SPD]: Wir haben gar nicht über
den Antrag abgestimmt! Reden Sie doch nicht
so ein dummes Zeug!)
– Ihr habt ihn gar nicht abgestimmt. Ihr habt ihn ver-
schoben nach dem Motto: Wenn du nicht mehr weiter
weißt, gründe einen Arbeitskreis. – Das macht ihr ge-
rade; das ist eure Praxis.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Sie glauben selber nicht, dass Ihr Konzept aufgeht.
Ihr Konzept hat einen wesentlichen Nachteil, nämlich
den, dass es nicht aufgeht; das wissen Sie. Wenn Sie
denken würden, es tatsächlich hinzubekommen, dass der
Anteil der über 55-Jährigen in Arbeit im Jahr 2010 bei
über 50 Prozent liegt, dann hätten Sie es beschlossen.
Wenn Sie wirklich glauben würden, dass Ihr Konzept
funktioniert, dann hätten Sie den Vorschlag des DGB
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8669
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Klaus Ernst
ernst genommen, der empfohlen hat: Macht die Rente
mit 67 dann, wenn die Arbeitslosigkeit auf 2 Millionen
gesunken ist. – Das traut ihr euch aber hinten und vorne
nicht. Das ist der Grund.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Was übrig bleibt, ist eine Rentenkürzung: Wer heute
40 Jahre arbeitet, erhält nach 40 Versicherungsjahren
circa 950 Euro. Angenommen, wir hätten das, was Sie
jetzt beschließen, schon vor 30 Jahren gemacht, dann
läge die Rente jetzt bei 750 Euro, bei Einführung der
Rente mit 67 läge sie sogar bei nur 700 Euro. Das ist Ihr
Konzept. Das ist eine pure Rentenkürzung. Sie machen
Politik zulasten der Leute.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Elke Ferner
[SPD]: Das stimmt doch nicht!)
– Da könnt ihr euch aufregen, wie ihr wollt. Ich weiß,
dass es euch nicht gefällt, wenn man euch die Wahrheit
sagt. Es gab einmal eine Sozialdemokratie, die den Namen
auch verdient hat. Davon seid ihr himmelweit entfernt.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir sind nicht so
marktschreierisch wie du!)
Ich will euch noch etwas sagen, Kolleginnen und Kol-
legen:
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Er will uns was
erzählen!)
Die Rente mit 67, wenn sie denn eingeführt wird, macht
0,3 bis 0,5 Beitragssatzpunkte aus. Da frage ich mich:
Geht es Ihnen wirklich darum, den Beitragssatz stabil zu
halten? Das wesentliche Problem Ihres Ansatzes ist, dass
Sie von der Beitragsstabilität ausgehen und nicht davon,
dass wir in diesem Land eine vernünftige Rente brauchen.
Das ist Ihr Problem. Ich sage Ihnen, worum es wirklich
geht. Bleiben die Beiträge wirklich stabil? Das ist doch
überhaupt nicht wahr. Die Beiträge bleiben nur für die
Arbeitgeber stabil. Die Arbeitnehmer werden sich zusätz-
lich versichern müssen und bei Weitem mehr Belastungen
haben als gegenwärtig. Das ist die Realität.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Die Forschungsgruppe Wahlen sagt, dass gegenwärtig
83 Prozent der Bürger in unserem Land das Anheben des
Renteneintrittsalters ablehnen, 78 Prozent aus dem Lager
der Union, 84 Prozent der SPD-Mitglieder. Ich habe
Herrn Weiß im Ausschuss gehört. Er hat gesagt, die Zu-
stimmung der Bürger zu diesem Konzept nehme zu. Ich
weiß nicht, von welcher Skatrunde er das hat. Das ZDF-
Politbarometer sagt etwas anderes. Deshalb sage ich Ihnen:
Was Sie hier machen, ist eine Politik gegen die große
Mehrheit der Bürger unseres Landes. Deshalb haben Sie
den Anspruch, Volkspartei zu sein, verwirkt.
(Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter
[SPD]: Sie reden dem Volk nach dem Mund!)
– Dazu muss ich Folgendes sagen, Herr Kollege: Wenn
man das Parlament durch den Haupteingang und nicht
durch den Hintereingang betritt, stellt man fest, dass über
dem Eingang „Dem Deutschen Volke“ steht. Wenn ihr so
weitermacht, müsst ihr draufschreiben: „Der Deutschen
Versicherungswirtschaft“. Das kommt eurer Politik nämlich
näher.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Zum Schluss möchte ich Folgendes anmerken:
(Zurufe von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)
Gewerkschaften und Arbeitnehmer werden es nicht ver-
gessen, wenn ausgerechnet die Sozialdemokratie, die ihre
Verbindung zu den Gewerkschaften so gerne betont, so
etwas macht. Heute früh habe ich gesehen, dass der Kol-
lege Steppuhn, ein Mitglied Ihrer Fraktion, gegen dieses
Konzept stimmen wird. Im Gegensatz zu Ihnen, Kollege
Brandner, versteht er noch etwas von der Praxis. Er
weiß, was das bedeutet.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Gegenwärtig würde die SPD 25 Prozent der Stimmen
erhalten. Sie nähern sich zielstrebig, von oben, dem
Projekt 18. Das haben Sie auch verdient. Wenn man, wie
Sie, die Arbeitnehmer auf die Weise betrügt, dass man
vor der Wahl das Gegenteil von dem sagt, was man
nachher macht, und sich dann auch noch über die Be-
schwerden aufregt, wie Herr Müntefering, dann kann ich
dazu nur sagen: Sie tragen dazu bei, dass der Politiker in
diesem Land inzwischen den Ruf eines Trickbetrügers
hat. Hören Sie auf mit dieser Politik!
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt wird
es hoffentlich etwas differenzierter! – Gegen-
ruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wir holen für euch die Kasta-
nien aus dem Feuer!)
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von uns waren in den letzten Monaten zu Veranstal-
tungen von Gewerkschaften und Verbänden eingeladen.
Dort wurde deutlich: Die Rente mit 67 ist gewiss keine
populäre Entscheidung, vor allem weil die meisten Men-
schen diese Entscheidung vor dem Hintergrund der
heutigen Arbeitsmarktsituation sehen; wir haben gerade
gehört, dass das bei der Linksfraktion ähnlich ist.
Dabei ist eines klar, Herr Ernst: Wenn die Rente mit 67
voll wirksam wird, also im Jahre 2029, wird es aufgrund
der demografischen Entwicklung 8 Millionen Menschen
im Erwerbsalter weniger geben.
(Elke Ferner [SPD]: Die können nicht rechnen!)
8670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Wenn Sie die Ihrer Meinung nach zusätzlich benötigten
1,2 Millionen Arbeitsplätze davon abziehen, haben wir
immer noch eine erkleckliche Summe. Ihr Argument
können Sie also vergessen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von
der LINKEN)
Die Unternehmen werden also, ob sie wollen oder
nicht, ihre Jugendzentriertheit aufgeben und sich auf
eine alternde Belegschaft einstellen müssen. Die lange
Übergangszeit von 22 Jahren schafft Planungssicherheit.
Betriebe können rechtzeitig in die betriebliche Weiterbil-
dung und Gesundheitsförderung sowie in eine bessere
Arbeitsorganisation investieren.
Für uns Grüne ist die Integration Älterer in den
Arbeitsmarkt eine wesentliche Voraussetzung für die
Rente mit 67.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir erwarten von der Regierung, dass sie uns alle zwei
Jahre die Beschäftigungssituation der über 55-Jährigen
darlegt, damit möglicherweise weitere Maßnahmen er-
griffen werden können.
Wir stehen zu einer schrittweisen Erhöhung des Renten-
alters, wie sie auch in Großbritannien, Dänemark und
Portugal vorgesehen ist. Wir Grüne stehen dazu, und das
auch in der Opposition. Wir wollen nämlich, dass auch
unsere Kinder noch eine verlässliche Rente bekommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Die Linksfraktion macht es sich einfach. Sie leugnet
die demografische Entwicklung. Neuerdings hat sich
auch die FDP der Fundamentalopposition angeschlossen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wohl
wahr! – Widerspruch bei der FDP)
Noch in der Bundestags-Enquete-Kommission „Demogra-
fischer Wandel“ waren Sie mit uns für eine Verlängerung
der Lebensarbeitszeit. Aber, Herr Kolb, was stört Sie
schon Ihr dummes Geschwätz von gestern?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ralf
Brauksiepe [CDU/CSU]: Leider wahr!)
Ich kann dazu nur sagen: Mit einer solchen Position haben
Sie ein Dauerabo für die Opposition gebucht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Sehr gerne, Herr Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, wären Sie bereit, mir
zuzustimmen, dass Sie hier ein doppelbödiges Spiel
betreiben?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Anton
Schaaf [SPD]: Nein!)
Sie wollen doch die Rente mit 67 ablehnen und haben
kein eigenes alternatives Konzept.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die FDP allerdings hat sich der Mühe unterzogen, hier
einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten, wie die längere
Teilhabe älterer Menschen am Erwerbsleben tatsächlich
gewährleistet werden kann. Das unterscheidet uns.
Wir betreiben keine Fundamentalopposition. Wir
bewerten – genau wie Sie – kritisch den Vorschlag der
Regierung und werden – genau wie Sie – diesen Vorschlag
ablehnen. Wir aber haben einen eigenen Vorschlag anzu-
bieten, von dem wir glauben, dass er besser ist.
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])
An der Stelle stehen Sie ziemlich nackt da. Wären Sie
bereit, mir zuzustimmen?
(Beifall bei der FDP)
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Kollege Kolb, ich freue mich, dass Sie meine
Redezeit verlängern. – Haben Sie vielleicht einmal auf
die Tagesordnung geschaut, ob ein Entschließungsantrag
der Grünen-Bundestagsfraktion darauf steht,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber kein
Konzept!)
der da lautet, dass wir für die Rente mit 67 sind, dass wir
eine Teilrente vorsehen, dass wir die Ausnahmeregelung
ablehnen?
(Klaus Brandner [SPD]: Geschlafen!)
Haben Sie das vielleicht einmal gelesen?
Nun zu Ihrem Konzept. Ich hatte eigentlich nicht so
viel Redezeit, aber wenn Sie mich dazu auffordern, sage
ich etwas dazu.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gerne!)
Sie schlagen vor, dass man statt mit 67 mit 60, aber mit
Abschlägen, in Rente geht
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kann, nicht
muss!)
– ja, gehen kann. Wer kann denn diese Regelung in An-
spruch nehmen? Das sind die gutverdienenden Männer,
die eine entsprechend hohe Rente haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Sie wissen ganz genau, dass sich das Intentegehen
mit 60 und den damit verbundenen Abschlägen in Höhe
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8671
(A) (C)
(B) (D)
Irmingard Schewe-Gerigk
von 25 Prozent nur leisten kann, wer ein hohes Einkommen
hat.
Schauen Sie sich einmal die durchschnittliche Rente
von Frauen an! Sie haben gesagt, von der Möglichkeit
könne nur jemand Gebrauch machen, der mindestens das
Grundsicherungsniveau erreicht. Die durchschnittliche
Frauenrente liegt heute bei 500 Euro. Viele Frauen
könnten überhaupt nicht in den Genuss Ihrer Regelung
kommen. Darum lehnen wir einen solchen Blödsinn ab.
Er ist Ausdruck der Klientelpolitik und passt zu Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD – Fritz Kuhn
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], zu Abg.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] gewandt: Fragen
Sie noch etwas!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten von
Norbert Blüm sind vorbei, in denen man den Menschen
vorgaukeln konnte, die Rente sei sicher. Die Menschen
erwarten auch von der Opposition nicht nur Klamauk
oder Opportunismus, sondern ehrliche Antworten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Zu diesen ehrlichen Antworten gehört, dass bei uns we-
gen der niedrigen Geburtenrate und der steigenden Le-
benserwartung immer weniger Erwerbstätige immer
mehr und immer länger Renten zahlen müssen.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Schon mal was
von Produktivität gehört?)
Darum gerät der Generationenvertrag zunehmend aus
dem Lot. Heute sind es zwei Erwerbstätige – ich habe da
andere Zahlen als Sie, Minister Müntefering –, die für
eine Rente aufkommen müssen, ohne Reformen wäre
das Verhältnis künftig eins zu eins.
Es gäbe andere Möglichkeiten zur Stabilisierung der
Rentenversicherung: Man kann die Beiträge erhöhen;
aber damit belastet man einseitig die Erwerbstätigen.
Man kann auch das Nettorentenniveau kürzen; dann be-
trifft das aber nur die Rentnerinnen und Rentner.
(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
Das wäre eine Rentenkürzung. – Beide Lösungen schei-
den für uns Grüne aus, weil wir nicht einseitig eine Ge-
neration belasten wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Schewe-Gerigk, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Gerne, Kollege Ernst.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass die Arbeitnehmer, wenn sie das Rentenniveau,
das sie heute haben, sichern wollen, zusätzliche Beiträge
in eine private Versicherung geben müssen und damit
natürlich eine faktische Beitragserhöhung haben, die hö-
her ist, als wenn sie paritätisch von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern finanziert würde, oder ist Ihnen das ent-
gangen?
(Beifall bei der LINKEN)
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Das ist mir nicht entgangen, Herr Kollege Ernst. Sie
wissen, dass die Riesterrente inzwischen zu einem Er-
folgsmodell geworden ist: 8 Millionen Menschen haben
inzwischen einen solchen Vertrag abgeschlossen. Es gibt
gar keine bessere Anlagemöglichkeit als diese,
(Lachen bei der LINKEN)
weil sie vom Staat gefördert wird.
Ich sehe hier auf der Tribüne sehr viele junge Men-
schen. Man kann den jungen Menschen wirklich nur ra-
ten, sich rechtzeitig darauf einzustellen.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: In
welchem Aufsichtsrat sitzen Sie denn?)
Denn wenn wir länger leben werden – und wir wissen,
dass die Lebenserwartung weiter steigt –, dann brauchen
wir sehr frühzeitig eine Absicherung, die auf drei Säulen
steht.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das kostet doch
Geld!)
Dazu gehören die gesetzliche Rentenversicherung, die
gegen Armut sichert, eine private Vorsorge und eine be-
triebliche Alterssicherung. Diese drei Säulen werden es
ermöglichen, dass die Menschen auch in vielen Jahr-
zehnten noch ein auskömmliches Leben haben werden.
Dafür stehen wir.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir stehen für Generationengerechtigkeit und darum
unterstützen wir die Initiative von Minister Müntefering
im Grundsatz.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber?)
An dieser Stelle enden allerdings unsere Gemeinsamkei-
ten; denn meine Fraktion ist nicht bereit, Ihrer neuen ab-
schlagsfreien Rente nach 45 Versicherungsjahren zu-
zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Diese Regelung diskriminiert Frauen, Erwerbslose und
Menschen, die spät in den Beruf einsteigen. Die Rege-
lung ist sozial unausgewogen, verstößt gegen europäi-
sches Recht, ist verfassungsrechtlich bedenklich und fi-
nanzpolitisch nicht vertretbar. Zugegeben, das ist jetzt
harter Tobak, aber ich werde das gleich begründen.
Alle Sachverständigen, auch Ihre eigenen, haben das
in der Anhörung so gesehen, und selbst der Bundesrat
hat entsprechende Einwände vorgebracht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
8672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Herr Minister, ich weiß ja, dass die Sauerländer stur
sind, aber nach derart eindeutigen Aussagen hätte ich er-
wartet, dass Sie Ihr Gesetz noch einmal ändern. Sie ver-
fahren nach dem Motto – da muss ich Ihnen Recht ge-
ben, Herr Kolb –: Augen zu und durch. – Ich kann nur
noch einmal den Bundespräsidenten auffordern, diesem
Gesetz seine Unterschrift zu verweigern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungs-
fraktionen, gaukeln den Menschen vor, die abschlagfreie
Rente nach 45 Jahren belohne Menschen in belastenden
Berufen. Das ist wirklich Etikettenschwindel. Der Dach-
decker kommt nicht in den Genuss; der geht nämlich mit
58 Jahren in die Erwerbsminderungsrente. Ein Bauarbei-
ter kommt wegen Zeiten der Arbeitslosigkeit im Winter
nicht auf die 45 Jahre und eine Krankenschwester erst
recht nicht. Profitieren werden von Ihrer Regelung An-
gestellte im öffentlichen Dienst, die schon jetzt eine gute
Versorgung haben. Finanzieren müssen das alle Versi-
cherten. Damit haben Sie Ihr Ziel verfehlt; das wissen
Sie auch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nur 4 Prozent der Frauen, die im Jahr 2004 in Rente
gingen, hatten 45 Beitragsjahre erreicht. Bei den Män-
nern waren es 41 Prozent; das ist das Zehnfache, wenn
ich es richtig ausgerechnet habe. Das ist eine mittelbare
Diskriminierung von Frauen.
Nun halten Sie dagegen: Die Erwerbstätigkeit künfti-
ger Frauengenerationen nehme zu und außerdem gebe es
künftig die Kinderberücksichtigungszeiten. – Dieses
Glatteis betrete ich nicht. Sie müssen sich schon ent-
scheiden: Entweder nimmt die Frauenerwerbstätigkeit
zu, dann werden diese Zeiten gar nicht berücksichtigt,
oder die Frauen geben ihre Erwerbstätigkeit aufgrund ih-
rer Kinder auf; dann erhalten sie die Anrechnungszeiten.
Aber um mit den Anrechnungszeiten zu einer abschlag-
freien Rente zu kommen, müssten nicht erwerbstätige
Frauen mindestens zehn bzw. 15 Kinder bekommen. Ein
solches Familienkonzept hat, glaube ich, noch nicht ein-
mal Die Linke im Saarland, Herr Lafontaine, oder?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Frau Kollegin, Sie haben gleich die Möglichkeit,
noch einmal zu sprechen, weil der Kollege Kolb eine
Kurzintervention angemeldet hat. Ich bitte Sie aber, jetzt
zum Schluss Ihrer Rede zu kommen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme jetzt zum Schluss.
Ich frage die Vertreter und Vertreterinnen der Regie-
rungskoalition: Wie wollen Sie eigentlich einer Verfas-
sungsrichterin erklären, dass jemand, der mit 20 in den
Beruf geht, zwei Jahre länger Rente bezieht als jemand,
der das erst mit 22 Jahren tut, aber die gleichen Renten-
anwartschaften hat? Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß.
Herr Minister, wenn Sie behaupten –
Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie können jetzt nicht noch etwas Neues anfangen.
Bitte den letzten Satz!
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
– das ist wirklich der letzte Satz –, dass Sie mit dieser
Regelung die Akzeptanz der Rente mit 67 erhöhen, kann
ich Ihnen nur sagen: Das ist keine glaubhafte Politik.
Verkaufen Sie die Menschen doch nicht für dumm! Sie
werden ganz schnell merken, wer die Zeche für Ihre Be-
ruhigungspille zahlen muss. Glaubhafte Politik sieht an-
ders aus. Darum werden wir diesem Gesetzentwurf nicht
zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben in Ihrer
Antwort auf meine Frage unser Konzept – ich vermute
einmal: versehentlich – falsch dargestellt. Sie haben
keine weitere Zwischenfrage zugelassen, mit der ich die
Falschdarstellung hätte korrigieren können. Deswegen
muss ich diese Kurzintervention machen.
Erstens will ich Sie darauf hinweisen, dass man nach
dem Konzept der FDP mit 60 in Rente gehen kann, aber
nicht muss. Es ist ein Angebot an ältere Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer. Es ist eine wirksame Rückfallpo-
sition in einer schwierigen Situation, die nicht zuletzt
mit Stimmen der Grünenfraktion in diesem Hause in den
letzten Legislaturperioden herbeigeführt worden ist. Mit
60 den Arbeitsplatz zu verlieren, noch 18 Monate lang
Arbeitslosengeld I zu beziehen und dann auf Hartz IV
zurückgeworfen zu werden – das ist eine menschenun-
würdige Situation, die viele Menschen in unserem Lande
belastet.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Hier sagen wir: Mit dem Angebot der Rente ab 60 wird
es möglich, sich aus eigener Kraft, mit dem, was man bis
zu diesem Zeitpunkt an Anwartschaften erworben hat, in
dieser schwierigen Situation zu helfen. Darum geht es,
Frau Schewe-Gerigk; das muss ich hier deutlich machen.
Zweitens. Ich glaube nicht, dass durch unser Angebot
ein Anreiz zu einer flächendeckenden Verrentung mit 60
erfolgt. Ich weiß nicht, woher Sie die Information haben,
die Abschläge würden 27 Prozent betragen. Ich kann das
nicht nachvollziehen. Nach geltendem Recht sind es
18 Prozent, die man dann aber teilweise ausgleichen
kann. Es ist vollkommen klar: Durch die Kumulation
von Arbeitseinkommen und Rente, die zumindest teil-
weise versteuert werden muss, lohnt sich der Vollrenten-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8673
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Heinrich L. Kolb
bezug ab 60 in der Regel nicht. Aber es wird sehr inte-
ressant sein, eine reduzierte Arbeitszeit mit einer
Teilrente zu kombinieren. Damit eröffnet man den Men-
schen die Möglichkeit, sich Zug um Zug gleitend aus
dem Arbeitsleben zurücknehmen und in das Leben als
Rentner sozusagen hineinzuwachsen. Darum geht es.
Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen will. Für die
Prüfung der Grundsicherungsfreiheit stellen wir auf die
Bedarfsgemeinschaft ab. Das heißt, dass auch Frauen,
die in der Regel niedrigere Ansprüche haben, in die Lage
versetzt werden, ihre bis dahin erworbenen Anwart-
schaften in einen Rentenbezug umzusetzen.
Unser Modell ist kein Modell für Menschen mit höhe-
rem Einkommen. Das Modell steht allen offen.
90 Prozent der Bevölkerung werden die Möglichkeit ha-
ben, von diesem flexiblen Übergang Gebrauch zu ma-
chen. Das sind die Kernpunkte. Sie haben unser Modell
bewusst falsch dargestellt. Deswegen war diese Kurzin-
tervention erforderlich.
(Beifall bei der FDP)
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Kollege Kolb, ich glaube, Sie haben mich be-
wusst missverstanden.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist klar!)
Ich hatte mich zuerst versprochen, habe aber dann ge-
sagt, dass man mit 60 in Rente gehen kann. – Aber wer
kann denn mit 60 in Rente gehen? Schauen Sie doch ein-
mal in der Dokumentation der Anhörung nach, wie hoch
die Abschläge sein werden, wenn man mit 60 in Rente
geht und das Referenzalter, wie Sie auch sagen, 67 ist.
Das können nur Menschen, die ein hohes Einkommen
haben und nebenbei noch etwas verdienen.
Bei dieser Gelegenheit wollen Sie dann gleich noch
einen Kombilohn für Rentner und Rentnerinnen ein-
führen; denn Sie wissen ganz genau: Wenn man mit 60
in Rente gehen und ohne Hinzuverdienstgrenzen, die Sie
ja beseitigen wollen, erwerbstätig sein kann, dann wer-
den die Menschen sicherlich von der Möglichkeit Ge-
brauch machen und noch sehr lange arbeiten, hinzuver-
dienen und ihre Arbeitskraft billig auf dem Arbeitsmarkt
anbieten.
Ich habe Ihr Konzept verstanden. Ich verstehe, dass
die FDP ein solches Konzept vorlegt, weil das wieder
Klientelpolitik ist.
Die Berechnung, wie viele Frauen es sich wegen der
Abschläge nicht leisten können, mit 60 Jahren in Rente
zu gehen, reiche ich Ihnen nach. Wir werden ja sicher-
lich noch einmal darüber diskutieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Gegen die Rente mit 67 gibt es mas-
sive und zuweilen wütende Proteste. Gerade wir Sozial-
demokraten waren in den letzten Monaten Zielscheibe
dieser Aktivitäten.
Dieser Streit ist aus meiner Sicht zum Teil in einer Art
und Weise geführt worden, die ich bisher auch aus harten
politischen Auseinandersetzungen nicht kannte. Abge-
ordnetenkollegen wurden steckbrieflich verfolgt, be-
droht und als Arbeiterverräter beschimpft.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Stimmt auch!)
An mir, als jemand, der seine Heimat in der IG Metall
und sein Leben in den Dienst der Arbeitnehmerinteres-
sen gestellt hat, geht dieser Protest nicht spurlos vorüber.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Um es klar zu sagen: Ich habe Verständnis für die
Sorgen und Ängste der Menschen. Diese Sorgen für die
eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, Ängste zu schü-
ren und die Menschen zu verunsichern, ist jedoch heuch-
lerisch und verantwortungslos.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir haben es gerade wieder gehört: Erwartet wird, dass
eine Politik nach Meinungsumfragen und möglichen
Wahlergebnissen betrieben wird. Das ist keine Politik
aus Verantwortung. Das ist eine Politik, die den Men-
schen Angst macht. Kollege Ernst, dafür haben Sie ge-
rade wieder ein Beispiel geliefert.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] und
der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Für mich und meine Partei will ich hier jedoch klar
sagen: Wir nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst.
(Lachen bei der LINKEN)
Wir wissen: Viele Menschen können es sich nicht vor-
stellen, ihre Arbeit bis zum 67. Lebensjahr durchzuhal-
ten. Natürlich kann man vom Dachdecker nicht erwar-
ten, dass er seine Arbeit auf dem Dachfirst bei Wind und
Wetter noch mit 67 leistet.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:
Statistisch gesehen ist er mit 63 Jahren tot!)
Was kann man zum Beispiel dem Sichtprüfer, der mit
höchster Konzentration stundenlang Tausende von Tei-
len auf mikroskopisch kleine Fehler untersucht, oder
dem Arbeiter im Dreischichtsystem am Band oder den
Pflegekräften, die nicht nur körperlich, sondern auch
psychisch bis an die Grenzen der Belastbarkeit gefordert
werden, zumuten? Die Antwort kann nicht sein: weitere
Arbeitsverdichtungen, längere Tages- und Wochenar-
beitszeiten und weniger Pausen. Nein, wir brauchen eine
8674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Brandner
tägliche Entlastung, angepasste Taktzeiten und weniger
Belastungen. Wir fordern: Die Arbeitsbedingungen
müssen verbessert werden. Arbeit darf nicht krank ma-
chen, Arbeit muss leistbar sein.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das heißt, wir brauchen gesundheitsgerechte und alters-
gerechte Arbeitsbedingungen.
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Wenn
die großen Wirtschaftsverbände die Kraft, die sie für
Forderungen zum Abbau des Kündigungsschutzes, der
Mitbestimmung und der Arbeitnehmerrechte generell
aufbringen, dafür verwenden würden, die Arbeitsbedin-
gungen zu verbessern, dann wären wir in diesem Land
schon ein wesentliches Stück weiter.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir müssen die Arbeit den Menschen anpassen und
nicht umgekehrt. Auch, um Belastungen zu mindern,
brauchen wir in Zukunft gleitende Übergänge. Die
Altersteilzeit bietet diese Möglichkeit, und die Alters-
teilzeit läuft nicht aus. Der Bundesarbeitsminister hat es
hier noch einmal deutlich gesagt und den Menschen da-
mit ein Signal des Vertrauens gesandt: Die Altersteil-
zeitregelung, die durch die Bundesagentur wegen der
hohen Arbeitslosigkeit und der geburtenstarken Jahr-
gänge besonders gefördert worden ist, aber von vornhe-
rein bis zum 31. Dezember 2009 befristet war – also
noch fast drei Jahre gilt –, läuft mit Wirkung des Jahres
2015 aus. Das ist ein langer Planungszeitraum, auf den
man sich einstellen kann. Wir Sozialdemokraten sind
auch bereit, über flexible Übergänge zu reden, durchaus
unter Einbeziehung der Bundesagentur. Aber eine ver-
blockte Altersteilzeitform in der jetzt gültigen Fassung
stellt ein Frühverrentungsmodell dar, das wir im Kern
ablehnen und nicht als zukunftsgerichtet einschätzen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich will an diesem Punkt auch ganz deutlich sagen: Es
ist schon ungeheuerlich, was die Spitzenverbände der
Wirtschaft in diesem Bereich tun. Hier in Berlin laufen
sie den Abgeordneten die Büros ein und fordern laut die
Abschaffung der durch die Bundesagentur geförderten
Altersteilzeit. Vor Ort, zum Beispiel in den Großbetrie-
ben wie Siemens, Bosch und Daimler, werden die Be-
triebsräte unter Druck gesetzt, und es wird gesagt:
Würde es die durch die BA geförderte Altersteilzeit
nicht mehr geben, könnten keine Auszubildenden mehr
eingestellt oder Ausgebildete nicht in ein Anstellungs-
verhältnis übernommen werden. Man muss dazu deut-
lich sagen: Es ist ein Skandal, was sich teilweise im
Land abspielt. Hier werden Betriebsräte instrumentali-
siert. Das ist nicht in Ordnung. Insofern wehren wir uns
gegen diese negative Praxis.
(Beifall bei der SPD)
Für uns, meine Damen und Herren, stand immer fest:
Rente mit 67 kommt nur, wenn ältere Arbeitnehmer
auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben. Das ist
die Voraussetzung für die Anhebung des Renteneintritts-
alters. Deshalb haben wir im Gesetz auch eine Überprü-
fungsklausel vorgesehen. Weil es sich um eine verbindli-
che Überprüfung handelt, sind wir damit eine politische
Verpflichtung eingegangen. Ich kann die Forderung von
Frau Schewe-Gerigk, alle zwei Jahre einen entsprechen-
den Bericht vorzulegen, nur begrüßen. Aus der von der
Bundesagentur veröffentlichten Statistik geht jeden Mo-
nat hervor, wie sich die Zahl der älteren Arbeitslosen in
diesem Land entwickelt bzw. welche Fortschritte beim
Abbau der Arbeitslosigkeit erzielt werden. Die Beschäf-
tigungsquote der Älteren muss steigen; das steht fest.
Mit der Initiative „50 plus“ schaffen wir zum einen Be-
dingungen, dass Ältere gar nicht erst arbeitslos werden
müssen, und zum anderen sorgen wir durch geeignete
Förderinstrumente dafür, dass diejenigen, die arbeitslos
sind, wieder eine Chance auf Beschäftigung bekommen.
(Beifall bei der SPD)
Es tut sich was in diesem Land, meine Damen und
Herren. Man muss sich nur einmal die Datenlage des
letzten Monats vor Augen führen: Die Zahl der arbeitslo-
sen über 50-Jährigen ist im Vergleich zum Vorjahr, also
von Februar 2006 zu Februar 2007, um 172 000 zurück-
gegangen. Wir sehen also, dass sich die Verhältnisse än-
dern. Diesen Prozess müssen wir aktiv gestalten, anstatt
so zu tun, als sei die Welt statisch und die jetzige Aus-
gangssituation für immer festgeschrieben und nicht ver-
änderbar.
(Beifall bei der SPD)
Deshalb sage ich Ihnen, Kollege Ernst, der Sie von einer
Luftnummer bei der Entwicklung der Arbeitslosenzah-
len gesprochen haben, ganz klar: Wer hier Luftnummern
verzapft, spürt jeder anhand der Datenlage. Wir nehmen
die Zahlen ernst. Wenn Sie auch ernst genommen wer-
den wollen, dann sollten Sie diese harten Daten akzep-
tieren.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ha, ha! – Dr. Peter
Struck [SPD]: So ist es!)
Der Schlüssel zu längerer Erwerbstätigkeit liegt in der
fortlaufenden Qualifizierung und Weiterbildung der
Beschäftigten, und zwar, bitte schön, nicht nur in der
Führungsetage, sondern aller Beschäftigten. Zu den jetzt
schon wieder von vielen Unternehmen zu hörenden Kla-
gen über Fachkräftemangel sage ich ganz klar: Der Ge-
setzgeber ist der völlig falsche Adressat. Der Adressat ist
die Wirtschaft selber. Sie hat es jetzt in der Hand, dafür
zu sorgen, dass es genügend Fachkräfte in unserem Land
gibt.
(Beifall bei der SPD)
Wir erwarten in diesem Bereich seitens der Unterneh-
men ganz klar mehr Anstrengungen und mehr aktive Un-
terstützung für die Bemühungen der Betriebsräte, die
Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Ausbau der
Weiterbildungsmöglichkeiten zu forcieren.
Für uns steht fest: Wir müssen den Rentenzugang fle-
xibilisieren. Das ist eine wichtige Aufgabe. Alle Parteien
haben diese Notwendigkeit bei den Beratungen in der
letzten Sitzung des Ausschusses, die sich zu diesem The-
menkomplex über mehrere Stunden erstreckten, Herr
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8675
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Brandner
Kollege Kolb, erkannt. Natürlich müssen die Arbeitsbe-
dingungen verbessert werden. Das ist die Hauptaufgabe
der Unternehmen. Nur so können wir erreichen, dass die
Menschen gesund in Rente gehen können.
Wir wollen die Finanzierungsgrundlage der Rente
stärken. Mehr Menschen in Arbeit; der Weg ist beschrie-
ben. Dazu brauchen wir gutes wirtschaftliches Wachs-
tum; das entwickelt sich zurzeit. Wir wollen die Alters-
grenzen an die demografische Entwicklung anpassen.
Wir wissen: Wir starten später ins Arbeitsleben und
leben länger. Es gibt also keine Verlängerung der Le-
bensarbeitzeit, sondern nur eine Anpassung an die
veränderten Verhältnisse und die Entwicklungen der
Vergangenheit. Wir wollen die Beschäftigungschancen
Älterer erhöhen: durch alternsgerechtes Arbeiten, glei-
tende Übergänge, flexiblen Ausstieg. Das leisten wir mit
dem Tandem der vorliegenden Gesetzentwürfe. Beide
Gesetze gehören zusammen, und beide sind – davon bin
ich überzeugt – notwendig und richtig und werden das
deutsche Rentenversicherungssystem zukunftssicher in
die nächsten Jahre führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDP-
Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Jörg Rohde (FDP):
Herr Minister Müntefering! Sehr geehrte Damen und
Herren! Frau Präsidentin! Die heutige Debatte um die
Rente mit 67 und die Maßnahmen zur Verbesserung der
Beschäftigungschancen Älterer beschließen ein miss-
glücktes Kapitel sozialpolitischer Reformversuche, auch
wenn heute natürlich versucht wird, das anders darzu-
stellen.
(Beifall bei der FDP)
Die Rente mit 67 und die arbeitsmarktpolitischen Be-
gleitgesetze werden weder den Menschen, die sie betref-
fen, gerecht, noch lösen sie die anzugehenden Probleme.
(Beifall bei der FDP)
Herr Ernst, warum man die Linke nicht ernst nimmt,
ist mit einem Satz gesagt: Sie bleiben vor dem Hinter-
grund der demografischen Entwicklung die Antwort
schuldig, wie Sie in der Zukunft ein stabiles und finan-
zierbares Rentensystem erreichen wollen.
(Beifall bei der FDP)
Frau Schewe-Gerigk, Sie sind eben auf die Riester-
Rente eingegangen. Die Riester-Rente war nur ein Pro-
pagandatrick, um die Rentenkürzung durch Rot-Grün zu
kaschieren. Auch das muss einmal gesagt werden.
(Beifall bei der FDP)
Herr Brandner hat sich mit der Aufgabe von Betriebs-
räten auseinandergesetzt. Betriebsräte vor Ort sollten
sich weder von Unternehmen noch von Gewerkschaften
oder gar von der SPD instrumentalisieren lassen.
(Beifall bei der FDP)
Sie werden von den Arbeitnehmern vor Ort gewählt.
Deswegen sollen sie unabhängig sein.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)
Dann können sie ihre Aufgabe wahrnehmen.
(Anton Schaaf [SPD]: Deshalb wollen Sie
auch deren Rechte beschränken!)
Die Anhörungen haben gezeigt, dass das vorgeschla-
gene Paket der Arbeitsmarktmaßnahmen unzureichend
ist. Die Beschäftigungsquote Älterer wird nicht nach-
haltig gesteigert. Die von Ihnen aufgeführten Maßnah-
men kann man wieder nur als alten Wein in alten Schläu-
chen bezeichnen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Weder die vorgeschlagene Ausweitung von Weiterbil-
dungsmaßnahmen für befristete Arbeitsverhältnisse
noch Lohnzuschüsse werden die Beschäftigung Älterer
signifikant steigern können.
Entsprechend erwartet das Bundesministerium auch
nur eine Zunahme der Beschäftigung Älterer von bis zu
100 000 Personen, was für die 55- bis 64-Jährigen
gerade einmal eine Steigerung von 1 Prozentpunkt von
45 auf 46 Prozent ausmachen würde. Das kann ja wohl
nicht reichen.
Um den anstehenden Aufgaben gerecht zu werden, ist
es nach Ansicht der FDP notwendig, ein grundsätzliches
Umdenken im Bereich der Rentenversicherung anzusto-
ßen und das Verhältnis von Arbeit und Rentenbezug neu
anzupassen. Die Lebensarbeitzeit der Menschen ist zu
verlängern und dafür die Beschäftigungsquote Älterer zu
erhöhen. Dies kann aber nicht durch eine verordnete
Rente mit 67 über die Köpfe der Versicherten hinweg ge-
schehen. Vielmehr müssen Möglichkeiten zum Beschäf-
tigungsaufbau im Alter durch geeignete Rahmenbedin-
gungen und Anreize geschaffen werden.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Kolb hat eben den konstruktiven Vorschlag der
FDP dargelegt. Mit einem solchen System wird man den
Interessen Älterer gerecht, wie ich an einem Beispiel
kurz schildern möchte: Ein Versicherter, der mit 60 ar-
beitslos wird, weil seine Firma insolvent wird, fällt nach
heutiger Rechtslage erst auf das ALG I und nach
18 Monaten auf das ALG II, Hartz IV, zurück. Er muss
dann sein Vermögen einsetzen, bevor er eventuell, wenn
er 45 Versicherungsjahre gearbeitet hat, mit 63 Jahren in
Rente gehen kann. Allerdings unterliegt er dann – heute
bis zum 65., später bis zum 67. Lebensjahr – engen Zu-
verdienstgrenzen; bei einer Vollrente sind das 350 Euro.
So kann er seine Abschläge nicht durch Zuverdienst aus-
gleichen und seinen Lebensstandard halten.
Mit dem von der FDP vorgeschlagenen Modell kann
der Versicherte entweder sofort nach der Insolvenz oder
nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes I seine Rente
beanspruchen und sie durch Zuverdienst aufstocken, je
8676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Jörg Rohde
nachdem, was für eine Teilzeitbeschäftigung er finden
möchte und kann.
(Beifall bei der FDP)
Dadurch kann er erstens seinen Lebensstandard halten
und zweitens durch den Erwerb von Entgeltpunkten die
Abschläge für die vorzeitige Rente zum Teil ausglei-
chen. Den Versicherten könnten so wirkungsvoll die
Ängste vor einem Rückfall auf Hartz IV im Alter ge-
nommen werden.
(Beifall bei der FDP)
Mit dem FDP-Modell wird so eine freiheitliche Ge-
staltung des Übergangs vom Erwerbsleben zum Ru-
hestand ermöglicht. Genau dies wünschen sich die
Menschen. Es entspricht auch den Erfordernissen einer
älter werdenden Gesellschaft. Zwar sind die Menschen
immer leistungsfähiger – auch bis ins höhere Alter –;
aber das gilt bei weitem nicht für alle Menschen. Daher
muss gerade im Alter ein Wahlrecht für die Versicherten
geschaffen werden, ihren Möglichkeiten entsprechend
zu arbeiten und ihren Lebensstandard zu sichern.
Ich freue mich, dass auch die SPD Überlegungen an-
stellt, wie man den Renteneintritt flexibler gestalten
kann, und dass sie die Vorschläge der FDP vielleicht auf-
greifen möchte. Auch die Gewerkschaften fordern fle-
xible Regelungen. Was Sie heute vorlegen, ist verfas-
sungsrechtlich bedenklich. Daher lehnt die FDP die
Rente mit 67 ab.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe das Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir gehen heute angesichts einer älter werdenden und
schrumpfenden Bevölkerung einen wichtigen Schritt,
um die gesetzliche Rentenversicherung nachhaltig zu si-
chern. Deswegen ist dies ein guter Tag für alle, denen
das solidarische Sicherungssystem am Herzen liegt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dieter Grasedieck [SPD])
Drei Jahre längere Lebenserwartung bis 2030 und
zwei Jahre längere Lebensarbeitszeit: Das bedeutet im-
mer noch ein Jahr längere Rentenbezugszeit. Wer das
leugnet und darauf basierende Maßnahmen bekämpft,
der versucht, Adam Riese zu bekämpfen. Dieser Kampf
ist nicht zu gewinnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Angesichts eines Rückgangs der Arbeitslosigkeit bei den
über 50-Jährigen um 13,4 Prozent allein in einem Jahr ist
dieser Schritt, den wir gehen, verantwortbar.
Wie richtig dieser Gesetzentwurf ist, kann man sehen,
wenn man sich mit dem beschäftigt, was die Opposition
hier vorgelegt hat. Ich will das einmal tun und beginne
mit dem FDP-Antrag.
Dieser Antrag hat eine Vorgeschichte. Herr Kolb hat
auf dem letzten FDP-Parteitag einen Antrag zur Rente
mit 67 gestellt. Herr Westerwelle und Herr Niebel haben
sich dagegen ausgesprochen. Nach dem Motto „Wir sind
doch Opposition! Warum sollen wir das beschließen?“
ist der Antrag abgelehnt worden. Dann haben Sie lange
über die Frage gestritten, ob Sie nun für die Rente mit 67
oder für die Rente mit 65 sind, Herr Kolb. Das vorlie-
gende Ergebnis ist eine Rente mit 60,
(Widerspruch bei der FDP)
allerdings nur für diejenigen, die sich das leisten können.
Sie haben die Frage also nicht beantwortet.
Ihren Antrag haben Sie im Ausschuss wenige Stunden
vor der Sitzung vorgelegt. Auf den Hinweis, warum Sie
so lange gebraucht haben, haben Sie gesagt, Sie hätten
ihn schon ein paar Tage vorher über die „FAZ“ einge-
bracht.
(Widerspruch des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP])
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ist zwar eine gute
Zeitung, aber sie mit einem Verfassungsorgan zu ver-
wechseln, ist doch seltsam. Man muss sich daher nicht
wundern, dass Sie manchmal Probleme haben, zu prü-
fen, ob ein Vorschlag verfassungsgemäß ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Herr Kolb, fragen Sie einmal Ihre Friseurin, welche
Rentenansprüche sie mit 60 hat und ob sie davon leben
kann. Fragen Sie einmal ihren Briefträger bei der nächs-
ten Gelegenheit, welche Ansprüche er mit 60 hat und ob
er davon leben kann. Was Sie uns hier vorlegen, ist doch
zynisch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Brauksiepe, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Fricke?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Gerne.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Bitte.
Otto Fricke (FDP):
Verehrter Kollege Brauksiepe, es ist ja in Ordnung,
wenn sich die Abgeordneten der Regierungskoalition,
wie das jetzt der Fall ist, lieber Stück für Stück an den
Vorschlägen der Opposition abarbeiten als an den eige-
nen Vorschlägen. Wenn Sie, was Ihr gutes Recht ist, un-
sere Vorschläge kritisieren, dann muss ich Sie allerdings
fragen, ob Sie heute wenigstens sagen können: Die
Rente mit 67 ist sicher. Bevor Sie andere kritisieren,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8677
(A) (C)
(B) (D)
Otto Fricke
sollten Sie das tun. Ich möchte Sie daher bitten, diesen
Satz zu sagen.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege, die Kollegin Falk und die Kollegen von
der SPD haben das, was wir zur ersten Lesung einge-
bracht haben, ausführlich erläutert. Mit den von uns vor-
gelegten Entwürfen erreichen wir die Ziele, die wir uns
mit Blick auf das Rentenniveau und die Beiträge gesetzt
haben, und das ist auch notwendig. Sie müssen, wenn
Sie schon solchen Unsinn vorlegen, damit leben, dass
darüber geredet wird. Mir ist klar, dass Ihnen das pein-
lich ist. Wir reden über Ihre Vorschläge, weil sie so unse-
riös sind, dass man sie nicht umsetzen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle
[FDP]: Können wir die Antwort noch einmal
hören?)
Jetzt möchte ich etwas zu dem sagen, was die Grü-
nen hier vorgelegt haben. Ich will ausdrücklich anerken-
nen, dass die Grünen den Grundsatz mittragen, dass die
Lebensarbeitszeit verlängert werden muss. Ich kann fest-
stellen: Die Große Koalition und die Grünen erklären ge-
meinsam: Es muss eine Verlängerung der Lebensarbeits-
zeit über einen langen Zeitraum hinweg geben. Nur FDP
und PDS sind dagegen. Das erkenne ich im Hinblick auf
die Grünen ausdrücklich an.
Nun sind Sie am Ende nach langem Versuchen aber
doch in die Populismusfalle hineingeplumpst. Sie neh-
men Anstoß an einer Günstigstellung von Menschen, die
besonders lange Beiträge gezahlt haben. Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, ich spreche Sie direkt an: Ich bitte Sie
zunächst einmal, bei der Wahrheit zu bleiben. Wenn Sie
sagen, dass bei Bauarbeitern witterungsbedingte Zeiten
der Arbeitslosigkeit nicht mitgewertet werden, dann hat
das etwas mit der Vergangenheit und nichts mit der Ge-
genwart zu tun. Mit der Einführung des Saisonkurzarbei-
tergeldes ist dieses Problem gelöst. Ich bitte, das zur
Kenntnis zu nehmen.
Nun gibt es ja in dieser Zeit interessante Entwicklun-
gen. Oft wimmelt unser ganzes Land von Hobbybundes-
trainern. Seit ein paar Tagen erleben wir, dass die Oppo-
sition voll von Hobbyverfassungsrichtern ist,
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:
So wie Ihr Bundespräsident?)
die alle mal soeben erklären, was alles angeblich nicht
verfassungsgemäß ist.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Meinen Sie Herrn Professor
Rürup? Wen meinen Sie eigentlich?)
Hobbyverfassungsrichter brauchen wir aber nicht.
Wir haben diese gesetzlichen Initiativen geprüft. Die
jetzige Justizministerin war auch unter Ihrer Regierung
Justizministerin. Warum glauben Sie es nicht, wenn von
diesem Justizministerium erklärt wird, dass die geplan-
ten Regelungen verfassungsgemäß sind? Dies hat seine
guten Gründe, Frau Schewe-Gerigk: Die allgemeine
Mindestversicherungszeit beträgt fünf Jahre. Für unter-
tagebeschäftigte Bergleute kennt das Rentenrecht eine
Wartezeit von 25 Jahren. Da bedarf es nicht der Entgelt-
punkte für einen Obersteiger. Und wenn Sie nach
35 Beitragsjahren eine Regelung für langjährig Versi-
cherte in Anspruch nehmen wollen, fragt auch keiner,
welche Entgeltpunkte Sie angesammelt haben. In all die-
sen Fällen geht es nur um die Beitragszeiten.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wo waren Sie denn bei der
Anhörung?)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Brauksiepe, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Wenn ich meinen Gedanken beendet habe, Frau Präsi-
dentin.
Frau Kollegin, Sie haben hier Folgendes gemacht: Sie
haben sich gedacht: Warum sollen wir von der Opposi-
tion ein Gesetz, das umstritten ist, mittragen? Sie haben
ein Haar in der Suppe gesucht, und es leider bei Men-
schen gefunden, die sehr verdienstvoll zu den sozialen
Sicherungssystemen beitragen. Ich sage Ihnen ganz
deutlich: Langjährige Beitragszahler, Menschen, die
45 Jahre in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt
haben, haben Respekt verdient und nicht die Neidde-
batte, die Sie hier führen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Kollege, Sie haben gerade von Hobbyverfas-
sungsrichtern gesprochen. Es ist ja so, dass in der jüngs-
ten Zeit Gesetze der Bundesregierung vom Bundespräsi-
denten kassiert wurden. Würden Sie auch diesen unter
die Hobbyverfassungsrichter einreihen?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Ernst, ich darf Sie auf die Verfassungs-
lage hinweisen, nach der die Verfassungswidrigkeit von
Gesetzen vom Bundesverfassungsgericht festgestellt
wird und nicht vom Bundespräsidenten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Die Verfassungslage ist da eindeutig.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was?)
Der Bundespräsident muss ein Gesetz nicht unterzeich-
nen; aber er ist nicht für die abschließende Feststellung
der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zuständig.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Oh!)
Dafür ist das Bundesverfassungsgericht zuständig.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
8678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Ralf Brauksiepe
Wir sehen jeder Überprüfung dessen, was wir hier vorle-
gen, mit großer Gelassenheit entgegen.
Lassen Sie mich noch wenige abschließende Bemer-
kungen machen. Wir werden insgesamt ein Gesetzespa-
ket verabschieden, das politisch und auch verfassungs-
rechtlich Bestand haben wird. Es geht in der Tat darum,
dass man hier politische Entscheidungen treffen muss.
Wir haben uns politisch entschieden, und wir haben uns
verfassungsrechtlich abgesichert. Ich will deutlich sa-
gen: Man sollte sich nicht hinter der Verfassung verste-
cken, wenn man politische Wertungen vornimmt. Alle
diejenigen, die sich im Ausschuss dazu geäußert haben,
sind nun wirklich keine Verfassungsrichter.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was sind Sie
von Beruf, Herr Kollege?)
– Das ist der Unterschied: Ich lasse mich von Experten
beraten.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber nicht bei
diesem Gesetz!)
Ich muss nicht alles selber wissen, Herr Westerwelle. Ich
nehme das auch nicht für mich in Anspruch.
Wir werden uns noch mit der Initiative „50 plus“ und
der Förderung der beruflichen Weiterbildung beschäfti-
gen. Wie wichtig das ist, sieht man – zwar nicht in der
heutigen Debatte, aber in anderen – am Beispiel des
Herrn Lafontaine. Wer aus Ärger über den Chef die Bro-
cken hinwirft, Jahre später in den Beruf zurückkehrt und
die Zeit dazwischen nicht genutzt hat, sich weiterzubil-
den, der redet so wie Oskar Lafontaine und die PDS in
dieser Debatte.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Deswegen ist es wichtig, dass wir älteren Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern das ersparen.
Wir treten hier nicht an, um einen Populismuspreis zu
gewinnen – wir tun das, was in dieser Situation notwen-
dig ist. Deswegen darf ich mich bei den Mitgliedern der
Bundesregierung und den Kolleginnen und Kollegen der
Großen Koalition herzlich bedanken, dass wir dies ge-
meinsam stemmen.
Lieber Klaus Brandner, du hast im Zusammenhang
mit dieser Debatte von persönlichen Verletzungen ge-
sprochen. Lass mich dazu sagen: Diese Art von Debatte,
wie ihr sie jetzt auch erlebt habt, die haben wir schon
über viele Jahre erlebt, auch vor 1998.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielleicht können wir daraus gemeinsam die Konse-
quenz ziehen, auch wenn wir wieder einmal politische
Gegner sind, dass es Arten des Umgangs miteinander
gibt, die wir nicht wollen und die man sich in einer De-
mokratie schenken sollte.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzli-
chen Dank an alle, die dieses wichtige Gesetz mit vorbe-
reitet haben. Wir setzen heute das gemeinsam als richtig
Erkannte in der Großen Koalition gemeinsam durch, im
Interesse heutiger und zukünftiger Generationen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Brauksiepe, vom Leiden bei Debatten
verstehen auch wir eine Menge, wenn auch in ganz an-
deren Zusammenhängen. Zweitens muss ich Ihnen doch
eine kleine rechtliche Belehrung erteilen: Der Bundes-
präsident ist nicht berechtigt, nach eigenen Vorstellun-
gen zu entscheiden, ob er ein Gesetz unterschreibt oder
nicht. Er ist verpflichtet, Gesetze zu unterschreiben, es
sei denn, sie sind offenkundig grundgesetzwidrig; das ist
der einzige Anhaltspunkt, den er hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aus diesem Grunde hat er zwei Gesetze nicht unter-
schrieben.
Ich finde es gut, wenn wir viele Amateurverfassungs-
richterinnen und -verfassungsrichter haben, weil das
nämlich bedeutet, dass sie sich Gedanken darüber ma-
chen, ob das, was sie beschließen, grundgesetzwidrig ist
oder nicht. Ein Finanzgericht hat gerade festgestellt, dass
Ihre Kürzung der Pendlerpauschale zumindest nach des-
sen Auffassung grundgesetzwidrig ist, und den Fall des-
halb zum Bundesverfassungsgericht geschickt. Ich finde,
etwas mehr Belehrung auf der Strecke ist für Sie sinn-
voll.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Wir haben einen wirtschaftlichen Aufschwung; da-
rauf weisen Sie ständig hin. Doch ich würde Sie gerne
einmal fragen, wer von diesem wirtschaftlichen Auf-
schwung eigentlich etwas hat. Gibt es für die Arbeitslo-
sen irgendeine Verbesserung? Sie haben die Jüngeren
vom Arbeitslosengeld II ausgeschlossen, und es gibt kei-
nen Inflationsausgleich; die Arbeitslosen haben alle Ver-
teuerungen aus eigener Tasche zu bezahlen. Es gibt also
keine Verbesserungen.
Bei den Geringverdienenden kann man nur sagen: Es
gibt jetzt mehr von ihnen. Auch sie bekommen keinen
Inflationsausgleich. Die Geringverdienenden dienen im
Kern nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch
zum Vertuschen, wie hoch die Arbeitslosigkeit tatsäch-
lich ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Kranken bleiben die Zuzahlungen erhalten. Die
Große Koalition hat eine Gesundheitsreform beschlos-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8679
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Gregor Gysi
sen, die ich in bestimmten Teilen für verfassungswidrig
halte – wieder so ein Amateurrichter.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie haben das
doch gelernt!)
Wir werden sehen, ob das eines Tages auch das Bundes-
verfassungsgericht so einschätzt. Klar ist bei der Ge-
sundheitsreform, dass die Beiträge der Versicherten stän-
dig steigen werden. Den Beitrag, den die Unternehmen
zahlen, wollen Sie dagegen an einer bestimmten Stelle
einfrieren. Das Ganze hat mit mehr sozialer Gerechtig-
keit nichts zu tun, ganz im Gegenteil.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben
Sie trotz der zunehmenden Entfernung zwischen Woh-
nung und Arbeitsplatz die Pendlerpauschale für die ers-
ten 20 Kilometer gestrichen und für die restlichen Kilo-
meter deutlich gekürzt. Das hat, wie gesagt, bereits das
erste Finanzgericht als verfassungswidrig eingestuft.
Dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwas
vom wirtschaftlichen Aufschwung hätten, kann also kei-
ner behaupten.
Zur Lohnentwicklung. Wir sind das einzige neoliberal
geprägte Land, das so konsequent ist, dass die Löhne in
Deutschland in den letzten acht Jahren um 0,9 Prozent
gesunken sind – selbst in den USA, in Großbritannien, in
Frankreich, in der gesamten EU sind die Löhne und Ge-
hälter gestiegen. Nur in Deutschland sind sie gesunken.
Jene haben vom wirtschaftlichen Aufschwung nichts.
(Klaus Brandner [SPD]: Sie müssen den Ab-
schluss in der Chemieindustrie sehen!)
– Jetzt gibt es die erste Ausnahme: Im Bereich der Che-
mie ist eine Lohnsteigerung von 3,6 Prozent vereinbart
worden. Ich bin sehr gespannt, wie es in den anderen Be-
reichen ausgeht. Nur, wir müssen hinzufügen: Es gibt
immer weniger Menschen, die tarifgebunden bezahlt
werden; im Osten sind es gerade noch 20 Prozent. Die
anderen Menschen freuen sich schon, wenn sie einen
Haustarif haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nützt der
Wirtschaftsaufschwung also auch nicht.
Nun zu den Rentnerinnen und Rentnern, um die es
heute geht. In dieser Debatte geht es weniger um die
heutigen Rentnerinnen und Rentner als vielmehr um die
künftigen – weshalb ich auch nie verstehe, warum die
Grünen immer sagen, das alles geschehe im Interesse der
jungen Leute. Wieso soll es im Interesse der Jungen lie-
gen, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt Rente be-
kommen?
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf vom BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Ja! Das verstehen Sie
wirklich nicht! Das merkt man immer wieder!)
– Draußen demonstrieren übrigens gerade 3 000 junge
Leute, weil sie von Ihren Vorschlägen so „begeistert“
sind; das sollten Sie sich einmal ansehen.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Seit Jahren gab es für die Rentnerinnen und Rentner
Null- und Minusrunden. Jetzt wird beschlossen, das
Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen.
Bundesminister Glos – der sich gerade amüsiert – und
Bundesminister Schäuble weisen regelmäßig darauf hin:
Das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Sie
müssen das Renteneintrittsalter in Zukunft noch weiter
erhöhen. – Mich würde interessieren: An welches Ren-
teneintrittsalter denken Sie? Wo soll das Ganze enden,
bei 70, bei 75?
(Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie nicht uns an!
Gucken Sie lieber mal in Richtung Union!)
Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Das ist keine Lösung
des Problems.
(Beifall bei der LINKEN)
Wahr ist aber – hier sind wir gefordert –, dass wir Al-
ternativen anbieten müssen. Es reicht nicht aus, nur zu
sagen, dass einem das nicht passt. Solche Alternativen
gibt es. Wir müssen zum Beispiel über die Frage nach-
denken: Wer zahlt eigentlich in die gesetzliche Renten-
versicherung ein? Zu Bismarcks Zeiten taten dies
90 Prozent der Beschäftigten, weil 90 Prozent aller Ein-
kommensbezieher abhängig beschäftigt waren. Heute
sind dies nur noch 60 Prozent. Nur 60 Prozent der Ein-
kommensbezieher sind abhängig beschäftigt und zahlen
in die gesetzliche Rentenversicherung ein.
Deshalb schlagen wir Ihnen erstens vor, schrittweise
dazu überzugehen, alle Einkommensbezieher in die ge-
setzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Dann wäre
das Finanzierungsproblem an einer entscheidenden
Stelle gelöst.
(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brandner
[SPD]: Das ist zwar sachlich richtig, aber ein-
fach nicht machbar! Das wissen Sie! Ein billi-
ger Trick! Dummes Zeug!)
Zweitens. Es gibt Beitragsbemessungsgrenzen. Das
heißt, mit dem oberhalb einer gewissen Grenze liegen-
den Einkommen haftet man nicht mehr für die Renten-
versicherung. Wir schlagen Ihnen vor, die Beitragsbe-
messungsgrenzen schrittweise aufzuheben, sodass man
auch für das höhere Einkommen Beiträge zahlen muss.
Damit die Renten nicht ins Unermessliche steigen, sollte
dieser Rentenanstieg abgeflacht werden. All diese Maß-
nahmen wären grundgesetzgemäß und möglich.
Schließlich schlagen wir Ihnen vor, bei den Unterneh-
men die Sozialabgaben, die Sie leichtfertig Lohnneben-
kosten nennen, nicht länger nach der heutigen Form zu
berechnen, sondern andere Kriterien heranzuziehen.
Man könnte zum Beispiel die Wertschöpfung der Unter-
nehmen zugrunde legen, um bei der Berechnung flexi-
bler vorgehen zu können und zu gerechteren Ergebnis-
sen zu kommen. Ich möchte nicht, dass ein
Unternehmen, das die doppelte Zahl von Beschäftigten,
aber den gleichen Gewinn wie ein anderes Unternehmen
hat, doppelt so hohe Abgaben wie letzteres Unterneh-
men zahlen muss. Hier muss man mehr Gerechtigkeit
herstellen. Das wären echte Reformen. Aber Sie ver-
8680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Gregor Gysi
schieben immer nur alles nach hinten, um die Rente zu
kürzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Lassen Sie mich zum Schluss auf Folgendes hinwei-
sen: Sie ignorieren die ökonomische Tatsache, dass die
Produktivität schneller wächst als die Wirtschaft. Jahr
für Jahr werden in derselben Arbeitszeit mehr Güter her-
gestellt und mehr Dienstleistungen erbracht; so viel kön-
nen wir gar nicht verkaufen. In eine solche Zeit passt
eine Kürzung der Arbeitszeit, nicht aber eine Verlän-
gerung der Arbeitszeit um zwei Jahre.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt nur zwei Gruppen, die etwas vom Wirtschafts-
aufschwung haben – das ist leider viel zu wenig –: die
Best- und Besserverdienenden und ein bestimmter Teil
der Konzerne. Das ist das Problem.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, Herr
Gysi, wir stehen tatsächlich zur Notwendigkeit, die Le-
bensarbeitszeit zu verlängern, und zwar aus Rücksicht
auf die jungen Menschen und die nachfolgenden Gene-
rationen: weil wir sie nicht durch übermäßig hohe Bei-
träge belasten wollen und belasten dürfen. Durch Ihren
Vorschlag, weitere Gruppen in die gesetzliche Renten-
versicherung einzubeziehen, wird dieses Problem nicht
gelöst. Denn das hätte nicht nur zur Folge, dass es mehr
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler gibt, sondern
auch, dass dann eine weitaus größere Gruppe aus dem
Topf der gesetzlichen Rentenversicherung bedient wer-
den müsste und davon profitieren würde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]:
Ganz genau! Aber so weit können die nicht
denken!)
Im Rahmen einer Bürgerversicherung wäre das möglich,
auch wenn es hier zu gewissen Verschiebungen kommen
würde. Aber in der gesetzlichen Kranken- und Renten-
versicherung geht diese Rechnung so nicht auf. Hier
muss man zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Dazu ste-
hen wir.
Wir sagen aber ganz deutlich, dass die Verlängerung
der Lebensarbeitszeit zwingend mit einem noch größe-
ren Kraftaufwand verbunden sein muss, um ältere Men-
schen ins Erwerbsleben zu bringen bzw. sie im Erwerbs-
leben zu halten. Wenn das nicht gelingt, dann ist die
Verlängerung der Lebensarbeitszeit ein verkapptes Ren-
tenkürzungsprogramm. Ich finde, das muss in diesem
Zusammenhang deutlich gesagt werden.
Herr Müntefering, ich bin tatsächlich der Meinung,
dass die Anstrengungen der Regierung im Rahmen der
Initiative „50 plus“ völlig unzureichend sind. Mit
Ihrem Programm erreichen Sie, wenn alles gut läuft, ma-
ximal 100 000 Menschen. Wir haben aber circa 1,3 Mil-
lionen arbeitslose Menschen über 50. Das heißt, hier
stimmen die Relationen bei weitem nicht. Die Zahl der
arbeitslosen älteren Menschen stagniert seit Jahren auf
einem hohen Niveau. Daran hat auch der Konjunkturauf-
schwung nichts Wesentliches geändert. Herr Brandner,
was wirkt, sind in erster Linie die 58er-Regelung, die Al-
tersteilzeitregelung und die Unterbringung von Men-
schen in Maßnahmen. Mit anderen Worten: Was wirkt,
ist die Statistik. Aber im wirklichen Leben hat es keine
großen Veränderungen gegeben. Das tatsächliche Aus-
maß der Arbeitslosigkeit hat sich leider nicht verringert.
Es gibt lediglich Verschiebungen im Zahlenverhältnis
von offener zu verdeckter Arbeitslosigkeit älterer Men-
schen. Hier wird ein Problem mehr verschleiert als tat-
sächlich gelöst. Das müssen wir, die zu dem Konzept
„Rente mit 67“ stehen, deutlich sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist einer der zentralen Gründe dafür, dass es in
der Bevölkerung noch immer großen Widerstand gegen
das Konzept der Rente mit 67 gibt. Nach wie vor sind
weit über 70 Prozent gegen die Verlängerung der Le-
bensarbeitszeit. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Großen Koalition, ein weiterer Grund dafür ist,
dass Sie nicht wirklich für dieses Konzept eintreten und
Überzeugungsarbeit leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir – ich sage ganz bewusst: wir – dieses Projekt
erfolgreich umsetzen wollen, dann reicht es nicht, das im
Parlament mit Mehrheit – egal wie groß sie ist – zu be-
schließen. Vielmehr brauchen wir eine Mehrheit in der
Bevölkerung für dieses Projekt. Das bedeutet, dass wir
dafür kämpfen und argumentieren müssen. Hier darf
man sich nicht in die Büsche schlagen, wie die Vertreter
der Großen Koalition das immer wieder tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie versuchen noch nicht einmal, den Menschen die-
sen notwendigen Schritt plausibel zu machen. Wir Grüne
waren in den vergangenen Wochen und Monaten bei
sehr vielen Podiumsdiskussionen vertreten, genauso
wie Die Linke und die FDP. Diese haben aber Seit an
Seit gegen die Rente mit 67 gekämpft.
(Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE])
Die CDU glänzte durch Abwesenheit, während sich die
SPD als Gegner der Rente mit 67 präsentierte. Wenn wir
Grüne für die Rente mit 67 argumentieren, dann müssen
wir uns anhören, wir würden das Geschäft der CDU be-
treiben. Herr Steppuhn, was sagen Sie eigentlich dazu?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul
Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: So ist das!)
Angesichts dieser Gemengelage sind wir die Einzigen,
die die Rente mit 67 vertreten. Herr Brauksiepe, wir su-
chen nicht das Haar in der Suppe. Vielmehr sind wir die-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8681
(A) (C)
(B) (D)
Brigitte Pothmer
jenigen, die die Suppe servieren, die Ihre Leute offen-
sichtlich gar nicht essen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
So kann man die Menschen nicht überzeugen. Sie
müssen den Rücken gerade machen und sich in den
Wind stellen. Opportunismus und Wegducken nutzen
hier gar nichts. So kommen Sie nicht weiter. Wir werden
jedenfalls nicht länger Ihre Aufgabe erfüllen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPD-
Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Anton Schaaf (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Pothmer, die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in
dieser Frage nicht wegducken. Wir haben am Dienstag
in großer Einvernehmlichkeit beschlossen, dem vorlie-
genden Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich sage das aus-
drücklich, weil das, was Sie hier dargestellt haben, zu-
mindest nicht in Gänze den Tatsachen entspricht. Viele
von uns waren in den letzten Wochen unterwegs, ich per-
sönlich als rentenpolitischer Sprecher meiner Fraktion,
aber auch Klaus Brandner, Elke Ferner, Ludwig Stiegler
und andere. Wir haben überall, wo es strittig war, den
Kopf für diesen Gesetzentwurf hingehalten und ihn ver-
treten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dass es auch andere Meinungen gibt, gestehe ich zu.
Dass das Vorhaben in der SPD-Bundestagsfraktion nicht
unumstritten ist, ist kein besonderes Geheimnis. Dass
wir uns heute nicht leicht tun, in einer so wichtigen
Frage für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
entscheiden, ist für Sozialdemokraten eine Selbstver-
ständlichkeit.
(Beifall bei der SPD)
Zum Gesetzentwurf ist einiges gesagt worden. Des-
wegen will ich mich zunächst mit dem Entschließungs-
antrag der FDP beschäftigen. Sehr geehrter Herr Kolb,
Sie haben Ihr Konzept ausdrücklich als liberal bezeich-
net. Ich habe Ihr Konzept sorgfältig gelesen. Sie haben
das Aktionsprogramm „50 plus“ als weiße Salbe be-
zeichnet und festgestellt, es sei nahezu ohne Wirkung. In
Ihrem Entschließungsantrag finden sich Ihre liberalen
Positionen dazu zwar in Klammern gesetzt, aber klipp
und klar wieder: Einschränkungen für ältere Arbeitneh-
mer beim Kündigungsschutz, bei der Tarifautonomie
und der Betriebsverfassung. Das ist Ihr Aktionspro-
gramm „50 plus“! Das geht aus Ihrem Entschließungs-
antrag eindeutig hervor.
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Das ist richtig!)
Gott sei Dank haben Sie für diesen neoliberalen Weg
– als liberal kann man ihn nämlich nicht bezeichnen –
keine Mehrheiten in diesem Haus.
(Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Sie
haben neoliberal immer noch nicht verstan-
den!)
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
Sie haben gefordert, Versicherten ab 60 Jahren den vor-
zeitigen Rentenzugang zu ermöglichen, wenn sie dies
wollen. In der Anhörung haben aber Ihre Sachverständi-
gen darauf hingewiesen, dass Abschläge in Höhe von
0,3 Prozent pro Monat nicht ausreichen; notwendig seien
vielmehr 0,6 Prozent, also das Doppelte. Bezogen auf
die sieben Jahre, die zwischen einem Rentenzugang mit
60 und der Rente mit 67 liegen, bedeutet das 50 Prozent
Abschläge. Das ist ein Programm für Besserverdienende
und Hochqualifizierte, die sich diese Abschläge leisten
können; das ist aber kein Programm für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die ihr Leben lang schwer gear-
beitet haben.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf
Brauksiepe [CDU/CSU])
Das ist eine Tatsache. Insofern ist Ihr Programm nicht
liberal, sondern zutiefst neoliberal.
Herr Kollege Ernst, Sie haben festgestellt, dass es um
eine Rentenkürzung geht.
(Zuruf von der LINKEN: Ja!)
Wenn man aber berücksichtigt, dass wir die Lebens-
arbeitszeit durch unser aller Dazutun permanent verkürzt
haben und damit die Rentenbezugsdauer immer weiter
angestiegen ist, dann müsste man im Umkehrschluss
feststellen, dass das eine gigantische Rentensteigerung
– nämlich durch die Steigerung der durchschnittlichen
Rentenbezugszeit von zehn auf 17 Jahre – war. Wenn
man wie Sie argumentiert, dann müsste man im Um-
kehrschluss auch das Argument vorbringen. Das tun wir
nicht.
Wir gehen aber davon aus, dass wir – wenn wir diesen
Schritt nicht gehen würden – die Renten auf absehbare
Zeit noch weiter absenken müssen, als es ohnehin not-
wendig wird. Das ist der entscheidende Unterschied zwi-
schen uns.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Ich halte angesichts der zu berücksichtigenden Stell-
schrauben die Rente mit 67 für einen möglichen Weg,
der demografischen Herausforderung zu begegnen. In
der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es drei Stell-
schrauben: die Beiträge, die für die Rentnerinnen und
Rentner erbrachten Leistungen und die Steuern. Vor die-
sem Hintergrund ist die Heraufsetzung des Rentenein-
trittsalters um zwei Jahre für uns der verträglichste Weg,
auf die demografischen Herausforderungen zu antwor-
ten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
8682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anton Schaaf
Was die Erwerbsquote Älterer angeht, haben Sie die
Situation als dramatisch schlecht bezeichnet. Sie ist in
der Tat nicht befriedigend. Genauso unbefriedigend ist,
dass 4,2 Millionen Menschen ohne Arbeit sind. Aber
wenn man die Rente mit 67 ablehnt und die derzeitigen
Arbeitslosenzahlen und die Beschäftigungsquote älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Zukunft
projiziert, dann konstatiert man damit, dass man nicht
mehr daran arbeitet, die Arbeitslosigkeit zu verringern.
Die Sozialdemokraten werden es aber nicht hinnehmen,
dass die Arbeitslosenquote auf dem derzeitigen Stand
bleibt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Widerspruch des Abg.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Wir finden uns mit dieser Tatsache nicht ab. Darin be-
steht der entscheidende Unterschied zwischen uns.
Was beispielsweise Ihre Äußerung angeht, es hätte
eine Quote festgelegt werden müssen, will ich Ihnen ent-
gegenhalten, dass sich seit dem Jahr 2000 die Beschäfti-
gungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer über 55 folgendermaßen verändert hat: In 2000 lag
die Quote der Beschäftigten über 55 in den Betrieben bei
38 Prozent. Mittlerweile sind es 48,9 Prozent. Die Quote
hat sich insofern deutlich verändert.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Statistik!)
Mir kommt es an dieser Stelle nicht darauf an, ob die
Quote 50 Prozent oder 60 Prozent beträgt; die Frage ist
vielmehr, ob wir es bis 2010 – dann soll die Überprü-
fungsklausel tatsächlich zum Zuge kommen – schaffen,
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern reale
Chancen zu bieten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Hilfreich ist dabei keine Quote; es geht vielmehr um die
Chancen, die die Menschen haben. Das ist das entschei-
dende Kriterium, das man zugrunde legen muss.
Des Weiteren haben Sie gesagt – das stimmt mich
sehr nachdenklich, übrigens bin ich dabei auch selbstkri-
tisch; das gebe ich zu –, die Menschen könnten zum Teil
gar nicht so lange arbeiten. In der Tat, das ist so. Es ist
aber auch so, dass ganz viele Menschen es einfach nicht
schaffen, bis 65 zu arbeiten. Man muss schlichtweg da-
zusagen, dass dem so ist.
Was haben wir gemacht? Ich war übrigens daran be-
teiligt und sage Ihnen, was wir gemacht haben. Wenn je-
mand schwer und hart in diesem Land arbeiten musste,
dann haben wir uns weniger um die Arbeitsbedingun-
gen solcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ge-
kümmert als vielmehr darum, dass die Erschwernis be-
zahlt wurde. Die Folge war, dass sich die Menschen
sogar darum gerissen haben, schwer und hart zu arbei-
ten, weil sie mehr verdient haben. Mit 55 waren sie dann
kaputt, und wir, die Akteure im System, die Gewerk-
schafterinnen und Gewerkschafter sowie die Betriebs-
räte, haben nach dem Sozialstaat gerufen, damit er sich
der kaputten Leute annimmt. Wieso lassen wir zu, dass
Arbeit so kaputtmacht, dass sich die Allgemeinheit, der
Sozialstaat, um die Menschen kümmern muss?
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
An dieser Stelle brauchen wir endlich einen Mentalitäts-
wechsel, und zwar bei allen gesellschaftlichen Akteuren.
Lasst uns ernsthaft über die Humanisierung der Arbeits-
welt nachdenken. Humanisierung der Arbeitswelt kann
nicht bedeuten, dass diejenigen, die schwer arbeiten,
besser entlohnt werden, sondern sie müssen besser ge-
schützt werden, damit sie in einem vernünftigen Ge-
sundheitszustand in Rente gehen können. Darum wird es
in Zukunft verstärkt gehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Lassen Sie mich zum Schluss etwas sagen, weil Herr
Ernst auf die Umfragen hingewiesen hat. Wer wird es
ihm verdenken? Ja, Herr Ernst, die Umfragen für die
SPD sind in der Tat im Moment nicht besonders toll. Sie
sagen, wir hätten keine Zustimmung für die Politik, die
wir machen. Insgesamt muss ich feststellen, dass die
Große Koalition, wenn man zusammenrechnet, immer
noch auf 60 Prozent und mehr kommt. Sie kommen auf
8 Prozent Zustimmung. Wenn man den Anteil der
WASG herausrechnen würde, würde die PDS alleine auf
6 Prozent kommen. So sieht es letzten Endes aus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben, zumindest was die gesellschaftlichen Fragen
angeht, eine breite Mehrheit bei allen Umfragen – im
Gegensatz zu Ihnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen: Arbeitnehme-
rinnen- und Arbeitnehmerinteressen waren im Deut-
schen Bundestag, bevor es die WASG gab, bei der So-
zialdemokratie ordentlich aufgehoben.
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der
LINKEN: Waren!)
– Hören Sie gut zu! – Ich sage Ihnen zum Schluss Fol-
gendes: Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteres-
sen werden in diesem Deutschen Bundestag durch die
SPD auch weiterhin ernst und wahrgenommen, wenn Sie
alle schon Geschichte sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir verabschieden heute ein notwendiges Gesetz, näm-
lich ein Gesetz zur Sicherung der Rente in der Zukunft.
Ich danke zu Beginn sehr herzlich vor allen Dingen dem
Bundesminister, dass er so stark dafür eingetreten ist,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8683
(A) (C)
(B) (D)
Max Straubinger
und darüber hinaus den beiden Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD, dass sie in einer schwierigen Phase
eine schwierige Entscheidung für die zukünftige Renten-
politik getroffen haben und trotz starker Kritik an diesem
Gesetz, manchmal auch übermäßiger Kritik, standhaft
geblieben sind.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte dies begründen. Die Lebenserwartung
steigt. Das ist gut für die Menschen in Deutschland. Wir
haben eine längere Rentenbezugsdauer. Auch das ist gut
für die Menschen in Deutschland. Wir haben aber in
demselben Zeitraum einen Rückgang an Beitragszeiten
erwerbstätiger Personen durch verlängerte Ausbildungs-
zeiten und durch Frühverrentungsmaßnahmen. Diese
Last kann zukünftig nicht mehr geschultert werden. Des-
halb sind wir gefordert, die vorgesehenen Maßnahmen
heute zu verabschieden. Ein Letztes: Die demografische
Entwicklung ist für alle, die Entscheidungen herbeifüh-
ren und heute abstimmen, gleich. Heute stehen zwei Bei-
tragszahler einem Rentner gegenüber, im Jahr 2050 wird
ein Beitragszahler einem Rentner gegenüberstehen. Dass
deshalb Maßnahmen notwendig sind, um die Rente für
die Bürgerinnen und Bürger sicher zu gestalten, liegt auf
der Hand. Deshalb kann ich nur alle auffordern, sich an
diesem Prozess zu beteiligen und dem heutigen Gesetz
zuzustimmen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Was wäre – darauf sind schon vielfältige Antworten
gegeben worden, auch vorhin von meinem Kollegen
Anton Schaaf –, wenn wir nichts tun? Linke und Ge-
werkschaften fordern das, und sie tragen tagtäglich ent-
sprechende Ansinnen an uns heran. Wenn wir nichts tun,
dann bedeutet das letztendlich höhere Beitragssätze für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass das in diesem Haus gewollt ist. Ich
kann mir auch nicht vorstellen, dass die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in unserem Land das wollen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Schui?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Bitte, Herr Schui.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass die Produktivi-
tät der Arbeit sich bis zum Jahre 2050 mehr als verdop-
pelt haben wird? Gegenwärtig kann ein Erwerbstätiger
Waren und Dienstleistungen im Wert von 40 Euro pro
Stunde produzieren. In dem von Ihnen angegebenen
Zeitraum wird dieser Wert wahrscheinlich bei 100 Euro
liegen. Aus dieser Masse lässt sich ein steigender Ren-
tenaufwand – die Anzahl der Rentenberechtigten steigt –
doch locker finanzieren.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Kollege Schui, daran erkennt man letztendlich
den Unterschied zwischen den Linken und den Verant-
wortlichen hier im Hohen Hause. Sie verfrühstücken be-
reits das, was prognostiziert wird, während wir uns auf
die wirtschaftlichen Ergebnisse einstellen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
So war auch die Politik in der ehemaligen DDR. Der
Kollege Gysi hat bereits vorhin ein Rentenversiche-
rungssystem angepriesen, in das alle einzahlen, aus dem
aber keiner etwas bekommt. So war es in der Vergangen-
heit in der DDR.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Den Bürgerinnen und Bürgern gerade im Osten Deutsch-
lands ist man dadurch besonders entgegengekommen,
dass sie in die Rentenversicherung der Bundesrepublik
Deutschland eintreten konnten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Er kommt aus
Hamburg!)
– Das macht nichts; aber er vertritt dieselbe Politik.
Heute wurde schon über einen abschlagsfreien Ren-
tenzugang ab dem 65. Lebensjahr nach einer Beitrags-
zahlungsdauer von 45 Jahren unter den verschiedens-
ten – auch unter verfassungsrechtlichen – Aspekten
diskutiert. Ich will mich hier nicht einmischen. Ich
möchte auf etwas sehr Bemerkenswertes hinweisen: Wir
wollen mit einer Sonderregelung diejenigen, die
45 Jahre lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversi-
cherung eingezahlt haben, belohnen. Man kann auch sa-
gen: Wir wollen die Treue zur gesetzlichen Rentenversi-
cherung belohnen. Ich glaube, es ist notwendig, das hier
darzustellen.
Die Kollegen von der FDP treten wie wir besonders
für eine kapitalgedeckte Vorsorge ein. Man hat hier zum
Beispiel noch nie infrage gestellt, dass bei einer abge-
schlossenen Lebensversicherung, in die über die ge-
samte Vertragsdauer eingezahlt wurde, ein Schlussge-
winn anfällt. Ein solcher Gewinn wäre nicht angefallen,
wenn der Vertrag vorzeitig gekündigt worden wäre.
Selbst bei einer kapitalgedeckten Vorsorge wird eine
langjährige Vertragsbindung honoriert. Mit anderen
Worten: Langjährige Treue wird auch hier besonders be-
lohnt. Ich bin der Meinung, dass eine solche Regelung
auch in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenom-
men werden sollte. Dafür stehen wir.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich möchte noch etwas zum Konzept der FDP sagen.
Auf der einen Seite wird gesagt: Wir wollen den Leuten
ermöglichen, bis zum 67. Lebensjahr auf freiwilliger Ba-
sis zu arbeiten; sie können aber mit 60 in Rente gehen.
Die jetzigen Erfahrungen mit unseren Frühverrentungs-
programmen – Sie selbst fordern, sie abzuschaffen – zei-
gen sehr deutlich, dass die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer möglichst früh in Rente gehen wollen. Wenn
wir das Ganze der Freiwilligkeit überlassen, dann wer-
den sich in der Zukunft noch mehr Arbeitnehmerinnen
8684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Max Straubinger
und Arbeitnehmer entscheiden, mit 60 in Rente zu ge-
hen, wenn sie es überhaupt können. Bei Ihrem Modell
wären 25 Prozent und mehr Abschlag notwendig. Das
kann sich vor allen Dingen der geringverdienende Ar-
beitnehmer nicht leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deshalb stehen wir zu unserem Konzept. Das ist so-
zial ausgewogen und sichert die Rente nach dem alten
Blüm’schen Satz: Die Rente ist sicher. – Dafür sorgen
wir hier in Deutschland mit unserer Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Ludwig Stiegler [SPD])
Vizepräsidentin Petra Pau:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schön, dass
Sie sich schon zur namentlichen Abstimmung hier ver-
sammeln. Ich bitte Sie aber, die Gespräche, die vielleicht
dringend zu führen sind, draußen zu führen oder eben
doch einzustellen, sodass wir dem Kollegen
Meckelburg, dem ich jetzt für die Unionsfraktion das
Wort erteile, noch zuhören können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als letzter Redner vor einer namentlichen Abstimmung
hat man es häufig nicht so leicht. Deswegen will ich
nicht mehr viele Zahlen zitieren, sondern die Grundbot-
schaften noch einmal zusammenfassen.
Wir verabschieden heute zwei Gesetze im Doppel-
pack: die Rente mit 67 und die Verbesserung der Be-
schäftigungschancen für Ältere, die sogenannte Initia-
tive „50 plus“. Diese beiden Dinge gehören zusammen.
Aus demografischen Gründen ist es notwendig, das Ren-
teneintrittsalter zu erhöhen, nämlich von 65 auf 67. Ein
solches Ziel ist aber nur erreichbar, wenn wir auch die
Beschäftigung Älterer in den nächsten fünf bis 22 Jahren
– das ist der Zeitraum, über den wir reden – erhöhen.
Die Zahlen zur demografischen Entwicklung sind
genannt worden. Ich will sie noch einmal zusammenfas-
sen. Auf der einen Seite: Die Jüngeren, die Rentenversi-
cherungsbeiträge zahlen, werden immer weniger; die
Beitragszahlungsjahre nehmen ab. Auf der anderen
Seite: Die Älteren, die Rente beziehen, werden immer
älter; die Rentenbezugszeiten nehmen zu.
Die Botschaft Nr. 1 aus diesen Zahlen ist: Für die
Politik ergibt sich Handlungsbedarf, und wir als Große
Koalition handeln.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Alternative dazu wäre: nichts tun und abwarten.
Das endet im Chaos. Die populistische Alternative
dazu wird natürlich wie immer von den Linken vertre-
ten: Augen zu vor der Realität, keine Strukturverände-
rung – denn das könnte den Menschen wehtun –; statt-
dessen alles so lassen, wie es ist, und unter
Missachtung der Notwendigkeit von Korrekturen sogar
noch draufsatteln. Das ist die Position der Linken. Hier
paart sich die Wahrnehmung der Realität nach dem
Motto „Augen zu!“ mit nicht begründetem „Alles wird
gut“-Glauben und zusätzlichen Traumschiff-Verspre-
chungen.
Die Botschaft Nr. 2 lautet: Populismus hilft in dieser
Frage nicht weiter, oder, fürs Volk gesagt: Leute, glaubt
den Linken kein Wort!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Es ist in der Tat so: Sie stehen jeden Tag auf dem
Bahnsteig und warten darauf, dass Sie sich in irgendei-
nen populistischen Zug setzen können. Wenn keiner
kommt, setzen Sie selber einen aufs Gleis. Sie lassen von
allem, was den Menschen wehtun könnte, die Finger. Sie
machen Traumschiff-Versprechungen, die in der Realität
nicht zu halten sind. – Lasst die Finger von den Linken!
(Beifall bei der CDU/CSU)
Rente mit 67. Ich will noch einmal deutlich sagen,
worüber wir reden, weil vor allem diejenigen, die jetzt in
Rente sind, sich darüber aufregen und erhitzen. Alle die,
die jetzt in Rente sind, sind davon gar nicht betroffen.
Wir reden über die Erhöhung des Renteneintrittsalters
über den langen Zeitraum von 22 Jahren. Bis 2011 wird
sich da überhaupt nichts tun. Von 2012 bis 2023 wird das
Renteneintrittsalter jährlich nur um einen Monat erhöht.
In den letzten Jahren, von 2024 bis 2029, wird es jähr-
lich um zwei Monate steigen. Wir werden also erst im
Jahr 2029 die Rente mit 67 Jahren erreicht haben. Das ist
ein langer Zeitraum. Es ist verantwortungsvolle Politik,
wenn man über einen so langen Zeitraum etwas vorbe-
reitet, auf das sich die Menschen, die Wirtschaft und alle
miteinander einstellen können.
Botschaft Nr. 3 also: Die Erhöhung des Rentenein-
trittsalters erfolgt über den langen Zeitraum von
22 Jahren. Das ist Politik mit Verantwortung und Augen-
maß.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir wissen, dass es notwendig sein wird, in der Ge-
sellschaft zu einem Mentalitätswechsel zu kommen. Wir
müssen alle miteinander begreifen, dass es notwendig
ist, länger im Berufsleben zu bleiben. Der Gesetzgeber
begleitet dies mit der Initiative „50 plus“. Ich will die
Maßnahmen noch einmal nennen: Wir werden durch den
Kombilohn für Ältere bei der Entgeltsicherung zu Ver-
besserungen kommen; wir werden den Eingliederungs-
zuschuss für die Einstellung Älterer verbessern; wir wer-
den bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung
etwas tun; wir werden die mehrfache Verlängerung der
Beschäftigungsverhältnisse über befristete Arbeitsver-
träge bis fünf Jahre für Ältere zulassen.
Botschaft Nr. 4 lautet also: Die Bundesregierung, die
Koalition flankiert den Prozess, ältere Menschen in den
Arbeitsmarkt zu bringen. Das ist verantwortungsvoll.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8685
(A) (C)
(B) (D)
Wolfgang Meckelburg
Ich bin zuversichtlich, dass sich die Situation für äl-
tere Arbeitnehmer deutlich verbessern wird. Woher
nehme ich diesen Optimismus?
Erstens. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit
hat die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Be-
schäftigungsverhältnisse bei Älteren – ich spreche über
die 50- bis 65-Jährigen – von Juni 1999 bis 2006 um
730 000 zugenommen. Man muss sich klarmachen, was
das heißt: Wir sind bereits bei einem gesellschaftlichen
Mentalitätswandel angekommen. In einer Zeit, wo die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-
verhältnisse allgemein zurückgegangen ist, hat bei den
über 50-Jährigen ein Aufwuchs stattgefunden, und zwar
seit 1999 um jährlich etwa 100 000. Das gibt mir die
Hoffnung: Alle, vor allen Dingen die Unternehmen und
die Tarifparteien, haben begriffen, dass wir auf diesem
Gebiet etwas tun müssen.
Zweitens. Ein weiterer Grund für meinen Optimismus
ist die Entwicklung des allgemeinen Wirtschaftswachs-
tums.
Wir haben erreicht, dass sich die Beschäftigungssitua-
tion Älterer verbessert hat. Bei der Erwerbstätigenquote
haben wir einen Anstieg auf 48,3 Prozent gegenüber
45 Prozent im Vorjahreszeitraum zu verzeichnen. Gott
sei Dank nimmt generell die Erkenntnis zu, dass ältere
Arbeitnehmer für die Unternehmen notwendig sind. Sie
sind aber nicht nur aufgrund ihrer Erfahrung und auf-
grund des Fachkräftemangels in der Arbeitswelt notwen-
dig, sondern viele ältere Menschen wollen auch wirklich
arbeiten. Botschaft Nr. 5 lautet: Wir sind auf einem gu-
ten Weg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zum Schluss möchte ich ein Versprechen einlösen,
das ich der Kollegin Rita Pawelski gegeben habe, indem
ich darauf hinweise, dass wir im Gesetzgebungsverfah-
ren eine gesetzgeberische Grauzone beim Künstler-
dienst der Bundesagentur geregelt haben. Mit der No-
vellierung des Vermittlungsauftrages der Bundesagentur
unterstützt die Große Koalition Künstler und Kultur-
schaffende, vor allem die vielen selbstständigen, die vie-
len jungen und die nicht berühmten, die sehr gute Leis-
tungen bringen und auf diesen Dienst angewiesen sind.
Diese beiden Gesetze gehören zusammen. Ich bitte
Sie, heute beiden Gesetzen zuzustimmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun-
desregierung sowie von den Fraktionen der CDU/CSU
und SPD eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur
Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Men-
schen. Es handelt sich um die Drucksachen 16/3793,
16/4371 und 16/4421. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/4578, die genannten gleichlautenden
Gesetzentwürfe zusammenzuführen und in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich
gebe zu, Kolleginnen und Kollegen: Es ist etwas schwie-
rig, festzustellen, wer sich aus dem Grund der Zustim-
mung erhoben hat und wer sich in der Erwartung kom-
mender Ereignisse, der namentlichen Abstimmung,
erhoben hat. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Es ist mir
nicht möglich, das genaue Abstimmungsergebnis festzu-
stellen.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/4578 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/241
mit dem Titel „Weichenstellung für eine Verbesserung
der Beschäftigungschancen Älterer“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich in der
Abstimmung fortfahre, bitte ich Sie noch einmal, sich
hinzusetzen und nicht, indem Sie hier vorne stehen,
Abstimmungsergebnisse zu verfälschen.
Wir sind immer noch bei Tagesordnungspunkt 20 b.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/3027 mit dem Titel „Beschäfti-
gungspolitik für Ältere – für ein wirtschafts- und arbeits-
marktpolitisches Gesamtkonzept“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Gibt es Enthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3779 mit dem Titel „Vermittlung in
Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit
ermöglichen – Künstlerdienste sichern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Gibt
es Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung
gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke angenommen.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 20 c: Ab-
stimmung über die von der Bundesregierung sowie von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwürfe eines RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes
auf den Drucksachen 16/3794, 16/4372 und 16/4420.
Mir liegen dazu 37 Erklärungen gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)
1) Anlagen 2 bis 4
8686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4583, die genannten gleichlautenden Gesetz-
entwürfe zusammenzuführen und unverändert anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD, der FDP und der Linken verlangen namentliche
Abstimmung. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen,
bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass
die Stimmkarten, die Sie jetzt gleich verwenden werden,
Ihren Namen tragen und dass sich die Zahl 16 für die
16. Legislaturperiode vor Ihrer Nummer befindet. Ich
bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an allen
Abstimmungsurnen besetzt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
Kastner)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – So, ich glaube, jetzt
haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmen abgegeben.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol-
leginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungs-
anträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4618? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen
der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/4617? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/
CSU und FDP bei Gegenstimmen der Linken abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4619? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Grünen ab-
gelehnt.
Wir setzen die Abstimmung zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Druck-
1) Ergebnis Seite 8688 A
sache 16/4583 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2747 mit dem
Titel „Nein zur Rente ab 67“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und
FDP bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3812
mit dem Titel „Neue Kultur der Altersarbeit – Anpassung
der gesetzlichen Rentenversicherung an längere Renten-
laufzeiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die
Linke, SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3815 mit dem Titel
„Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RV-Alters-
grenzenanpassungsgesetz (Rente mit 67) verlängern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Linken angenommen.
Tagesordnungspunkte 20 e und 20 f. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/4552 und 16/4553 zur federführenden Bera-
tung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur
Mitberatung an den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Gesundheit
zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 d auf:
a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
(3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre-
gierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem Einsatz einer Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan un-
ter Führung der NATO auf Grundlage der Re-
solutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444
(2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623
(2005) und 1707 (2006) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen
– Drucksachen 16/4298, 16/4571 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8687
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/4580 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge in Af-
ghanistan einsetzen
– Drucksachen 16/4047, 16/4576 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)
zu dem Antrag der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Keine Zusage deutscher Tornados ohne Bun-
destagsmandat
– Drucksachen 16/4048, 16/4614 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neues Mandat für Tornado-Einsatz unerlässlich
– Drucksachen 16/4096, 16/4613 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)
Zu dem Antrag der Bundesregierung liegen ein Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über die
Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung
werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern ist der deutsche Entwicklungs- und Wieder-
aufbauhelfer der Welthungerhilfe Dieter Rübling im
Norden Afghanistans ermordet worden. Wir alle trauern
um Dieter Rübling. Wir danken ihm für sein zutiefst
humanitäres Engagement. Unsere Gedanken sind bei der
Familie und den Freunden des Toten. Wir trauern mit
ihnen. Wir trauern mit der Welthungerhilfe, die seit über
zwei Jahrzehnten so wertvolle Arbeit in Afghanistan und
weltweit leistet.
Dieter Rübling ist in dieser schweren Zeit nach
Afghanistan gegangen, um den Menschen dort beim
Wiederaufbau selbstlos zu helfen. Afghanistan nach
Jahrzehnten des Bürgerkriegs, der Fremdherrschaft und
des Talibanregimes wiederaufzubauen und zu stabilisieren,
ist eine der schwierigsten Aufgaben, die es in diesen Tagen
gibt. Die Arbeit der zivilen Helfer und Helferinnen, die
unbewaffnet sind, ist mit großen Gefährdungen und
Risiken verbunden. Dies wird allzu oft vergessen, wenn
von zivilem Wiederaufbau gesprochen wird. Umso mehr
verdienen die Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer in
Afghanistan unser aller Hochachtung, Respekt, Unter-
stützung und Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir fordern alle afghanischen Behörden auf, die Mörder
zu stellen und der gerechten Strafe zuzuführen. Noch
immer wissen wir nicht genug über die Hintergründe
dieses Mordes. Aber ich will sagen: Unser Land hat seit
2001 allergrößte Anstrengungen unternommen, um den
Menschen in Afghanistan zu helfen. Entwicklungshelfer
und Entwicklungshelferinnen sowie Soldaten haben ihr
Leben riskiert, um den geschundenen Menschen in
Afghanistan beim Aufbau ihres Landes zu helfen. Wir
bauen Schulen, wir sorgen für die Wasserversorgung,
wir helfen vor allem den Frauen und Kindern. Die Men-
schen in Afghanistan, die auf uns hoffen, können sich
darauf verlassen, dass wir sie auch in Zukunft nicht im
Stich lassen und uns nicht zurückziehen werden. Das
sind wir ihnen schuldig. Das sind wir aber auch dem
Mitarbeiter der Deutschen Welthungerhilfe schuldig, um
den wir heute trauern. Das sind wir all denen schuldig,
die Aufbauarbeit leisten.
Ich danke Ihnen.
(Beifall im ganzen Hause)
8688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Schwenningen)
Volker Kauder
Thomas Rachel
Hans Raidel
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Ingrid Fischbach Eckart von Klaeden Dr. Peter Ramsauer Willy Wimmer (Neuss)
Vizepräsidentin Dr. h. c
Ich komme zurück zu Tag
gebe das von den Schriftführ
ermittelte Ergebnis der na
über den Entwurf eines R
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 466
nein: 169
enthalten: 4
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Anke Eymer (Lübeck)
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
. Susanne Kastner:
esordnungspunkt 20 c und
erinnen und Schriftführern
mentlichen Abstimmung
entenversicherungs-Alters-
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Frhr. Zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
grenzenanpassungsgesetzes b
men: 581. Mit Ja haben gest
gestimmt 169, Enthaltungen
damit angenommen.
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers (Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Bernward Müller (Gera)
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann (Bremen)
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
ekannt: Abgegebene Stim-
immt 408, mit Nein haben
vier. Der Gesetzentwurf ist
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Karl-Georg Wellmann
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8689
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
SPD
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Caren Marks
Katja Mast
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Michael Müller (Düsseldorf)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Renate Schmidt (Nürnberg)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
SPD
Klaus Barthel
Clemens Bollen
Willi Brase
Martin Burkert
Lothar Mark
Hilde Mattheis
René Röspel
Ottmar Schreiner
Andreas Steppuhn
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
8690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in unser
Dr. Werner Hoyer, FDP-Frak
(Beifall bei
Dr. Werner Hoyer (FDP)
Frau Präsidentin! Liebe K
Namens der FDP-Fraktion d
desministerin, dafür, dass Sie
ben, und für die Worte, die
denke, der ganze Deutsche B
und die Betroffenheit, die S
haben.
(Beifall im ga
Meine Damen und Herre
sonst gar nicht schlecht gewe
terin für wirtschaftliche Zus
lung diese Debatte eröffnet; d
Ereignis von gestern ist deut
lich die Lage ist und dass wir
begeben sollten, in der wir in
Süd, Zivilem und Militärisch
wie Deutschen und Amerikan
nern unterscheiden. Jeder Tot
Im Zentrum unserer Debat
Notwendigkeit des Aufbau
kommt in allen Anträgen der
er Debatte ist der Kollege
tion.
der FDP)
:
olleginnen und Kollegen!
anke ich Ihnen, Frau Bun-
diese Debatte eröffnet ha-
Sie gefunden haben. Ich
undestag teilt das Bedauern
ie zum Ausdruck gebracht
nzen Hause)
n, es wäre vielleicht auch
sen, dass die Bundesminis-
ammenarbeit und Entwick-
enn an diesem furchtbaren
lich geworden, wie gefähr-
uns nicht in eine Situation
sofern zwischen Nord und
em, Aufbau und Schutz so-
ern, Kanadiern oder Italie-
e ist einer zu viel.
te steht aber zunehmend die
s in Afghanistan – das
Fraktionen des Deutschen
Bundestages zum Ausdruck –
Aufbau voranzutreiben, effek
wirksam werden zu lassen. Ic
es vielleicht durch Überweisu
gen würde, diese Anträge d
von Schwarz/Rot sowie von
gemeinsamen Antrag zusam
starkes Signal, wenn der De
wendigkeit dieses Umsteuern
gemeinsam kraftvoll zum Au
(Beifall bei der FDP so
der CDU
Meine Damen und Herre
dem Antrag der Bundesregi
zustimmen. Es gibt bei uns ab
nen in der letzten Woche die
Abwägung, die wir vorgeno
lich vortragen können und w
Es ist klar, dass viele Koll
schiefe Ebene fürchten. Des
lich zu machen, dass wir a
nicht weiter in etwas hineinru
mehr beherrschen können.
Es ist wichtig, dass wir r
ginnen und Kollegen gibt, di
ben, dass wir vielleicht verge
dort sind, welche Verantwor
, die Notwendigkeit, diesen
tiv zu machen und schnell
h würde es begrüßen, wenn
ng in die Ausschüsse gelin-
er Fraktionen – zumindest
Grün und Gelb – zu einem
menzuführen. Es wäre ein
utsche Bundestag die Not-
s gegenüber der Regierung
sdruck bringen würde.
wie bei Abgeordneten
/CSU)
n, die FDP-Fraktion wird
erung mit großer Mehrheit
er kein Hurra. Ich habe Ih-
außerordentlich schwierige
mmen haben, hier ausführ-
ill mich nicht wiederholen.
eginnen und Kollegen die
wegen ist es wichtig, deut-
ufpassen werden, dass wir
tschen, was wir dann nicht
espektieren, dass es Kolle-
e befürchten und Sorge ha-
ssen, warum wir überhaupt
tung wir für das Leben der
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Martin Zeil
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Volker Beck (Köln)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf (Frankfurt)
fraktionslos
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Wolfgang Wodarg
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8691
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Werner Hoyer
Menschen in Afghanistan und für unsere eigenen Ent-
wicklungshelfer, Soldaten und andere haben, die sich um
den Aufbau Afghanistans bemühen. Es gibt übrigens
auch solche, die Sorge haben, dass wir vergessen, dass
wir Teil eines Bündnisses sind, das für uns ein Teil der
Staatsräson ist, und dass wir der Renationalisierung un-
serer Sicherheitspolitik ein für alle mal abgeschworen
haben.
(Beifall bei der FDP)
Das ist keine leere Floskel. Was heißt denn Bündnis-
fähigkeit? – Bündnisfähigkeit heißt doch nicht, einem
anonymen Organ oder den amerikanischen Freunden zu
gefallen. Bündnisfähigkeit bedeutet, in der Lage zu sein,
auf politische und militärische Strategie, Taktik und
Operationsführung aktiv Einfluss zu nehmen, gemein-
sam getroffene Entscheidungen solidarisch zu tragen,
gegebenenfalls dort, wo ein Veränderungsbedarf gege-
ben ist, gemeinsam umzusteuern und gegebenenfalls
– auch das kann niemand ausschließen – eines Tages ge-
meinsam herauszugehen.
Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der
Umsteuerung ist evident. Es ist dringend geboten, das
Politische vor das Militärische und den Aufbau vor den
Aufmarsch zu setzen sowie die Priorität der Politik zu
gewährleisten. Das muss sich auch in der Rhetorik wi-
derspiegeln. Wir bringen uns doch unnötig in ein fal-
sches Licht, wenn wir immer von dieser Offensive re-
den, ohne dabei zu sagen, dass sie dazu dient, den
Aufbau zu schützen. Es würde nämlich die Arbeit unse-
rer Entwicklungshelfer unmöglich machen, wenn zum
Beispiel von den Taliban, wie angekündigt, der riesige
Staudamm, der fast eine halbe Million Menschen mit
Wasser versorgen soll, zerstört würde. So macht das ja
alles Sinn. Aber sich selbst rhetorisch in die Situation
des Aggressors zu bringen, ist nicht sonderlich klug.
(Beifall bei der FDP, sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
Auch hier ist Umsteuerung und damit rhetorische Abrüs-
tung geboten.
Nun, meine Damen und Herren, zur großen Sorge, die
viele von uns haben: Stehen wir möglicherweise vor
dem Scheitern? Helfen uns da Durchhalteparolen? Hilft
es uns, wenn wir markig sagen: Afghanistan ist erst ver-
loren, wenn wir es verloren geben? Nein, meine Damen
und Herren, das wird den Risiken und der Komplexität
der Aufgabe nicht gerecht. Wir brauchen eine realisti-
sche Definition unserer Ziele. Wenn wir daran gehen,
müssen wir Abstriche machen, nicht bei der Aufbauar-
beit, Frau Bundesministerin, nicht bei der konkreten
Hilfe für die Menschen – diese ist notwendig –, sondern
bei der Vorstellung, wir könnten innerhalb kürzester Zeit
eine Westminsterdemokratie entwickeln
(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig! Sehr gut!)
und wären in der Lage, innerhalb kurzer Zeit die Errun-
genschaften der Aufklärung über das Land zu bringen.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)
Wenn es uns in Erinnerung an das, was vor dem
11. September in Afghanistan los war und was danach
geschaffen wurde, gelingt, die Menschen besser vor
eklatanten Menschenrechtsverletzungen zu schützen,
wenn es gelingt, uns selber hier in Europa und anderswo
den Terror vom Leibe zu halten, dann haben wir sehr
viel gewonnen. Dazu können die Aufklärer der Bundes-
wehr einen Beitrag leisten. Denn sie leisten natürlich
auch einen wichtigen Beitrag zum Schutz der eigenen
Soldaten, zum Schutz unserer Verbündeten und zum
Schutz der Menschen in Afghanistan vor so genannten
Kollateralschäden, das heißt vor der Einbeziehung un-
schuldiger Zivilisten in Kriegshandlungen. Nach schwie-
riger Abwägung werden wir deshalb dem vorgelegten
Antrag der Bundesregierung mit großer Mehrheit zu-
stimmen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, auch im Namen meiner
Fraktion möchte ich Ihnen herzlich für Ihre einfühlsa-
men Worte danken, die Sie zum Tode von Dieter
Rübling gefunden haben. Sein Tod sollte uns allen eine
Mahnung sein, dass die Lage in Afghanistan gefährlich
ist, unser Engagement dort wichtig ist und wir Afghanis-
tan eben nicht verloren geben dürfen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Wenn wir uns die gesamte Lage in Afghanistan vor
Augen führen, dann ergibt sich, wie der Kollege Hoyer
zu Recht geschildert hat, ein differenziertes Bild. Es
gibt gute und es gibt schlechte Nachrichten.
Eine gute ist, dass Afghanistan heute kein sicherer
Hafen für global agierende Terroristen mehr ist, dass die
Taliban von der Macht vertrieben sind und dass die Ter-
rorcamps von al-Qaida in Afghanistan zerschlagen sind.
Eine schlechte Nachricht ist, dass insbesondere das
letzte Jahr, in dem die Zahl der Selbstmordattentate um
das Fünffache zugenommen hat und der Drogenanbau
enorm angestiegen ist, für Afghanistan und die interna-
tionale Gemeinschaft ein schwieriges Jahr gewesen ist.
Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis
24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu stop-
pen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen. Wenn
uns das nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass Afghanis-
tan erneut zu einem Rückzugsraum für islamische Fun-
damentalisten wird, die in ihrem Hass auf alles Westli-
che und Liberale die Welt erneut mit transnationalem
Terrorismus überziehen wollen. Es handelt sich deshalb
8692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Eckart von Klaeden
bei Afghanistan eben nicht um irgendein Entwicklungs-
land am Hindukusch, sondern unser Erfolg dort ist von
geopolitischer Bedeutung. Deswegen hat Peter Struck
auch völlig recht, wenn er davon spricht, dass Deutsch-
land am Hindukusch verteidigt wird.
Wir setzen mit unserer Afghanistanpolitik, sowohl
was die Ziele als auch was die Prinzipien angeht, das
fort, was unter der rot-grünen Bundesregierung begon-
nen wurde. Wir müssen heute darüber nachdenken, wie
wir unsere Maßnahmen der veränderten Lage anpassen;
aber es gibt ausdrücklich weder bei den Zielen noch bei
den Prinzipien eine Veränderung. Deswegen finde ich es
wenig glaubwürdig, wenn ehemalige Mitglieder der rot-
grünen Bundesregierung heute gegen den Einsatz stim-
men oder wenn die Menschenrechtsbeauftragte der frü-
heren Bundesregierung sich gegen diesen Einsatz aus-
spricht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Außerdem ist der militärische Einsatz unter Rot-Grün
deutlich gefährlicher gewesen als heute; denn unter Rot-
Grün haben wir Bodentruppen im Süden gehabt, haben
deutsche Spezialkräfte gegen al-Qaida gekämpft.
(Zuruf von der LINKEN: Darauf kommen wir
zurück!)
Wir brauchen eine nüchterne Analyse der kritischen
Lage. Wir müssen erkennen, dass die Entwicklung der
Lage nicht allein eine Folge der Ausweitung des ISAF-
Einsatzes in den Süden und den Osten des Landes ist.
Zur Herstellung der Stabilität im Süden und im Osten
des Landes muss ISAF – nicht im völkerrechtlichen,
aber im militärischen Sinne – Krieg führen. Es geht um
asymmetrische Kriegsführung. Dazu werden die Tor-
nados einen erforderlichen Beitrag leisten. Es ist eine Il-
lusion, zu glauben, man könne die Operationen ISAF
und OEF strikt voneinander trennen. Beide Operationen
werden immer weiter miteinander verschränkt. Es gelten
dieselben Einsatzregeln. Deutschland hat – auch bereits
unter Rot-Grün – beide Operationen mandatiert. Die Er-
folge von OEF und ISAF sind eng miteinander ver-
knüpft.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Deswegen wäre es falsch, den Begriff „restriktiv“ im
Antrag der Regierung so zu verstehen, dass ISAF prinzi-
piell OEF Informationen vorenthalten würde. „Restrik-
tiv“ bedeutet, dass die militärische Führung über die
Weitergabe der Informationen entscheidet. Aber, wie ge-
sagt, die Erfolge beider Operationen hängen eng mitein-
ander zusammen.
Auch eine Illusion ist, dass es im Rahmen der NATO
unterschiedliche Strategien geben kann. Es gibt unter-
schiedliche Verantwortungsbereiche; aber wir haben nur
gemeinsam Erfolg oder würden gemeinsam scheitern.
Von der Entwicklung in der nächsten Zeit wird abhän-
gen, ob die bisherigen und die mittlerweile zusätzlich
bereitgestellten militärischen und zivilen Mittel ausrei-
chen.
Deswegen ist es heute aus meiner Sicht nicht viel
mehr als eine vage Hoffnung, dass wir, wie einige glau-
ben, mit der Zustimmung zum Tornadoeinsatz von wei-
teren Anforderungen in Bezug auf den Süden und Os-
ten des Landes verschont bleiben. Als Bündnispartner
müssen wir bereit sein, nicht nur dieselben Lasten, son-
dern auch dasselbe Risiko wie unsere Verbündeten zu
tragen. Das ist das Wesen eines Bündnisses. Nur so wird
es uns auch gelingen, den erforderlichen Einfluss auf die
Gesamtstrategie der NATO auszuüben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Wenn ich davon gesprochen habe, dass wir uns viel
mehr anstrengen müssen als bisher, dann gilt das nicht
nur in militärischer, sondern auch und vor allem in zivi-
ler Hinsicht. Weite Teile der afghanischen Bevölkerung
empfinden keine Verbesserung ihrer Lebensgrundlagen.
In der Wahrnehmung der afghanischen Bevölkerung
– nur die ist entscheidend – ist die bisherige Entwick-
lungsbilanz nicht überzeugend. Dabei gibt es sicherlich
überzogene subjektive Wahrnehmungen; aber wir müs-
sen dafür sorgen, dass wir die Herzen und Köpfe der
Menschen gewinnen und Verbesserungen erreichen, die
die Menschen in Bezug auf ihre Lebenswirklichkeit auch
als solche empfinden.
Ohne Entwicklung gibt es keine Sicherheit, aber
ohne Sicherheit eben auch keine Entwicklung. Dazu
muss die internationale Gemeinschaft in allen Bereichen
– beim Aufbau der Polizei, beim Aufbau der Rechts-
staatlichkeit, beim Aufbau der Verwaltung, bei der Be-
kämpfung des Drogenanbaus und der Förderung von
Anbaualternativen –, die wir gemeinsam übernommen
und in internationalen Konferenzen festgelegt haben,
ihre Anstrengungen wesentlich erhöhen.
Wir brauchen bereits in den nächsten Monaten einen
„Big Push“ beim Aufbau des Landes. Es geht um eine
Konzentration der Kräfte und einen rascheren Mittelab-
fluss in die prioritären Bereiche. Wir brauchen Leucht-
turmprojekte, die der Bevölkerung in Afghanistan deut-
lich machen, dass wir auf ihrer Seite sind und dass sich
unser Engagement für sie lohnt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege von Klaeden, der Herr Kollege Paech
möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Bitte.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Herr Kollege von Klaeden, Ihre Redezeit geht zu
Ende, aber Sie haben bis jetzt mit keinem Wort die
schwerwiegenden verfassungs- und völkerrechtlichen
Bedenken, die aus Reihen Ihrer Fraktion vorgebracht
werden, erwähnt. Sie wissen, dass nach der Abstimmung
einige Mitglieder Ihrer Fraktion eine Verfassungsklage
in Karlsruhe einreichen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8693
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Norman Paech
Meine Frage lautet: Ist Ihnen nicht bewusst, dass das,
was Sie hier vortragen, eine Aufforderung zu einem
schweren Völkerrechtsbruch ist? Ich will zur Begrün-
dung drei Punkte anführen.
Erster Punkt. Sie schicken die Tornados in einen
Krieg im Süden Afghanistans, der nach übereinstimmen-
der Meinung von Kollegen nicht nur des Europaparla-
ments, sondern auch dieses Parlaments schon lange die
Genfer Konvention verletzt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Frage?)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, es ist richtig, dass Sie im Rahmen einer
Zwischenfrage eine Bemerkung machen können. Aber
Sie können keine Kurzintervention machen.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Darf ich meine Frage begründen?
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Stellen sol-
len Sie sie!)
Zweiter Punkt. Sie haben gesagt, dass ISAF und OEF
ununterscheidbar sind und zusammenwachsen. Das ist
eine Sprengung des Mandats von ISAF, also eine
schwere Völkerrechtsverletzung.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das darf doch nicht wahr sein!)
Dritter Punkt. Die Einbeziehung in OEF, also in den
Antiterrorkampf gegen al-Qaida – Sie haben selbst ge-
sagt, dass die Camps gar nicht mehr bestehen –, kann
nicht mehr als Verteidigungsauftrag nach Art. 51 Abs. 6
der UNO-Charta begründet werden. Sechs Jahre Selbst-
verteidigung sind eine Absurdität. Das alles ist auch
nicht mit dem Verteidigungsauftrag unserer Verfassung
zu begründen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, ich glaube, Ihre Frage ist verstanden
worden. – Danke schön.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Ich möchte gerne, dass Sie sich dazu äußern. – Danke
schön.
(Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE])
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Herr Kollege Paech, das tue ich gerne. Wir haben die
verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken, die von
zwei Kollegen meiner Fraktion geäußert wurden, in un-
serer Fraktion und ebenfalls im Auswärtigen Ausschuss
ausführlich erörtert. Ich muss aber gegen diese Mi-
schung von Vorurteilen und üblen Unterstellungen, die
Sie gerade in Ihrer Frage, was das Vorgehen der NATO
in Afghanistan angeht, geäußert haben, protestieren und
möchte meine beiden Kollegen, die diese Bedenken ge-
äußert haben, gegen die Vereinnahmung durch Sie in
Schutz nehmen.
Zur verfassungsrechtlichen und zur völkerrechtlichen
Situation. OEF ist mandatiert durch denn Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen auf der Grundlage der Selbstver-
teidigung. Diese Mission ist bisher nicht abgeschlossen.
Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort beschäftigen,
dann wissen Sie, dass der Aufwand für OEF immer wei-
ter abgeschmolzen wird. Die Zahl der für Afghanistan
vorgesehenen Einsatzkräfte ist längst nicht mehr so hoch
wie vor einigen Jahren.
Damit korrespondiert die Ausweitung des ISAF-Ein-
satzes. ISAF steht für die Stabilisierung und Unterstüt-
zung der afghanischen Regierung. Dieser Einsatz ist
ebenfalls mandatiert durch den Sicherheitsrat der Verein-
ten Nationen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
hat ausdrücklich gefordert, dass die Operationen ISAF
und OEF in Afghanistan stärker miteinander verschränkt
werden. Wir stehen also mit beiden Missionen auf einer
klaren völkerrechtlichen Grundlage.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Was die verfassungsrechtlichen Bedenken angeht, so
muss man sagen: Die Kollegen beziehen sich auf ein
Minderheitenvotum, das vom Bundesverfassungsge-
richt in einer Entscheidung von 1994 geäußert worden
ist. Dieses Minderheitenvotum ist aber in weiteren Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichtes aufgege-
ben worden. Man kann zwar nach wie vor die in diesem
Votum dargelegte Rechtsansicht vertreten, aber man
kann für sie nicht mit Unterstützung des Bundesverfas-
sungsgerichts – auch nicht in Form eines Minderheiten-
votums – rechnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Ich war dabei, die Prioritäten zu erläutern, die sich auf
ziviler Seite ergeben. Das gilt für den Aufbau und Aus-
bau der Infrastruktur, insbesondere für den Straßenbau,
die Energie- und die Wasserversorgung. Wir brauchen
diese Projekte als Katalysator für eine friedliche und er-
folgreiche Entwicklung in Afghanistan. Dabei sollten
wir uns auch vor Augen führen, dass wir uns in unseren
Bildungs- und Frauenförderprojekten stärker darauf kon-
zentrieren – ich weiß, dass das für manchen politisch
nicht korrekt klingt –, was die religiösen und kulturellen
Traditionen dieses Landes sind, um mit solchen Projek-
ten nicht konservativen oder fundamentalistischen Kräf-
ten in die Hände zu spielen.
Ich habe davon gesprochen, dass Afghanistan eine geo-
politische Dimension hat. Dazu gehört eben auch, den
Blick auf die Nachbarn Afghanistans zu richten: auf den
Iran und insbesondere auf die Nuklearmacht Pakistan.
Wir wissen, dass Pakistan enorme Schwierigkeiten hat,
in seiner Grenzregion, in den sogenannten Tribal Areas,
zu Afghanistan die Staatsgewalt auszuüben. Wir wissen,
dass es dort Lager für Flüchtlinge aus Afghanistan mit
über 3 Millionen Menschen und Koranschulen, soge-
nannte Madrassas, gibt, in denen der Nachwuchs der Ta-
liban herangezogen wird.
Wir müssen alles tun, um auch die pakistanische Re-
gierung bei der Herstellung der Staatsgewalt zu unter-
8694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Eckart von Klaeden
stützen. Wir müssen sie aber auch an dem messen, was
sie international versprochen hat. Dazu brauchen wir
einen institutionalisierten Dialog zwischen Afghanistan
und Pakistan sowie die Unterstützung der internationa-
len Gemeinschaft, damit es dazu kommen kann, dass ge-
rade in den Grenzregionen eine entsprechende Stabilisie-
rung stattfinden kann.
Ein letzter Blick auf das, was andere leisten. Die Ka-
nadier haben gerade ihren Entwicklungshilfeansatz um
200 Millionen kanadische Dollar erhöht. Die Amerika-
ner haben ihre Mittel für den zivilen Aufbau um
10,9 Milliarden US-Dollar erhöht. Allein 2 Milliarden
US-Dollar sind für die Unterstützung alternativer An-
baumethoden zur Bekämpfung des Drogenanbaus vorge-
sehen.
Wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, dann müssen
wir bereit sein, sowohl auf militärischer als auch vor al-
lem auf ziviler Seite deutlich mehr zu tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Trittin. – Herr von Klaeden, Sie können dann
antworten.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege von Klaeden, als Befürworter
von ISAF, die wir beide sind, hätten wir darüber streiten
können, ob der Einsatz dieser Tornados für einen Erfolg
von ISAF von absoluter Bedeutung ist. Ich kann dies
nach dem, was die Bundesregierung vorgetragen hat,
nicht nachvollziehen. Wir sollten es aber beide unterlas-
sen, uns in diesem Zusammenhang gegenseitig fehlende
Glaubwürdigkeit zu attestieren. Deswegen habe ich
mich zu Wort gemeldet.
Sie selber haben darauf hingewiesen: Es gibt in
Afghanistan Notwendigkeiten, die dringend geändert
werden müssen; das sage ich als jemand, der zu Afgha-
nistan steht. Sie selber haben darauf hingewiesen: Wir
brauchen mehr zivile Hilfe. Nun gibt die Bundesregie-
rung jährlich 20 Millionen Euro mehr. Sie selbst haben
die Zahlen zitiert: Kanada gibt 200 Millionen kanadi-
sche Dollar mehr. Die USA geben jährlich 1 Milliarde
US-Dollar für den zivilen Bereich aus. Das ist das
50-Fache von dem, was Ihre Bundesregierung zur Verfü-
gung zu stellen bereit ist.
Wir sind uns einig, dass wir mehr Polizeihilfe brau-
chen. In der diesbezüglichen Novelle reden wir aber im-
mer noch von 40 Mitgliedern. Heute besteht die Situa-
tion, dass Feldjäger der deutschen Bundeswehr in der
Polizeiausbildung in Masar-i-Scharif engagiert sind; ich
finde das richtig. Ich sage Danke zu den Feldjägern.
Aber ich sage auch: Gibt es nicht dem Innenministerium
und dem Außenministerium zu denken, dass das Militär,
die Bundeswehr, heute offensichtlich zivile Aufgaben
übernimmt? Das ist doch der Punkt, an dem Sie als
Mehrheit hier in diesem Hause hätten handeln müssen,
anstatt anderen an dieser Stelle die Glaubwürdigkeit ab-
zusprechen.
Ich füge ein Letztes hinzu. Wir haben Zweifel, ob das,
was wir, diese Koalition und meine Partei, gemeinsam
wollen, nämlich einen Strategiewechsel, tatsächlich am
Boden angekommen ist, wenn wir gleichzeitig erleben
müssen, dass Einigungsversuche zwischen den Briten
und den Stammesältesten mithilfe von Raketenangriffen
auf Familienangehörige von vermuteten Talibananhän-
gern sabotiert werden. Das sind die umfassenden Zwei-
fel, die meine Fraktion hat. Ein Teil meiner Fraktion
sagt: Wir sagen trotz dieser Bedenken Ja. Andere sagen:
Unter diesen Bedingungen können wir zu einem Einsatz
von Tornados – nicht zu ISAF – nur Nein sagen. Ich
finde, beides sind respektable Positionen, und beides ist
kein Grund, irgendjemandem von uns die Glaubwürdig-
keit abzusprechen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege von Klaeden.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Herr Kollege Trittin, ich kann nicht nachvollziehen,
warum Sie nicht einsehen wollen, dass die Verbesserung
der Aufklärungsfähigkeiten dem Einsatz von ISAF
dient. Gerade der relativ geringe Truppenansatz, den die
NATO für Afghanistan gewählt hat – die 40 000 Solda-
ten sind ins Verhältnis zur Größe des Landes zu setzen –,
macht deutlich, dass der Erfolg, die Effizienz und nicht
zuletzt der Schutz der afghanischen Zivilbevölkerung
und der internationalen Aufbauhelfer eine höhere Ziel-
genauigkeit der militärischen Einsätze erfordert. Das
kann man – das ist eine Binsenweisheit – nur durch ver-
besserte Aufklärung erreichen. Deswegen ist es unver-
ständlich, dass Sie nicht in der Lage sind, das nachzu-
vollziehen.
Mein zweiter Punkt. Mir kommen Ihre Hinweise, die
Entwicklungshilfe sei aus Ihrer Sicht zu gering – das ist
sie auch aus meiner Sicht –, wie eine Ausrede vor. Es
wäre Ihnen schließlich während Ihrer Regierungszeit
möglich gewesen, die Ansätze entsprechend zu erhöhen.
Aber vor allem ist es doch so, dass die Sicherheit, die
ISAF in Afghanistan schafft und zu der die Tornados ei-
nen wesentlichen Beitrag leisten, erst die Voraussetzung
dafür ist, dass überhaupt zivile Hilfe geleistet werden
kann.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles
nichts. Sie müssen immer davon ausgehen, dass Ihr
Votum – nicht Ausdruck einer politischen Strömung in
Ihrer Wählerschaft – zur allgemeinen Regel für das
Regierungshandeln gemacht werden kann. Wenn wir
ISAF die nötige Unterstützung verweigern würden und
ISAF deswegen nicht erfolgreich sein kann, dann hätte
auch der zivile Aufbau keine Chance mehr. Deswegen
ist Ihre Argumentation nicht überzeugend und, wie ich
finde, auch nicht glaubhaft.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8695
(A) (C)
(B) (D)
Eckart von Klaeden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch für meine Fraktion danke ich der Entwick-
lungshilfeministerin, Frau Wieczorek-Zeul, für die
Worte des Bedauerns und der Trauer, die sie hier zum
Tod des Entwicklungshelfers gefunden hat.
Ich begründe jetzt, warum meine Fraktion den Antrag
der Bundesregierung ablehnt. Wir lehnen den Antrag der
Bundesregierung ab, weil wir der Auffassung sind, dass
die Entscheidung, wenn sie so durchgeführt wird, völ-
kerrechtswidrig ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sind manchmal auf unsicherem Terrain, wenn wir
das Völkerrecht beurteilen. Da das so selten geschieht,
erinnere ich daran, dass auch das Bundesverwaltungs-
gericht selbst die Zurverfügungstellung von Flugplätzen
und militärischen Einrichtungen während des Irakkriegs
als völkerrechtswidrig eingestuft hat und nach wie vor
der damals amtierenden Regierung Beihilfe zum Bruch
des Völkerrechts vorwirft – ohne dass dies zu irgendwel-
chen Konsequenzen führt.
(Beifall bei der LINKEN)
Beim Völkerrecht – dies ist für unsere Beratung von
Bedeutung – beziehen sich die Redner der Koalitions-
parteien immer auf die Mandatierung durch die UNO
nach Art. 51. Ich habe immer wieder darauf hingewie-
sen, dass – unabhängig davon, wie man den Sachverhalt
beurteilt; mein Kollege Norman Paech hat das Entschei-
dende aus der Sicht unserer Fraktion dazu gesagt – nicht
allein diese Mandatierung herangezogen werden kann.
Genauso entscheidend, wenn nicht noch entscheidender,
sind die Genfer Konventionen. Denn sie gehen noch
näher heran, sie sagen: Es ist im Krieg verboten, un-
schuldige Menschen zu töten; eine Kriegführung, die das
nicht leistet, ist völkerrechtswidrig.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieses Argument meiden die Redner der Koalition. Sie
gehen nicht darauf ein, weil es nicht zu entkräften ist; ich
werde darauf noch zurückkommen.
Ich halte für Die Linke fest, dass wir in dem Grundge-
setzartikel, der die Bundeswehr zur Verteidigungs-
armee bestimmt, nach wir vor einen wesentlichen Bau-
stein unserer Verfassung sehen. Die Bundeswehr ist
keine Interventionsarmee, sie ist eine Verteidigungs-
armee.
(Beifall bei der LINKEN)
Nach unserer Auffassung verstößt die Entsendung
von Aufklärungstornados in das Kampfgebiet gegen den
NATO-Vertrag. Der NATO-Vertrag hat die Mitglied-
staaten der NATO zu einem Verteidigungsbündnis zu-
sammengeschlossen. Es war eine fundamentale Verän-
derung, über die im Parlament überhaupt nicht diskutiert
worden ist – die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, die dies kritisieren, haben recht –, dass die
Führungsmacht der NATO, die Vereinigten Staaten von
Amerika, eines Tages darauf gedrängt hat, aus diesem
Verteidigungsbündnis ein weltweit agierendes Interven-
tionsbündnis zu machen. Dies halten wir für fatal und
lehnen es ab.
(Beifall bei der LINKEN)
Aus Sicht der amerikanischen Politik ist das logisch.
Die amerikanische Politik zielt auf die Eroberung von
Rohstoffquellen und Absatzmärkten. Wer Zweifel daran
hat, möge die entsprechenden Dokumente des amerika-
nischen Verteidigungsministeriums, des Pentagon, nach-
lesen. Es gibt unzählige Fundstellen, die diese These be-
legen. Ich bin der Auffassung, dass sich zivilisierte
Staaten in der modernen Zeit nicht auf eine Außenpolitik
oder gar auf eine Kriegsführung einlassen dürfen, die die
Eroberung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten zum
Ziel hat.
(Beifall bei der LINKEN)
In der Debatte wird immer wieder gesagt, die NATO
dürfe nicht scheitern. Meine Damen und Herren, die
NATO ist in Afghanistan längst gescheitert.
(Beifall bei der LINKEN)
Damit Sie uns nicht wieder unterstellen, dass wir uns in
irgendeiner Form unsachlich mit diesem Thema beschäf-
tigen, möchte ich zum Beleg meiner These die „Süd-
deutsche Zeitung“ zitieren:
US-Soldaten wurden angegriffen … bei ihrer Ge-
genwehr richteten sie offenbar jedes Mal ein Blut-
bad unter Zivilisten an. … Unter den 4 000 Op-
fern … im vorigen Jahr … sollen Schätzungen zu-
folge mehr als tausend Zivilisten gewesen sein. Die
Zahl … kann nicht mehr sein als ein vager Anhalts-
punkt, denn sowohl tot als auch lebendig lassen
sich Taliban-Kämpfer oft nur schwer von friedli-
chen Bauern unterscheiden.
So weit die Worte des Beobachters, des Korrespon-
denten der „Süddeutschen Zeitung“. An dieser Beobach-
tung wird deutlich, warum Ihre Entscheidung total falsch
und durch nichts zu begründen ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Da diesen Sachverhalt niemand bestreiten kann, kann
auch niemand behaupten, dort sei eine Kriegsführung
möglich, die die Genfer Konventionen beachtet. Auf-
grund der Bedingungen vor Ort – weil man friedliche
Menschen nicht von Kämpfern unterscheiden kann – ist
jede Form der Kriegsführung, die Sie jetzt mittelbar un-
terstützen wollen, ein Verstoß gegen die Genfer Konven-
tionen. Das ist nicht zu verantworten.
(Beifall bei der LINKEN)
8696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Oskar Lafontaine
Ich habe so oft gehört, es gehe hier um die Menschen-
rechte. Ich habe so oft gehört, es gehe hier um die Frau-
enrechte. Ich habe so oft gehört, es gehe hier um die
Freiheit der Menschen. Meine Damen und Herren, ich
möchte an eines erinnern: Bevor man Menschen Rechte
zuweisen kann, müssen sie erst einmal leben. Das Recht
auf Leben steht vor allen anderen Rechten, die hier im-
mer wieder beschworen werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Recht auf Leben können Sie bei dieser Vorge-
hensweise nicht gewährleisten. Sie nehmen, wenn Sie
dem Einsatz der Tornados in Afghanistan zustimmen,
bewusst in Kauf, dass dort eine Kriegsführung stattfin-
det, bei der Soldaten bei ihrer Gegenwehr nichts anderes
tun können, als – so hat es der Korrespondent der „Süd-
deutschen Zeitung“ beschrieben – „jedes Mal ein Blut-
bad unter Zivilisten“ anzurichten. Sie stimmen zu, dass
wir uns durch die Zurverfügungstellung von Bildern mit-
telbar an dieser Art der Kriegsführung beteiligen. Das ist
die Entscheidung, die Sie heute treffen wollen und die
Sie vor Ihrem Gewissen moralisch rechtfertigen müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die NATO ist längst gescheitert. Dennoch wird im-
mer gesagt, die NATO wolle den Kampf um die Herzen
und um die Köpfe der Menschen gewinnen. Glauben Sie
angesichts der Bedingungen vor Ort, die so aussehen,
dass man friedliche Menschen nicht von Kämpfern un-
terscheiden kann, denn tatsächlich, man könne mit dieser
Art der Kriegsführung den Kampf um die Herzen und
Köpfe der Menschen gewinnen? Diese Art der Ausei-
nandersetzung bzw. der Kriegsführung ist von vornhe-
rein zum Scheitern verurteilt.
Ein Mitglied der SPD-Fraktion sagte, „man müsse
aufpassen, dass Afghanistan nicht zum deutschen Viet-
nam werde“; so wurde es zitiert. Ich möchte dies wie
folgt auf den Punkt bringen: Die „Irakisierung“ Afgha-
nistans – dieser Begriff wird von vielen Militärs verwen-
det – ist längst eingetreten. Mittlerweile haben wir in
Afghanistan ähnliche Zustände wie im Irak. Das zeigt
wieder einmal: Mit Bomben und mit Krieg ist kein Land
zu befrieden, ist niemals Frieden in dieser Welt herzu-
stellen.
(Beifall bei der LINKEN)
Dies sagen im Übrigen auch viele Soldaten, die an
dieser Art der Kriegsführung und am Wiederaufbau
beteiligt sind. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass
das oft sehr schwer voneinander zu trennen ist. Wer das
einmal nachlesen will, dem empfehle ich das Interview
des Chefs des Bundeswehr-Verbandes in einer hier in
Berlin erscheinenden Tageszeitung, damit nicht die bil-
lige Ausrede kommt, es handle sich nur um die Einrede
der Fraktion Die Linke, wenn wir solche Argumente
vortragen.
Der Kollege von Klaeden hat noch einmal den Satz
aufgegriffen: Deutschland wird am Hindukusch vertei-
digt. Er hält das nach wie vor für richtig. Methodisch
habe ich gelernt, solche argumentativen Zusammen-
hänge umzudrehen. Wenn dieser Satz tatsächlich richtig
ist, dann muss man begründen, warum der Satz „Afgha-
nistan wird an den Alpen verteidigt“ falsch ist.
(Rainer Arnold [SPD]: Nicht alles, was hinkt,
ist ein Vergleich!)
Dass Sie nicht verstehen, dass dort unschuldige Men-
schen umgebracht werden! Bei den Paschtunen gilt ein
Stammesgesetz, wonach man gehalten ist, Menschen,
die unschuldig umgebracht werden, zu rächen. Aber Sie
ignorieren das alles. Die Sicherheitskräfte haben recht,
die sagen: Mit dieser Vorgehensweise erhöhen Sie die
Gefahr eines Terroranschlags in Deutschland. Genau
das kann nicht Ihre Absicht sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist nicht nur eine Intervention der Fraktion Die
Linke. Vielmehr geht das auch aus den Meldungen her-
vor, die Ihnen die Sicherheitsdienste immer wieder vor-
legen. Die Einsichten der Sicherheitsdienste können Sie
bei Ihrer Vorgehensweise nicht ignorieren.
Ich fasse zusammen: Vor sechs Jahren mögen viele
von Ihnen gute Absichten gehabt haben. Ich weiß, wie
schwer es ist, einen einmal eingeschlagenen Weg zu ver-
lassen. Aber nach sechs Jahren müssen Sie zu der Ein-
sicht gekommen sein, dass man Terror nicht mit Krieg
und Terror bekämpfen kann. Ich bitte Sie im Interesse
unseres Landes, diesen Einsatz abzulehnen.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian
Dressel [SPD]: Gute Nacht!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Lafontaine, lassen Sie mich einen Satz zu Ihrer Unter-
stellung sagen, unsere Absicht sei – so haben Sie es sinn-
gemäß formuliert –, den Terrorismus nach Europa und
insbesondere nach Deutschland zu holen. Ich weiß
nicht, wo Sie leben, aber das findet hier längst statt. Sie
müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass
der 11. September und die Anschläge auf das World
Trade Center von Mohammed Atta und anderen von
Deutschland aus geplant und vorbereitet wurden. Sie
müssen sich damit auseinandersetzen, dass in Deutsch-
land der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Straß-
burg geplant wurde. Sie müssen sich damit auseinander-
setzen, dass in Deutschland der Versuch unternommen
wurde, Anschläge auf Züge durchzuführen, und dass
dieser Versuch nur gescheitert ist, weil die Attentäter
technisch nicht so versiert waren und die Rucksäcke des-
halb nicht explodierten. Das ist die Realität, mit der wir
uns alle auseinanderzusetzen haben. Die Gefahr ist
längst da. Wir wollen dagegen kämpfen, weil wir Sicher-
heit wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Die Mitglieder der Fraktion der Grünen haben sich
die Entscheidung nicht einfach gemacht. Ich behaupte,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8697
(A) (C)
(B) (D)
Renate Künast
dass es uns wie manch anderem in diesem Hause und
vielen anderen in Deutschland geht, die sich Gedanken
darüber machen, was dieser Einsatz in Afghanistan ins-
gesamt bedeutet und was es nun bedeutet, Tornados
dorthin zu schicken. Wir haben eine Vielzahl von Ge-
sprächen geführt und Anhörungen durchgeführt. Wir
haben militärische und zivile Experten in unsere Frak-
tion eingeladen und mit ihnen gesprochen. Wir haben
zudem ein Gespräch mit dem afghanischen Außenminis-
ter geführt. Mitglieder der Fraktion waren zum Beispiel
2006 in Afghanistan und haben sich vor Ort informiert.
Angesichts unserer Bemühungen in diesem Zusam-
menhang muss ich feststellen, Herr von Klaeden, dass
Ihre Vorwürfe nicht angemessen sind. Das sage ich, ob-
wohl ich vielleicht zu einem anderen Ergebnis komme
als diejenigen aus meiner Fraktion, die direkt ange-
sprochen wurden. Denn alle Mitglieder meiner Fraktion
– auch frühere Bundesminister und Menschenrechts-
beauftragte – haben damals nach ihrem Gewissen ent-
schieden und tun dies auch heute wieder.
Es gibt an keiner Stelle einen Freifahrtschein; wir
werden vielmehr immer wieder um den zivilen und mili-
tärischen Schutz und um den Wiederaufbau in Afghanis-
tan ringen. Ich glaube, dass Sie heute alle glaubwürdig
sein können, wenn Sie mit sich selber ringen und sich Ih-
rer Verantwortung als Abgeordnete bewusst sind. Inso-
fern meine ich, Ihr Beitrag war nicht hilfreich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben uns Gedanken gemacht und kommen zu
dem Ergebnis, dass eine kleine Mehrheit in unserer
Fraktion mit Ja stimmen wird; eine kleinere Anzahl wird
mit Nein stimmen. Hinzu kommen einige Enthaltungen.
Die Begründungen unterscheiden sich durchaus.
Ich möchte aber eines betonen: Wir haben in der
Fraktion einen klaren Konsens erzielt: Wir stehen zu
ISAF. Ich wage die These, dass es bei der heutigen Tor-
nadoentscheidung auch längst darum geht. Wir wollen in
Afghanistan eine zentrale politische und zivile Entwick-
lung ermöglichen. Es gibt keine Alternative, dies ohne
militärische Absicherung zu erreichen.
Es gibt in unserer Fraktion niemanden, der einer
Exitstrategie anhängen würde. Vielmehr treibt uns alle
das Interesse, die Strategie zum Wiederaufbau in Af-
ghanistan weiter zu verbessern. Darum geht es heute.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es geht nicht um eine Debatte über das Ob, sondern
über das Wie bzw. über den Stellenwert des militäri-
schen Einsatzes. Wir brauchen eine zivile Frühjahrsini-
tiative für einen Strategiewechsel, der nicht nur auf
NATO-Papieren geplant und in Sitzungen in Riga oder
Sevilla besprochen wird. Notwendig ist vielmehr ein
Strategiewechsel auf der zivilen Ebene, der in Afgha-
nistan ankommt und den Menschen dort zeigt: Hier geht
es vorwärts.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
So bewegen wir uns als Fraktion bei der heutigen Ent-
scheidung – je nachdem, wie abgestimmt wird – in dem
Spannungsfeld zwischen dem Gebot der Solidarität, dem
Schutz der zivilen Helfer und der Afghaninnen und
Afghanen und der Frage, ob der Einsatz nicht kontrapro-
duktiv ist. Zumindest hat diese Bundesregierung herz-
lich wenig dazu getan, den Tornadoeinsatz in den letzten
Wochen und Monaten zu erklären. So wenig Informa-
tion gab es noch nie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Petersbergprozess hat die Grundlagen für einen
politischen Prozess geschaffen. Es gibt ein Parlament, in
dem sogar weibliche Abgeordnete vertreten sind. Es gibt
eine neue Verfassung, Regierungsinstitutionen und einen
Justizapparat. Auch in manchen anderen Bereichen sind
Fortschritte erzielt worden. Bei alledem wissen wir aber,
dass dies nur der Anfang ist und dass es noch jede
Menge Mängel gibt.
Wir wissen, dass es strukturelle Fehlentwicklungen
gibt und dass manches Geld, das für Sicherheit, Justiz,
Gesundheit und Bildung versprochen wurde, irgendwo
– zum Teil auch durch Korruption – versickert ist, statt
dazu beizutragen, die afghanische Regierung voll funk-
tionsfähig zu machen. Das ist die Voraussetzung, um ih-
ren staatlichen Aufgaben nachkommen zu können und
für ihre Bürgerinnen und Bürger die entsprechenden
Dienstleistungen – zum Beispiel Bildung und ein flä-
chendeckendes Gesundheitssystem – zu erbringen. Denn
dadurch wird eine Regierung auch innenpolitisch legiti-
miert.
Diesen Mangel werden wir nicht mit rein militäri-
schen Mitteln beheben können. Dabei helfen uns auch
die Tornados nicht. Sie dienen dem Zweck, sozusagen
Übergriffe abzuwehren. Was die Legitimität der afgha-
nischen Regierung angeht, damit sie auch von den
Stämmen als Autorität akzeptiert wird, die deren Struk-
turen und ihre Zukunft verändert, besteht noch erhebli-
cher Handlungsbedarf.
Wir erwarten von Frau Merkel – Frau Merkel ist
heute nicht hier, weil sie in Brüssel ist; das respektieren
wir –, dass sie sich jetzt engagiert. Wir erwarten, dass sie
als Inhaberin der Ratspräsidentschaft in der Europäi-
schen Union jetzt vorangeht und dieses Thema in Europa
auf die Agenda setzt. Wir brauchen ein Mehr an ziviler
Unterstützung.
Mit Verlaub, Frau Wieczorek-Zeul, diese 20 Millio-
nen Euro reichen bei weitem nicht aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Rainer Arnold [SPD]: 100 Millionen!)
Wir brauchen mehr finanzielle Unterstützung. Wir brau-
chen mehr Unterstützung, um beispielsweise den Poli-
zeiapparat aufzubauen. Wir brauchen mehr Unterstüt-
zung nicht nur für die Multiplikatoren, sondern auch für
die kleinen Polizeibeamten vor Ort. Ich frage mich: Wo
ist eigentlich das Engagement der Bundesregierung?
Frau Merkel ist meines Erachtens auf der internationalen
Ebene noch seltsam still.
8698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Renate Künast
Ich will sagen, was wir erwarten. Wir erwarten eine
klare Aussage zur Drogenbekämpfung. Es gibt immer
noch keine kohärente Strategie. Es wird zugelassen, dass
international Sorge darüber verbreitet wird, dass Herbi-
zide per Flugzeug ausgebracht werden. Wir wissen alle,
dass selbst dann, wenn das nicht per Flugzeug geschieht,
eine reine Herbizidstrategie vor Ort nicht nur den Mohn
zerstört, sondern auch die Gesundheit der Menschen.
Diese Strategie bietet den Menschen vor Ort keine Mög-
lichkeit, ein anderes Gewerbe aufzubauen oder andere
Früchte anzubauen.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das muss
Karzai entscheiden!)
Genau dafür brauchen wir eine Strategie, aber keine, in
der es um Herbizide und Angstmachen geht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das wird die
afghanische Regierung entscheiden!)
Wir brauchen einen anderen Umgang mit Pakistan.
Ich weiß, dies ist definitiv nicht einfach. Wir erwarten,
dass Frau Merkel in Bezug auf den Drogenhandel auch
gegenüber Karzai ihre Vorstellungen deutlich zum Aus-
druck bringt und darauf dringt, dass er gegen die Kor-
ruption kämpft, die in diesem Narco-State ja bis in die
Exekutive reicht. Wir erwarten auch, dass diese Bundes-
regierung ganz klar sagt, welches Ziel sie beispielsweise
für den G-8-Gipfel hat. Spätestens dann – eigentlich ist
es schon sehr spät – muss dafür Sorge getragen werden,
dass Pakistan nicht durch sein zumindest doppelbödiges
Verhalten die Lager der Taliban und von al-Qaida auf
seinem Territorium unterstützt.
Wir ringen an dieser Stelle um die Zustimmung. Wir
wollen ISAF und Afghanistan unterstützen. Wir ringen
mit uns selber. Wir wissen, dass das heute eine Gewis-
sensentscheidung ist. Eines weiß ich aber auch: Wir
müssen heute mit Blick auf die Entscheidung im Herbst,
wenn es wieder um ISAF geht, eines hinkriegen, näm-
lich den Strategiewechsel mit Leben füllen. Der Strate-
giewechsel muss bei den Menschen vor Ort ankommen.
Man muss sich mit Pakistan auseinandersetzen, und das
Verhalten der Soldaten muss sich ändern. Es bedarf einer
Vernetzung des Zivilen mit dem Militärischen. Da dür-
fen keine Löcher entstehen. Natürlich brauchen wir auch
ein Stück militärischen Schutz. Wie gesagt, wir wollen,
dass es eine zivile Frühjahrsinitiative gibt und dass diese
Bundesregierung wegen der doppelten Präsidentschaft
ihrer Aufgabe nachkommt, jetzt in die Offensive zu ge-
hen, damit das Zivile gestärkt wird. Sonst geht von die-
sem Tag ein falsches Signal aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Entwicklungsministerin, haben Sie herzlichen
Dank dafür, dass Sie daran erinnert haben, dass der
Mord an Dieter Rübling auch zeigt, wie risikoreich die
Arbeit der zivilen Helferinnen und Helfer und derer ist,
die im Auftrag des Entwicklungsministeriums dort ar-
beiten. Wir sollten allen, die als Mitglieder von Nichtre-
gierungsorganisationen, im Auftrag des Entwicklungs-
ministeriums oder im Auftrag von vielen anderen,
Kirchen beispielsweise, in diesem Land arbeiten und
mithelfen, dass sich so etwas wie eine Zivilgesellschaft
entwickelt, danken. Das ist ein unglaubliches Engage-
ment. Wir wissen diese Arbeit zu schätzen und sagen
Danke schön dafür.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Egon Bahr hat gestern Abend in einer Diskussion
noch einmal deutlich gemacht, warum seiner Meinung
nach diejenigen in der SPD-Bundestagsfraktion, die sich
noch überlegen, mit Nein zu stimmen, anders handeln
sollten. Sein zentrales Argument – ich halte es für rich-
tig – ist: Man sollte aus dieser Abstimmung keine
Grundsatzentscheidung machen; vielmehr sollte man
sich überlegen, was die Folgen wären, wenn man mit
Nein stimmt. Wenn Sie eine Sekunde – viele von uns ha-
ben Erfahrungen und Begegnungen – –
(Abgeordnete der Fraktion Die Linke halten
Buchstabentafeln hoch)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, un-
terlassen Sie diese Demonstration, oder verlassen Sie
den Raum! – Ich bitte die Saaldiener, die Kolleginnen
und Kollegen des Saales zu verweisen. Das, was Sie hier
machen, geht nicht.
(Zurufe von der CDU/CSU: Das gibt es doch
gar nicht! – Peinlich ohne Ende! – Die sind bis
heute nicht in der Demokratie angekommen! –
Jörg van Essen [FDP]: So etwas Peinliches! –
Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wenn sie
das ernst meinten, dürften sie nicht so grin-
sen!)
Ich bitte die Saaldienerinnen und Saaldiener, die De-
monstration zu beenden.
(Dirk Niebel [FDP]: Raustragen! – Weiterer
Zuruf von der FDP: Peinlich ohne Ende! – Zu-
ruf von der CDU/CSU: Die werden doch sonst
nicht wahrgenommen!)
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Lieber Kollege Gehrcke, ich sehe, dass Sie sich an
dieser Demonstration beteiligt haben.
(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Sie wissen doch so gut wie alle, die Mitglieder des Aus-
wärtigen Ausschusses sind, wie wir darum ringen, einen
zivilen Aufbau in Afghanistan voranzutreiben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8699
(A) (C)
(B) (D)
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Doch
nicht mit Tornados!)
Wir ringen um die Chance, dass dieses Land sein
Schicksal in die eigene Hand nehmen kann. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, in welcher demagogischen
Form Sie hier auftreten. Das kann ich überhaupt nicht
verstehen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vielleicht sollten wir uns alle gemeinsam überlegen,
was geschehen würde, lieber Kollege Lafontaine, wenn
wir den Taliban das militärische Handeln überlassen
würden. Haben wir denn vergessen, was zum
11. September 2001 geführt hat? Haben wir vergessen,
welche Schrekkensherrschaft die Taliban in Afghanistan
ausgeübt haben?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP)
Haben wir vergessen, dass Frauen gesteinigt worden
sind? Haben wir vergessen, dass Kinder, insbesondere
Mädchen, keine Chance gehabt haben, Schulen zu besu-
chen? Haben wir vergessen, dass die Fußballstadien von
den Taliban zu Hinrichtungsorten gemacht worden sind?
Haben wir das alles vergessen?
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wollen wir vergessen, dass die Taliban jetzt wieder
versuchen, im Süden Afghanistans Boden zurückzuge-
winnen? Der Staudamm, der dort zurzeit gegen die An-
griffe der Taliban verteidigt werden muss, ist die Le-
bensader von mehreren Hunderttausend von Menschen
im Süden Afghanistans. Die Taliban haben erklärt, sie
wollten diese Lebensader durchschneiden, sie wollten
den Staudamm zerbrechen. Können wir das hinnehmen?
Wenn die Regierung Karzai die internationale Staatenge-
meinschaft darum bittet, militärisch mitzuhelfen, dass
dieser Angriff der Taliban abgewehrt wird: Können wir
das zurückweisen? Können wir uns der Bereitstellung
von sechs Tornados, die dabei mithelfen können, aufzu-
klären, was dort seitens der Taliban militärisch ge-
schieht, wirklich verweigern? Wir würden uns vielleicht
geradezu mitschuldig daran machen, dass Hunderttau-
sende von Menschen im Süden Afghanistans keine Le-
bensperspektive haben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Gerne, Herr Kollege Ströbele.
(Monika Knoche [DIE LINKE]: Wie lange
wollen Sie denn noch bleiben?)
– Gute Frage.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass die Fotoaufnahmen, die die Tornados ma-
chen und an die Militäreinsatzführung weitergeben,
auch dazu benutzt werden – ich betone: auch dazu be-
nutzt werden –, Ziele auszumachen, auf die Raketen
und Bomben abgeworfen werden, und dass wir dann,
wenn in Zukunft Meldungen durch die Presse gehen,
nach denen bei der Bombardierung von Gehöften, von
Ortschaften, von Orten zahlreiche Menschen, die
Hälfte oder ein Viertel davon Zivilisten, Frauen, Kin-
der, alte Menschen, getötet worden sind, sagen müssen:
Das kann auch auf der Grundlage der von unseren Tor-
nados gelieferten Daten und Fotos geschehen sein?
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Lieber Herr Kollege Ströbele, darf ich Ihre Frage mit
einer Gegenfrage beantworten?
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Nein! Ein-
mal den Mut zu einer Antwort! – Dr. Andreas
Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist ein selbst-
gerechter Typ da drüben!)
Sie haben vielleicht gehört, Herr Kollege Ströbele
– möglicherweise waren Sie aber auch nicht dabei, als
das gesagt wurde –, dass das Parteimitglied der Grünen,
der Außenminister Afghanistans, Dr. Rangin Spanta,
Folgendes gesagt hat – ich zitiere ihn –:
Diese Tornados machen Aufklärungsarbeit. Sie die-
nen dem Schutz der afghanischen Zivilbevölke-
rung,
(Dr. Peter Struck [SPD]: So ist es!)
weil die Grenzen ziemlich durchlässig sind:
2 400 km Grenze. Die Terroristen kommen, ziehen
sich wieder ins Hinterland zurück. Die Tornado-
Aufklärer können dagegen helfen.
Ich schließe mich dem Außenminister Afghanistans,
dem Mitglied der Grünen, ausdrücklich an.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Weisskirchen, es gibt eine weitere Zwi-
schenfrage, und zwar der Kollegin Kunert.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Bitte schön.
Katrin Kunert (DIE LINKE):
Herr Kollege Weisskirchen, ich habe eine ganz kon-
krete Frage. Sie mögen die Aktion meiner Kolleginnen
und Kollegen werten, wie Sie wollen; aber Ihnen ist si-
cherlich bekannt, dass es eine Umfrage in der Bevölke-
rung gegeben hat, wonach 77 Prozent der Befragten
diesen Tornado-Einsatz ablehnen. Ich frage Sie: Wie
8700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Katrin Kunert
würden Sie Ihre Entscheidung gegenüber diesen 77 Pro-
zent begründen?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das
macht er doch gerade! – Eckart von Klaeden
[CDU/CSU]: Fang noch mal von vorne an!)
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Sie zu begründen, ist genau das, was ich mit meiner
Rede beabsichtige.
(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])
Ich will an diesem Punkt Folgendes deutlich machen:
Im kanadischen Parlament gab es vor einem Jahr eine
Mehrheit von zwei Stimmen dafür, sich an dem militäri-
schen Einsatz im Süden Afghanistans zu beteiligen.
Viele Dutzende von kanadischen Soldaten haben bei die-
sem Einsatz ihr Leben gelassen. Innerhalb der kanadi-
schen Bevölkerung gibt es wie bei uns eine demoskopi-
sche Mehrheit gegen diesen Einsatz.
Was würde es im Hinblick auf die Entscheidung des
kanadischen Parlaments, die Anfang des nächsten Jahres
neu ansteht, bedeuten, wenn wir heute bei der Entschei-
dung über den Tornado-Einsatz Nein sagen, wenn wir
also den Einsatz des recht begrenzten militärischen In-
struments von sechs Tornados heute verweigern wür-
den? Ich bin ganz sicher, dass das kanadische Parlament
dann sagen würde: Das ist aber solidarisch von euch; wir
werden jetzt unsere Entscheidung gegen euch treffen.
Was würde das für Afghanistan und für das gesamte
Mandat bedeuten? Wir würden Afghanistan mit einer
solchen Entscheidung in den Untergang treiben. Wir
müssen Entscheidungen manchmal gegen Stimmungen
treffen. Das ist jetzt nötig.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Militärisch können die Köpfe und Herzen der Afgha-
nen nicht gewonnen werden. Da gebe ich allen recht, die
das kritisch angemerkt haben; das gilt auch für einige in
der SPD-Fraktion.
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ach so!)
Es gilt aber eben auch der Satz: Ohne begrenzte militäri-
sche Mittel wird es nicht das hinreichende Maß an Si-
cherheit geben, das Afghanistan braucht, damit es ein-
mal selbst über die eigene Entwicklung entscheiden
kann. Dieses Maß an Sicherheit ist aber nötig. Ich
stimme dem Kollegen von Klaeden ausdrücklich zu – er
hat die Frau Ministerin zitiert –: Es gibt keine Sicherheit
ohne Entwicklung. Aber auch der Umkehrsatz gilt: Es
gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit. Dieses Maß an
Sicherheit muss jetzt hergestellt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Frau Künast, vielleicht haben Sie nicht registriert
– das möchte ich Ihnen doch sagen, weil Sie vorhin eine
entsprechende Bemerkung gemacht haben –, dass
Deutschland der viertgrößte
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Truppen-
steller!)
– nein – Financier der Welt im Bereich der Entwick-
lungshilfe ist. Nach den USA, Kanada und Großbritan-
nien kommt Deutschland. Bis zum Jahr 2010 haben wir
– nicht zu vergessen – von den 30 Milliarden US-Dollar,
die im Afghanistan-Compact im letzten Jahr beschlossen
worden sind, ohne Berücksichtigung unserer Zahlungen
im Rahmen der Europäischen Union allein für den zivi-
len Aufbau 1 Milliarde US-Dollar zur Verfügung ge-
stellt. Damit macht Deutschland deutlich: Es ist das
Wichtigste, den zivilen Aufbau voranzubringen. Dazu
brauchen wir aber auch die militärische Unterstützung.
Deswegen sind wir für den Tornadoeinsatz.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Die Behauptung der Linken, der PDS, wir hätten
keine sichere völkerrechtliche Grundlage, wird durch
häufiges Wiederholen nicht richtiger; sie bleibt falsch.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)
Ich will aus dem letzten Beschluss des Weltsicherheits-
rats, Resolution 1707 vom September des letzten Jahres,
zitieren.
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Genfer
Konvention!)
Unter Ziffer 4 heißt es: Der Sicherheitsrat fordert nach
Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen
die ISAF auf, bei der Durchführung des Mandats
der Truppe auch weiterhin in enger Abstimmung
mit der Regierung der Islamischen Republik Afgha-
nistan, mit dem Sonderbeauftragten des General-
sekretärs sowie mit der Koalition der Operation
„Dauerhafte Freiheit“ zu arbeiten.
Wollen Sie etwa unterstellen, dass sich der Weltsicher-
heitsrat konträr zum Völkerrecht verhält? Das ist doch
eine absurde Unterstellung. Absurder kann es gar nicht
sein, lieber Kollege Lafontaine.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Uns ist bewusst, dass es eine schwierige, auch eine
Gewissensentscheidung ist – wir wissen, dass es Kolle-
gen gibt, denen das schwerfällt –, dem Tornado-Einsatz
zuzustimmen. Klar ist aber erstens, dass der zivile Im-
puls gegenüber dem militärischen Impuls künftig ver-
stärkt werden muss. Das ist durch den Strategiewechsel,
der innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft
von Frank-Walter Steinmeier vorangetrieben worden ist,
dokumentiert.
Zweitens ist zuzugeben, dass die Aufgabe viel
schwieriger ist, als wir uns das zu Beginn vorgestellt ha-
ben. Das ist zutreffend.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8701
(A) (C)
(B) (D)
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Drittens gilt, dass das Hilfskonzept umfassender orga-
nisiert werden muss. Der Afghanistan-Compact ist der
Ausdruck dafür, dass wir unsere Arbeit in Afghanistan
ernst nehmen. Wir müssen den Menschen in Afghanistan
sagen: Ihr könnt euch auf uns verlassen. Wenn ihr wollt,
dass wir euch helfen, dann sind wir bei euch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Paech.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das ist doch dieser Plakatständer!)
Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Herr Kollege Weisskirchen, Sie haben uns „Verges-
sen“ vorgeworfen. Vielleicht ist es so, dass man den
Splitter im Auge des anderen sieht, aber den Balken vor
den eigenen Augen nicht.
(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Sehen Sie denn nicht, dass Sie mit Ihrer Strategie, mit
der Erweiterung des Kriegsszenarios das Gegenteil von
dem machen, was Sie eigentlich machen wollen, näm-
lich Hearts and Minds zu gewinnen, dass Sie die Taliban
eigentlich nur unterstützen, dass Sie sie fördern? In dem
sechsjährigen Krieg sind die Taliban noch nie so stark
gewesen, insbesondere im Süden, wie jetzt. Das ist doch
kein Ergebnis Ihres zivilen Impulses, sondern ein Ergeb-
nis der Verstärkung der militärischen Aktivitäten.
Ein Zweites. Einer ihrer größten Erfolge in diesen
sechs Jahren ist – das wissen wir alle –, dass der Dro-
genanbau und der Drogenhandel in dieser Region Di-
mensionen wie noch nie zuvor angenommen haben. Das
ist eine Kriegsökonomie, die die Taliban benutzen, um
ihre Stärke weiter auszubauen. Mit der zunehmenden
Militarisierung dieses Konfliktes werden also auch die
Gegner gestärkt. Daran geht die NATO auf jeden Fall
zugrunde.
Danke schön.
(Zuruf von der FDP: Sie hätten sich entschul-
digen sollen!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Weisskirchen.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Lieber Kollege Paech, lassen Sie mich nur einen
Punkt aufgreifen. Wenn ich es richtig in Erinnerung
habe, besteht das dortige Parlament zu über 30 Prozent
aus Frauen. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in Afgha-
nistan auch eine qualitativ andere Entwicklung gibt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zuvor wurden sie gesteinigt, wurden sie unterdrückt und
(Monika Knoche [DIE LINKE]: Wurden sie
geschlagen!)
wurden sie in einer Weise bedrängt, dass sie ihr eigenes
Leben nicht haben führen können. Allein das macht
deutlich, dass wir an der Seite Afghanistans bleiben und
mithelfen müssen, damit Afghanistan seinen eigenen,
selbstbestimmten Weg gehen kann.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Birgit Homburger (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahl der Selbstmordanschläge in Afghanistan hat
sich im letzten Jahr gegenüber 2005 nahezu verfünf-
facht. Auch in diesem Jahr gab es bereits rund 20 An-
schläge.
Wir stehen nicht am Anfang eines Engagements in
Afghanistan. Wir stehen am Scheideweg dieses Engage-
ments. Deswegen haben wir im Herbst des letzten Jah-
res, als wir hier eine Debatte über die Verlängerung der
Mandate ISAF und Operation Enduring Freedom geführt
haben, auch eine Diskussion darüber begonnen, dass es
einen Strategiewechsel hin zu einem besseren Gleichge-
wicht zwischen zivilen und militärischen Maßnahmen
geben muss. Das muss wiederhergestellt werden. Das
bedeutet, dass sehr viel stärker als bisher auf zivil-
militärische Zusammenarbeit und den Wiederaufbau
in Afghanistan Wert gelegt werden muss.
(Beifall bei der FDP)
Wir haben hier auch über den Beitrag Deutschlands
diskutiert. Wir leisten einen großen Beitrag. Das ist auch
mehrfach gesagt worden. Wir haben jetzt die Chance, in
der Nordregion schnell deutlich sichtbare Zeichen zu
setzen und damit klarzumachen, dass wir dort sind, um
den Menschen in diesem Land zu helfen. Das ist drin-
gend erforderlich. Wir brauchen auch eine Optimierung
der Leistungen, die die Bundesressorts erbringen. Diese
müssen deutlich besser koordiniert werden.
(Beifall bei der FDP)
Genau darüber haben wir in den letzten Wochen ge-
sprochen: über den Polizeiaufbau und den Aufbau des
Justizvollzugswesens. Wir haben nicht nur hier im Deut-
schen Bundestag darüber gesprochen, sondern dadurch
ist auch einiges andere in Bewegung geraten. Bis hin zu
den NATO-Verteidigungsministern hat sich die Einsicht
durchgesetzt, dass das Ziel der Stabilisierung Afghanis-
tans mit militärischen Mitteln allein nicht erreicht wer-
den kann. Die große Mehrheit unserer Fraktion sieht,
dass sich die Dinge hier in die richtige Richtung entwi-
ckeln. Deshalb werden wir heute unsere Zustimmung
nicht verweigern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
8702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Birgit Homburger
Der Einsatz der deutschen Recce-Tornados kann zu
einer Verbesserung der Sicherheitslage beitragen. Das ist
hier schon mehrfach gesagt worden. Es kann auch eine
Optimierung der militärischen Operationen erreicht wer-
den. Die Bundesregierung trägt eine große Verantwor-
tung. Sie hat mehrfach versichert, dass sie über die
Personalstrukturen Einfluss auf die militärische Opera-
tionsführung hat. Wir erwarten, dass sie diesen Einfluss
auch geltend macht und sich dafür einsetzt, zukünftig
nicht nur Einsatzregeln, sondern auch Verhaltensregeln
aufzustellen. Das wird für die weitere Entwicklung von
Afghanistan entscheidend sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Gert
Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])
Wir haben uns im Rahmen der Diskussion auch über
die Frage unterhalten, ob die Tornados überhaupt ein-
satzfähig sind. Diese Frage kam sowohl aus der Bevöl-
kerung als auch von den Kolleginnen und Kollegen. Ich
finde, die Bundesregierung hat nachvollziehbar dar-
gelegt, dass die Einsatzfähigkeit voll gegeben ist, dass
hier auch in Zusammenarbeit mit den anderen Nationen
die Einsatzfähigkeit sichergestellt wird.
Wir sagen deutlich: Wir im Deutschen Bundestag le-
gen gemeinsam Wert darauf, dass die bestmögliche Aus-
stattung der deutschen Soldatinnen und Soldaten sicher-
gestellt wird und damit eben auch die Ausübung des
neuen Mandats ermöglicht wird.
(Beifall bei der FDP)
Ich möchte an dieser Stelle ein Wort zur Finanzie-
rung sagen. Meine Damen und Herren von der Bundes-
regierung, im Rahmen der Beratungen kamen auch aus
den Koalitionsfraktionen und aus dem Verteidigungs-
ministerium große Bedenken darüber auf, dass dieser
Einsatz erneut allein aus dem Haushalt des Verteidi-
gungsministeriums finanziert werden wird. Das wird auf
Dauer so nicht gehen können. Wenn Sie das auf Dauer
weiter so machen, wird das nicht ohne Einfluss auf die
Ausrüstung und Ausstattung der Soldatinnen und Solda-
ten bleiben. Deshalb erwarten wir, dass Sie Anstrengun-
gen unternehmen, dass solche zusätzlichen Einsätze zu-
künftig aus dem allgemeinen Haushalt finanziert
werden.
(Beifall bei der FDP)
Wichtig ist die politische Flankierung, nicht nur beim
Wiederaufbau, sondern auch bei den Bemühungen um
die Stabilisierung der afghanisch-pakistanischen Grenz-
region. Und hier braucht es eine Unterstützung der pa-
kistanischen Regierung gegen islamistische, terroristi-
sche und kriminelle Kräfte in Pakistan.
Auch hier muss es politische Initiativen der Bundes-
regierung geben. Wenn wir dieses Problem und das
Flüchtlingsproblem in der Grenzregion nicht lösen, wird
das eine dauerhafte Quelle der Destabilisierung für Af-
ghanistan sein.
(Beifall bei der FDP)
Meine Damen und Herren, deshalb sage ich sehr deut-
lich: Mit der Zustimmung zum heutigen Mandat gibt es
aus der Sicht unserer Fraktion keinen Automatismus hin-
sichtlich weiterer Abstimmungen über eine Mandatsver-
längerung; im Herbst dieses Jahres wird ja wieder eine
anstehen.
(Beifall bei der FDP)
Wir erwarten, dass nicht nur über den Strategiewechsel
gesprochen wird, sondern dass er auch umgesetzt wird.
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen. Die Diskussion in den letzten
Wochen im Deutschen Bundestag war nicht etwa
Hemmschuh, nein, sie war in vielen Punkten eine Unter-
stützung für die Bundesregierung – auch auf NATO-
Ebene –, wenn es darum ging, auf den politischen Wech-
sel hinzuwirken.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin!
Birgit Homburger (FDP):
Frau Präsidentin! Ich komme zum letzten Satz. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb beweist sich
an dieser Stelle die Überlegenheit des Konzepts der Par-
lamentsarmee. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass
das auch weiter so bleibt.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bernd Siebert (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen unter zum Teil
gefährlichen Bedingungen ihren Auftrag in verschiede-
nen Auslandseinsätzen. Nach besten Kräften, unterstützt
von ihren Kameraden in der Heimat, tragen sie so zum
guten Ansehen unseres Landes in der Welt entscheidend
bei. Dafür gebührt – das kann man nicht nur nicht häufig
genug wiederholen, sondern man muss es – den Angehö-
rigen unserer Streitkräfte unser aller Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Insbesondere den Soldatinnen und Soldaten in Afgha-
nistan ist ein Dank auszusprechen, denn sie haben in den
letzten Jahren Hervorragendes geleistet.
Heute entscheiden wir in diesem Hohen Haus über
den Einsatz der Aufklärungstornados in Afghanistan.
Eine wochenlange Diskussion liegt hinter uns. Ich
denke, diese Diskussion hat deutlich gemacht, dass die
meisten Mitglieder in den Fraktionen verantwortungs-
voll mit diesem Thema umgegangen sind. Deshalb wer-
den wir heute bei der Beschlussfassung auch eine so
klare Mehrheit zur Kenntnis nehmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8703
(A) (C)
(B) (D)
Bernd Siebert
Diese Diskussion hat auch gezeigt, dass die Bundes-
wehr zu Recht als Parlamentsarmee dargestellt wird. Wir
haben also bei der Entsendung deutscher Soldatinnen
und Soldaten ins Ausland die letzte Entscheidung und
damit auch eine besondere Verantwortung.
Wichtiger erscheint mir allerdings, dass eine Befas-
sung durch den Bundestag zu einer sicherheitspoliti-
schen Diskussion in der breiten Öffentlichkeit unserer
Gesellschaft geführt hat. Wir werden sehen, dass diese
Diskussion heute nicht beendet ist, sondern auch in der
Zukunft weitergeht. Ich will an dieser Stelle daran erin-
nern, dass wir vor einem Jahr über den Kongoeinsatz
entschieden haben. Wenn wir damals die Umfragen be-
züglich eines möglichen Kongoeinsatzes als Grundlage
für unsere Entscheidung genommen hätten, hätten wir
nicht so einen erfolgreichen Einsatz im Kongo organi-
siert und umgesetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Natürlich wird eine solche Diskussion kontrovers ge-
führt. Das wesentliche Argument der Gegner eines Ein-
satzes von Tornados in Afghanistan ist – wir haben das
heute gehört –, dass der Einsatz eine völlig neue Dimen-
sion der Kriegsbeteiligung bedeuten würde und zugleich
zu einer weiteren Militarisierung der deutschen Außen-
politik führen würde. Dem widerspreche ich ganz ent-
schieden. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass unser Einsatz
in Afghanistan nur durch einen ausgewogenen und ver-
netzten sicherheitspolitischen Ansatz zum Erfolg führen
kann. Das bedeutet den Einsatz sowohl ziviler als auch
militärischer Mittel in Afghanistan. Das eine ist ohne das
andere nicht denkbar, weiß doch eigentlich jeder, dass
ziviler Aufbau und demokratische Strukturen in einem
Klima von Krieg, Zerstörung und Existenzkampf der
Bevölkerung nicht gedeihen können. Diese notwendige
Sicherheit muss notfalls auch gegen Widerstände über
längere Zeiträume verteidigt werden, nicht zuletzt, um
das bisher Erreichte in Afghanistan abzusichern. Dafür
brauchen wir den Einsatz militärischer Fähigkeiten.
Die internationale Sicherheitsunterstützungstruppe
ISAF hat bereits in der Vergangenheit militärische Auf-
klärung in Afghanistan betrieben. Deutschland hat zum
Beispiel Aufklärungsdrohnen des Typs LUNA im Nor-
den Afghanistans im Einsatz. Im Bereich der Luftaufklä-
rung hat es jedoch bisher eine Fähigkeitslücke gegeben,
die wir nun schließen können. Unsere Tornados sind her-
vorragend geeignet – das können sie besser als andere –,
am Tage in Höhen von bis zu 8,5 Kilometern auch bei
schlechtem Wetter und mit einer Geschwindigkeit von
über 1 000 Kilometern pro Stunde exakte Bilder zu lie-
fern und Nachtaufklärung mit Infrarot zu betreiben. Da-
durch bieten die deutschen Tornados eine besondere
Qualität im Bereich moderner Aufklärung.
Wenn wir unsere Tornados nach Afghanistan senden,
dann geht es dabei nicht nur um den Einsatz einer weite-
ren militärischen Fähigkeit, sondern um unseren Beitrag
an jenem abgestimmten und ausgewogenen Konzept,
mit dem die langfristige Stabilisierung Afghanistans
erreicht werden soll.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Denn die Aufklärung von Räumen und Objekten trägt
unmittelbar zum Schutz unserer Soldatinnen und Solda-
ten und zur Absicherung des zivilen Aufbaus bei. Dass
dieser Schutz nicht ausschließlich unseren Kräften zur
Verfügung stehen sollte, sondern allen Verbündeten, das
versteht sich aus meiner Sicht von Bündnissolidarität
von selbst.
Deutschland beteiligt sich mit einer breiten Palette
ziviler und militärischer Maßnahmen am Aufbau in
Afghanistan. Die Bundeswehr schafft Sicherheit als
Voraussetzung für eine positive Entwicklung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, darf ich Sie an die Zeit erinnern!
Bernd Siebert (CDU/CSU):
Letzter Satz, Frau Präsidentin. – Die Tornados sind
damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Stabilität und
Frieden in der Region.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPD-
Fraktion.
Rainer Arnold (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Taliban sind wieder erstarkt. Vielleicht nimmt Die
Linke einmal zur Kenntnis, dass sich deren menschen-
verachtender Terror nicht in erster Linie gegen die Sol-
daten aus 37 Ländern richtet, sondern gegen die Men-
schen in Afghanistan,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN – Monika Knoche [DIE
LINKE]: Das wissen wir!)
gegen die zivilen Aufbauhelfer, gegen die Schulen und
gegen Lehrer, die Frauen und Mädchen unterrichten.
(Monika Knoche [DIE LINKE]: Das ist uns
bekannt!)
Die meisten Opfer, die es durch Terrorismus gegeben
hat, sind afghanische Zivilisten.
Ich denke, die Taliban wissen auch, dass sie diese mi-
litärische Auseinandersetzung nicht gewinnen können.
Sie setzen aber auf eine andere Strategie, nämlich da-
rauf, dass sie die westlichen Industrieländer, die sich
dort engagieren, zermürben können. Deshalb glaube ich
schon, dass die Art, wie wir heute diskutieren und wie
wir entscheiden, am Ende nicht nur eine nationale Ange-
legenheit ist, sondern auch Einfluss darauf hat, wie die-
8704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Rainer Arnold
ser Kampf in Afghanistan weitergeführt werden kann.
Wir dürfen ihnen auch mit unserer Wortwahl nicht ent-
gegenkommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
In dieser schwierigen Phase in Afghanistan, in der es
nicht um das Gelingen oder einen Misserfolg, sondern
um eine Weichenstellung hin zu mehr Stabilität geht, hat
die NATO – das ist kein anonymes Gremium, wir Deut-
schen sind Mitglied der NATO – einen Anforderungs-
katalog für zusätzliche Fähigkeiten aufgestellt. Ein
Beitrag dazu sind diese Tornados, mit denen eine einzig-
artige Fähigkeit verbunden ist. Die Ressourcen dafür hat
momentan nur Deutschland frei. Die Aufnahmen dieser
Tornados sind nicht die einzigen Auswertungsgrundla-
gen für Entscheidungen in Afghanistan, sondern ein Teil
der Informationen. Klar ist aber, dass damit zwei Dinge
geleistet werden können:
Erstens. Anschläge können dadurch in der Tat verhin-
dert werden.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
– Da gibt es doch nichts zu lachen. Ich weiß nicht, was
für die Kollegen der Linken daran lustig ist. – Wir haben
heute schon über das Staudammprojekt gesprochen. Für
diesen Staudamm muss eine dritte Turbine auf dem
Landweg transportiert werden. Natürlich können die
Tornados diese Route, diese Straßen, bei jedem Wetter
Tag und Nacht bestreifen und aufklären, ob dort in der
Nacht Sprengfallen vergraben werden. Das ist wichtig
für die Menschen in Afghanistan, deren Hoffnungen und
deren Lebensbedingungen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Dirk Niebel
[FDP])
Zweitens. Natürlich können die Tornados auch Ziele
aufklären. Wir als Deutsche haben mit allen 36 Partnern
ein gemeinsames Interesse daran, dass nicht immer neue
Terroristen über die Grenze von Pakistan kommen. Je
genauer die Ziele aufgeklärt werden, umso besser ist es
möglich, zivile Opfer zu vermeiden.
Ich sage an dieser Stelle eines: Natürlich müssen wir
mit den amerikanischen Partnern immer wieder darüber
reden, dass wir die Kultur der Afghanen respektieren
wollen und wie sorgsam wir vorgehen, um zivile Schä-
den zu vermeiden. Ein schlauer Rat aus Deutschland al-
leine ist aber wohlfeil. Die Amerikaner fragen uns dann
schon zu Recht, welchen Beitrag wir dazu leisten, damit
solche Fehler nicht passieren. Die Tornados sind ein
ernsthafter Beitrag dazu. Deshalb ist es richtig, verant-
wortbar und notwendig, dass wir dies heute so entschei-
den.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich verstehe die Sorge vieler Kolleginnen und Kolle-
gen auch in diesem Haus, die in erster Linie befürchten,
dass es so etwas wie eine Zwanghaftigkeit gibt, die nicht
mehr kontrollierbar ist, sodass wir immer weiter in mili-
tärische Auseinandersetzungen verwickelt werden. Diese
Befürchtung ist aus zwei Gründen falsch:
Der erste Grund ist, dass wir den deutschen Parla-
mentsvorbehalt haben. Das Parlament hat ja mit dafür
gesorgt, dass die Regierung einen Antrag vorgelegt hat,
aufgrund dessen wir in dieser Debatte heute über die
Tornados diskutieren. Wir selbst haben dies in der Hand.
Der deutsche Parlamentsvorbehalt ist allerdings nicht
nur ein Recht für uns Parlamentarier, sondern uns wird
dadurch natürlich auch eine Verantwortung übertragen.
(Jörg van Essen [FDP]: Aber ja!)
Ich will schon noch einmal sagen: Die Linke und der
Redner der Linken stehlen sich in dieser Frage nicht zum
ersten Mal aus der Verantwortung. Das ist ein ernsthaftes
Problem.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Oskar
Lafontaine [DIE LINKE]: Eine Frechheit ist
das!)
Es gibt einen zweiten Grund, warum wir nicht in
Dinge schlittern, die wir nicht haben wollen. Dieser
Grund ist ganz klar: Alle, die heute mit Ja stimmen, wis-
sen doch selbstverständlich, dass man den Krieg gegen
Terroristen, die Sprengfallen aufstellen und Selbstmord-
attentäter in ihren Reihen haben, nicht in erster Linie mi-
litärisch gewinnt. Das ist eine Binsenweisheit. Natürlich
hat die Bundesregierung wichtige Impulse dafür gege-
ben – alle Ressorts –, dass die Staatengemeinschaft die
militärischen und zivilen Aufbauanstrengungen stärker
verzahnt und die Bemühungen erhöht – und das ist rich-
tig so. Ich glaube, alle Parlamentarier werden genau
beobachten, wie sich dies bis zum Oktober entwickeln
wird, wenn wir erneut darüber diskutieren werden.
Wir wissen aber eines: Wir dürfen jetzt nicht zurück-
weichen. Häufig werden wir gefragt, wie lange das in
Afghanistan dauern wird. Die Antwort ist eindeutig:
(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Wenn
das so weitergeht, noch 20 Jahre!)
Es wird so lange gehen müssen, bis man den Terror zwar
nicht besiegt, aber so weit zurückgedrängt hat, dass die af-
ghanischen Sicherheitsbehörden – Polizei und Militär –,
die noch weiter ausgebaut werden müssen, in ihrem ei-
genen Land selbst die Verantwortung für Sicherheit
übernehmen können. So lange wird sich Deutschland
dort engagieren müssen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Ich sage zum Schluss: Es gibt in der Lehre des Islam
einen sehr schönen Satz. Wir werden so lange dort blei-
ben – das muss auch jeder Taliban wissen –, bis dieser
Satz in ganz Afghanistan universelle Gültigkeit hat. Er
lautet:
Die Tinte des Schülers ist heiliger als das Blut des
Kämpfers.
Darum geht es am Ende.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8705
(A) (C)
(B) (D)
Rainer Arnold
Herzlichen Dank, Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.
Gert Winkelmeier (fraktionslos):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich kann mir gut vorstellen, dass es der Bundesregierung
und manch einem hier im Parlament überhaupt nicht in
den Kram passt, dass die NATO-geführte ISAF ausge-
rechnet jetzt mit ihrer sogenannten Frühjahrsoffensive
begonnen hat. Nun helfen nämlich alle Versuche nichts
mehr, den eigenen Kollegen in der Öffentlichkeit vorzu-
spiegeln, dass die Einsätze von ISAF und der Operation
„Enduring Freedom“ in Zielsetzung und Mitteln etwas
völlig Verschiedenes wären. Nein, jetzt ist für jedermann
sichtbar, dass ISAF, die sogenannte Stabilisierungs-
truppe, Krieg führt, und zwar so, wie wir ihn aus dem
Irak und aus dem sogenannten Antiterrorkampf in Af-
ghanistan seit 2001 kennen: mit wenig Rücksicht auf
Verluste unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung.
(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)
An diesem Krieg wird sich die Bundeswehr mit den Auf-
klärungstornados beteiligen, wenn heute in diesem
Hause nicht noch ein Wunder geschieht.
Noch einmal: Aufklärung ist integraler Bestandteil
der Kriegsführung. Deswegen gilt: Wer Jagdbombern
Ziele zuweist, macht sich mitschuldig an der Tötung Un-
schuldiger.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir haben es doch erst vergangenen Montag wieder er-
lebt: Bei der Bombardierung eines Wohnhauses in der
Provinz Kapisa in Nordafghanistan wurden fünf Frauen,
drei Kinder und ein alter Mann getötet. Glaubt denn je-
mand ernsthaft daran, dass so etwas durch die Recce-
Tornados verhindert werden kann? Das Gegenteil trifft
doch zu: Wenn Stunden nach der Momentaufnahme die
Bomben fallen, hat sich die Lage doch längst verändert.
Die paschtunischen Taliban warten doch nicht, bis ihnen
die Bomben auf den Kopf fallen. Sie treten auch nicht in
geschlossenen Formationen auf. Im Übrigen frage ich
mich, wie ein Bildauswerter einen waffentragenden Bau-
ern von einem Talibankämpfer unterscheiden soll.
Nein, Kolleginnen und Kollegen, machen Sie sich
nichts vor. Die Tornados, deren Einsatzkosten alleine bis
Oktober 35 Millionen Euro betragen, sind aktiver Teil
der Kriegsmaschinerie und ersetzen die britischen Har-
rier-Bomber, die vorher die Aufklärungsarbeit geleistet
haben. Im Rahmen der Frühjahrsoffensive sollen die
Harrier voll in den Luft-Boden-Kampf eingreifen.
An dieser Stelle ein Wort zu Herrn Kuhn. Er ist der
Meinung, die Tornados seien nötig, um den Hilfsorgani-
sationen den Weg zu weisen. So entnahm ich es der
„Süddeutschen“ von vorgestern. Wissen Sie, Herr Kuhn,
für mich ist das eine intellektuelle Zumutung von Ihnen,
vom friedenspolitischen Aspekt einmal abgesehen. Ha-
ben Sie sich eigentlich einmal überlegt, wie viel CO2 ein
solcher Tornado ausstößt? Umweltschutz, meine Damen
und Herren von den Grünen, hört nicht an den eigenen
Grenzen auf und ist auch nicht teilbar.
(Lachen bei der SPD – Dr. Carl-Christian
Dressel [SPD]: Das ist nur noch Klamauk! –
Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In den letzten Jahren habe ich mir oft gewünscht, dass
Ihre beiden Kollegen Petra Kelly und General Bastian
noch leben würden. Die hätten Ihnen den Zusammen-
hang von Friedens- und Umweltbewegung sicherlich ge-
nau erklären können.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Tornadoeinsatz wird nicht mehr Schutz für unsere
Soldaten bringen; denn auch die Deutschen werden mit
der brutalen Kriegsführung der Alliierten identifiziert.
Das wird auch im Norden auf die Bundeswehr zurück-
schlagen. Die Menschen in Afghanistan leben seit Jahr-
zehnten unter der Geißel des Krieges bzw. Bürgerkrieges.
Seit Jahrzehnten sind sie Spielball fremder Interessen:
erst britischer, dann russischer und heute amerikanischer
Interessen. Geben wir ihnen endlich die Chance, ihr
Schicksal selber zu bestimmen. Machen wir endlich Ernst
mit wirklicher Hilfe für den Wiederaufbau in Afghanis-
tan,
(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Machen
Sie endlich Schluss!)
das uns noch traditionell freundschaftlich verbunden ist.
Das geht aber nur unter Einbeziehung aller Gruppen im
Land und nicht gegen sie; und schon gar nicht mit mili-
tärischen Mitteln und mit der Überstülpung unserer Vor-
stellungen von Demokratie.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Oberstarzt a. D. der Bundeswehr, Reinhard Erös,
weist in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. März und
gestern Abend in Phoenix zu Recht darauf hin, dass die
allein für 2007 für den Tornadoeinsatz benötigten Mittel
den Bau von 1 200 Schulen ermöglichen würden. Zur-
zeit wird noch mehr als zehnmal so viel für den Krieg
ausgegeben wie für den Wiederaufbau. Für den Wieder-
aufbau ist die Entwicklung einer Exit-Strategie nötig.
Das heißt, die Aufwendungen für den wirtschaftlichen
Aufbau sind um ein Vielfaches zu erhöhen, während die
militärischen Kosten auf null gesenkt werden müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
Was Sie, die Mehrheit in diesem Hause, aber heute
beschließen wollen, ist das genaue Gegenteil. Ihre Stra-
tegie führt unweigerlich in eine von anderen gewollte,
immer tiefere Verstrickung in einen Krieg, der deutschen
und europäischen Interessen zuwiderläuft. Als der engli-
sche Umweltminister Michael Meacher nicht länger der
Pudel des US-Präsidenten sein wollte, trat er zurück. Am
6. September 2003 schrieb er im „Guardian“: Dieser
Krieg gegen den Terror ist ein Vorwand.
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer einem Wort an
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Einst hatte Ihre Partei die Kraft zur Abkehr von der
8706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Gert Winkelmeier
Atomstrompolitik. Haben Sie heute endlich die Kraft,
mit der Militarisierung der deutschen Außenpolitik auf-
zuhören! Wenn Sie das nicht schaffen, dann – das pro-
phezeie ich Ihnen – wird es auf lange Sicht keinen sozi-
aldemokratischen Kanzler in diesem Lande mehr geben.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Ent-
wicklungspolitiker haben uns eindeutig für die Entsen-
dung der Recce-Tornados nach Afghanistan ausgespro-
chen, weil gerade wir wissen: Sicherheit und
Entwicklung sind zwei Seiten der gleichen Medaille;
nur beide Elemente zusammen sind der Schlüssel zum
Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen in diesem
Land.
Der feige Mord an dem deutschen Entwicklungshel-
fer gestern zeigt, wie sehr sowohl unsere Bundeswehr-
soldaten als auch die deutschen Entwicklungsfachleute
jeden Tag in Unsicherheit leben – ebenso wie die afgha-
nische Bevölkerung. Präzisere Aufklärung ist zwar kein
Allheilmittel; aber es ist völlig klar, dass sie die Sicher-
heit für unsere Soldaten, für unsere Entwicklungshelfer
und für die afghanische Zivilbevölkerung erhöht, auch
weil sie hilft, Kollateralschäden zu vermeiden oder zu
minimieren. Das ist wichtig, damit die Afghanen in uns
weiterhin Helfer und Freunde und nicht Besatzer sehen.
Auf dem Rigaer Gipfel der NATO wurde offiziell be-
stätigt, was wir schon oft gesagt haben: Der Weg zu ei-
nem stabilen, friedlichen Afghanistan ohne Terrorismus
ist nicht militärisch zu erzwingen, sondern nur durch ei-
nen konzentrierten Aufbau und Wiederaufbau, der aber
militärisch abgesichert werden muss, möglich. Wir ha-
ben gesagt, dass dieser Einsatz auf zwei Beinen steht.
Deswegen ist es auch richtig, dass die Bundesregierung
die Mittel für die Entwicklung in Afghanistan um
25 Prozent erhöht.
Ich freue mich – das sage ich ganz ehrlich – über die
breite Unterstützung, die der zivile Aufbau, die Entwick-
lungspolitik, die Entwicklungshilfe in diesem Hause
jetzt genießen. Ich freue mich auch, dass die Amerikaner
und andere einen substanzielleren Beitrag leisten.
Ebenso freue ich mich auf die Unterstützung der Grünen
beim nächsten Haushalt, Herr Trittin. Aber ich kann mir
natürlich nicht verkneifen, auch Ihnen zu sagen: Erst
seitdem die Grünen nicht mehr in der Regierung sind,
nimmt das Budget der Entwicklungsministerin substan-
ziell zu.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir müssen – das wurde heute völlig zu Recht schon
festgestellt – natürlich auch sagen, dass die Entwicklung
Afghanistans in letzter Zeit bedenklich ins Stottern gera-
ten ist. Das hat verschiedene Ursachen: die ungelöste
Drogenproblematik und auch das Wiedererstarken der
Taliban. Die Taliban gehen nach dem Prinzip Zuckerbrot
und Peitsche vor: auf der einen Seite soziale Hilfsleis-
tungen, auf der anderen Seite Gewalt, Erpressung und
Zusammenarbeit mit Drogenverbrechern, um die Macht
in den Städten und im Land wiederzuerlangen.
Herr Hoyer, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, Durch-
halteparolen seien zu wenig. Jawohl, Parolen sind zu we-
nig; aber durchhalten ist wichtig. Wichtig ist auch, dass
wir die richtigen Konsequenzen aus dem ziehen, was
bisher nicht hundertprozentig geklappt hat.
Erstens. Eine Erkenntnis ist, dass den Taliban und
al-Qaida nicht allein mit zivilen Mitteln Einhalt geboten
werden kann. Der Aufbau kann nicht ohne militärische
Absicherung funktionieren.
Zweitens. Unser Erfolg im Norden und im Osten ist
nur nachhaltig, wenn die Stabilisierung im Westen und
im Süden gelingt. Deshalb muss es eine verstärkte zivile
Nachbarschaftshilfe beim Wiederaufbau in anderen Re-
gionen geben.
Drittens. Der Frieden in Afghanistan hängt vor allem
von der Entwicklung auf dem Land ab. Wir müssen sie
noch mehr in afghanische Hände legen. Das bedingt die
raschere Qualifizierung von Lehrern, von Ärzten, von
Verwaltungsbeamten – übrigens auch von Politikern –
und von Polizisten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es ist natürlich kontraproduktiv, dass in diesem Mo-
ment die EU-Kommission ihre Entwicklungshilfe für
Afghanistan kürzt, dass die UN so hohe Gehälter für
Fahrer zahlt, dass jeder Lehrer lieber Fahrer werden will,
und dass nach wie vor Teile der UN-Hilfslieferungen
wie die Nahrungsmittelhilfe am Bedarf des Landes vor-
beigehen.
Der Wiederaufbau in Afghanistan kann nur in Zusam-
menarbeit mit den Nachbarstaaten – auch das ist schon
gesagt worden – gelingen. Da verweise ich auf den zentra-
len Schwachpunkt, der bisher in der Gesamtstrategie auf-
getaucht ist. Die 16 Millionen Paschtunen in Afghanistan
und die 30 Millionen Paschtunen in Pakistan – zwischen
ihnen existiert eine völlig offene Grenze – sind bisher in
den letzten Jahren und Jahrzehnten von jeglicher Entwick-
lung ausgeschlossen worden. Das bildet natürlich einen
idealen Nährboden für Ideologien und Fremdenhass der
Taliban. Deswegen ist es richtig, dass wir in unserer Ge-
samtstrategie die Entwicklungspolitik und die Außenpoli-
tik gegenüber Pakistan in unsere Überlegungen mit einbe-
ziehen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Jawohl, Frau Präsidentin.
Ein letzter Punkt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8707
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nein, kein letzter Punkt mehr, höchstens ein letzter
Satz.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Dann ein letzter Satz.
Wir haben keinen Grund, vor der Drogenproblematik
zu kapitulieren. Wenn wir die Unterstützung der Mullahs
und der Stammesfürsten haben, wenn wir eine durch-
dachte Wirtschaftspolitik betreiben, die den Bauern zu-
gute kommt, und wenn wir unsere Anstrengungen in der
Sicherheitspolitik mit Blick auf die Polizeiausbildung er-
höhen, werden wir auch dieses Problem langfristig lösen
können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Bartels, SPD-
Fraktion.
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
mir wäre es lieber, wenn wir nach fünf Jahren Stabilisie-
rungseinsatz in Afghanistan heute so weit wären, die
Truppen zu reduzieren, statt sie verstärken zu müssen.
So war es auf dem Balkan. Eine ganze Weile haben wir
dort starke Truppenkontingente bereithalten müssen.
Heute sieht die Situation hinsichtlich der Truppenstärke
folgendermaßen aus: Mazedonien null, Bosnien deutlich
reduziert. Im Kosovo gibt es noch eine große Truppen-
stärke; aber perspektivisch gibt es eine Reduzierung.
Eine Reduzierung muss das Ziel sein. Allerdings muss
die Lage dies auch zulassen. Es muss das Ziel jedes Aus-
landseinsatzes der Bundeswehr sein, dass es später auch
ohne Militär geht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Der Einsatz der Soldaten ist kein Selbstzweck. Um
ein sicheres Umfeld zu schaffen, das den Wiederaufbau
des Staates, den Bau von Straßen, Schulen und Kranken-
häusern erst ermöglicht, brauchen die Menschen in Af-
ghanistan heute die Unterstützung durch die Soldaten
der NATO. Würden wir auf diese militärische Absiche-
rung verzichten, könnten wir auch unsere zivilen Hilfen
einstellen. Das darf aber keine Alternative sein. Es bringt
nichts, die zivile Hilfe gegen die militärische auszuspie-
len. Wäre keine internationale Schutztruppe im Land,
dann würden sich die militanten Taliban-, Haqqani- und
Hezb-e-Islami-Gruppen gewiss nicht in Respekt und
Hochachtung vor Mädchenschulen, öffentlichen Rund-
funkanstalten und Entwicklungsprojekten verbeugen,
sondern sie angreifen, vertreiben und zerstören wie vor
2001.
Alle diejenigen, die jetzt darüber reden, dass es an der
Zeit sei, den Einsatz der Bundeswehr und der NATO zu
beenden, müssen sich fragen lassen, wie es dann in Af-
ghanistan weitergehen würde. Wer würde die vielen
hoffnungsvollen Ansätze, die es trotz der schlechten
Nachrichten gibt, dann zu einem Erfolg führen? Wir ha-
ben den Menschen in diesem Land unsere Hilfe zuge-
sagt. Wir stehen gegenüber der frei gewählten afghani-
schen Regierung im Wort. Wir wussten, dass es ein
längerer Einsatz wird. Wenn wir den Einsatz der Bun-
deswehr jetzt beenden würden, statt zu unserer Verant-
wortung zu stehen, wäre alles umsonst gewesen. Dann
hätten wir ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Jeder – so sagte neulich der afghanische Außenminis-
ter Spanta, der auch bei uns im Verteidigungsausschuss
zu Gast war –, der gedacht hat: „Fünf Jahre nach dem
Fall der Taliban wird das Projekt endgültig ein Er-
folgsprojekt“, war sehr naiv. Dr. Spanta sagte dies auf
Deutsch. Er hat jahrzehntelang in Deutschland gelebt,
nicht freiwillig, sondern im Exil als politisch Verfolgter.
Ob er noch Mitglied des Bündnisses 90/Die Grünen ist,
weiß ich nicht. Aber er ist ein mutiger Demokrat, der
jetzt die Chance hat, um den Aufbau der Demokratie in
seiner Heimat zu kämpfen. Dabei kann er sich auf unsere
Hilfe verlassen, auch auf die militärische Sicherheit, die
heute dazu noch notwendig ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Denn für Afghanistan gilt wie für viele andere Krisenre-
gionen: Ohne Sicherheit vor gewalttätigen Fanatikern
sind alle anderen Probleme erst recht nicht lösbar.
Wir müssen Bedingungen schaffen, die die Arbeit der
zivilen Kräfte ohne Bedrohung ermöglichen. Neue Hoff-
nung wird es nicht geben, solange sich weder die Helfer
noch die Bevölkerung einigermaßen sicher fühlen kön-
nen. Wir haben als Teil der NATO mit unseren Partnern
eine gemeinsame Verantwortung für ganz Afghanistan
übernommen. Es gibt keine getrennte Sicherheit im Nor-
den und im Süden des Landes. Mit der Bereitstellung der
Recce-Tornados leisten wir einen Beitrag zur Stabilisie-
rung der Lage auch in den südlichen Landesteilen.
Ausdruck unseres umfassenden Politikansatzes sind
dabei die sogenannten regionalen Wiederaufbauteams.
Sie setzen sich aus Soldaten der Bundeswehr zusammen,
die Seite an Seite mit Vertretern des Auswärtigen Amtes,
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung sowie des Innenministeriums ar-
beiten. Diesen Ansatz hat sich seit dem Rigaer Gipfel die
NATO zu eigen gemacht – einschließlich der USA.
Auch wenn unsere amerikanischen Verbündeten in der
Presse gelegentlich mit Kritik an Deutschland zitiert
werden, wird unser Engagement durchaus auch in
Washington akzeptiert. General Eikenberry, bis zum ver-
gangenen Jahr Oberbefehlshaber der US-Truppen in Af-
ghanistan, lobte bei einer Kongressanhörung ausdrück-
lich unseren Beitrag und bescheinigte den Deutschen – so
berichtet es der Korrespondent der Zeitung „Die Welt“ –,
dass sie „sehr gute Arbeit“ leisteten. Das ist übrigens der
gleiche General, den die „FAZ“ einige Monate zuvor mit
den Worten zitierte: Das effektivste Waffensystem, das
8708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Hans-Peter Bartels
wir haben, ist der wirtschaftliche Wiederaufbau. – Das ist
richtig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Trotzdem entsteht in unserer Öffentlichkeit manch-
mal der Eindruck, Deutschland setze hauptsächlich auf
das Militär. Das liegt vielleicht auch an unserem Prinzip
der Parlamentsarmee. Wir stimmen in diesem Hause ja
regelmäßig über die Verlängerung der Einsätze der Bun-
deswehr ab, nicht jedoch über die zivile Aufbauhilfe.
Dank der Beteiligung des Parlaments an den Entsende-
entscheidungen steht der militärische Teil unserer Politik
immer im Fokus des medialen Interesses. Da entsteht
leicht eine etwas verzerrte Wahrnehmung.
(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)
Vielleicht sollten wir das umfangreiche zivile En-
gagement Deutschlands in den Krisenregionen gelegent-
lich stärker in den Vordergrund stellen, um dieses Bild
zu korrigieren. Viele Projekte, viele engagierte Helfer
finden nie den Weg in die Zeitungen und leisten doch im
Verborgenen Großartiges und riskieren ihr Leben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Dass die Bundesregierung den Bundestag für den
Einsatz der Flugzeuge vom Aufklärungsgeschwader 51
aus Schleswig ausdrücklich um ein neues Mandat bittet,
ist sehr zu begrüßen. Zu Beginn der Diskussion haben ja
einige argumentiert, dass der Einsatz vom bisherigen
Bundestagsbeschluss voll gedeckt sei. Das sehe ich nicht
so. Wir nehmen heute quantitativ und qualitativ eine Er-
weiterung des Mandats vor. Unser heutiges Votum ist
auch ein Signal an die neue afghanische Demokratie,
dass wir zu unserem Wort stehen und die Stabilisierung
des Landes so unterstützen, wie dies notwendig ist.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Bernd Schmidbauer für die CDU/CSU-Fraktion.
Bernd Schmidbauer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ein Wechselbad der Gefühle haben wir in dieser
Debatte erlebt: von rhetorischer Abrüstung bis hin zu
kindergartengemäßen Protestaktionen derer, die nicht zu
verbessern sind
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
und von denen wohl auch im Ausschuss keine wesentlichen
Beiträge zu erwarten sein werden.
Ich hatte mit dem Kollegen Meckel heute Morgen ein
Gespräch. Er hat angeregt, dass wir das Material, das mit
den Entschließungsanträgen vorliegt, in den Ausschüssen
debattieren. Ich würde das befürworten. Wir sollten uns
das, was im Hinblick auf die Entwicklung Afghanistans
aufgezeigt wird, zunutze machen und diese Debatte
nicht mit der Auseinandersetzung über die Entsendung
von sechs Tornados beenden. Wir sollten über den Stra-
tegiewechsel sehr detailliert diskutieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Es ist nicht wahr, dass wir hier schwarz-weiß malen
würden. Die Konferenzen – von Bonn über Tokio bis
London, wo der Afghanistan-Compact veröffentlicht
wurde – dienten doch dazu, aufzuzeigen, was wir in der
Zukunft anders machen sollten, um dem abzuhelfen, was
wir alle beklagen.
(Unruhe)
Ich fürchte, lieber Herr Fraktionsvorsitzender, dass
wir die Haushälter in diese Debatte einbeziehen müssen.
Egal ob die Entwicklungspolitiker oder die Außenpolitiker
reden oder andere, es wird immer vergessen, dass in der
Zukunft einer der Schwerpunkte sein muss, dass wir die
Haushaltsmittel aufstocken – nur das bringt den ent-
scheidenden Strategiewechsel, den wir hier brauchen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
So gesehen sind die sechs Tornados ein guter Anlass, zu
sagen: Wir verstärken die Sicherheit, wir klären auf, wir
schützen diejenigen, die dort helfen, und wir denken da-
rüber nach, wie wir in der Zukunft die zivile Komponente
nicht nur verbal, mit Lippenbekenntnissen hier im Plenum,
verstärken können, sondern wie wir dazu kommen, dass
aus Planungen Realität wird. Frau Ministerin, Sie waren
auf meiner Seite, als wir im Ausschuss darüber gesprochen
haben. Es nützt uns wenig, wenn wir nur Planungen vor-
legen. Denn wir wissen: Nur wer für Stabilität sorgt,
kann Planungen auch umsetzen, kann den Menschen in
Afghanistan deutlich machen, worauf es uns ankommt.
Es genügt nicht, in jeder Debatte verbal zu beteuern, dass
man sich engagieren will – man muss es auch umsetzen.
(Anhaltende Unruhe)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, noch einen
Augenblick Platz zu nehmen, bevor wir dann nach
Schluss der Aussprache in die Abstimmungen eintreten.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Der Großen Koalition mangelt es
an Disziplin!)
Ich hatte mir das so gedacht, dass sich die Kollegen erst
hinsetzen und dann weitergeredet wird. Dafür halte ich
die Uhr natürlich an.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das gilt auch für den Vizekanzler!)
Verehrte Kollegen, es gibt noch einzelne Sitzplätze, die
bis zum Erreichen des vereinbarten Endes der Debatte
zur Verfügung stehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8709
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dass der Kollege Fuchtel sich auf die Regierungs-
bank flüchten wollte und der Kollege Müntefering in die
Reihen der CDU/CSU-Fraktion, gibt dieser Debatte
noch einen besonderen Akzent.
(Heiterkeit)
Nun, Herr Kollege Schmidbauer, haben Sie wieder das
Wort.
Bernd Schmidbauer (CDU/CSU):
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann der
Einsatz unserer Aufklärungstornados unsere gemeinsame
Verantwortung, aber auch unsere Bündnistreue zum
Ausdruck bringen. Es geht nicht um die sechs Tornados,
es geht letztlich darum, dass dem Bündnis das gegeben
wird, was wir brauchen, um Verlässlichkeit und Zuver-
lässigkeit auch nach außen darzustellen.
Die Forderung und Realisierung einer besseren inter-
nationalen Koordination und die Umsetzung im nationalen
Bereich sind, wie ich bereits sagte, wesentlich und dürfen
nicht Lippenbekenntnisse sein.
All denen, die heute das Drogenproblem strapaziert
haben, möchte ich sagen: Nur darauf hinzuweisen, dass
in Afghanistan ein Negativrekord zu verzeichnen ist,
dass die Drogenproduktion zugenommen hat, führt nicht
zu einer Lösung dieses Problems. Vielmehr sollten wir
über alle Fraktionsgrenzen hinweg nach möglichen
Lösungswegen suchen und gemeinsam mit der Regierung
neue Schwerpunkte setzen.
Zur Polizeiausbildung in Afghanistan wurde bereits
genug gesagt; dieses Thema ist eigentlich das geringste
Problem. Allerdings müssen wir das, was wir uns alle
vorgenommen haben, wirklich tun. Die Anstrengungen,
die die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die
Polizeiausbildung unternimmt, müssen auf europäischer
Ebene sinnvoll verstärkt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Auch das ist an sich nur eine Frage der Umsetzung.
Zum Schluss. Wer Frieden schaffen, Terror bekämpfen,
Stabilität herstellen und Menschen helfen will, der darf
nicht auf kurzfristige Erfolge hoffen, sondern muss eine
Langzeitstrategie verfolgen. Er muss – das wünsche ich
uns – einen langen Atem haben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der Druck-
sache 16/4571 zu dem Antrag der Bundesregierung auf
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan unter Führung der NATO. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung,
dem Antrag auf Drucksache 16/4298 zuzustimmen. Die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD verlangen dazu
namentliche Abstimmung.
Ich weise vor Eintritt in die namentliche Abstimmung
auf zwei Punkte hin:
Erstens. Mir liegt eine ganze Reihe persönlicher Er-
klärungen zur Abstimmung vor, die, wie es immer getan
wird, dem Protokoll dieser Sitzung beigefügt werden.1)
Zweitens. Nach dieser namentlichen Abstimmung
folgen noch einige strittige Abstimmungen. Ich bitte Sie,
im Saal zu bleiben, damit Sie auch an den folgenden Ab-
stimmungen teilnehmen können.
Sind bereits alle Abstimmungsurnen besetzt? – Das
scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es Kolleginnen und Kollegen, die ihre Stimmkarte
noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
wird – wie immer – während der Debatte über den
nächsten Tagesordnungspunkt bekannt gegeben. 2)
Ich möchte gerne die Abstimmungen fortsetzen und
bitte daher, wieder Platz zu nehmen. – Darf ich sowohl
die Damen- als auch die Herrenrunden bitten, Platz zu
nehmen?
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Herrenkränz-
chen und Damenrunden heißt das!)
– Herr Kollege Westerwelle, ich lasse das als Anregung
in das Protokoll aufnehmen.
Herr Kollege Meyer, wenn Sie den Kollegen
Riesenhuber davon überzeugen könnten, dass Sie beide
auf einem der zahlreichen Plätze – –
(Zuruf: Auf verschiedenen Plätzen!)
– Auch diese Anregung ist ganz gewiss im Protokoll ver-
merkt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/4622? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Entschließungsantrag mehrheitlich
abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge der Fraktionen von CDU/CSU und SPD
sowie der Fraktion der FDP auf den Drucksachen
16/4620 und 16/4621. Die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Koali-
tionsfraktionen sowie die Fraktion der FDP wünschen
Überweisung ihrer Entschließungsanträge zur federführen-
den Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mit-
beratung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss,
den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Menschen-
rechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an
den Haushaltsausschuss. Nach unserer ständigen Übung
1) Anlagen 5 bis 14
2) Ergebnis Seite 8712 A
8710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
geht die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-
überweisung vor. Das heißt, ich lasse zunächst darüber
abstimmen, ob Sie mit den beantragten Überweisungen
einverstanden sind. Wer dem zustimmt, den bitte ich um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist die Überweisung mit großer Mehrheit
beschlossen. Wir stimmen also heute über die Entschlie-
ßungsanträge auf den beiden genannten Drucksachen in
der Sache nicht ab.
Tagesordnungspunkt 21 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses auf Drucksache 16/4576 zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Tornado-
Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan einsetzen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/4047
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Zum Tagesordnungspunkt 21 c gibt es die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/4614 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine Zusage
deutscher Tornados ohne Bundestagsmandat“.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist
doch erledigt!)
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 16/4048 für erledigt zu erklären, was der Kollege
Brauksiepe gleich messerscharf erkannt hat, wozu ich
ihm ausdrücklich im Namen des Hauses gratulieren
möchte.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Damit
ist diese Beschlussempfehlung mit denkbar breiter
Mehrheit angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 21 d: Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/4613 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Neues Mandat für Tornado-Einsatz unerlässlich“.
Auch hier empfiehlt der Ausschuss, den Antrag für erledigt
zu erklären. Wer stimmt dem zu? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist auch das so be-
schlossen.
Da das Ergebnis der namentlichen Abstimmung nahe-
liegenderweise noch nicht vorliegt, rufe ich nun die
Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes
– Drucksache 16/3064 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
– Drucksache 16/4554 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Dirk Niebel, Christian Ahrendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gesetzliche Mindestlöhne ablehnen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Matthias Berninger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Arbeit in Armut verhindern
– Drucksachen 16/1653, 16/2978, 16/4554 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetz-
entwurfs, über den wir später namentlich abstimmen wer-
den, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
Mehrheit – das sind 308 Stimmen – erforderlich ist.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst
dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland will die EU-Ratspräsidentschaft
nutzen, um die sozialen Traditionen Europas zu stärken
und weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch, dass wir uns
mit dem Thema „Gute Arbeit“ befassen müssen.
Zu guter Arbeit gehören faire Löhne. Wer gute Arbeit
will, muss Lohndumping verhindern. Im Gegensatz zu
anderen Mitgliedstaaten ist Deutschland hierbei noch
nicht ausreichend aufgestellt. Dies sollte uns ein Ansporn
sein.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz schafft den rechtli-
chen Rahmen, um tarifliche Mindestlöhne branchenspezi-
fisch für alle in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer
verbindlich zu machen und dadurch Lohndumping zu
verhindern.
(Beifall bei der SPD)
Hierfür muss die betroffene Branche ins Gesetz aufge-
nommen sein, ein entsprechender Mindestlohntarifvertrag
abgeschlossen und dieser anschließend staatlich erstreckt
werden.
Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus der Gebäude-
reinigerbranche haben sich auf einen tariflichen Mindest-
lohn von 7,87 Euro im Westen bzw. 6,36 Euro im Osten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8711
(A) (C)
(B) (D)
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
geeinigt. Um Verwerfungen durch entsandte Arbeitnehmer
zu verhindern, wünschen sie die Aufnahme ihrer Branche
in das Gesetz. Dem kommen wir jetzt nach.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich grüße an dieser Stelle ausdrücklich den Vorstands-
vorsitzenden des Bundesinnungsverbandes des Gebäude-
reiniger-Handwerks Kuhnert, das Vorstandsmitglied
Schwarz – Präsident der Berliner Handwerkskammer –
und den Geschäftsführer Johannes Bungart, die sich in
vielen Gesprächen darum bemüht haben, dass ihre Bran-
che in das Gesetz aufgenommen wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Ich betone das deshalb, weil ich meine, dass es ver-
antwortliche Arbeitgeber sind, die dafür sorgen wollen,
dass in ihren Branchen nicht durch Lohndumping die
Preise kaputtgemacht werden und damit die Lebens-
bedingungen für die Beschäftigten massiv verschlechtert
werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Anständige
Arbeitgeber!)
Union und SPD haben sich im Koalitionsvertrag darauf
verständigt, die Gebäudereiniger unverzüglich in das
Entsendegesetz einzubeziehen. Mit dieser Änderung des
Gesetzes wird sichergestellt, dass aus dem Ausland ent-
sandte Gebäudereiniger hier nicht zu Niedrigstlöhnen
beschäftigt werden dürfen. Wir nehmen also die Ängste
der Arbeitnehmer ernst, die wegen ausländischer Billig-
konkurrenz um ihren Job fürchten, und wir sorgen dafür,
dass in- und ausländische Arbeitnehmer bei uns zu fairen
Bedingungen beschäftigt werden.
Das Thema „Sicherung von fairen Löhnen und Be-
kämpfung von Lohndumping“ ist aber mit dem heutigen
Tag keineswegs erledigt. Es steht weiter ganz oben auf
der Agenda. Erst am vergangenen Montag hat der Koali-
tionsausschuss hierzu weiter beraten. Ich glaube, dass
wir hierbei auf einem guten Weg sind.
Es ist kein Geheimnis, dass aus Sicht des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales und der SPD der
beste Weg wäre, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
alle Branchen zu öffnen,
(Beifall bei der SPD)
eine Art der Umsetzung der Entsenderichtlinie, die uns
andere Mitgliedstaaten längst und in großer Zahl vorge-
macht haben.
(Jörg Tauss [SPD]: Erfolgreich!)
– Und erfolgreich, das kann man auch sagen. – Zwar
wird gegen Mindestlöhne immer wieder eingewandt,
Unternehmen könnten sich aufgrund des Konkurrenz-
drucks keine höheren Löhne leisten, da es immer Kon-
kurrenten gebe, die ihre Angestellten noch etwas mehr
ausquetschten. Eine solche Argumentation verkennt jedoch
die Vorteile von Mindestlöhnen. Der Kostenfaktor Löhne
wird bewusst aus dem Wettbewerb herausgenommen. Die
Folge ist: Bei gleichen Lohnbedingungen muss der Wett-
bewerb ein Wettbewerb um Qualität und Service sein.
Den Rechtsrahmen hierfür schaffen wir mit dem Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz.
Damit es nicht zu einem Dumpingwettlauf um die
niedrigsten Löhne kommt, sollten Arbeitgeberverbände
und Gewerkschaften in möglichst vielen Branchen Min-
destlöhne vereinbaren.
(Beifall bei der SPD)
Diese erklärt die Regierung dann auf Antrag hin über das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich,
sodass sie für in- und ausländische Anbieter gleichermaßen
gelten. Mit der Einbeziehung der Gebäudereiniger in das
Gesetz leisten wir einen wichtigen Beitrag zum Schutz
in- und ausländischer Arbeitnehmer vor Lohndumping.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Man muss wissen: Das sind sehr oft Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die morgens ab drei oder vier Uhr
Büros oder Kaufhäuser reinigen,
(Klaus Brandner [SPD]: Für klare Sicht sorgen!)
die in Betrieben unterwegs sind und deren Arbeitsbedin-
gungen es in sich haben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Ministerien!)
– Auch in Ministerien und im Deutschen Bundestag.
Selbstverständlich, Herr Kolb. Sie reinigen überall, wo
sie engagiert werden. – Deswegen finde ich, dass man
dafür sorgen muss, dass das zu vernünftigen Bedingungen
und zu vernünftigen Löhnen stattfindet.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe
Schummer [CDU/CSU])
Das Erste Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes schafft die Voraussetzung dafür, dass
in- und ausländische Gebäudereiniger in Deutschland
„Gute Arbeit“ leisten und zu fairen Löhnen beschäftigt
werden können. Das Gesetz verdient daher die Zustim-
mung des Deutschen Bundestags.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor wir die Aussprache fortsetzen, komme ich zum
Tagesordnungspunkt 21 a zurück und gebe das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis
der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der
Bundesregierung auf Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO bekannt. Es handelt sich um die Drucksa-
chen 16/4298 und 16/4571. Abgegebene Stimmen 573.
Mit Ja haben gestimmt 405, mit Nein haben gestimmt 157,
enthalten haben sich elf Kolleginnen und Kollegen. Damit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
8712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon
ja: 405
nein: 157
enthalten: 11
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Anke Eymer (Lübeck)
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers (Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Bernward Müller (Gera)
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann (Bremen)
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Gerd Andres
Niels Annen
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Ute Berg
Petra Bierwirth
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Dr. Michael Bürsch
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8713
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Petra Heß
Gerd Höfer
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Uwe Küster
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Katja Mast
Markus Meckel
Ursula Mogg
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Sascha Raabe
Steffen Reiche (Cottbus)
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Walter Riester
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Dr. Rainer Wend
Dr. Margrit Wetzel
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Priska Hinz (Herborn)
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf (Frankfurt)
Nein
CDU/CSU
Renate Blank
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Schindler
Willy Wimmer (Neuss)
SPD
Gregor Amann
Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Dr. Axel Berg
Lothar Binding (Heidelberg)
Clemens Bollen
Willi Brase
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Klaus Hagemann
Reinhold Hemker
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Christel Humme
Christian Kleiminger
Dr. Bärbel Kofler
Ernst Kranz
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Waltraud Lehn
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Maik Reichel
Christel Riemann-
Hanewinckel
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Renate Schmidt (Nürnberg)
Heinz Schmitt (Landau)
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Christoph Strässer
Dr. Rainer Tabillion
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andreas Weigel
Lydia Westrich
Andrea Wicklein
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
FDP
Jens Ackermann
Uwe Barth
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Cornelia Pieper
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
8714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Mindestlöhnen durch die Hintertür. nicht umsetzt, das wissen wir. Es ist ja auch unfair, daran
zu erinnern. Dass die Union ihr Wahlprogramm bisher
Das ist von der Bundesregier
demokratischen Teil, ausdrüc
(Jörg Tauss [SPD]: K
freundliche
Der Bundesminister für Arb
diese Woche zu seinem Ziel
Branchen Mindestlöhne einzu
(Beifall bei Abgeordn
Tauss [SPD]: R
Mit dem vorgelegten Gesetz
Allgemeinverbindlichkeitse
nungswege ebenfalls in das
heißt also, auch bei anderen
erklärungen brauchen die
mehr angehört zu werden.
Veränderung – eine fundam
der Tarifautonomie in Deutsc
erst einmal nur um eine einzi
(Beifall bei der FDP –
ung, zumindest dem sozial-
klich so gewollt.
önnen Sie das etwas
r sagen?)
eit und Soziales hat noch
erklärt, in möglichst vielen
führen.
eten der SPD – Jörg
echt hat er!)
entwurf wird allerdings die
rklärung auf dem Verord-
Gesetz geschrieben. Das
Allgemeinverbindlichkeits-
Tarifvertragsparteien nicht
Das ist eine fundamentale
entale Verschlechterung –
hland, selbst wenn es jetzt
ge neue Branche geht.
Zurufe von der SPD
Gleichbehandlungsgesetz er
wirklich um das letzte biss
CDU/CSU.
(Zuruf des Abg. Jö
Es wird sich zeigen, ob sie d
deckenden Mindestlöhnen hi
(Beifall bei der FDP –
Tauss [S
Wir müssen dagegen sein
herumblökt –: Mindestlöhne
legale Arbeit. Mindestlöhne
fest, und wenn die Leistung
dann wird sie zumindest in d
im Inland nicht mehr nachgef
(Beifall bei der FDP – A
Also lassen wir die B
Das heißt, gerade bei den
diese Menschen müssen wi
wird die Arbeitslosigkeit deu
fahren. Hier geht es jetzt
chen Glaubwürdigkeit der
rg Tauss [SPD])
er Einführung von flächen-
er Tür und Tor öffnen will.
Zuruf des Abg. Jörg
PD])
– egal wie sehr Herr Tauss
vernichten in Deutschland
legen einen Mindestpreis
den Preis nicht wert ist,
er legalen Wirtschaft oder
ragt.
nette Kramme [SPD]:
üros doch dreckig!)
Geringqualifizierten – für
r Arbeitsplätze schaffen –
tlich höher werden.
(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) nicht umgesetzt hat, haben wir beim Allgemeinen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck (Köln)
Cornelia Behm
Wir setzen nun die Aussprache zum Tages-
ordnungspunkt 22 fort. Nächster Redner ist der Kollege
Dirk Niebel für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Ausweitung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes ist der erste Schritt zur Einführung von
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Winfried Nachtwei
Claudia Roth (Augsburg)
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
fraktionslos
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Peter Albach
Dr. Peter Jahr
Manfred Kolbe
SPD
Elke Ferner
Dr. Wilhelm Priesmeier
FDP
Dr. Edmund Peter Geisen
Gisela Piltz
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Hans Josef Fell
Britta Haßelmann
Ulrike Höfken
Wolfgang Wieland
CDU und CSU haben in ihrem „Regierungspro-
gramm 2005 – 2009“ geschrieben – ich zitiere –:
Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
auf alle Branchen und gesetzliche Mindestlöhne über
die Hintertür können einen Missbrauch der europäi-
schen Dienstleistungsfreiheit nicht verhindern.
Recht hat sie gehabt, die CDU. Deswegen sollte sie im
Regierungshandeln dafür sorgen, dass diese Hintertür
nicht genutzt wird. Dass die SPD ihre Wahlprogramme
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8715
(A) (C)
(B) (D)
Dirk Niebel
(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
– Herr Tauss, regen Sie sich doch einmal ab! Wir können
ja mal einen Kaffee trinken gehen.
(Jörg Tauss [SPD]: Ich rege mich ja gar nicht
auf! Sie regen mich auf!)
Ich erlaube mir, aus dem Protokoll der 97. Sitzung
des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit vom
29. Juni 2005 zu zitieren. Herr Göhner – er ist hier anwe-
send – hat ausweislich dieses Protokolls gesagt – ich zi-
tiere –:
Abgeordneter Dr. Göhner (CDU/CSU) begrüßt,
dass durch die überraschende Wendung an diesem
Morgen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz nicht
mehr verabschiedet werde.
Weiter heißt es in diesem Protokoll:
Es habe sich herausgestellt, dass die Koalitionsfrak-
tionen
– das war zu Zeiten von Rot-Grün –
die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf alle
Branchen mit der Problematik von Entsendearbeitern
begründeten, wo es gar keine gebe. Dies betreffe
z. B. das Hotel- und Gaststättengewerbe. Dieser
Fall zeige, dass die Koalition mit ihrem Gesetzentwurf
etwas ganz anderes beabsichtigt habe, als sie vor-
gebe: Es werde vorgegeben, tarifliche Mindest-
löhne für Entsendearbeiter zu schaffen. Letztlich
solle aber mit der Ausdehnung auf alle Branchen
der gesetzliche Mindestlohn für inländische Arbeit-
nehmer geschaffen werden.
Recht hat er gehabt, der Kollege Göhner.
(Beifall bei der FDP – Abg. Dr. Reinhard
Göhner [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwi-
schenfrage)
– Ich kann mir gut vorstellen, dass er mit mir darüber
gern sprechen möchte.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun möchte der Kollege Göhner Ihnen eine Zwi-
schenfrage stellen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstan-
den.
Bitte schön, Herr Göhner.
Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU):
Herr Kollege Niebel, nachdem Sie mich dankenswer-
terweise so ausführlich zitiert haben, darf ich Sie fragen,
ob Ihnen bekannt ist, dass ich auch erklärt habe, dass
eine Ausdehnung des Entsendegesetzes auf das Gebäude-
reinigerhandwerk von uns begrüßt wird.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau lesen,
Herr Kollege Niebel!)
Ich habe mich schon vor der letzten Bundestagswahl,
und zwar in der letzten Sitzungswoche der vergangenen
Legislaturperiode, hier im Plenum dementsprechend ge-
äußert. Damals haben wir einen Gesetzentwurf diskutiert,
der allerdings nicht lediglich eine Ausdehnung auf das
Gebäudereinigerhandwerk vorsah; vielmehr war eine
Ermächtigung zur Aufnahme weiterer Branchen geplant.
Das, was wir heute diskutieren – Stichwort „Gebäudereini-
gerhandwerk“ –, fand schon damals unsere Zustimmung,
und zwar deshalb, weil es einen allgemeinverbindlichen
Tarifvertrag für diese Branche gibt.
Dirk Niebel (FDP):
Herr Kollege Göhner, es ist völlig richtig, dass Sie
immer für die Aufnahme des Gebäudereinigerhandwerks
ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz gewesen sind.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Genauso richtig ist allerdings das, was ich gesagt
habe: dass der Vorbehalt der Tarifvertragsparteien bei
der Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch das Heraus-
nehmen der Seeschifffahrtsassistenz aus dem vorliegenden
Gesetzentwurf schlicht wegfällt und dass das Arbeits-
und Sozialministerium jetzt auf dem Verordnungswege
und ohne Anhörung der Tarifvertragsparteien – also
auch ohne Anhörung des Verbandes, für den Sie neben-
beruflich tätig sind – die Möglichkeit hat, die Allgemein-
verbindlichkeit dieser Tarifverträge durchzusetzen. Das
sollte Ihnen zu denken geben. Da Sie jemand sind, der
sich mit Tarifvertragsrecht durchaus intensiv beschäftigt,
sollten Sie hier eine entsprechende Einschränkung auf
dem Verordnungswege mit Sicherheit nicht durch Ihre
Stimme legitimieren.
(Beifall bei der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ausnahmsweise gibt es noch die Gelegenheit für eine
zweite Zwischenfrage. Wie ich sehe, sind Sie, Herr Niebel,
damit einverstanden. Ich weise aber darauf hin, dass wir
uns im Augenblick nicht in der Fragestunde befinden.
Dirk Niebel (FDP):
Es ist neu, dass die Opposition hier befragt wird. Wir
könnten das gern generell einführen. Wir wissen viele
Antworten.
(Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU und der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Göhner, bitte.
Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU):
Herr Kollege, da Sie die Streichung der Seeschiff-
fahrtsassistenz aus dem Entsendegesetz hier kritisch
beleuchten, darf ich Sie fragen, ob Sie ernsthaft wollen,
dass diese Branche weiterhin unter dieses Gesetz fällt,
obwohl es dort nicht einmal Tarifverträge gibt?
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr gute
Frage!)
Dirk Niebel (FDP):
Ich weise deswegen darauf hin, dass diese Branche
gestrichen wird, weil sie die letzte Bastion ist und daher
die Notwendigkeit gegeben ist, zum Beispiel die Arbeit-
8716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dirk Niebel
geberverbände vor einer Allgemeinverbindlichkeits-
erklärung zu befragen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Davon
steht gar nichts im Gesetz! Das stimmt doch
gar nicht!)
Da sie die letzte Bastion ist, müsste diese Branche weiter-
hin in diesem Gesetz genannt werden, wenn man seinen
Geltungsbereich ausweiten will. Der entscheidende Feh-
ler dieses Gesetzentwurfs ist die Ausweitung auf weitere
Branchen, in dem Fall auf das Gebäudereinigerhand-
werk, als Einstieg in einen flächendeckenden Mindest-
lohn, der dann im Endeffekt vom Bundesarbeitsminister
alleine implementiert werden kann. Das ist der Kardinal-
fehler.
(Beifall bei der FDP)
Wenn über Mindestlöhne diskutiert wird, dann fällt
dem Bundesarbeitsminister in erster Linie ein, dass er
auch die Zeitarbeitsbranche mit einer Ausweitung be-
glücken möchte. Ich weise darauf hin, dass gerade die
Zeitarbeitsbranche der Bereich ist, wo jetzt vehement so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
entstehen, eben wegen der flexiblen Möglichkeiten, die
es in diesem Bereich gibt.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Fragen Sie mal den Bundesverband der
Zeitarbeitsfirmen! – Zuruf des Abg. Jörg Tauss
[SPD])
Dieser Aufwuchs sozialversicherungspflichtiger Be-
schäftigungsverhältnisse würde natürlich durch eine ent-
sprechende Ausweitung des Entsendegesetzes einge-
schränkt.
Herr Tauss hat in seinem Leben eines mit Sicherheit
noch nicht verstanden. Er hat nicht verstanden, dass
Mindestlöhne völlig unbedeutend sind. Es geht um das
Mindesteinkommen von Menschen und nicht um einen
Mindestlohn. Beleuchten wir dazu doch einmal die Poli-
tik dieser vermeintlich Großen Koalition!
Obwohl die Steuereinnahmen wegen der guten Kon-
junktur sprudeln, haben Sie von Rot-Schwarz in Ihrer
gesamten Regierungszeit bisher nichts anderes getan, als
den Bürgerinnen und Bürgern dreist in die Tasche zu
greifen, ihnen zu Beginn dieses Jahres durch eine zusätz-
liche Belastung in Höhe von 27 Milliarden Euro liquides
Kapital zu entziehen, das ihnen fehlt, egal ob sie hohe
oder niedrige Löhne haben. Sie haben die Beitragssätze
zur Krankenversicherung Anfang des Jahres erhöht. Sie
haben die Beitragssätze zur Rentenversicherung erhöht.
Sie haben über die Erhöhung der Mehrwertsteuer eine
Beitragssatzsenkung bei der Arbeitslosenversicherung
durchgeführt, die Sie auch dann hätten durchführen kön-
nen, wenn Sie sich nur auf die in Ihrem Evaluationsbe-
richt festgeschriebenen arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
men konzentriert hätten.
Sie kassieren bei den Menschen ab, statt ihnen ein
Mindesteinkommen zu ermöglichen. „Mindesteinkom-
men“ bedeutet in erster Linie, dass man sein Einkommen
nicht über Schwarzarbeit erzielt, wie wir das heute in
den Zeitungen lesen können, sondern in der legalen
Wirtschaft. Wenn 2,5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze bei
einem geschätzten Volumen in der Schattenwirtschaft
von 349 Milliarden Euro in diesem Jahr nicht in der le-
galen Wirtschaft sind, dann muss einem das doch zu
denken geben.
Deswegen ist der richtige Ansatz nicht der, über Min-
destlöhne Arbeitsplätze im geringqualifizierten Bereich
zu vernichten, sondern der, mit einem vernünftigen und
intelligenten Steuer- und Transfersystem aus einem Guss
dafür zu sorgen, dass die Menschen in diesem Land ein
anständiges Mindesteinkommen haben, von dem sie le-
ben können. Dazu haben wir mit dem Bürgergeld einen
Vorschlag gemacht, mit dem wir steuerfinanzierte Trans-
ferleistungen und das Steuersystem zusammenführen.
Der, der gut verdient, zahlt Steuern, und der, bei dem es
nicht reicht, bekommt aus dem Transfersystem einen Zu-
schuss,
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Kombilohn für alle!)
ohne dass sein Arbeitgeber subventioniert wird, wie es
die Union will, und ohne dass sein Arbeitsplatz subven-
tioniert wird. Das ist ein vernünftiger Weg.
(Beifall bei der FDP)
Auf dem müssen wir uns bewegen. Wenn wir das tun,
dann brauchen wir keine Mindestlöhne in diesem Land.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Gitta
Connemann für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die fet-
ten Jahre sind vorbei“,
(Dirk Niebel [FDP]: Für mich gilt das nicht!)
so hieß ein Film, der im Jahr 2004 für Furore sorgte. Der
Titel gab eine allgemeine Stimmung in Deutschland wie-
der. Es schien, als hätten wir uns mit der Rolle der Ver-
lierer angefreundet – die rote Laterne in der Hand.
Heute erkennen wir unser Land nicht wieder. Die Ar-
beitslosigkeit ist so stark zurückgegangen wie noch nie
zuvor, auch und gerade bei den Langzeitarbeitslosen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was hat das mit
der Regierung zu tun?)
Die Wachstumsprognosen werden ständig nach oben
korrigiert. Alle Zahlen zeigen: Der Aufschwung ist da.
Aber leider hat nicht jeder an ihm teil.
Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor zu hoch. Für äl-
tere Arbeitsuchende und Geringqualifizierte ist der Zu-
gang zum Arbeitsmarkt schwer. 170 000 Menschen ar-
beiten in einem Vollzeitjob für weniger als 4,50 Euro in
der Stunde, 600 000 für weniger als 6 Euro in der
Stunde; dabei handelt es sich zum Teil um Tariflöhne.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8717
(A) (C)
(B) (D)
Gitta Connemann
Diese Arbeitnehmer sind im sogenannten Niedrig-
lohnsektor beschäftigt. „Niedriglohnsektor“ – ein nüch-
terner Begriff. Die dort Tätigen zeichnet aus, dass sie ar-
beiten, obwohl mancher von ihnen ohne Arbeit mit einer
staatlichen Transferleistung besser oder gleich gut daste-
hen würde. Viele von ihnen leben am Rande des Exis-
tenzminimums.
Wie lässt sich ihre Existenz sichern?
Um die Antwort auf diese Frage wird zum Teil mit
sehr schrillen Tönen gestritten. Auch in dieser Debatte
war das zu merken. Diese Debatte schreit nach ideologi-
scher Abrüstung. Ich rate uns allen zu mehr Sachlichkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wer arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als der-
jenige, der nicht arbeitet. In diesem Ziel sind wir alle uns
sicherlich einig. Aber wie lässt es sich erreichen? Dazu
werden unterschiedliche Modelle diskutiert. Die Diskus-
sion wird aber zunehmend auf ein Wort reduziert: Lohn-
wucher.
Um es ganz klar zu sagen: Sittenwidrige Löhne sind
mit der Union nicht zu machen. Sie sind schlicht unan-
ständig.
(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie sind
doch da!)
Sicherlich müssen die Beschäftigten besser vor Lohnwu-
cher geschützt werden. Zwar gibt es bereits entspre-
chende Vorschriften, sie sind aber wenig praktikabel.
Bislang legen die Gerichte fest, wann ein Lohn sitten-
widrig ist. Hier muss etwas getan werden. Ich frage uns:
Wieso definieren wir in Anlehnung an die höchstrichter-
liche Rechtsprechung die Sittenwidrigkeit bei Löhnen
nicht gesetzlich und legen anknüpfend an Tarif- oder
ortsübliche Löhne eine Untergrenze fest? Zu niedrige
Lohnvereinbarungen wären dann nichtig und zugunsten
des Arbeitnehmers nachzubessern. Starre Geldbeträge
helfen da nicht. Wie unser früherer Kollege Karl-Josef
Laumann immer sagt: Was in Düsseldorf gerade reicht,
ist im Osten ein Spitzenlohn.
Das ist übrigens eines von vielen Argumenten gegen
einen flächendeckenden staatlichen Mindestlohn.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Weitere ließen sich anführen: Ein staatlicher Mindest-
lohn ist ein schwerwiegender Eingriff in die Tarifauto-
nomie, eine Verletzung der positiven wie negativen Ko-
alitionsfreiheit, birgt die Gefahr eines Wettbewerbs von
Wahlkampfversprechen, wie wir es gerade in Frankreich
erleben. Andere müssen diese Versprechen einlösen: die
Betriebe. Damit würden Einfacharbeiten weiter verteuert
und gerade im Bereich der Geringqualifizierten dringend
benötigte Arbeitsplätze nicht entstehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Lohnpolitik ist keine Sozialpolitik. Da hilft auch der
stete Hinweis auf die USA nicht; denn der dortige Min-
destlohn ist in einen außerordentlich flexiblen Arbeits-
markt eingebettet. Es kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie
das Hire-and-fire-Prinzip, das dort gilt, bei uns in
Deutschland haben wollen. Das machen wir nicht mit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Lohnwucher
nicht die Regel ist, insbesondere nicht in kleinen und
mittelständischen Betrieben; denn diese Betriebe leben
nicht von, sondern durch und mit ihren Arbeitnehmern.
Dazu zählt auch das Gebäudereinigerhandwerk. Ge-
werkschaften und Arbeitgeberverbände haben für dieses
Handwerk einen Lohntarif vereinbart, der allgemein ver-
bindlich ist. Hier ansässige Betriebe müssen sich an
diese Lohnvorgaben halten, anders als ihre europäische
Konkurrenz. Bei einem Lohnkostenanteil von 80 Pro-
zent kann so kein fairer Wettbewerb stattfinden.
Oder ist ein Rennen fair, bei dem der eine mit Spikes
und der andere mit einem Gipsbein startet? Wohl kaum.
Deshalb fordert das Gebäudereinigerhandwerk ja auch
den Schutz durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, wie
wir ihn für das Bauhauptgewerbe haben.
Die Vergleichbarkeit mit dem Bau ist offensichtlich:
ständig wechselnde Einsatzorte, Wettbewerb mit Anbie-
tern aus Ländern mit einem drastisch geringeren Lohnni-
veau, Lohnkostenintensität und ein allgemein verbindli-
cher Tarifvertrag.
Vor diesem Hintergrund hat die Große Koalition ver-
einbart, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch auf die
allgemeinverbindlichen Tarifverträge der Gebäudereini-
ger zu erstrecken.
Diese Hilfe gäbe es mit Ihnen, meine Damen und
Herren von der FDP, nicht.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!)
Der Kollege Niebel hat auf unsere Glaubwürdigkeit an-
gespielt. Wir haben uns immer nur dagegen gewehrt, das
Gesetz auf alle Branchen auszuweiten.
(Dirk Niebel [FDP]: Aber so ein bisschen darf
es sein?)
Wir haben aber immer auch gesagt, dass es bei den ein-
zelnen Branchen zu prüfen ist.
Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, schaue ich den
Kollegen Kolb an.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der ist die
Glaubwürdigkeit in Person!)
Der Kollege Kolb hat im Namen der FDP einen Antrag
ins Plenum eingebracht,
(Dirk Niebel [FDP]: Jetzt kurz und schmerz-
los, bitte!)
in dem er die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsende-
gesetzes auf andere Branchen in Ihrem Namen katego-
risch ablehnt,
(Dirk Niebel [FDP]: Völlig zu Recht!)
und das, lieber Herr Kollege Dr. Kolb, obwohl Sie selbst
Staatssekretär in der Kohl-Regierung waren, die dieses
Gesetz 1995 mit Ihrer Stimme eingeführt hat.
8718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Gitta Connemann
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Bei aller Wertschätzung: Ihr Verhalten erinnert an den
Satz unseres ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer:
„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“
(Dirk Niebel [FDP]: Sie sind jetzt ja auch nicht
mehr für die umlagefinanzierte Pflegeversi-
cherung, oder?)
Leider wird der darauf folgende Satz meist unterschla-
gen: „Nichts hindert mich, weiser zu werden.“ Ich gebe
die Hoffnung daher nicht auf.
Ich habe übrigens auch bei der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen noch Hoffnung. Das ist das
andere Extrem. Während die FDP gar nichts will, for-
dern Sie die Ausweitung auf alle Branchen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Genau wie die SPD! Ganz an der Seite
unserer sozialdemokratischen Freunde!)
Protektionismus pur! Festung Deutschland! Man merkt,
dass Ihnen der Außenminister mit europäischen Ambi-
tionen abhandengekommen ist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir wollen Freizügigkeit und fairen Wettbewerb.
Deshalb müssen wir im Einzelfall mit Augenmaß ent-
scheiden, ob dieses Gesetz auf weitere Branchen ausge-
weitet werden muss. Die heutige Entscheidung entfaltet
insoweit kein Präjudiz.
(Dirk Niebel [FDP]: Fragen Sie mal den
Tauss!)
Die erforderliche Prüfung wird zurzeit vom Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales vorbereitet. Die
Entscheidung aber treffen wir, die Mitglieder des Deut-
schen Bundestages.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Auf-
nahme weiterer Branchen von Voraussetzungen ab-
hängig zu machen: Erstens. Es muss ein Tarifvertrag
vorliegen, der nach den Regeln des geltenden Tarifver-
tragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärt worden
ist. Die Neuaufnahme im vereinfachten Verordnungsver-
fahren ist dabei kein Automatismus, lieber Herr Niebel;
der Kollege Dr. Göhner hat das bereits dargestellt.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist nicht wahr! –
Klaus Brandner [SPD]: Das können wir aber
ändern!)
Zweitens. Es müssen soziale Verwerfungen in diesem
Wirtschaftszweig durch Entsendearbeitnehmer nachge-
wiesen sein.
Die Entscheidung muss von Fall zu Fall getroffen
werden. Momentan sind diese Voraussetzungen aus mei-
ner Sicht bei keiner der in der Diskussion stehenden
Branchen gegeben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber das Verfah-
ren haben Sie nicht mehr in der Hand!)
Bei der einen fehlt es an allgemein verbindlichen Tarif-
verträgen, und bei der Zeitarbeit sehe ich persönlich
keine Verwerfungen durch ausländische Konkurrenz.
Ich warne vor einem: Dieses Gesetz darf nicht instru-
mentalisiert werden, den Wettbewerb in einer Branche
auszuschließen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deshalb sollten wir mit vorschnellen Ankündigungen
über eine Ausweitung zurückhaltend sein.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist jetzt im Fluss,
wenn Sie mitmachen!)
Eines nämlich hat die Vergangenheit gezeigt: Das Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz ist kein Allheilmittel. Der
Arbeitsplatzabbau in der Baubranche konnte so allen-
falls verlangsamt werden. Es gibt eben selten Patent-
lösungen.
Das ist übrigens auch die Essenz des Filmes „Die fet-
ten Jahre sind vorbei“. Der Stein des Weisen existiert
nicht. Es braucht maßgeschneiderte Lösungen. Das heu-
tige Gesetz ist ein Teil davon. Stimmen Sie also zu!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion Die Linke ist der nächste Redner der
Kollege Werner Dreibus.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Dirk Niebel
[FDP]: Wenn es um den Stein der Weisen geht,
ist das jetzt Lord Voldemort!)
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Die Fraktion Die Linke wird dem Gesetzentwurf zustim-
men. Die Regelung ist notwendig und überfällig. Zum
Thema „fällig“ will ich nur sagen: Allein von der Koali-
tionsvereinbarung bis zum heutigen Tag sind eineinvier-
tel Jahre vergangen. Die Regelung ist also überfällig.
Dieser Schritt ist notwendig und richtig. Es ist aber im
besten Fall ein Trippelschritt angesichts der Dimension,
die die Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutsch-
land angenommen hat. Davon sind viele Branchen und
6 bis 7 Millionen Menschen betroffen. In den letzten
15 Monaten, seit dem Herbst 2005, also während Ihrer
Regierungszeit, wurden es immer mehr.
Die Koalition erwägt seit vielen Monaten verschie-
dene Maßnahmen im Bereich des Arbeitsmarkts: Sub-
ventionen, gesetzlicher Mindestlohn von 4 Euro, Verein-
fachung der AVE, jetzt die Verfolgung sittenwidriger
Löhne. Das ist alles nur Gerede. Es fehlen Taten zuguns-
ten derer, die seit Monaten und Jahren auf Regelungen
hinsichtlich der Niedriglöhne warten.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Insofern ist das, was die Koalition neben dem heutigen
Schritt macht, noch nicht einmal ein Trippelschritt, sondern
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8719
(A) (C)
(B) (D)
Werner Dreibus
entspricht vielmehr einem Fahren im Kreisverkehr. Wir
sollten uns daran erinnern, dass Bewegung nicht alles
ist; denn wer sich nur im Kreis bewegt, kommt nicht
voran.
Immerhin unterscheidet sich das, was der Staatssekre-
tär heute zur Einführung dieses Gesetzentwurfs gesagt
hat, deutlich von dem, was die Koalitionsfraktionen im
Juni des vergangenen Jahres zu unserem Antrag zur Ein-
führung des Mindestlohnes gesagt haben. Insofern
kann man zumindest erkennen – wenn auch mit großer
zeitlicher Verzögerung und damit zum Nachteil der Be-
troffenen –, dass die Koalition lernfähig ist. Das Lernen
geht aber viel zu langsam. Wir sollten uns in diesem Be-
reich keine Koalition erlauben, die sozusagen auf PISA-
Niveau angekommen ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Was ist das eigentliche Problem? 6 Millionen Men-
schen arbeiten in Vollzeit zu Niedriglöhnen. 70 Prozent
davon sind Frauen. Hinzu kommen mehrere Millionen
Menschen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen
und in Teilzeit. Ein sozialer Rechtsstaat wie unserer
kann eine solche Situation nicht länger hinnehmen. Jeder
Mensch muss von seiner Arbeit zumindest leben kön-
nen.
Unsere feste Überzeugung ist: Stundenlöhne unter
8 Euro sind nicht existenzsichernd und insofern nicht
länger hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Deshalb muss der Grundsatz lauten, so schnell es geht
einen gesetzlich verbrieften Anspruch für alle Men-
schen, die Arbeit haben, von mindestens 8 Euro einzu-
führen.
Wie kommen wir dahin? Ich möchte noch einmal die
drei verschiedenen Problembereiche bei Niedriglöhnen
skizzieren. Erstens. Es gibt Branchen mit untersten tarif-
lichen Entgelten über 8 Euro. Der Gesetzgeber kann und
sollte auf dem Weg des Entsendegesetzes in der jetzt
vorliegenden Form schleunigst dafür sorgen, weitere sol-
cher Branchen mit Tariflöhnen über 8 Euro in das Ent-
sendegesetz aufzunehmen und diese Tarifverträge da-
mit für allgemeinverbindlich zu erklären. Dazu ist eine
Vereinfachung des Verfahrens notwendig: beispielsweise
auch auf Antrag einer Tarifvertragspartei.
Zweitens. Es gibt Branchen mit untersten tariflichen
Entgelten unter 8 Euro, teilweise weit unter 8 Euro. Hier
hilft keine AVE. Im Gegenteil: Hungerlöhne würden so
per Gesetz verordnet. Eine Mindestlohnfestlegung über
AVE würde bedeuten, Löhne in Höhe von 4,38 Euro
oder 4,25 Euro – wie für Friseure, Köche, Hotelkauf-
frauen, Verkäuferinnen etc. – per Gesetz einzuführen.
Das ist ein untauglicher Weg.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Warum gibt es überhaupt Tarifverträge, die Nied-
riglöhne vorschreiben?
(Birgit Homburger [FDP]: Weil sie abge-
schlossen worden sind! – Dirk Niebel [FDP]:
Weil die Gewerkschaftssekretäre sie mit unter-
schrieben haben!)
– Ich sage gleich etwas dazu. – Ich will daran erinnern,
dass das Bundesarbeitsgericht bereits in den 50er-Jahren
in einem Urteil zu einer solchen Tarifsituation – Herr
Niebel, an der Sie möglicherweise auch in bestimmten
Bereichen beteiligt sind –
(Dirk Niebel [FDP]: Wo bin ich beteiligt?)
Tarifverhandlungen ohne die Möglichkeit des Drucks
durch Arbeitskämpfe als kollektive Bettelei bezeichnet
hat. In diesen Branchen finden Tarifverhandlungen als
kollektive Bettelei statt, so die Sprache des Bundesar-
beitsgerichtes in den 50er-Jahren. Das ist das Problem.
Die Maßnahmen, die seit den 90er-Jahren ergriffen
wurden, und zwar von Ihnen allen, die Sie hier sitzen
– ich nenne nur: Kürzung des Arbeitslosengeldes, Armut
per Gesetz, Hartz IV, Massenarbeitslosigkeit, Auswei-
tung prekärer Beschäftigungsverhältnisse –, haben letzt-
lich dazu beigetragen, die kollektive Interessenvertre-
tung und damit auch die Möglichkeit, bessere
Tarifverträge abzuschließen, deutlich zu verschlechtern.
(Dirk Niebel [FDP]: Aber Sie sind doch Ge-
werkschaftssekretär! Warum unterschreiben
Sie so etwas!)
Dritte und letzte Bemerkung in diesem Zusammen-
hang: Es gibt Branchen – das ist ein zunehmend größer
werdender Teil –, in denen überhaupt keine Tarifverträge
gelten. Da kann man nun beim besten Willen keine Re-
gelungen treffen, auch nicht per Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz. Es bleibt in diesem Bereich überhaupt nichts
anderes übrig, als gesetzliche Mindestlöhne einzufüh-
ren.
Eine Bemerkung noch zu Frau Connemann und dem
Vergleich, dass in Düsseldorf – –
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, das geht jetzt eigentlich nicht mehr. Sie
haben vermutlich gar nicht gesehen, wie großzügig ich
Ihre Redezeit schon bemessen habe.
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Sie haben wie immer recht, Herr Präsident! Lassen
Sie mich nur diese eine Bemerkung machen: Wenn man
die Debatte so führt, dass es in Düsseldorf auf Dauer hö-
here Löhne geben muss als in Dresden oder Bautzen,
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das gibt
es! Das ist Tatsache!)
kann ich nur sagen: Das ist zynisch gegenüber den Be-
troffenen. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos] – Zuruf von der
CDU/CSU: Das haben doch die Tarifpartner
ausgemacht!)
8720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Brigitte Pothmer ist die nächste Redne-
rin für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Müntefering, seit Montag hat für mich das Wort
„Scheinbeschäftigung“ eine neue Bedeutung. Am
Montag haben sich ja die Koalitionsspitzen mit dem
Thema Mindestlohn beschäftigt, und Sie sind später he-
rausgekommen und haben gesagt – zum Schein –: Alles
ist auf dem besten Weg.
Sie werden zitiert:
Sittenwidrige Löhne müssen weg, am besten in al-
len Branchen.
(Klaus Brandner [SPD]: Das stimmt ja auch!)
Wir stimmen Ihnen zu, Herr Müntefering. Ich kann nur
sagen: Gut gebrüllt, Löwe. – Dann erklären Sie weiter,
dass Mindestlöhne in mindestens zehn Branchen in Vor-
bereitung sind. Ich habe da eine Frage: Was heißt eigent-
lich „in Vorbereitung“? Es ist zu lesen, dass Müntefering
weitere Branchen ins Auge gefasst habe. Ich übersetze
das so: Schauen wir mal; kommt es heut nicht, kommt es
morgen.
(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, genau!)
Ich kann nur sagen: Wenn wir in diesem Tempo weiter-
machen, dann wird es noch Jahrzehnte dauern, bis wir
für diese zehn Branchen Mindestlöhne haben.
Es ist gut, dass wir das in der Bauindustrie geschafft
haben. Es ist auch gut, dass wir das jetzt im Gebäuderei-
nigerhandwerk einführen. Aber Sie haben leider auch
heute wieder die Chance vertan, das zu tun, was Sie vor-
geben tun zu wollen, nämlich das Gesetz zu nutzen, um
die Regelung auch auf andere Branchen auszuweiten.
Sie nennen hier die fleischverarbeitende Industrie, die
Land- und Forstwirtschaft, die Gastronomie und andere
Bereiche; ich will sie gar nicht alle aufzählen.
Sie haben auch gesagt, dass Sie die Zeitarbeitsbran-
che einbeziehen wollen. Da frage ich, Frau Connemann:
Warum ist das eigentlich nicht passiert? In der Zeitar-
beitsbranche bestehen alle Voraussetzungen, von denen
Sie immer behaupten, dass Sie sie brauchen, um zu han-
deln.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dazu habe
ich etwas ausgeführt, Frau Pothmer!)
Frau Connemann, Sie widersprechen sich doch selbst.
Ich kann Ihnen sagen, warum Sie es nicht getan haben.
Sie haben es nicht getan, weil es Ihnen nicht um die Sa-
che geht, sondern um politische Geländegewinne.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ihr Schreien
macht es nicht besser!)
Dazwischen werden die Interessen der Betroffenen zer-
rieben. Sie dürfen sich nicht wundern, dass Sie Über-
schriften kassieren, die lauten: „Mit vereinten Kräften
nichts“. Das ist das Einzige, was die Große Koalition in
dieser Sache zustande bringt. Das ist leider zu wenig.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
In einer Agenturmeldung habe ich gelesen:
Im Koalitionsausschuss hatten die Spitzen von
Union und SPD Müntefering dafür am Montag grü-
nes Licht gegeben,
– Achtung, jetzt kommt’s! –
(Klaus Brandner [SPD]: Sie müssen es auch
noch ankündigen!)
wollten dies aber nicht als vorweggenommene Zu-
stimmung gewertet wissen.
Was heißt das eigentlich?
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir halten et-
was von parlamentarischer Demokratie!)
Das heißt, Sie haben am Montag eine mögliche Zustim-
mung zu einer möglichen Ablehnung erreicht. Das ha-
ben Sie ausgehandelt, Herr Müntefering. Tut mir leid,
uns ist das zu wenig.
Ich gebe ja zu, dass Sie da wacker kämpfen. Aber es
kommt einfach zu wenig dabei herum. Ich glaube, wenn
Sie einmal darüber nachdenken, dann kommen Sie selbst
zu diesem Ergebnis. Deshalb flüchten Sie sich – das ist
jedenfalls mein Eindruck – in den Versuch, so zu tun, als
sei schon die bloße Debatte über Politik Politik. Das
werden Ihnen die Leute nicht durchgehen lassen. Da bin
ich mir ganz sicher.
Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass es
in Sachen Arbeitsmarkt so etwas wie ein Simsalabim
nicht gibt. Ich glaube, damit haben Sie recht. Ein Simsa-
labim erwarten wir auch gar nicht von Ihnen, aber einen
Hokuspokus eben auch nicht.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Anette Kramme für
die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Niebel,
(Dirk Niebel [FDP]: Hallo!)
ich hätte nicht gedacht, dass ich Ihnen einmal recht gebe.
Sie haben tatsächlich recht damit, dass wir hier und heute
ein großes Ding drehen. Sie haben auch recht damit, dass
es unsere wahre Intention ist, das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz auf ganz viele Branchen auszudehnen.
(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das
habe ich ja gesagt! Aber jetzt sagen Sie einmal
Frau Connemann, dass ich recht habe! Ich
weiß es ja!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8721
(A) (C)
(B) (D)
Anette Kramme
Nun zu Herrn Dreibus. Bezüglich des Kreisverkehrs
haben Sie natürlich recht. Aber aus dem Kreisverkehr
wird ein Autobahnverkehr, wenn wir viele andere Bran-
chen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einbeziehen.
(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Wann?)
Frank Dupré, der Bauunternehmer und Vizepräsident
des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, sagte
vergangene Woche gegenüber der „Süddeutschen Zei-
tung“:
Gäbe es am Bau keine Mindestlöhne, ... dann wäre
in den vergangenen Jahren noch mehr Personal ab-
gebaut worden.
Er ging noch weiter, als er den vereinbarten Mindestlohn
für notwendig erachtete, um überhaupt ein Instrument
zur Kontrolle auf dem Arbeitsmarkt zu haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen,
dass Herr Dupré recht hat. Die Zustände am Bau waren
verheerend. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz war und
ist ein essenzielles Ordnungselement. Es ist ein essenzi-
elles Ordnungselement für die Arbeitgeber gegen die
Schmutzkonkurrenz und für die Arbeitnehmer gegen das
nationale und internationale Lohndumping.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz hat sich in der
Baubranche bewährt. Normalerweise fordern Wirt-
schaftsverbände und Arbeitgeberverbände den Abbau
von Arbeitsrecht, aber sogar der Hauptgeschäftsführer
Knipper des Hauptverbandes der Deutschen Bauindus-
trie steht zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Er sagt:
„Die Mindestlöhne sind ohne Alternative.“
Die Baubranche ist seit 1996 im Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz. Bei dieser Gelegenheit: Herr Niebel, die
FDP von damals hat diesem Entsendegesetz zugestimmt.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist
wahr! – Dirk Niebel [FDP]: Gut, dass ich erst
1998 gewählt worden bin!)
Sehr vernünftig! Heute redet man von maximalem Un-
sinn. Normalerweise wächst die Weisheit mit zunehmen-
dem Alter; bei Ihnen scheint aber Alterstorheit eingetre-
ten zu sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk
Niebel [FDP]: Ich habe die Gnade der späten
Wahl!)
Meine Damen und Herren der FDP, lassen Sie sich sa-
gen: Maximalen Unsinn verzapfen höchstens Sie mit Ih-
ren bodenlosen Anträgen, sicherlich aber nicht die Bun-
desregierung.
Das Gebäudereinigerhandwerk und das Bauge-
werbe sind in einer sehr ähnlichen Situation. Das Gebäu-
dereinigerhandwerk ist wie das Baugewerbe von
schmutzigen und skandalösen Arbeitsbedingungen be-
droht. Wir müssen sicherlich damit rechnen, dass sich
die Bedingungen mit Ablauf der 2-3-2-Regelung gefähr-
lich verschärfen werden.
Worauf gründet sich die prekäre Situation beider
Branchen? Sowohl im Gebäudereinigerhandwerk als
auch im Baugewerbe sind die Arbeitnehmer an unter-
schiedlichen Einsatzorten tätig. Daraus resultiert ein ver-
stärktes Schutzbedürfnis. Sowohl das Gebäudereiniger-
handwerk als auch das Baugewerbe sind in hohem Maße
lohnkostenintensiv. Beide stehen deshalb im besonderen
Wettbewerb mit Anbietern aus Ländern mit Niedrigst-
löhnen.
Das Gebäudereinigerhandwerk mit seinen rund
850 000 Arbeitnehmern hat durch einen bundesweiten
Mindestlohntarifvertrag die Voraussetzungen für die
Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaf-
fen. Es ist nun konsequent, die Branche in das Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz aufzunehmen. Die Tarifver-
tragsparteien befürworten diesen Schritt. Ich darf an
dieser Stelle nochmals zitieren. Arnulf Piepenbrock sagt:
Dadurch können wir die Branche vor Billiglohn-
konkurrenten aus den neuen osteuropäischen EU-
Mitgliedstaaten schützen, wenn ab dem Jahr 2009
die volle Freizügigkeit in der EU gilt.
Ich bin mir sicher, dass die Erweiterung des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes zur Stärkung des Gebäuderei-
nigerhandwerks im innereuropäischen Wettbewerb bei-
tragen wird. – Der BDA darf an dieser Stelle gesagt
werden: Hier haben sich erwachsene Menschen geeinigt.
Stecken Sie Ihre Nase nicht ständig in Angelegenheiten,
die Sie nichts angehen!
Beim Arbeitnehmer-Entsendegesetz entscheiden al-
lein die Tarifvertragsparteien, ob und in welcher Höhe
sie einen Mindestlohntarifvertrag schließen und ob sie
einen Antrag für eine Allgemeinverbindlichkeitserklä-
rung stellen wollen. Die Tarifvertragsparteien haben es
selbst in der Hand, ob das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
in ihrem Bereich angewandt wird. Ich befürworte ganz
ausdrücklich, dass auch für die Gebäudereiniger die
Möglichkeit geschaffen wurde, Mindestlohntarifverträge
per Rechtsverordnung – und nicht über das Tarifver-
tragsgesetz – für allgemeinverbindlich zu erklären.
(Dirk Niebel [FDP]: Sehen Sie, da habe ich
schon wieder recht gehabt! Das muss ja eine
gute Rede gewesen sein!)
Es ist fast unmöglich geworden, Tarifverträge außer-
halb des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes über den Tarif-
ausschuss – also über das Tarifvertragsgesetz – für
allgemeinverbindlich erklärt zu bekommen. Die Arbeit-
geberseite geriert sich in unerträglicher Weise. Walter
Riester, ich glaube, du bist hier im Plenum: Dir gebührt
Dank dafür, dass du die Möglichkeit geschaffen hast,
Mindestlohntarifverträge am Bau mithilfe einer Rechts-
verordnung für allgemeinverbindlich zu erklären. Das
hast du gut gemacht. Wir dehnen das jetzt aus.
(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]:
Mein Gott, Walter!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel muss es
sein, zu verhindern, dass Arbeitnehmer zu krass unsozia-
len und unfairen Arbeitsbedingungen beschäftigt wer-
den. Wir müssen etwas dagegen tun, dass durch legale
oder illegale Entsendung von Arbeitskräften aus dem
Ausland inländische Arbeitsplätze in erheblichem Um-
fang gefährdet werden. Die derzeitigen Schutzregelun-
8722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anette Kramme
gen des deutschen Arbeitsrechts reichen nicht aus.
§ 138 Abs. 2 BGB – der Wuchertatbestand – greift erst
dann, wenn weniger als zwei Drittel des üblichen Lohns
bezahlt wird. Außerdem muss das Arbeitsverhältnis un-
ter Ausnutzung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit
oder des Mangels an Urteilsvermögen geschlossen wor-
den sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist unab-
dingbar, zahlreiche weitere Branchen in das Entsendege-
setz aufzunehmen und einen ergänzenden gesetzlichen
Mindestlohn zu schaffen. Drei Viertel unserer europäi-
schen Nachbarn zeigen uns, wie man gleichzeitig faire
Löhne garantiert und trotzdem Beschäftigung schafft
und sichert. Dass dies eben kein Widerspruch ist, sollten
sich die Westerwelles dieser Welt einmal vergegenwärti-
gen.
(Dirk Niebel [FDP]: Es kann nur einen geben!)
Wir wollen nicht, dass Deutschland immer mehr zu ei-
nem Billiglohnparadies für ausländische Großkonzerne
wird.
Lassen Sie mich mit den Worten von Bundespräsident
Horst Köhler schließen:
Wenn ein Unternehmer heute nicht sieht, dass er
langfristig ein Eigeninteresse an sozialer und politi-
scher Stabilität hat, dann … hat er seinen Unterneh-
mensauftrag nicht richtig verstanden.
In dem Sinne!
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist völlig richtig, aber
dafür brauchen wir kein Entsendegesetz!)
Ich bedanke mich ganz herzlich.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Damen
und Herren! Nehmen wir zunächst ohne Scheuklappen
zur Kenntnis, wie sehr sich der deutsche und auch der
europäische Arbeitsmarkt in den letzten Jahren verändert
haben. Viele Unternehmer und Beschäftigte mussten in
dieser Zeit lernen, was es heißt, um die eigene Existenz
zu fürchten. Sie suchen verlässliche Orientierung, sie
verlangen Reformen, und zwar von uns, den Politikern.
Wir alle miteinander, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, haben erfahren, dass die Umsetzung von Reformen
in diesem Bereich keine Sache von Wochen oder Mona-
ten, sondern eine längerfristige Angelegenheit ist. Bei ei-
nem handfesten und tiefgreifenden Strukturwandel – da-
mit haben wir es auf dem Arbeitsmarkt zu tun – liegen
schmerz- und nebenwirkungsfreie Wundermittel leider
Gottes nicht auf der Straße.
Es ist ganz natürlich, dass sich Lösungskonzepte je
nach politischem Lager auch widersprechen. Eine offene
Diskussion ist notwendig, um miteinander auf den richti-
gen Weg zu kommen. Dieser Diskussion können auch
die beiden vorliegenden Anträge – der der FDP gegen
gesetzliche Mindestlöhne und der der Grünen, durch den
das Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet wer-
den soll – dienen. Da aber beide Anträge in dieser Frage
überreizt sind, werden wir sie beide ablehnen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Her-
ren, die Grünen haben richtig erkannt – ich zitiere den
letzten Absatz Ihrer Antragsbegründung –:
Regionale und branchenspezifische Unterschiede
bei Lohnniveau und Produktivität müssen berück-
sichtigt werden, um Arbeitsplätze nicht zu gefähr-
den.
Frau Pothmer, Sie können, wenn Sie wollen, aber Sie
ziehen nicht die richtigen Konsequenzen:
Ein einheitlicher, gesetzlicher Mindestlohn ist für
die Sicherstellung von Mindestarbeitsbedingungen
ungeeignet.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das machen wir doch gar nicht!)
– Das ist Diktion der Grünen, letzter Absatz der Antrags-
begründung. Lesen Sie! –
Er beschränkt die Autonomie der Tarifparteien und
führt aufgrund seiner Inflexibilität dort zu Arbeits-
platzverlusten …, wo eine branchen- und regional-
spezifische Ausgestaltung des Mindestlohns die
Beschäftigten vor Ausbeutung schützen und zu-
gleich Arbeitsplätze sichern kann.
(Unruhe)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen kleinen Augenblick bitte, Herr Kollege
Lehrieder. Wir machen die gleiche Prozedur wie vorhin: –
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
– Die Abstimmung findet erst nach Schluss der Aus-
sprache statt. Bis dahin bitte ich die anwesenden Kolle-
gen, die Plätze einzunehmen.
(Anhaltende Unruhe – Alfred Hartenbach, Parl.
Staatssekretär: Macht doch einmal zu!)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Darf ich mich als Redner dem Appell des Präsidenten
anschließen, meine Damen und Herren? Dann geht es
schneller. Der eine oder andere, Herr Niebel, wartet auf
seinen Flieger.
(Dirk Niebel [FDP]: Der Flieger wartet auf
mich! Das ist viel schlimmer, das kostet viel
mehr Geld!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8723
(A) (C)
(B) (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
So, bitte schön.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Liebe Kollegen von der FDP, wie Sie sehen, haben
die Oppositionskollegen die eigentliche Absicht des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes erkannt. Es handelt sich
hier um ein Schutzgesetz unter Einbeziehung der Tarif-
parteien, eine vernünftige Regelung, die sich bewährt
hat. Es handelt sich nicht, Herr Niebel, um die Einfüh-
rung der Mindestlöhne durch die Hintertür, wie Sie vor-
hin ausgeführt haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dirk Niebel [FDP]: Das werden wir noch ein-
mal zitieren!)
Es wird hier, entgegen Ihren Befürchtungen, kein krum-
mes Ding gedreht, auch wenn die Wünsche in der Gro-
ßen Koalition etwas differenzierter sind; das will ich ein-
räumen.
Wir von der Union lehnen flächendeckende gesetzli-
che Mindestlöhne nach wie vor ab.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aber wir sind auch fest entschlossen, gemeinsam mit un-
serem Koalitionspartner gegen sittenwidrige Löhne vor-
zugehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Indem wir heute das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf
das Gebäudereinigerhandwerk ausdehnen, wollen wir
vermeiden, dass die entsandten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer benachteiligt werden. Wir wollen verhin-
dern, dass unfairer Wettbewerb insbesondere die hier an-
sässigen kleinen und mittleren Unternehmen und damit
eine große Zahl von Arbeitsplätzen gefährdet.
Branchenübergreifende Entsenderegelungen, wie sie
die Grünen heute fordern, werden – Herr Dreibus, da
müssten Sie als Gewerkschaftssekretär eigentlich auf-
schreien – weder der Tarifautonomie noch der komple-
xen Struktur des Arbeitsmarktes gerecht.
Noch einmal zu den Linken. Herr Dreibus, ich bin et-
was erschrocken, als Sie vorhin Zustimmung zu dem
Gesetz signalisiert haben. Ich habe den Entwurf noch
einmal nachgelesen, weil mich das etwas irritiert hat.
Aber ich glaube, ein gutes Gesetz kann man auch mit
Zustimmung der Linken auf den Weg bringen. Herzli-
chen Dank für Ihre Zustimmung!
Die einzelnen Sparten, meine Damen und Herren, von
Handwerk und Dienstleistung unterscheiden sich in den
Anforderungen, Steuerungsbedürfnissen und Wettbe-
werbsbedingungen zum Teil massiv voneinander. Was
der einen Branche hilft, muss nicht unbedingt gut für die
andere sein. In der Baubranche haben wir gesehen, dass
Entsendegesetz und tarifliche Mindestlöhne keine All-
heilmittel gegen Arbeitsplatzabbau und rechtswidrige
Dumpingangebote sein können.
Im Gebäudereinigerhandwerk gibt es immerhin
300 000 Beschäftigte, die schutzbedürftig sind. Das Ge-
bäudereinigerhandwerk ist ebenso kostenintensiv wie
das Baugewerbe und muss sich in besonderem Maße ge-
gen Anbieter aus Billiglohnländern behaupten. Außer-
dem gilt wie im Baugewerbe ein bundesweiter Lohnta-
rifvertrag mit einheitlichen Strukturen. In der
Gebäudereinigerbranche liegt der Mindestlohn bei
7,87 Euro im Westen und bei 6,36 Euro im Osten. Allein
daran sehen Sie, Herr Dreibus, dass wir in Ost und West
nach wie vor unterschiedliche Gehalts- und Lebensbe-
dingungen haben. Die werden sich angleichen. Aber das
kann man nicht durch einen einheitlichen gesetzlichen
flächendeckenden Mindestlohn machen.
Ich hätte noch einiges zu sagen. Im Hinblick auf die
fortgeschrittene Zeit komme ich jedoch zum Ende. Ich
plädiere natürlich für Zustimmung zu diesem Gesetz.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf der Druck-
sache 16/3064. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4554, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Das Erste war die Mehrheit. Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme dieses Gesetzentwurfs
die absolute Mehrheit – das sind 308 Stimmen – erfor-
derlich. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD so-
wie der FDP und der Fraktion der Linken verlangen na-
mentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die Plätze an den Abstimmungsurnen
einzunehmen und mir zu signalisieren, wenn die Plätze
besetzt sind. – Das scheint jetzt der Fall zu sein. Dann
eröffne ich die Abstimmung.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-
Eckardt)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der
Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung der Stimmen zu beginnen. Das Ergebnis der
namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort.
1) Ergebnis Seite 8725 D
8724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/
4623. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag
bei Zustimmung der Fraktion Die Linke gegen die Stim-
men des übrigen Hauses abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/4554 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der FDP auf Drucksache 16/1653 mit dem Ti-
tel „Gesetzliche Mindestlöhne ablehnen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition, der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2978
mit dem Titel „Arbeit in Armut verhindern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung
bei Zustimmung durch die Koalition, die Fraktion der
FDP und die Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 29 a
und 29 b. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Protokollen vom 16. Mai
2006 über die Änderung des Abkommens vom
6. Juni 1955 über die Errichtung eines Inter-
nationalen Ausschusses für den Internationa-
len Suchdienst und der Vereinbarung vom
6. Juni 1955 über die Beziehungen zwischen
dem Internationalen Ausschuss für den Inter-
nationalen Suchdienst und dem Internationa-
len Komitee vom Roten Kreuz
– Drucksache 16/4380 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)
– Drucksache 16/4573 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer (Lübeck)
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Druck-
sache 16/4573, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom
12. September 2002 zum Übereinkommen vom
16. November 1989 gegen Doping
– Drucksache 16/4012 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Sportaus-
schusses (5. Ausschuss)
– Drucksache 16/4561 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dagmar Freitag
Detlef Parr
Katrin Kunert
Winfried Hermann
Der Sportausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/4561,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Arbeitsplatzabbau bei Airbus verhindern –
Staatliche Sperrminorität bei EADS herstellen
– Drucksache 16/4308 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Als Erstem erteile ich das Wort dem Kollegen Herbert
Schui für die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung hat dem Umstrukturierungsplan von
Airbus ausdrücklich zugestimmt. Ebenso tut das die
französische Regierung. Der Widerstand der Airbus-
Belegschaften provoziert allerdings mittlerweile ein et-
was farbigeres Bild. Präsidentschaftskandidat Sarkozy
– er ist ja gegenwärtig noch der Innenminister der
Villepin-Regierung – schließt nach einigem Hin und Her
eine höhere Beteiligung des Staates Frankreich nicht
aus.
Ebenso bunt waren die Reden aus den Koalitionsfrak-
tionen in der gestrigen Aktuellen Stunde. Die Kollegen
von der SPD haben gestern die Manager von Airbus ge-
scholten. Sie haben beklagt, dass das Management die
Mitarbeiter einer unerträglichen Unsicherheit aussetze.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8725
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herbert Schui
Was sie nicht gesagt haben, ist: Wie halten sie es denn
mit „Power 8“? Sind sie dafür, oder sind sie dagegen?
grenzt, man solle alles dem Markt überlassen. Nun müs-
sen Sie Farbe bekennen. Soll denn nun staatlicherseits
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
ner der wesentlichen Abnehmer der Produkte von EADS
der Verkauf dieser Werke verhindert werden oder
nicht? Wie stehen Sie zu der Forderung der Präsident-
schaftskandidatin Ihrer Schwesterpartei, der französi-
schen Sozialisten, Madame Royal? Auch sie will
„Power 8“ nicht. Sie will dieses Programm aussetzen,
stattdessen eine öffentliche Beteiligung anstreben und
das Management gegebenenfalls zur Disposition stellen.
Da geht es offenbar ohne ordnungspolitisches, ortho-
doxes Denken.
Der Staat hat in der Tat vom Grundsatz her die Auf-
gabe, Arbeitslosigkeit zu verhindern und die industrielle,
die technische Entwicklung voranzubringen. Das geht
nur, wenn die Geschäftspolitik von EADS/Airbus we-
sentlich vonseiten des Staates mitbestimmt wird.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Gegenwärtig verzichtet der Staat im Rahmen des Aktio-
närspaktes auf sein Stimmrecht. Das ist ein Unding, auch
wenn Wirtschaftsminister Glos das ordnungspolitisch
und industriepolitisch für vernünftig hält.
Was ist denn nun der eigentliche Zweck von
„Power 8“? Daimler will aussteigen; Lagardère will aus-
steigen. Infolgedessen braucht EADS neue Finanz-
investoren. Dafür muss man den Konzern attraktiv ma-
chen. Man macht einen solchen Konzern aus der Sicht
der Finanzinvestoren attraktiv, indem man zumindest so
brutal vorgeht, wie Boeing das vor rund zehn Jahren ge-
tan hat. Das ist der ganze Zweck der Übung.
Wenn der Staat allerdings mit einer Sperrminorität
einsteigen würde – das heißt, nicht Deutschland, Frank-
reich oder Spanien in Konkurrenz zueinander, sondern
solidarisch –, dann wäre es nicht erforderlich, den
EADS-Konzern für die neue Verheiratung zurechtzuput-
zen. Dann muss nicht auf den Belegschaften herumge-
prügelt werden, damit die Investitionsneigung der Fi-
nanzinvestoren steigt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 551;
davon
ja: 501
nein: 50
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Die Beschäftigung muss im Konzern gehalten wer-
den. Wird alles ausgelagert, wird wie bei Boeing alles
von Zulieferern hergestellt und im Konzern nur noch
montiert, dann werden wir weniger Impulse für den
technischen Fortschritt haben, dann installieren wir die
Basarökonomie, die Herr Sinn ständig kritisiert, dann ist
dem technischen Fortschritt und Ihrem Lissabonprozess
wirklich nicht geholfen.
(Beifall bei der LINKEN)
Angesichts dessen, dass Airbus volle Auftragsbücher
hat, gibt es die reelle Chance, „Power 8“ zu streichen.
Die vollen Auftragsbücher sind für die Belegschaften in
Frankreich und Deutschland keine schlechte Verhand-
lungsposition. Das weiß auch EADS-Chef Enders, wie
sich daran zeigt, dass er zu den Streikdrohungen sagt:
Wir sind hier verwundbar. Wir wünschen den Gewerk-
schaften viel Erfolg bei ihrem Europäischen Aktionstag
und bei, wie ich mir wünsche, weiteren Aktionen gegen
„Power 8“.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 22 a
und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-
rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Drucksa-
chen 16/3064 und 16/4554, bekannt: Abgegebene Stim-
men 551. Mit Ja haben gestimmt 501. Mit Nein haben
gestimmt 50. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetzent-
wurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenom-
men.
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen)
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
im Bereich der Rüstung.
Sind sie dafür, dass Stellen g
sie dafür, dass Werke verka
nicht der Fall?
Herr Kollege Wend, Sie
eine höhere Staatsbeteiligung
Gleichzeitig haben Sie sich
estrichen werden, oder sind
uft werden? Oder ist das
haben sich gestern gegen
an Airbus ausgesprochen.
von der Vorstellung abge-
Wagen Sie also den entsche
Sie sich ein, bejahen Sie eine
talerhöhung bei Airbus, dam
Bezug auf den A350 produz
solchen Sperrminorität sin
che Mittel möglich. Schließli
idenden Schritt und setzen
staatlich finanzierte Kapi-
it die neue Technologie in
iert werden kann. Bei einer
d außergesellschaftsrechtli-
ch ist der deutsche Staat ei-
8726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
(Bönstrup)
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Anke Eymer (Lübeck)
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dirk Fischer (Hamburg)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
(Hof)
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers (Heidelberg)
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
(Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Bernward Müller (Gera)
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)
Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)
Andreas Schmidt (Mülheim)
Ingo Schmitt (Berlin)
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Willy Wimmer (Neuss)
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
(Hildesheim)
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
(Wackernheim)
Nina Hauer
Hubertus Heil
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8727
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)
Frank Hofmann (Volkach)
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)
Michael Roth (Heringen)
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
(Tuchenbach)
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)
Marianne Schieder
Ulla Schmidt (Aachen)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Heinz Schmitt (Landau)
Carsten Schneider (Erfurt)
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
(Everswinkel)
Swen Schulz (Spandau)
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
(Wiesloch)
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
(Wolmirstedt)
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)
Volker Schneider
(Saarbrücken)
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)
Volker Beck (Köln)
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Undine Kurth (Quedlinburg)
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf (Frankfurt)
fraktionslos
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Nein
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
8728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ziel und Zweck der ganzen Bemühungen. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Mit Ak-
Der Antrag der Fraktion D
ckenreichen Sümpfe der Staa
chen Irrweg kann ich nur nac
(Beifall bei der CDU/CS
neten der SPD
Die Privatisierung der deutsc
industrie im Jahr 1989 war
ie Linke führt in die mü-
tswirtschaft. Vor einem sol-
hdrücklich warnen.
U sowie bei Abgeord-
und der FDP)
hen Luft- und Raumfahrt-
darauf ausgerichtet, einen
gut aus! – Dr. Uwe Küst
lesen kann, ist im Vortei
Das sage ich nur als Hintergr
wichtig, dass wir, wenn wir ü
ren, die rechtlichen Grundlag
(Dr. Martina Krogman
richti
er [SPD]: Genau! Wer
l!)
undinformation. Denn es ist
ber diesen Antrag diskutie-
en vor Augen haben.
n [CDU/CSU]: Sehr
g!)
tien kennen sich die Linken nun mal nicht so
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Jetzt kommen wir zu unserer Rednerliste zurück. Ich
erteile das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staats-
sekretär Peter Hintze für die Bundesregierung.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie:
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung unternimmt alles in ihrer
Macht Stehende, damit die Erfolgsgeschichte Airbus
fortgeschrieben werden kann. Unter voller Anerkennung
der Verantwortung der Unternehmensführung hat sich
die Bundesregierung für einen fairen Chancen- und Las-
tenausgleich zwischen Deutschland und Frankreich ein-
gesetzt. Dieses Ziel ist durch die im Board getroffenen
Vereinbarungen erreicht worden. Dabei geht es um die
Sicherung von Arbeitsplätzen und Technologiekompe-
tenzen und letztlich um die Zukunftsfähigkeit der euro-
päischen Luftfahrtindustrie. Es ist ein Erfolg von Minis-
ter Glos und Bundeskanzlerin Merkel, dass dieser
Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich so gut
gelungen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ditmar
Staffelt [SPD]: Von Merkel, ja – aber von
Glos?)
Airbus ist dadurch erfolgreich, dass sich der Staat um
die Rahmenbedingungen und das Unternehmen um sei-
nen Zweck, nämlich das Planen, Bauen und Verkaufen
von Flugzeugen, kümmert. Gerade wenn ein Unterneh-
men Probleme im Wettbewerb hat, sind unternehmeri-
sche Entscheidungen und unternehmerische Verantwor-
tung gefragt. Das eben zitierte Reformprogramm
„Power 8“ liegt einzig und allein in der Verantwortung
des Unternehmens. Wir müssen hier die Zuständigkeiten
und die Verantwortlichkeiten von Politik und Wirtschaft
klar unterscheiden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Arbeitsplätze werden dann sicher, wenn das Unterneh-
men die Wettbewerbsfähigkeit sichern kann. Das ist
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katrin Göring-Eckardt
leistungsfähigen deutschen Partner für die spätere euro-
päische Integration zu schaffen.
Der Geist der deutsch-französischen Partnerschaft ist
die Seele des Unternehmens Airbus. Auch die Gründung
von EADS N.V. im Jahre 2000 erfolgte auf dem Funda-
ment der deutsch-französischen Kooperation. Selbst in
den Tagen, in denen in Frankreich Wahlkampf ist, wo-
durch es vielleicht zu dem einen oder anderen Missver-
ständnis zwischen Deutschland und Frankreich kommt,
müssen wir sagen: Die Idee, von der Airbus getragen ist
– die europäische Idee, dass Deutschland und Frankreich
eine Gemeinschaft bilden –, ist eine gute und vitale Idee.
Wir wollen dafür sorgen, dass diese Idee auch in Zukunft
stark und vital bleibt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Seit der Gründung des Unternehmens liegt die indus-
trielle Führung beim jeweiligen industriellen Partner. Es
sollte auch weiterhin der Grundsatz gelten: Die Wirt-
schaft macht die Wirtschaft. – Das Interesse Deutsch-
lands ist es, dass in jedem Fall der bestehende Aktio-
närspakt aufrechterhalten wird. Der Aktionärspakt ist
die Grundlage für einen fairen Chancen- und Lastenaus-
gleich zwischen Deutschland und Frankreich. Die indus-
trielle Führerschaft von EADS liegt bei Daimler-Chrys-
ler und bei Lagardère. Diese Konstruktion hat sich
bewährt.
Im vorliegenden Antrag wird vorgeschlagen, die Bun-
desrepublik Deutschland möge eine Sperrminorität bei
EADS erwerben. Ich möchte Sie informieren, dass
EADS, wie Sie sicherlich wissen, eine Aktiengesell-
schaft nach niederländischem Recht und mit Sitz in den
Niederlanden ist. Das niederländische Aktienrecht kennt
im Unterschied zum deutschen Aktienrecht keine Sperr-
minorität. Die Hoheit über die Gestaltung der Gesell-
schaft hat man, wenn man auf der Hauptversammlung
über 50 Prozent der Anteile plus eine Aktie verfügt.
Minderheitenrechte, die im deutschen Aktienrecht exis-
tieren, gibt es im niederländischen Aktienrecht nicht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8729
(A) (C)
(B) (D)
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
Den Kern des Antrags bildet der Wunsch, die Arbeits-
plätze bei uns im Lande zu sichern und die Arbeitsplatz-
chancen zu steigern. In diesem Punkt besteht allerdings
ein großer Unterschied zwischen der Meinung des An-
tragstellers und der Position der von der Großen Koali-
tion getragenen Bundesregierung. Die Regierung ist ein-
deutig der Auffassung, dass die Wettbewerbsfähigkeit
des Unternehmens die Grundlage für die Sicherheit der
Arbeitsplätze im Unternehmen ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, möchten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schui zulassen?
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie:
Ja. Ich lasse eine Zwischenfrage des Kollegen Schui
zu.
(Dr. Rainer Wend [SPD]: Und alles auf unsere
Kosten!)
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Ich habe zwei Fragen:
(Jürgen Koppelin [FDP]: Nichts da! Nur eine!)
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass man Gesellschafts-
verträge ändern kann?
Zweitens; diese Frage ist mir noch wichtiger. Würden
Sie auch dann am Aktionärspakt festhalten, wenn Lagar-
dère und vor allen Dingen Daimler-Chrysler aussteigen,
und würden Sie in diesem Fall befürworten, dass das
Stimmrecht automatisch einer unbekannten Gruppe von
Finanzinvestoren übereignet wird?
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie:
Ich beantworte Ihre beiden Fragen gerne.
Zu Ihrer ersten Frage. Ich habe Sie davon unterrichtet,
dass das niederländische Aktienrecht eine Sperrminorität
nicht kennt. Natürlich ist das niederländische Parlament
frei, das Aktienrecht der Niederlande zu ändern. Ich
glaube aber nicht, dass das in Kürze ansteht. Auch
glaube ich nicht, dass wir darauf Einfluss nehmen soll-
ten.
(Zuruf von der CDU/CSU: Schicken wir da
doch den Schui hin!)
Ihre zweite Frage war eine „Was wäre, wenn …“-
Frage. Der von mir geschätzte Wolfgang Schäuble sagt
immer: „Wenn meine Oma Klavier spielen würde, …“ –
Ich will damit zum Ausdruck bringen: Ihre Frage be-
ruhte auf so vielen Spekulationen, dass ich sie nicht in
einer für Sie befriedigenden Weise beantworten kann.
Ich gehe davon aus, dass die am Aktionärspakt Beteilig-
ten ihre Verantwortung wahrnehmen. Das jedenfalls ist
der Wunsch der Bundesregierung. Ich möchte jetzt nicht
spekulieren, was unter völlig anderen Umständen zu tun
wäre.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Airbus hat natürlich auch Probleme; das ist ganz klar.
Ein Unternehmen, das seine Probleme ignoriert, kann
sehr rasch in Schwierigkeiten geraten. Airbus hat auf
dem Weltmarkt ein grundsätzliches Problem, das aller-
dings in einer erfreulichen Tatsache begründet liegt: in
der Stärke des Euro.
Airbus produziert in Euro und verkauft in Dollar. Der
Euro ist stark, der Dollar schwach. Das ist ein Problem.
Kursabsicherungsgeschäfte hat das Unternehmen zwar
getätigt. Aber der Euro hat sich im Vergleich zu anderen
Währungen so stark entwickelt, dass das heute ein echter
Kostenfaktor für das Unternehmen ist. Mit jeder weite-
ren Stärkung des Euro muss eine zusätzliche Last ge-
schultert werden. – Das ist das eine.
Das andere ist: Airbus steht auf dem Weltmarkt im
Wettbewerb mit einem anderen großen Hersteller, der
seinen Sitz in Nordamerika hat. Dieser Hersteller hat
seine Fertigungstiefe drastisch reduziert. Nun muss das
Unternehmen Airbus entscheiden, was sinnvoll ist und
was nicht. Aber es kann nicht sehenden Auges akzeptie-
ren, dass auf der einen Seite ein Unternehmen die Risi-
kolast verteilt und dafür Partner gewinnt, während es
selber mit der Risikolast alleine dasteht. Auch Airbus
braucht Partner bei der Tätigung von Investitionen und
beim Tragen der Risiken. Über die anderen Probleme ha-
ben wir bereits gestern ausführlich gesprochen.
Ich verstehe die aus der Ungewissheit resultierenden
Sorgen der Arbeitnehmer um ihre Arbeitsplätze. Das
Konzept, das die Airbus-Führung vorgelegt hat, dient
letztlich der Stärkung aller Standorte, wenn auch in Zu-
kunft möglicherweise unter einer anderen industriellen
Verantwortung. Es kann sein, dass ein Standort letztend-
lich besser dasteht als heute, wenn das Konzept realisiert
wird.
Die Bundesregierung ist für die politischen Rahmen-
bedingungen zuständig. Sie hat sich im Zusammenhang
mit Airbus permanent um die Arbeitsplatzproblematik
gekümmert. Ich erinnere an den A380-Darlehensver-
trag, mit dem wir ausdrücklich einen Schwerpunkt auf
die Arbeitsplatzsicherheit sowie die Ansiedlung und den
dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen insbesondere in
den neuen Bundesländern gelegt haben. Airbus Deutsch-
land wurde im A380-Darlehensvertrag verpflichtet, min-
destens 500 Vollarbeitsplätze in den neuen Bundeslän-
dern bis 2006 zu schaffen und diese mindestens bis 2010
zu erhalten. Eine Nichterfüllung dieser Verpflichtung ist
pönalisiert. Airbus Deutschland hat diese Verpflichtung
vollständig eingehalten bzw. übererfüllt und noch mehr
Arbeitsplätze geschaffen. Wie Sie sehen, setzen wir uns
dafür ein, dass Arbeitsplätze in Deutschland gesichert
und erhalten werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Wir werden auch zukünftig im Rahmen unserer Luft-
fahrtforschungsprogramme die Mittel für die For-
schungsförderung gezielt an deutsche Standorte verge-
ben, um technisches Know-how in Deutschland zu
erhalten, auszubauen und weiterzuentwickeln. Dadurch
8730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
tragen wir dazu bei, Zukunftstechnologien in Deutsch-
land zu einer Erfolgsgeschichte zu machen.
Airbus hat alle Chancen – davon bin ich überzeugt –,
seine Probleme zu meistern und seine Erfolgsgeschichte
fortzuschreiben. Das ist gut für Deutschland, das ist gut
für Frankreich, das ist gut für Europa, und das ist gut für
die Arbeitnehmer. Das ist letztlich gut für alle.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat Jürgen Koppelin das Wort für die FDP-Frak-
tion.
(Beifall bei der FDP)
Jürgen Koppelin (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Linken, selbst in Ih-
ren bisherigen Anträgen war selten so viel Widerspruch
zu lesen wie in Ihrem jetzigen. Auch Ihre Begründung,
Herr Kollege Schui, enthielt viel Widersprüchliches.
Darauf komme ich gleich zurück.
Die Überschrift Ihres Antrages lautet: „Arbeitsplatz-
abbau bei Airbus verhindern“. Sie haben aber keinen
einzigen Vorschlag gemacht, aus dem hervorgeht, wie
Sie das verhindern wollen. Vielmehr fordern Sie nur eine
staatliche Beteiligung.
(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Antrag le-
sen!)
Das lehnen wir allerdings ab. Des Weiteren erklären Sie,
der Konzern müsse attraktiv gemacht werden. Ich be-
haupte angesichts der guten Auftragslage: Der Konzern
ist attraktiv. Es hat überwiegend am Missmanagement
gelegen, dass der Konzern in Schwierigkeiten geraten
ist.
(Beifall bei der FDP)
Zu dem von Ihnen angesprochenen Arbeitsplatzab-
bau: Folgten wir Ihrer Politik, müsste EADS noch ein-
mal 11 000 Arbeitsplätze abbauen. Sie von der Linken
haben nämlich nicht einmal zugestimmt, als es um die
Vergabe von Rüstungsaufträgen an die Bundeswehr
ging. Ich kann Ihnen den genauen Betrag nennen: Die
Aufträge, die die Bundesrepublik Deutschland in den
letzten Jahren an EADS vergeben hat, hatten ein Volu-
men von 10,5 Milliarden Euro. Aber nicht einmal gab es
Ihrerseits Zustimmung. Nun reden Sie davon, es dürfe
kein Stellenabbau stattfinden, und das, obwohl wir
11 000 Menschen hätten entlassen müssen, wenn wir Ih-
rer Politik gefolgt wären.
(Beifall bei der FDP – Hans-Joachim Hacker
[SPD]: Hört! Hört!)
Aber nicht nur das: Der Bund hat in den letzten Jah-
ren viel getan. Als Haushälter habe ich nachgerechnet,
dass der Bund Aufträge in Höhe von insgesamt
13,45 Milliarden Euro an EADS vergeben hat. Das ist
eine gewaltige Leistung des Bundes, auch um die Auf-
tragsbücher zu sichern. Man muss außerdem wissen,
dass der Bund zusätzlich Bürgschaften in Höhe von
11,1 Milliarden Euro übernommen hat. Wir überneh-
men nämlich auch Bürgschaften für die Airbusse. Inso-
fern kann man feststellen, dass der Bund alles getan hat,
um das Unternehmen abzusichern. Daran liegt es nicht.
Wir sollten uns vielmehr mit der Frage befassen, ob
es wirklich gut ist, dass der Staat an einem solchen Un-
ternehmen beteiligt ist. Wenn Sie zum Beispiel mit
Herrn Enders sprechen – tun Sie das ruhig, auch als
Linke! –, dann werden Sie feststellen, dass beispiels-
weise 20 Prozent der Aufträge von EADS aus Amerika
kommen. Es wäre noch viel mehr möglich, aber das Pro-
blem ist, dass amerikanische Kunden EADS als franzö-
sisches Staatsunternehmen betrachten, aber nicht bei ei-
nem Staatsunternehmen kaufen wollen. Insofern kann
man sich vorstellen, wie die deutsche Beteiligung wahr-
genommen würde. Deswegen meinen wir – ich denke,
zu Recht –, dass sich der Staat, sei es die Bundesrepublik
oder Frankreich, eigentlich aus diesem Konzern zurück-
ziehen müsste. Das ist das Entscheidende; dann wird
dieser Konzern noch attraktiver.
(Beifall bei der FDP)
Ich komme noch einmal auf die Aufträge zurück, die
wir im Verteidigungsbereich vergeben haben. Sie wid-
men diesem Thema nur einen Satz. Sie deuten nicht ein-
mal an, was Sie machen würden, wenn diese Aufträge
ausblieben, die schließlich einen Anteil von 49 Prozent
am Auftragsvolumen von EADS ausmachen. Wie haben
Sie von den Linken sich das vorgestellt? Sollen die
11 000 Mitarbeiter Kochtöpfe und Pfannen herstellen,
wenn keine Aufträge im Verteidigungsbereich mehr er-
folgen?
(Dr. Herbert Schui [DIE LINKE]: Nicht nur!
Es kann auch Hochtechnologie im zivilen Be-
reich sein!)
Meines Wissens gibt es in diesem Bereich schon ein
Überangebot.
Was Ihre Forderung angeht, den politischen Einfluss
zu stärken, ahne ich schon, wie das aussehen würde.
Dann kommen die Politiker wieder in die Aufsichtsgre-
mien. Ich habe noch kein Unternehmen erlebt, in dem es
richtig funktioniert hat, wenn Politiker die Mehrheit in
den Aufsichtsgremien hatten.
(Jörg Tauss [SPD]: Bei Rexrodt haben wir das
gesehen!)
Nein, die Politik muss aus den Unternehmen herausge-
halten werden. Das ist das Entscheidende. Wir wünschen
uns vielmehr, dass sich auch die Franzosen Stück für
Stück aus dem Konzern zurückziehen. Ich glaube, dann
hätten wir eine große Chance.
(Jörg Tauss [SPD]: Liberale raus aus den Auf-
sichtsräten!)
In einem Punkt unterstütze ich den Herrn Staatssekre-
tär: EADS ist ein attraktives Unternehmen. Wir sollten
es nicht schlechtreden, sondern alles tun, damit dieses
Unternehmen auch weiterhin gute Chancen hat. Die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8731
(A) (C)
(B) (D)
Jürgen Koppelin
Auftragsbücher sind voll. Alle Chancen sind gegeben.
Entscheidend ist, dass auch das Management begreift,
dass sich die Verantwortung nicht auf die Auftragsbü-
cher beschränkt, sondern auch auf die Arbeitnehmer er-
streckt.
Bei dieser Gelegenheit will ich feststellen – das sage
ich als Abgeordneter der FDP –, dass sich meines Erach-
tens die Gewerkschaften im Zusammenhang mit EADS
sehr vernünftig verhalten haben.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dann gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen Ditmar
Staffelt für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben das Thema im Grunde schon gestern
durchdekliniert. Dass wir es heute noch einmal tun, ist
womöglich nicht zwingend erforderlich, aber wir wollen
das gerne tun.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Un-
ser Antrag lag eher vor als eurer! Ist euer An-
trag jetzt durch?)
Denn ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit Air-
bus/EADS eine ausgesprochen gute Bilanz vorzuweisen
haben.
Zunächst ist im Zusammenhang mit der deutschen
Luftfahrtindustrie das sehr gute kontinuierliche Arbeiten
mit Airbus/EADS, aber auch mit der Zulieferindustrie zu
nennen. Das Thema kommt im Übrigen vor dem Hinter-
grund der besonderen derzeitigen Situation bei Airbus
häufig genug viel zu kurz. Ich komme gleich noch ein-
mal darauf zu sprechen.
Zweifelsfrei hat es Fehleinschätzungen des Manage-
ments gegeben, insbesondere was die Wünsche der
Kunden – der Besteller – betrifft und was in diesem Zu-
sammenhang die neuen technologischen Voraussetzun-
gen an den Flugzeugen selbst betrifft.
Es nützt uns aber nichts, jetzt auf die Fehler der letz-
ten Jahre zu verweisen. Was die damalige Zeit angeht,
kann ich im Bundestag nur eines berichten: Nach unse-
rem Besuch bei Boeing in Seattle und in Chicago haben
wir gegenüber der Airbusführung die Herausforderung
im Zusammenhang mit der Boeing 787 zwar angespro-
chen; sie ist aber leider nicht auf Resonanz gestoßen,
vielleicht auch deshalb, weil man sich auf die große He-
rausforderung des A380 konzentriert hat und glaubte,
mit der A350, einer – um es so auszudrücken – wenig in-
novativen neuen Maschine einfacher technologischer
Art, die Wettbewerbssituation gegenüber der Boeing 787
ausgleichen und meistern zu können. Diese Rechnung
des Managements ist nicht aufgegangen. Die Folge die-
ser Tatsache haben wir heute gemeinsam zu beklagen.
Aber es ist noch eines richtig: Wir haben uns – da
knüpfe ich an die Kollegen Hintze und Koppelin aus-
drücklich an – immer, und zwar gleich, welche Bundes-
regierung, in den letzten Jahren und Jahrzehnten darum
bemüht, die Workshares für die deutsche Luft- und
Raumfahrtindustrie zu sichern. Wir haben immer darauf
geschaut, dass sich unser staatliches finanzielles En-
gagement selbstverständlich auch in Arbeitsplätzen, ins-
besondere in technologisch hochwertigen Arbeitsplätzen
niederschlägt. Das ist uns im Grunde bisher auch außer-
ordentlich gut gelungen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich halte es für eine sehr verkürzte Analyse der Pro-
bleme, wenn es von der linken Seite heißt, im Moment
wollten Daimler und Lagardère aus dem Unternehmen
aussteigen, deshalb müsse man die Braut hübsch machen
und wir setzten darauf, durch Entlassungen oder durch
eine strukturelle Veränderung des Unternehmens indus-
trielle Investoren zu finden. Wenn Sie das so sehen, dann
haben Sie sich mit der Materie bisher nicht ausreichend
beschäftigt. Das muss ich Ihnen sagen.
(Beifall bei der SPD)
Das Unternehmen ist in einer sehr schwierigen Lage,
weil es große Herausforderungen zu meistern hat.
Vielleicht sollten Sie sich einmal daran erinnern, dass es
nicht nur um den A380 geht, sondern auch um den
A400M, den Militärflieger, ein Transporter wohlge-
merkt. Es geht um einen neuen A350 und eine neue
A320er-Familie. Das muss erst einmal in einem solchen
Unternehmen sowohl von der finanziellen Seite her als
auch von der Manpower her bewältigt werden. Dieses
hat nun ganz und gar einen anderen Zuschnitt als Ihre
Behauptung, es gehe hier nur darum, in ganz simpler Art
und Weise so ein Unternehmen lean zu organisieren, da-
mit sich neue industrielle Investoren – in Ihr Konzept
würden Heuschrecken noch viel besser passen – das
Ding unter den Nagel reißen. So einfach kann man es
sich nicht machen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir haben sehr viel staatliche Unterstützung gege-
ben. Wir haben sie nicht nur gegeben, weil wir die Auf-
tragsbücher der EADS sichern wollten, Herr Koppelin,
sondern auch, weil die EADS qualitativ hervorragende
Produkte hergestellt hat
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen
Koppelin [FDP])
und weil wir die Bundeswehr nach den Zeiten des Kalten
Krieges für neue Aufgaben umgerüstet haben, was na-
türlich insbesondere der Luftfahrtindustrie zugute
gekommen ist, wenn Sie beispielsweise an die Hub-
schrauber denken. Wir haben mit dem Luftfahrtfor-
schungsprogramm immer dafür Sorge getragen, die Gro-
ßen und die Kleinen in der Luftfahrtindustrie in die Lage
zu versetzen, mit staatlicher Hilfe neue Technologien zu
entwickeln, um damit deren Wettbewerbsfähigkeit auf-
rechtzuerhalten. Auch das ist eine Sache, die – im Übri-
8732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Ditmar Staffelt
gen unumstritten in der Luftfahrtindustrie – den Bundes-
regierungen der vergangenen Jahre zu danken ist.
Ich füge noch eines hinzu. Das betrifft die sogenannte
Launch-Aid, also die Unterstützung bei der Neuentwick-
lung von Flugzeugen. Wir sind gehalten, rückzahlbare
und verzinsliche Darlehen zu geben, um ein sogenanntes
Level-Playing-Field gegenüber Boeing, also eine ver-
gleichbare Wettbewerbsgrundlage, aufrechtzuerhalten.
An Boeing fließen Mittel von der NASA und vom Pen-
tagon, und Boeing profitiert von Steuerreduktionen. Es
ist nicht umsonst eine Auseinandersetzung in Form eines
WTO-Streitverfahrens in Genf anhängig, weil die Ame-
rikaner der Auffassung sind, wir würden hier zu viel tun.
Wir haben eine andere Rechtsposition. Wir sagen: Wir
tun nur das, was wir tun müssen, damit Airbus keine
Nachteile entstehen. – Dieses muss geklärt werden. Das
ist ein Hinweis darauf, wie stark sich der Staat bei
EADS/Airbus engagiert hat. Ich bin sehr skeptisch, ob
der Staat gut beraten ist, sich über diesen Ansatz hinaus
etwa als Shareholder stärker zu produzieren.
Meiner Ansicht nach ist es folgendermaßen: Wenn es
zu einer Kapitalerhöhung kommen sollte, dann ist die
EADS gut beraten, industrielle strategische Partner zu
finden, die auch einen Beitrag zur Fortentwicklung der
Qualität des Unternehmens leisten können. Das wäre au-
ßerordentlich wichtig. Es geht also darum, Partner zu
finden, die den nächsten Schritt der technologischen Er-
tüchtigung des Unternehmens unterstützen können. Es
geht doch gar nicht darum, dass wir glauben: Wenn der
Staat sich beteiligt, dann wird das Unternehmen zu dau-
erhaftem Erfolg geführt. Das ist doch eine Schimäre von
gestern.
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Richtig!)
Einfluss können wir im Übrigen auch ausüben, ohne
Shareholder zu sein. Es gibt sogar Situationen, in denen
man sagen muss: Bisweilen ist derjenige, der andere Hil-
fen anbietet, sehr viel besser dran, in der Beeinflussung
eines Unternehmens einen bestimmten Weg zu gehen,
als derjenige, der im Aufsichtsrat sitzt. Überlegen Sie
sich das also gut. Ich glaube, Sie sprechen nicht den
richtigen Weg an.
Ich darf noch einmal sagen: Unsere französischen
Freunde sollten auch im Wahlkampf ein bisschen zu-
rückhaltender mit ihren Forderungen sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Wir haben aus Paris gehört: Wir wollen, dass ein Einzi-
ger an der Spitze steht; wir wollen darüber hinaus ein
Verhältnis von 60 : 40. Ich weiß nicht, welche Forderun-
gen dort noch gestellt worden sind. Es glaubt doch wohl
keiner, dass wir auf solche Rufe von jenseits des Rheins
sofort, eilfertig entsprechende Angebote unterbreiten.
Ganz im Gegenteil: Was die Spitze von Airbus und
EADS betrifft, geht es vor allem um Vertrauen innerhalb
des Unternehmens.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Was man dort braucht, ist weder ein Franzose noch
ein Deutscher, sondern einen EADS-Chef bzw. einen
Airbus-Chef, der für das Unternehmen und in der Haupt-
sache nicht für ein Land oder eine Nation steht. Wenn
dieses Unternehmen ein europäisches Unternehmen wer-
den soll, dann muss man an der Spitze über die nationa-
len Grenzen des Denkens hinaus eine neue Unterneh-
mensphilosophie schaffen. Dabei sollten wir das
Unternehmen unterstützen; denn nur so wird es dauer-
haft global Erfolg haben.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Kollegin Kerstin Andreae hat ihre Rede bereits zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4308 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll zu-
sätzlich an den Ausschuss für Arbeit und Soziales über-
wiesen werden. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die Um-
welthaftung zur Vermeidung und Sanierung
von Umweltschäden
– Drucksache 16/3806 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)
– Drucksache 16/4587 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann eröffne ich hiermit die Aussprache und erteile
das Wort für die Bundesregierung dem Bundesminister
Sigmar Gabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Staat hat die Aufgabe, die natürlichen Lebensgrundlagen
zu schützen. Das ist nicht nur sein verfassungsrechtli-
cher Auftrag, sondern auch Grundlage jeder nachhalti-
gen Entwicklung.
1) Anlage 15
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8733
(A) (C)
(B) (D)
Bundesminister Sigmar Gabriel
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Verursacherprinzip ist eines der tragenden Prin-
zipien, um unsere umweltpolitischen Ziele, also die
Ziele der Nachhaltigkeit, zu verwirklichen. Der Gesetz-
entwurf für ein Umweltschadensgesetz orientiert sich
strikt an dieser Idee: Wer Umweltschäden verursacht
oder zu verursachen droht, ist dafür verantwortlich. Der
Verursacher hat die Gefahr von Umweltschäden zu ver-
meiden und trotzdem eingetretene Umweltschäden zu
sanieren. Das gilt für alle erheblichen Schäden am Bo-
den, an den Gewässern und auch an der Biodiversität.
Damit wird zugleich die EU-Umwelthaftungsrichtlinie
in deutsches Recht umgesetzt, und das – wie so oft von
fast allen Beteiligten in diesem Haus gefordert – im
Maßstab eins zu eins.
Das Umweltschadensgesetz ergänzt die bestehenden
Regelungen zur Vorsorge gegen Umweltbeeinträchti-
gungen und richtet den Fokus auf die Sanierung entstan-
dener Schäden an Umweltgütern. Mit dem Gesetz wird
das Schutzniveau, das die Umwelt als Gut der Allge-
meinheit genießt, dem Schutzniveau von individual-
rechtlichen Schutzgütern angeglichen. Schäden der Bö-
den, der Gewässer und des Naturhaushalts sind zu
vermeiden; für eingetretene Schäden hat der Schadens-
verursacher Ersatz zu leisten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Der weltweite Verlust an biologischer Vielfalt ist
neben der Klimaveränderung die größte globale umwelt-
politische Herausforderung. Das Umweltschadensge-
setz leistet seinen Beitrag dazu, das Ziel einer Trend-
wende bis zum Jahr 2010 zu erreichen, wie es die
internationale Verabredung vorsieht. Es bietet Arten und
Lebensräumen im Sinne der europäischen Habitatrichtli-
nien einen erweiterten Schutz. Schädigungen dieser Ar-
ten und Lebensräume sind bei jeder beruflichen Tätig-
keit zu vermeiden. Das Gesetz setzt hier auf einen
weiten Anwendungsbereich und beschränkt sich bei den
Biodiversitätsschäden nicht darauf, nur Betreiber von
Anlagen oder Tätigkeiten, die als potenziell gefährlich
eingeschätzt werden, in die Pflicht zu nehmen.
Mit der Kostenanlastung an die Schädiger folgt die
Richtlinie dem umweltrechtlichen Verursacherprinzip.
Sie internalisiert externe Kosten der Umweltnutzung.
Sie schafft so wirtschaftliche Anreize, berufliche Aktivi-
täten von vornherein in einer Weise durchzuführen, dass
es erst gar nicht zu Schädigungen der Umwelt kommt.
Auch das ist ein weiterer Baustein einer intelligenten,
ökologisch orientierten Wirtschaftspolitik
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die Pflichten der Schadensverursacher dürfen aber
nicht nur auf dem Papier stehen, sondern müssen natür-
lich auch durchgesetzt werden können. Das Gesetz folgt
dabei einem doppelten Ansatz. Es gibt auf der einen
Seite der zuständigen Behörde Mittel des Verwaltungs-
zwangs bis hin zur Ersatzvornahme auf Kosten des
Schadensverursachers an die Hand. Es entspricht zum
anderen dem Geist der Århus-Konvention: So können
nicht nur diejenigen, die von einem Umweltschaden be-
troffen sind, sondern auch Umweltverbände die Ver-
pflichtung zur Sanierung von Schäden einklagen.
Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf erreicht haben, sowohl die euoparechtssichere Um-
setzung zu gewährleisten als auch allen Interessen – de-
nen der Natur und der Wirtschaft – angemessen
Rechnung zu tragen. Im Sinne einer ökologischen Indus-
triepolitik wünsche ich mir allerdings, dass das Umwelt-
schadensgesetz nach Möglichkeit überhaupt nur in sehr
wenigen Fällen Anwendung finden muss.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN] – Josef Göppel [CDU/CSU]:
Sehr guter Schluss, Herr Minister!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat der Kollege Horst Meierhofer das Wort für
die FDP-Fraktion
(Beifall bei der FDP)
Horst Meierhofer (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass das Umweltschadensgesetz darauf abzielt, Indus-
triebetriebe für die Vermeidung und Sanierung von Um-
weltschäden mit in die Verantwortung zu nehmen, hat
der Herr Minister Gabriel schon angesprochen. Es ist na-
türlich richtig, wenn diese Unternehmen eine Verantwor-
tung dafür tragen. Dass das nicht ausschließlich den Bür-
gerinnen und Bürgern als Last aufgebürdet werden
sollte, ist auch eine Selbstverständlichkeit.
Es ist aus meiner Sicht ebenfalls richtig, dass man ge-
rade bei der Biodiversität den Grundsatz verfolgt: Nicht
nur dann, wenn ein Mensch oder ein Unternehmen ge-
schädigt wird, soll dafür Ersatz geleistet werden; auch
der Wert als solcher muss natürlich Berücksichtigung
finden. – Deshalb halte ich es für richtig, dass das so ge-
regelt werden soll. Das ist ganz neu in Deutschland. Da-
rüber freuen wir uns als FDP.
(Beifall bei der FDP – Josef Göppel [CDU/CSU]:
Wir auch, Herr Kollege Meierhofer!)
– Dann freuen wir uns alle.
Es gibt ein paar Punkte, in denen wir vielleicht unter-
schiedlicher Meinung sind. Aber Grundlage ist ja eine
europäische Richtlinie, die umzusetzen ist – darüber
kann man nicht hinweggehen –; dazu sind wir verpflich-
tet.
Bei aller Kritik, die wir bereits in der letzten oder vor-
letzten Legislaturperiode an der damaligen Verhand-
lungsführung geübt haben, gibt es einige Punkte, die zu
begrüßen sind. Dass man das eigenverantwortliche Han-
deln stärkt und dass man versucht, für umweltpolitische
Ziele ein bisschen mehr Sensibilität bei den Unterneh-
men zu schaffen – darin stimmen wir alle, glaube ich,
überein. Das hat sich schon in den 80er-Jahren gezeigt,
8734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Horst Meierhofer
als im Zusammenhang mit den Sandoz-Unfällen die Idee
entstand, dass man auch dann etwas tun sollte, wenn
kein Individuum geschädigt ist.
Ganz allgemein können wir mit der Umsetzung in
diesem Gesetz relativ gut leben. Das gilt etwa für die
Reichweite des Begriffs der geschützten Arten und der
natürlichen Lebensräume. Dazu gab es Kritik vonsei-
ten der Industrie, das gehe zu weit, das solle sich auf ir-
gendwelche geschützten Räume beschränken. Das sehen
wir ausnahmsweise anders.
Wenn wir uns schon darauf verständigen, Arten zu
schützen, und wenn wir uns darauf verständigen, dass
die Biodiversität als eigener Wert zu schützen ist, dann
macht es natürlich keinen Sinn, eine Art, die vom Aus-
sterben bedroht ist, beispielsweise der Uhu oder ein an-
deres Tier, nur in den Bereichen zu schützen, die man ihr
vorher sozusagen zugebilligt hat. Entweder macht man
es ganz oder gar nicht. Deswegen ist es so, wie es umge-
setzt worden ist, glaube ich, richtig.
(Beifall bei der FDP)
Dass es uns im Ausschuss auch noch gelungen ist, die
vorsorgliche Ermächtigungsgrundlage für eine Pflicht
zur Deckungsvorsorge aus dem Gesetz zu streichen, hat
uns natürlich sehr gefreut. Dass die CDU/CSU und die
SPD einen Antrag, den wir eingebracht haben, ebenfalls
eingebracht haben und wir dementsprechend alle an ei-
nem Strang gezogen haben, fand ich sehr positiv. Das ist
ein Punkt, der uns sehr gefreut hat.
(Lachen der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
LINKE])
– Ich glaube, sogar die Linke hat mit uns an einem
Strang gezogen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Die Reihenfolge, wer
wann was eingebracht hat, war falsch!)
– Zumindest hatten wir von euch noch nichts gehabt.
Das kam dann am nächsten Tag. Aber das ist auch egal.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch gezählt
worden!)
– Ja, vermutlich ist dieses Mal falsch gezählt worden. –
Aus unserer Sicht war das Vorgehen auf jeden Fall ganz
vernünftig. Der Versicherungsmarkt sollte erst einmal
ohne Vorfestlegungen die Möglichkeit haben, sich zu
entwickeln. Das ist nun möglich. Das ist keine Frage, die
man im parteipolitischen Gezänk lösen sollte.
Ein weiterer Punkt, der heftig diskutiert wurde, ist die
Möglichkeit einer Kostenfreistellung. Die Richtlinie
gibt den Mitgliedstaaten in zwei Fällen die Möglichkeit,
Unternehmen von den Kosten für die Sanierung eines
Umweltschadens freizustellen, zum einen, wenn dieser
Umweltschaden durch eine genehmigte Tätigkeit ent-
standen ist, und zum anderen, wenn nach damaligem
Stand von Wissenschaft und Technik nicht davon ausge-
gangen werden konnte, dass ein Schaden für die Umwelt
entstehen könnte.
An dieser Stelle liegt das Problem, das der Grund da-
für ist, dass wir uns enthalten werden. Der alten Bundes-
regierung ist es nicht gelungen, die Kostenfreistellung
europaweit einheitlich zu regeln. Aus unserer Sicht
braucht man auf diesem Gebiet keinen Wettbewerb zwi-
schen den Ländern in Europa. Aus unserer Sicht wäre
eine Einigung auf europäischer Ebene, das heißt, dass
alle Staaten gleich verfahren, das Vernünftigste gewesen,
weil Deutschland sonst Wettbewerbsnachteile haben
könnte. Das wollen wir nicht.
Deswegen darf ich an dieser Stelle die einzelnen Län-
der bitten, sich selbst einzubringen und die Kosten von
den Unternehmen zu nehmen. Vor dem Hintergrund des
Konnexitätsprinzips haben die Länder, die zahlen, auch
das Recht auf eine freie Entscheidung. Da es sich aber
um ein vernünftiges Anliegen handelt, hoffen wir, dass
sie sich einheitlich entscheiden werden und die Kosten
dann übernehmen, wenn den Unternehmen keine Verant-
wortung zugeschrieben werden kann, weil alles ord-
nungsgemäß getan wurde. Ich glaube, dann könnten die
deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb
vielleicht sogar einen Vorteil haben.
(Beifall bei der FDP)
Noch eine kleine Anmerkung: Vielleicht hätte man
die Anhänge der Richtlinie komplett übernehmen kön-
nen. Das ist leider nicht geschehen. Es wird wieder auf
Anhänge verwiesen. Man sagt, an dieser Stelle könne
man einfach verweisen. Natürlich ist das rechtlich mög-
lich. Man kann das Gesetz so machen. Wenn man aber
beim Umweltgesetzbuch alles vereinheitlichen will, al-
les in ein Gesetz packen will, damit es einfacher umzu-
setzen ist, dann hätte man das hier auch so machen kön-
nen. Packen Sie den ganzen Anhang ins Gesetz. Das
wäre eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Dann hätten wir die
Vereinfachung, die wir uns für die Zukunft wünschen,
schon mit diesem Gesetz erreicht.
Ich darf zum Schluss noch einmal an die Länder ap-
pellieren, auf diesem Gebiet einheitlich vorzugehen, da-
mit keine Nachteile für unsere Wirtschaft entstehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt spricht Andreas Jung für die CDU/CSU-Frak-
tion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Rahmen der Diskussion über den europäischen Ver-
fassungsvertrag führen wir derzeit sehr engagiert eine
Debatte über die Fragen: Wofür sollte Europa zuständig
sein? Welche Kompetenzen müssen nach Europa? Für
welche Fragen sollten die Regelungen besser auf natio-
naler Ebene getroffen werden? Oftmals gibt es kritische
Stimmen. Es wird gesagt: Muss sich Europa hier einmi-
schen? Ist es nötig, dass auch dieses Detail von der Euro-
päischen Union geregelt wird?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8735
(A) (C)
(B) (D)
Andreas Jung (Konstanz)
Ich möchte die Umsetzung der Umweltschadensricht-
linie in deutsches Recht zum Anlass nehmen, sehr deut-
lich zu sagen: Es ist gut, dass es Europa gibt, und es ist
gut, dass sich Europa den Fragen des Schutzes von Um-
welt und Natur mit großem Nachdruck annimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir wissen, dass Umweltfragen, wie die Frage des
Schutzes von Böden, von Gewässern oder der Artenviel-
falt, nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Ich will
die Flüsse als Beispiel nennen: Ein Fluss schert sich
nicht um Ländergrenzen, er schert sich nicht um Natio-
nalstaaten.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Deswegen haben wir die Föderalismus-
reform beschlossen, ne?)
Deshalb ist es gut, dass die Initiative der Europäischen
Union gekommen ist.
Deshalb ist es gut, dass wir dieses Gesetz ebenso
ambitioniert in deutsches Recht umsetzen.
Wir erreichen damit Fortschritte in all den genannten
Bereichen. Minister Gabriel hat die entscheidenden
Punkte hervorgehoben. Ich möchte noch einmal ein
Prinzip ansprechen, das mir besonders wichtig erscheint:
Mit diesem Gesetz normieren wir das Verursacherprin-
zip. Damit ist derjenige, der einen Schaden verursacht,
grundsätzlich auch dafür verantwortlich, diesen Schaden
zu beheben und die Kosten dafür zu tragen. Das veran-
kern wir im Umweltschadensgesetz, und das halte ich
für richtig.
(Jörg Tauss [SPD]: Ein nicht ganz ungewöhn-
liches Prinzip!)
Besonders wichtig ist mir, dass wir mit diesem Gesetz
tun, was auch Minister Gabriel gefordert hat, nämlich
die europäische Richtlinie eins zu eins in deutsches
Recht umzusetzen. Diese Tendenz war im Gesetzent-
wurf schon enthalten. Es gab wenige Punkte, an denen
wir im Ausschuss nachgebessert haben. Mit der Eins-
zu-eins-Umsetzung steht die Große Koalition zu dem,
was sie in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten hat und
was uns von Rot-Grün unterscheidet, woran man also
die Handschrift der Union erkennt: Rot-Grün hat bei der
Umsetzung immer noch etwas draufgesattelt und damit
häufig die eigenen Ziele konterkariert.
(Jörg Tauss [SPD]: Na ja!)
Dadurch wurde auch die Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Deutschland beeinträchtigt. Deshalb ist es
gut, dass wir bei diesem Gesetz zu einer Eins-zu-eins-
Umsetzung kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber
[SPD]: Von eins zu eins steht aber nichts im
Koalitionsvertrag!)
Ich will noch einige Punkte konkret ansprechen, auch
wenn der eine oder andere schon von dem Kollegen
Meierhofer thematisiert worden ist. Erstens. Welche
Schutzgebiete sind überhaupt betroffen? Die Richtlinie
der Europäischen Union bietet Auslegungsspielräume.
Man kann die Auffassung vertreten, dass ausschließlich
die Natura-2000-Gebiete betroffen sein sollen. Man
kann aber auch die Auffassung vertreten, dass eine sol-
che Begrenzung aus der Richtlinie nicht hervorgeht.
Ich sage offen, dass in unserer Fraktion die Auffas-
sung, dass eine Begrenzung auf die Natura-2000-Ge-
biete aus der Richtlinie herauszulesen ist, Anhänger hat
und Sympathie findet. Wir müssen aber zur Kenntnis
nehmen, dass die Kommission eine völlig andere Auf-
fassung vertritt und sagt: Nur mit dem, was im Gesetz-
entwurf der Bundesregierung normiert ist, werden wir
unserer Pflicht einer europarechtsgetreuen Umsetzung
gerecht.
Wir haben uns dafür entschieden, nicht den Konflikt
mit der Kommission zu suchen, auch wenn der Europäi-
sche Gerichtshof die letzte Entscheidung trifft. Aber in
der Koalition haben wir auch verabredet, dass wir keinen
nationalen Alleingang wollen. Wir haben deshalb die
Bundesregierung aufgefordert, in einem Jahr zu berich-
ten, wie die anderen Mitgliedstaaten die Richtlinie in
diesem Punkt umgesetzt haben. Wenn sich herausstellen
sollte, dass die Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten ei-
nen anderen Weg als Deutschland gewählt hat, nämlich
den, dass doch nur Natura-2000-Gebiete betroffen sind,
wollen wir diesen Punkt noch einmal aufrufen und eine
Neuregelung besprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zweitens. Machen wir Gebrauch von der Haftungs-
privilegierung, die Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie ermög-
licht? Auch hierüber haben wir diskutiert. Auch hier las-
sen sich Argumente finden, dies zu tun, wenn auch
andere Mitgliedstaaten das machen. Wir müssen aber zur
Kenntnis nehmen, dass eine solche Regelung die Zu-
stimmungspflicht des Bundesrats auslösen würde. Der
Bundesrat jedoch sagt deutlich, dass er das nicht mittra-
gen würde; denn wenn es eine Privilegierung für diejeni-
gen gibt, deren Verhalten ohne Verschulden zu Schäden
geführt hat, wenn also Handlungen zu Schäden führen,
ohne dass das vorhersehbar gewesen wäre, müsste ir-
gendjemand die Kosten tragen, und das wären dann die
Länderhaushalte. Die Länder jedoch sagen: In einem
solchen Fall soll der Betreiber bzw. der Unternehmer
oder die Allgemeinheit den Schaden tragen; auf jeden
Fall sollen nicht die Länderhaushalte belastet werden.
Ich denke, für eine solche Einstellung sollte man Ver-
ständnis haben. Deshalb haben wir diesen Punkt nicht
weiterverfolgt.
Zwei weitere Punkte sind mir besonders wichtig, und
zwar die beiden Punkte, wo es, ausgehend von dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung, gelungen ist, noch
Veränderungen durchzusetzen, so beispielsweise in ei-
nem Punkt eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Ein Punkt, der
bereits angesprochen wurde, betrifft die Deckungsvor-
sorge. Der Gesetzentwurf sah schon jetzt eine Ermächti-
gung der Bundesregierung vor, eine Regelung zur
Deckungsvorsorge zu normieren, ohne dass die Europäi-
sche Union jetzt schon angekündigt hätte, in dem Be-
reich tätig zu werden, ohne dass jetzt schon solche Ab-
sichten vorliegen. Erst im Jahr 2010 will man überhaupt
8736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Andreas Jung (Konstanz)
prüfen und darüber nachdenken, ob man in dieser Rich-
tung initiativ wird.
Wir haben einerseits festgestellt, dass schon die Nor-
mierung im Gesetzentwurf, die vorgesehene Normie-
rung, zu Unsicherheit, zu Sorge, nicht nur im Bereich
der Versicherungsbranche, sondern auch im Bereich von
Wirtschaft und Landwirtschaft, geführt hat, dass gefragt
worden ist: Was ist denn da Sache? Wenn man so etwas
ins Gesetz schreibt, schon jetzt die Bundesregierung er-
mächtigt, dann muss doch etwas im Busch sein!
Wir haben andererseits gesagt, dass überhaupt kein
Anlass besteht, dass wir als Parlament unseren Gestal-
tungsspielraum schon jetzt aus der Hand geben und
quasi in vorauseilendem Gehorsam die Regierung hierzu
ermächtigen.
Deshalb haben wir gesagt: Dieser Punkt muss raus.
Das haben wir in den Ausschussberatungen gemeinsam
durchgesetzt, und das wurde auch – das ist angesprochen
worden – von der FDP-Fraktion unterstützt. Ich finde,
das ist ein wichtiger Punkt, der die Zustimmung noch
leichter macht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich komme zu dem letzten Punkt. Auch der ist schon
angesprochen worden. Die Richtlinie eröffnet die Mög-
lichkeit, dass für unerhebliche Abweichungen von dem
normalen, dem Ausgangszustand – ich nenne sie Baga-
tellabweichungen; also dort, wo Populationen nur in
geringfügigem Umfang beeinträchtigt sind, sodass es die
natürlichen Schwankungen nicht übersteigt, sodass die
Abweichungen durch natürliche Entwicklungen wieder
beseitigt werden – eine Privilegierung insoweit vorgese-
hen wird, dass sie nicht als erhebliche Schädigungen gel-
ten.
Ich halte es für wichtig, dass wir das tun. Denn bei all
dem, was ich vorhin dazu gesagt habe, was ich für rich-
tig halte, hohe Umweltstandards, müssen wir immer die
Verhältnismäßigkeit wahren und nicht schon bei ganz
kleinen Abweichungen möglicherweise große Kosten-
folgen verursachen.
Deshalb haben wir die Auffassung vertreten: Die
Möglichkeit, die die Richtlinie eröffnet, muss auch in
den Gesetzestext aufgenommen werden. Das haben wir
durch unseren ebenfalls in den Ausschussberatungen
durchgesetzten Änderungsantrag getan und wollen das
nachher so abstimmen. Ich halte das für wichtig, weil es
dem Geist der Richtlinie entspricht, weil es hohe Um-
weltstandards setzt, sie in Europa auf Augenhöhe durch-
setzt, die Verhältnismäßigkeit wahrt, damit der Umwelt
dient und die Wirtschaft nicht über Gebühr beeinträch-
tigt.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich diese Umsetzung
der Richtlinie in deutsches Recht.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Lutz Heilmann hat das Wort für die Lin-
ken.
(Beifall bei der LINKEN)
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Meierhofer von der FDP, ich glaube, es ist
nicht ausreichend, wenn sich die Wirtschaft „ein bisserl
mehr“ um die Umwelt kümmert. Gestern hat der EU-
Gipfel stattgefunden, und ein Topthema war der Klima-
wandel. Ich denke, „ein bisserl mehr“ ist zu wenig, es
muss erheblich mehr getan werden.
Wer haftet für Umweltschäden? – Für Umweltschä-
den haften momentan nach dem Umwelthaftungsgesetz
Betreiber von Anlagen. Umweltschäden, die durch be-
rufliche Tätigkeiten verursacht werden, etwa von Land-
wirten, werden bisher keiner Haftungsregelung unter-
worfen. Die Kosten dafür trägt die Allgemeinheit, das
heißt der Steuerzahler. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf soll diese Gesetzeslücke nun geschlossen werden.
Wir begrüßen es ausdrücklich – der Herr Minister hat
es angesprochen; man kann fast schon sagen, es ist ein
einmaliger Fall –, dass hier eine EU-Richtlinie von der
Bundesrepublik auch einmal pünktlich umgesetzt wer-
den wird.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Doch wie so häufig liegt natürlich auch hier der Teu-
fel im Detail. Schauen wir uns ganz einfach einmal den
Gesetzentwurf genauer an. Bezeichnend dafür ist näm-
lich zum Beispiel der Verweis auf das Umweltrechtsbe-
helfsgesetz. Nach diesem können Verbände wie Green-
peace in Umweltangelegenheiten nur dann klagen, wenn
das Drittschutzerfordernis erfüllt ist. Das Umweltrechts-
behelfsgesetz schränkt damit die Mitwirkungsmöglich-
keiten sowohl der Bürgerinnen und Bürger als auch der
Umweltverbände unzulässig ein. Durch den Verweis des
Umweltschadengesetzes auf das Umweltrechtsbehelfs-
gesetz wird auch die Klagemöglichkeit von Umweltver-
bänden in Fällen, für die das Umweltschadensgesetz gilt,
erheblich eingeschränkt.
Wir erachten das als eine nicht hinnehmbare Ein-
schränkung. Wir sagen, das Umweltrechtsbehelfsgesetz
verstößt gegen die Århus-Konvention und damit auch
gegen die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie der EU.
Bei der EU-Kommission ist diesbezüglich – wer sich
auskennt, weiß es – bereits eine Beschwerde anhängig.
Letztlich wird natürlich wieder der EuGH darüber ent-
scheiden.
Weiterhin unklar ist, was unter „Berücksichtigung“
nach § 9 Abs. 1 Satz 3 zu verstehen ist. Wir befürchten,
dass dies eine vollständige Freistellung beim Einsatz von
Pflanzenschutzmitteln durch die Landwirtschaft zur
Folge hat. Das kann weder im Sinne des Gesetzes noch
richtlinienkonform sein.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8737
(A) (C)
(B) (D)
Lutz Heilmann
Durch die Änderungsanträge, die wir am Mittwoch
im Umweltausschuss beraten haben, wird das Gesetz lei-
der nicht besser, sondern erheblich schlechter. Sie schrän-
ken mit dem neuen Verweis auf § 21 a Abs. 2 und 3 des
Bundesnaturschutzgesetzes den Anwendungsbereich des
Gesetzes im Naturschutz erheblich ein. Das Gesetz gilt
somit nur noch bei Schädigungen an EU-rechtlich ge-
schützten Arten und Lebensräumen. Zudem schaffen Sie
mit der Neufassung des § 21 a Abs. 5 großzügige Aus-
nahmen und erhebliche Interpretationsspielräume für die
Beurteilung von Schäden an Arten und Lebensräumen.
Der Natur tun Sie damit keinen Gefallen.
Aus beruflichen Tätigkeiten in § 14 Abs. 1 machen
Sie bestimmte Tätigkeiten. Dies bedeutet eine weitere
Einschränkung des Anwendungsbereiches. Im Übrigen
spricht die EU-Richtlinie ausdrücklich von beruflichen
Tätigkeiten. Wenn Sie davon reden, dass Sie Rechtsein-
heit und einheitliche Rechtsbegriffe auf europäischer
Ebene und auf nationaler Ebene haben wollen – Kollege
Jung, im Umweltausschuss haben Sie das gesagt –, wa-
rum weichen Sie jetzt hier davon ab? Das ist für mich
vollkommen unverständlich und nicht einsehbar.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Noch ein paar Gedanken zur Deckungsvorsorge.
Sehr viele oder fast alle von uns haben ein Auto. Wenn
man sich beim Händler ein Auto gekauft hat, sucht man
sich als nächstes eine Versicherung. Von der Versiche-
rung holt man sich eine Doppelkarte und geht damit zur
Zulassungsstelle. Erst dann wird das Auto zugelassen.
Das heißt, jedes Auto braucht eine Haftpflichtversiche-
rung. Die sogenannte Deckungsvorsorge ist damit ver-
gleichbar. Im Übrigen gibt es auch für Rechtsanwälte
– Kollege Jung, Sie sind, soweit ich weiß, Rechtsanwalt –
Berufshaftpflichtversicherungen. Warum nehmen Sie
diese Verpflichtung heraus? Hier hätte man Vorreiter
sein und eine bessere Lösung anbieten können. Das sind
Beispiele für Regelungen im Gesetzentwurf, die wir für
kritikwürdig erachten.
Ich fasse zusammen: Das Gesetz wird zwar fristge-
mäß erlassen, es bleibt aber hinter seinem Anspruch zu-
rück. Eine gerechte Schadenshaftung für Umweltschä-
den durch Handlungen wird damit nicht erreicht.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Der Anwendungsbereich wird marginal sein.
Zwei Sätze habe ich noch, Frau Präsidentin.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das ist zuviel.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Das Gesetz enthält Bestimmungen, die europarecht-
lich problematisch sind. Deshalb können wir dem vorlie-
genden Gesetzentwurf nicht zustimmen und werden uns
enthalten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche Ih-
nen ein schönes Wochenende.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
So weit ist es noch nicht, weil jetzt erst einmal die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen
spricht.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr Minister, ich möchte Ihnen ein be-
sonderes Lob zollen,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
der SPD)
weil Sie an einem Freitagnachmittag bei einem Thema
von so offensichtlich nicht überschäumender Attraktivi-
tät den Gesetzentwurf selbst vorgestellt haben. Sie be-
kommen noch ein Lob, weil Sie inzwischen auch der
Debatte folgen. Ich bin also voll des Lobes für den Mi-
nister.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Damit es jetzt aber nicht so aussieht, als würden wir
die Koalition nur loben, kommt jetzt gleich ein Tadel an
den Kollegen Jung hinterher.
(Ulrich Kelber [SPD]: Erst einmal freundlich
und dann doch fies!)
Rot-Grün hätte immer noch eins draufgesattelt.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das war auch gut so!)
Das war eine der Kernaussagen in Ihrem Beitrag. Sie,
die neue Große Koalition, sind doch stolz darauf, dass
Deutschland heute innerhalb Europas beim Umwelt-
schutz und beim Klimaschutz als Vorreiter gilt. Wie
hätte das entstehen können, wenn wir nicht immer ein
bisschen mehr gemacht hätten, als nur das, was aus Eu-
ropa kommt, eins zu eins umzusetzen? Dann wären wir
kein Vorreiter. Man muss sich als Land schon entschei-
den, was man möchte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrich
Kelber [SPD]: Dabei bleibt es auch!)
– Dabei bleibt es hoffentlich auch. Sie haben die Verant-
wortung.
In der Politik lernt man – vor allen Dingen in Regie-
rungszeiten –, auch mit halbvollen Gläsern positiv und
konstruktiv umzugehen. Ich gestehe, dass ich – auch in
der Politik – ein etwas mehr als halbvolles Glas immer
ganz gern habe. Deshalb finde ich, dass wir dem Gesetz-
entwurf, der heute vorliegt, zustimmen können. Denn er
erfüllt das Kriterium des etwas mehr als halbvollen Gla-
ses.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Wir werden uns – anders als die Oppositionskollegen –
also nicht enthalten, sondern zustimmen.
8738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Sylvia Kotting-Uhl
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich will aber jetzt nicht mehr darüber reden, was in
diesem Glas ist – der Minister und Kollege Jung haben
das schon deutlich dargelegt –, sondern darüber, was in
diesem Glas nicht ist: die Haftung der Landwirtschaft.
Diese Ausnahmeregelung ist weder nachvollziehbar
noch vernünftig noch dem Ziel dieses Gesetzes wirklich
zuträglich.
Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen, und zwar
hinsichtlich der Pestizide. Mir liegt hier eine Zahl vor, die
relativ ungeheuerlich ist. Für den Fall, dass Sie sie mir
nicht glauben wollen, schicke ich gleich voraus, dass sie
von der zuständigen Berichterstatterin des EU-Parlaments
stammt. Sie wissen wahrscheinlich, was ein Kilo Pestizide
kostet, wenn man es kauft. Es ist die bescheidene
Summe von 10 Euro. Wissen Sie auch, was es kostet, ein
Kilo Pestizide wieder aus dem Wasser herauszuholen?
Das ist die unbescheidene Summe von 100 000 Euro. Ich
finde, das zeigt, dass eine Landwirtschaft, die so, wie
jetzt, als dieses Gesetz vorgelegt wurde, durch ihre Lobby-
arbeit darauf beharrt, mit einem übermäßigen Chemie-
einsatz arbeiten zu dürfen, nicht nur einen unökologischen,
sondern auch einen unökonomischen Weg beschreitet.
Mit der Ausnahme in diesem Gesetz schreiben Sie
fest, dass genau diese immensen Kosten, die durch
unsachgemäßen Landbau von der Landwirtschaft
verursacht werden, weiterhin von der öffentlichen Hand
und nicht, wie es in dem Gesetz ansonsten vorgesehen
ist, von dem Verursacher selbst getragen werden müssen.
Das ist ein deutliches Defizit innerhalb dieses Gesetzes.
Ich bin froh, dass der Biolandbau, bei dem auf diese
Dinge verzichtet wird, vor allem in den Jahren unter der
grünen Ministerin einen deutlichen Aufschwung ge-
nommen hat. Wir haben hier noch Verbesserungsbedarf.
Nur 4,7 Prozent des Gesamtvolumens sind Ökofläche.
Österreich ist mit einer Ökofläche von 14,1 Prozent zum
Beispiel deutlich besser als wir. Hier sind wir also noch
nicht Vorreiter; hier gibt es noch einen Nachholbedarf.
Ich hoffe, dass auch aufgrund des Hinweises auf die
Zahl, was es uns kostet, diese Pestizide wieder aus dem
Wasser zu holen, vielleicht auch von der Großen Koali-
tion ein bisschen in diese Richtung gearbeitet wird, und
wünsche Ihnen – ähnlich wie der Kollege Heilmann –
ein schönes Wochenende, auch wenn es für manche von
uns noch ein bisschen dauert.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für die
SPD das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Freitagnachmittag ein solches Thema zu behandeln,
ist nicht ganz einfach, aber ich bin mir sicher, dass dieses
Gesetz, das wir heute beschließen werden, in Zukunft in
der Praxis eine noch viel größere Aufmerksamkeit erfahren
wird.
In der Tat betreten wir hier heute nämlich Neuland,
und es ist gutes Neuland. Frau Kotting-Uhl, ich gehöre
der Fraktion an, die mit Ihnen die Grundlagen geschaffen
hat und jedenfalls in diesen Bereichen mit der CDU/
CSU jetzt noch ordentlich eins drauflegt. Insofern sind
wir stolz, dass wir das heute beschließen können.
(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
Wir sind die Kontinuität!)
Wir sind einer der ersten EU-Staaten, die die EU-
Vorgaben in nationales Recht umsetzen. Dieses Gesetz
ist aus meiner Sicht eine logische Konsequenz der
Gesetze, die wir hier vor einigen Monaten beschlossen
haben, nämlich des Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes,
das dazu dient, mehr Transparenz und mehr Öffentlichkeit
in Umweltrechtsbelangen zu erreichen, und des Umwelt-
rechtsbehelfsgesetzes, das dazu dient, einen weiten
Zugang zu den Gerichten und zur Überprüfung zu er-
möglichen.
(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Aha!)
– Herr Kollege Heilmann, Sie wissen, dass wir uns hier
für eine größere und erweiterte Klagemöglichkeit ausge-
sprochen haben. Wir werden sehen, was wir da erreichen
können.
Mit diesem Gesetz betreten wir heute in der Tat juris-
tisches Neuland. Bislang war es nicht möglich, Schädi-
gungen der Umwelt, die nicht Privateigentum betrafen,
tatsächlich geltend zu machen. Dies ist eine Neuerung.
Der Bundesminister hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass dieses Gesetz in den Kontext der allgemeinen
Diskussion passt, in der es darum geht, wie wir Güter
der Allgemeinheit eigentlich schützen. In diesem Gesetz
ist ferner vorgesehen, nicht erst bei der Schädigung,
sondern weit früher anzusetzen, nämlich bei der Infor-
mation und auch bei dem Vorsorgeansatz. Auch dies ist
ein wichtiger Aspekt.
(Beifall bei der SPD)
Mit diesem Gesetz bleiben wir nicht im Unbestimmten;
denn es wird erst einmal nicht ins Zivilrecht verwiesen.
Es muss also keine dritte Person vorhanden sein, die ei-
nen Schaden an ihrer Gesundheit oder an ihrem Eigentum
geltend macht. Nein, wir befinden uns hier nicht im
Zivilrecht, sondern im Ordnungsrecht. Erstmals werden
Behörden in die Lage versetzt, sowohl auf Vorsorgemaß-
nahmen als auch auf Informations- oder Sanierungs-
pflichten hinzuwirken und diese gegebenenfalls auch
durchzusetzen.
(Beifall bei der SPD)
Ein Aspekt, der aus meiner Sicht in den nächsten Mo-
naten und Jahren durchaus noch erhebliche Beachtung
finden wird, ist die Stellung der Verbände, die sich in
ihren Satzungen dem Schutz der Umwelt verpflichtet
haben. Es ist im deutschen Recht bislang nicht üblich
gewesen, dass Verbände die Funktion von Anwälten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8739
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Matthias Miersch
wahrnehmen und den Schutz der Güter der Allgemeinheit
tatsächlich, im Zweifel auch gerichtlich, durchsetzen.
Das ist schon ein erheblicher Schritt hin zu mehr
Umweltschutz, weil zu mehr Durchsetzbarkeit von
Umweltschutz. Das ist uns ganz wichtig. Wir sind sicher,
dass die Verbände diese Aufgabe, die ihnen nun übertragen
wird, auch verantwortungsvoll wahrnehmen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
schließend sagen, dass mit diesem Gesetz die Diskussion
über das Umweltrecht nicht zu Ende sein darf und nicht
zu Ende sein kann. Wir als Große Koalition haben uns
mit der Schaffung eines Umweltgesetzbuches eine große
Aufgabe gestellt. Auch in den Beratungen zu diesem Ge-
setz haben wir gesehen, wie wichtig es ist, europäisches
Recht mit dem deutschen Recht in Übereinstimmung zu
bringen und deutsches Umweltrecht in einem Gesetz-
buch zusammenzufassen. Die entsprechenden Debatten
sind in vollem Gange. Das Ministerium ist dabei, dieses
UGB, also das Umweltgesetzbuch, zu konzipieren. Die
Politik ist in den nächsten Monaten aufgerufen, ordent-
lich daran mitzuarbeiten. Wir werden das tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Um-
setzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Umwelthaftung zur Vermeidung und
Sanierung von Umweltschäden, Drucksache 16/3806.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4587, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung
der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimm-
ergebnis wie vorher angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Einmalzahlungen für die Jahre 2005,
2006 und 2007 (Einmalzahlungsgesetz 2005,
2006 und 2007 – EzG 2007)
– Drucksache 16/4379 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)
– Drucksache 16/4572 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/4582 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Anja Hajduk
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP
vor.
Es war verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
doch die Kolleginnen und Kollegen Siegmund Ehrmann,
Dr. Max Stadler, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn
und der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf
Drucksache 16/4379. Der Innenausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4572,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/4624 vor, über den wir zuerst
abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Änderungsantrag
bei Zustimmung der Fraktionen von FDP, Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung durch die Koali-
tionsfraktionen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
in dritter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 4. Juli
2006 zur Verlängerung des Abkommens vom
9. April 1995 zwischen der Bundesrepublik
1) Anlage 16
8740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Deutschland und den Vereinigten Arabischen
Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteue-
rung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
kommen und vom Vermögen und zur Bele-
bung der wirtschaftlichen Beziehungen
– Drucksache 16/4378 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)
– Drucksache 16/4579 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren.
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolleginnen
und Kollegen Dr. Barbara Hendricks, Carl-Ludwig
Thiele, Axel Troost und Lothar Binding.1)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Manfred Kolbe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute auf Antrag der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zur Verlängerung des Doppelbesteuerungs-
abkommens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten
vom 9. April 1995. Dazu von mir keinen neunminütigen
Beitrag, aber drei Minuten zum Standpunkt der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion.
Die Verlängerung dieses Abkommens ist notwendig,
da das Doppelbesteuerungsabkommen von 1995 ausge-
laufen wäre und bis zum Zeitpunkt des Auslaufens keine
Einigung über ein neues Abkommen erzielt werden
konnte. Um es hier nicht zu einem vertragslosen Zustand
kommen zu lassen, wurde das bisherige Abkommen um
zwei Jahre verlängert.
Wir als Unionsfraktion begrüßen diese Verlängerung;
denn wir brauchen ein Doppelbesteuerungsabkommen
mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Lassen Sie
mich dazu kurz drei Gesichtspunkte nennen:
Die Vereinigten Arabischen Emirate sind ein Handels-
und auch politischer Partner von außerordentlicher
Bedeutung in dieser krisengeschüttelten Region. Wir haben
dort 2004 eine strategische Partnerschaft begründet. Die
Handels- und Wirtschaftsbeziehungen haben sich, auch
auf der Grundlage des Doppelbesteuerungsabkommens
von 1995, auf hohem Niveau entwickelt. Rund 500 deut-
sche Unternehmen sind dort tätig. Sie bedienen weite
Teile des arabischen und asiatischen Marktes. Der Export
in die Vereinigten Arabischen Emirate ist allein im Jahr
2005 um 22 Prozent auf über 4 Milliarden Euro ange-
stiegen. Beim Import liegen wir dort an vierter Stelle.
Beachtlich ist auch das Investitionskapital an den Verei-
nigten Arabischen Emiraten.
1) Anlage 17
Unsere politischen Beziehungen sind ein Spiegelbild
dieser wirtschaftlichen Entwicklung. Wir haben, wie
gesagt, eine strategische Partnerschaft begründet. Angela
Merkel hat ihre erste Reise im Rahmen der EU-Präsident-
schaft in die Vereinigten Arabischen Emirate unternom-
men.
Der zweite Grund, warum wir ein Doppelbesteuerungs-
abkommen wollen, ist, dass die Vereinigten Arabischen
Emirate keine Steueroase – mit solchen Ländern schließen
wir sonst keine Doppelbesteuerungsabkommen ab – im
eigentlichen Sinn sind. Solches zu behaupten, ist eine
klassische Halbwahrheit: Die Vereinigten Arabischen
Emirate haben sicherlich die eine oder andere Oase; aber
eine Steueroase sind sie deshalb noch nicht. Von den
vier OECD-Kriterien für Steueroasen – nämlich erstens
keine oder geringfügige Steuererhebung, zweitens Ge-
setzes- und Verwaltungspraxis, welche einen effektiven
Informationsaustausch der Behörden verhindert und da-
mit Steuerflucht begünstigt, drittens Privilegierung nicht
ansässiger Personen, viertens Fehlen substanzieller wirt-
schaftlicher Aktivitäten, also Briefkasten- und Buchhal-
tungszentren – trifft höchstens das Kriterium Nummer
eins zu. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind in der
Tat in der glücklichen Lage, nur die Ölförderung besteuern
zu müssen. Wir wären froh, wenn das bei uns der Fall
wäre; aber wir können uns das nicht leisten. Ansonsten
liegen aber keine Kriterien für eine Steueroase vor. Wir
sollten deshalb im Interesse unserer wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen ein Doppelbesteuerungsab-
kommen anstreben und keine unselige und auch falsche
Oasendiskussion führen.
Der dritte Grund ist, dass wir Teil der Europäischen
Union sind und dass fast alle unsere europäischen Partner
Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten
Arabischen Emiraten haben – Großbritannien, Frank-
reich, zuletzt Spanien, seit 2006, Luxemburg seit 2005
und Österreich seit 2004 –, die sich auch alle an das
OECD-Muster anlehnen. Ein deutscher Alleingang wäre
hier weder politisch noch wirtschaftlich zu verantworten.
In diesem Sinne bejaht die CDU/CSU-Fraktion die
heute zur Beschlussfassung anstehende Verlängerung
des Doppelbesteuerungsabkommens um zwei Jahre und
bittet das Bundesfinanzministerium – ich weiß jetzt
nicht, wen ich da ansprechen soll; ich bitte also die Bundes-
regierung –, im Rahmen der anstehenden Verhandlungen
ein Doppelbesteuerungsabkommen auszuhandeln, das
fair und von gegenseitigem Respekt getragen ist.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard
Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Doppel-
besteuerungsabkommen sind ja eigentlich Abkommen
zur Vermeidung von Doppelbesteuerung. Doppelbesteu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8741
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Gerhard Schick
erung liegt aber nur vor, wenn sowohl das eine als auch
das andere Land Steuern erhebt. Da in den Vereinigten
Arabischen Emiraten auf fast alle ökonomischen Sach-
verhalte ein Einkommensteuersatz von Null gilt, kann es
per Definition gar keine Doppelbesteuerung geben.
Bei der Diskussion geht es also um den anderen Teil,
der durch Doppelbesteuerungsabkommen geregelt wird,
nämlich um die Vermeidung von so genannten weißen
Einkünften. Damit wird die Tatsache bezeichnet, dass
einige deswegen keine Steuern zahlen, weil sie grenz-
überschreitend wirtschaftlich tätig sind. Auf diesen As-
pekt, Herr Kolbe, sind Sie überhaupt nicht eingegangen,
obwohl er in den Verhandlungen immer einen sehr gro-
ßen Raum einnimmt.
Man muss schon feststellen – deshalb wollen wir da-
rüber debattieren und haben diesen Punkt nicht ohne De-
batte einfach durchgewunken –, dass das Abkommen
mit den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Sonder-
stellung unter den deutschen Doppelbesteuerungsab-
kommen einnimmt; denn es generiert in einzigartiger
Weise die Nullbesteuerung, also weiße Einkünfte.
Obwohl man nun einen Vergleich mit anderen EU-
Staaten anstellen kann, möchte ich eine andere Frage
stellen, nämlich die, wie Sie einem deutschen mittel-
ständischen Unternehmen erklären wollen, dass es auf
seine Gewinne in Deutschland insgesamt 47,5 Prozent
Einkommensteuer zahlen muss, dass man aber gleichzei-
tig in Dubai 0 Prozent Steuern zahlt, wenn man einen
Anteil an einem Immobilienfonds besitzt. Diese Frage
ist nicht populistisch, sondern sie stellt sich im Fall einer
Unternehmensnachfolge ganz konkret.
Es wäre interessant, einmal die konkrete Position des
Wirtschaftsministeriums zu erfahren, das sich dafür ein-
gesetzt hat, dass wir diesen Zustand um weitere zwei
Jahre verlängern. Wir sind dagegen, weil wir der Mei-
nung sind, dass es keine faire Verteilung der Lasten ist.
Es entspricht nicht der Besteuerung nach der Leistungs-
fähigkeit. Was noch schlimmer ist: Es ermöglicht – Dop-
pelbesteuerungsabkommen wirken ja immer in einem
Netz zusammen –, dass auch Erträge aus anderen
Staaten über die Vereinigten Arabischen Emirate steuer-
frei nach Deutschland gebracht werden. Ich kann für
meine Fraktion nur sagen: Das ist keine sinnvolle Steu-
erpolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man braucht gar nicht den Begriff von einer strategi-
schen Partnerschaft heranzuziehen. Man kann auch mit
strategischen Partnern sinnvolle Abkommen schließen.
In den Ausschussberatungen ist deutlich geworden,
dass es jetzt darum geht, mit welcher Position Deutsch-
land in die Verhandlungen geht. Sie von der CDU/CSU-
Fraktion und, wie ich höre, auch das Wirtschaftsministe-
rium vertreten die Position, dass es durchaus so weiter-
gehen soll. Wir als Grüne sind der Meinung, dass es
nicht so weitergehen kann. Wir müssen vielmehr ein
Mindestniveau bei der Besteuerung erreichen. Deswe-
gen wird unser Abstimmungsverhalten im Parlament
nicht nur von der Frage bestimmt, ob wir das konkrete
Protokoll verabschieden wollen, sondern auch von der
Frage, mit welcher Position wir in die Verhandlungen zu
diesem Abkommen hineingehen.
Ich finde einen Punkt ziemlich enttäuschend. Die
Linksfraktion will diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Sie halten hier immer großen Reden über Steuergerech-
tigkeit und über die sich zunehmend öffnende Schere
von Arm und Reich. Sie fordern, dass es eine faire Las-
tenverteilung in diesem Land gibt. Wenn es aber einmal
konkret darum geht, ein Steuerschlupfloch zu schließen
und hierfür ein klares Signal zu geben, dann: Fehlan-
zeige.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich finde das sehr enttäuschend und möchte Sie auffor-
dern, dass Sie in Zukunft Ihren großen Ansprüchen auch
einmal ein wenig Substanz folgen lassen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ma-
chen wir!)
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Protokoll zur Verlängerung des Abkommens mit
den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der
wirtschaftlichen Beziehungen auf Drucksache 16/4378.
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/4579,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion
Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP-
Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 10 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Beschäftigungspolitische Verantwortung der
Bundesregierung im Zusammenhang mit dem
Personalabbau bei deutschen Großunterneh-
men
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort dem Kollegen Werner Dreibus, Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Ich weiß, es ist spät. Ich weiß auch, dass wir Ihnen
mit dieser Aktuellen Stunde keine große Freude berei-
ten. Aber hier kommt es auf die Sache an.
(Beifall bei der LINKEN)
8742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Werner Dreibus
Beim Beispiel der Telekom geht es um die Arbeits-
plätze, das Einkommen, die Arbeitszeit und die Arbeits-
verträge von immerhin 50 000 direkt betroffenen Men-
schen. Das betrifft natürlich auch die Familien dieser
50 000 Menschen. Damit geht es um sehr viel. Es geht
bei diesem Konflikt der Telekom – das ist eher eine
kleine Arabeske – unter anderem um eine Arbeitszeit-
verlängerung für weniger Geld. Wenn wir heute Nach-
mittag eine Stunde Arbeitszeitverlängerung haben, dann
ist das sozusagen eine Parallele, aber wenn überhaupt,
dann höchstens einmalig und nur betreffend die Zeit und
nicht das Geld.
(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
langen] [CDU/CSU]: Sie sorgen schon dafür,
dass das öfter vorkommt!)
Nun zur Sache selbst. Der Anlass für unsere Aktuelle
Stunde ist die in der vergangenen Woche getroffene Ent-
scheidung des Aufsichtsrates der Telekom. Wir sind der
Auffassung, dass in der darauffolgenden Sitzungswoche
des Bundestages darüber unter dem Gesichtspunkt der
beschäftigungspolitischen Verantwortung der Bundesre-
gierung zu diskutieren ist. Der Aufsichtsrat hat entschie-
den, 45 000 bis 50 000 Mitarbeiter in einen sogenannten
T-Service auszugliedern. Das ist eine interne Ausgliede-
rungsstrategie, der – so der Aufsichtsrat – als Teil der
Ausgliederung dann eine externe Auslagerung folgen
soll.
Der Vorgang selbst erinnert, zumindest was das stra-
tegische Vorgehen betrifft, diejenigen, die sich in dieser
Sache ein wenig auskennen, an das, was vor einigen Jah-
ren bei Siemens passiert ist und was dann zu BenQ ge-
führt hat. Was wir dann bei BenQ erlebt haben, werden
wir hoffentlich nicht auch bei der Telekom erleben.
Wie sieht es nun mit der beschäftigungspolitischen
Verantwortung der Bundesregierung aus? Wir wissen,
noch ist der Bund direkt und indirekt über die KfW an
der Telekom mit zusammen 32 Prozent der Aktien betei-
ligt. Wir wissen auch, dass als Vertreterin der KfW Frau
Matthäus-Maier und als Vertreter der Bundesregierung
Herr Staatssekretär Mirow im Aufsichtsrat der Telekom
Sitz und Stimme haben. Seit vergangenen Donnerstag
wissen wir aus öffentlichen Erklärungen der Vertreter
der Beschäftigten im Aufsichtsrat, dass alle Vertreter der
Beschäftigten im Aufsichtsrat – er ist, wie wir wissen,
paritätisch zusammengesetzt – gegen die Vorlage des
Unternehmensvorstandes gestimmt haben. Die erste
Frage, die wir heute stellen – wir hoffen sehr, dass wir
darauf eine vernünftige Antwort bekommen –, ist, wie
sich die Bundesregierung unter Vorhalt dieser Beteili-
gungsstruktur in dieser konkreten Situation zu den be-
schäftigungspolitischen Maßnahmen des Vorstandes der
Telekom verhält.
Ich will ein paar wenige Sätze dazu sagen, was das für
die Betroffenen heißt. Die Arbeitszeit der Betroffenen
wurde 2004 auf 34 Stunden gesenkt. Bezahlt werden
derzeit 35,5 Stunden. Es gab einen sogenannten
Teillohnausgleich. Brutto hat jeder Beschäftigte 6,7 Pro-
zent weniger als vor dieser Maßnahme. Der erste Schritt,
an der Arbeitszeitschraube auf Kosten der Beschäftigten
zu drehen, ist schon erfolgt.
Jetzt soll für die Betroffenen ein zweiter Schritt fol-
gen. Deren Arbeitszeit soll wieder auf 38 Stunden he-
raufgesetzt werden – und dies ohne Lohnausgleich –, um
die Lohnkosten erneut zu senken. Beide Maßnahmen zu-
sammen bedeuten, dass, je nachdem, wie man das rech-
net, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telekom
um die 13 Prozent ihres Lohnes für die Fehlplanungen
und Fehlmaßnahmen bezahlen sollen, die das Manage-
ment gemacht hat.
Das halten wir für völlig unvorstellbar. Wir halten es
für völlig falsch, dass die Bundesregierung als Anteils-
eigner diesem Konzept offensichtlich zustimmt und im
Aufsichtsrat nicht die Möglichkeit genutzt hat, wenigs-
tens die Alternativvorschläge, die vonseiten der Arbeit-
nehmervertreter, der Betriebsräte und der zuständigen
Gewerkschaft Verdi vorgetragen worden sind, zum An-
lass zu nehmen, die Entscheidung vom vergangenen
Donnerstag nicht zu fällen, sondern sich konstruktiv mit
diesen Alternativvorschlägen zu beschäftigen und die
Beschäftigten nicht dem Druck von Maßnahmen auszu-
setzen, die bei diesen – deshalb habe ich am Anfang
meiner Rede das Beispiel Siemens/BenQ erwähnt – nur
Angst auslösen können. Die Telekom ist sicher kein kri-
sengeschütteltes Unternehmen. Aber auch ein Unterneh-
men, das in Schwierigkeiten ist, ist schlecht beraten,
wenn die Beschäftigten Angst haben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Es spricht jetzt der Kollege Alexander Dobrindt für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Alexander Dobrindt (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dass es in dieser Aktuellen Stunde nicht um
ein einzelnes Unternehmen geht. Wir müssen uns grund-
sätzlich die Frage stellen, wie sich die Großkonzerne in
der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf das Gene-
rieren von Arbeitsplätzen verhalten. Gleichzeitig müssen
wir uns die Frage stellen, wie sich der Mittelstand in Be-
zug auf das Generieren von Arbeitsplätzen verhält.
Sie von der Linken haben das aktuelle Beispiel Deut-
sche Telekom aufgenommen. Ich kann Ihnen sagen: Wir
haben in dieser Woche bereits Gespräche mit der Deut-
schen Telekom geführt, auch hier. Ich weiß nicht, ob Ihre
Fraktion dazu bereit ist, aber wir sind selbstverständlich
bereit, den Prozess, den dieses Unternehmen im gegebe-
nen Rahmen zu durchlaufen hat, zu begleiten.
Wir haben der Telekom auch bei den Gesprächen hier
im Deutschen Bundestag ins Stammbuch geschrieben,
dass uns drei Sachen besonders wichtig sind: Wir haben
natürlich die Forderung an dieses Unternehmen, dass
Standortsicherung betrieben wird. Wir wollen nicht, dass
die Deutsche Telekom sich aus der Fläche zurückzieht,
sich auf Ballungsräume beschränkt. Wir wollen, dass
dieses Unternehmen auch in den ländlichen Räumen ver-
treten bleibt. Deswegen ist eine Frage wie die, wie die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8743
(A) (C)
(B) (D)
Alexander Dobrindt
Callcenterstruktur in Zukunft ausschaut, für uns beson-
ders wichtig.
Wir haben weiter gesagt: Die Beschäftigungssiche-
rung hat für uns absoluten Vorrang. Auch unter diesem
Gesichtspunkt muss man solche Unternehmensentschei-
dungen betrachten. Die Telekom ist ein Unternehmen,
das heute, anders als noch zu Monopolzeiten, im Wettbe-
werb steht. Die Telekom hat erkannt – da werden alle zu-
stimmen können –, dass das, was sie an Produkten anbie-
tet, oftmals zu teuer ist, nicht mehr wettbewerbsfähig ist.
Deswegen versucht sich die Telekom so aufzustellen
– auch in der Verantwortung gegenüber ihren Mitarbei-
tern –, dass sie zukünftig wieder wettbewerbsfähig ist.
Genau dadurch werden die Arbeitsplätze im Unterneh-
men gesichert. Auch das haben wir von der Deutschen
Telekom gefordert. Einen solchen Prozess kann man
aber nur zusammen mit den Menschen im Unternehmen
gehen. Eine Qualitätsoffensive kann man nur starten,
den Service des Unternehmens kann man nur dann deut-
lich ausbauen, wenn man die Mitarbeiter, die diesen Ser-
vice bringen sollen, bei der Stange hält, sie motiviert.
Auch das haben wir von der Deutschen Telekom ver-
langt. Die Mitarbeiter müssen diesen Prozess mitma-
chen. Ansonsten ist eine Qualitätsoffensive nicht mög-
lich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Jetzt will ich zum Mittelstand, den ich eingangs ange-
sprochen habe, zurückkommen. Denn so einfach machen
wir es Ihnen nicht, dass wir hier nur kritisierten, die
positiven Meldungen aus der Wirtschaft aber nicht an-
sprächen. Der Mittelstand hat im letzten Jahr Tag für Tag
1 250 neue Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen.
Deswegen ist der Mittelstand das Netz und der doppelte
Boden für Arbeitsplätze in Deutschland. Es ist wichtig,
dass wir das in dieser Debatte ganz deutlich machen:
Jobmotor in Deutschland ist und bleibt der deutsche Mit-
telstand. Deswegen müssen wir ihn ins Zentrum unseres
Interesses stellen, wir müssen ihn deutlich stärken und
daran arbeiten, dass es dem Mittelstand in Deutschland
weiterhin gut geht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Der Mittelstand bleibt in Deutschland. Die globalisierten
Unternehmen haben in anderen Ländern neue Märkte
entdeckt. Sie versuchen – das ist nicht zu kritisieren –,
ihre Produkte dort zu produzieren, wo sie sie verkaufen.
Sie stehen heute in einem globalen Wettbewerb, in dem
der Preis eine große Rolle spielt und in dem für die
Preiskalkulationen auch von Bedeutung ist, dass man
sich, was die Arbeitsplätze angeht, weltweit breit auf-
stellt.
(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)
Der Mittelstand kann das nicht tun. Deswegen müs-
sen wir die Verantwortung übernehmen, den Mittelstand
zu stärken. Das hat die Bundesregierung getan. Das
CO2-Sanierungsprogramm ist ein Riesenerfolg. In der
letzten Woche wurde im Deutschen Bundestag das
zweite Mittelstandsentlastungsgesetz beschlossen. Die
Reform der Unternehmensnachfolge steht an. Wir wer-
den uns dafür einsetzen, dass diese Reform mittelstands-
gerecht ausgestaltet wird. Ein Mittelständler muss die in
seinem Unternehmen bestehenden Arbeitsplätze im Fall
der Unternehmensnachfolge zukünftig erhalten können,
ohne dass zusätzliche Kosten anfallen. Ich glaube, das ist
die richtige Antwort auf den Stellenabbau in der Großin-
dustrie. Das Jobwunder Mittelstand muss von uns for-
ciert und gestärkt werden. So müssen wir in die Zukunft
gehen.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – Jürgen
Koppelin [FDP]: Dazu müsste erst einmal die
Bundesregierung zurücktreten!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Haustein ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute über die beschäftigungspoli-
tische Verantwortung der Bundesregierung im Zusam-
menhang mit dem Personalabbau bei deutschen Großun-
ternehmen. Erst einmal muss man feststellen, dass kein
Unternehmer seine Arbeitskräfte gerne entlässt. Er ist
froh, wenn er genug Aufträge hat, Gewinn macht und
über die Runden kommt.
(Beifall bei der FDP)
Ein Unternehmer möchte, dass seine Angestellten ihren
Arbeitsplatz behalten und ihren Lohn bekommen und
dass es mit dem Unternehmen vorwärts geht. Das ist
doch der Sinn eines Unternehmens.
Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, wie stark
die Unternehmen belastet werden.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Und durch
wen? Durch diese Bundesregierung!)
– Ja. Seit diesem Jahr auch durch die Bundesregierung.
Aber das ist ja bekannt.
(Ulrich Kelber [SPD]: Einen besseren Redner
hat die FDP nicht? Schade!)
Die Belastungen durch die Bürokratie gehen ins Uner-
messliche.
(Beifall bei der FDP)
Es wird zwar von Bürokratieabbau gesprochen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das hat doch alles die
FDP gemacht!)
Aber durch das Vorziehen des Termins für die Zahlung
der Sozialbeiträge wird mehr Bürokratie aufgebaut. Au-
ßerdem wird dadurch die Liquidität der Unternehmen
belastet.
(Ulrich Kelber [SPD]: „Just in time“ nennt
man das!)
– Nein, das tut man nicht.
8744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Heinz-Peter Haustein
Abgesehen von der Bürokratie, deren Umfang viel zu
groß ist
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 30 Milliarden
Euro! – Ulrich Kelber [SPD]: Wir haben ihn
gegenüber Ihrer Regierungszeit verringert!)
– nein –, ist auch die Steuer- und Abgabenlast in
Deutschland viel zu hoch; auch das muss man klar und
deutlich sagen. Wir brauchen eine Flexibilisierung auf
dem Arbeitsmarkt und mehr Freiheiten für Unterneh-
men. Dann kann es aufwärtsgehen.
(Beifall bei der FDP)
Was soll denn die Telekom als Global Player machen?
Sollte sie warten, bis sie pleite ist, oder sollte sie jetzt auf
die neuen Anforderungen in der Welt und im Lande re-
agieren? Die Telekom muss etwas unternehmen. Sie darf
nicht einfach abwarten, bis es nicht mehr weitergeht.
Das, was die Manager der Telekom jetzt tun müssen, tun
sie sicherlich nicht gerne. Aber sie müssen es tun, damit
das Unternehmen überlebt.
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LIN-
KEN: Wo leben Sie denn?)
Zu diesem Zweck muss rationalisiert werden. Ansonsten
geht es nicht voran.
Wir müssen eine Flexibilisierung beim Kündigungs-
schutz und beim Tarifrecht durchführen,
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/
CSU: Nicht schon wieder! Das ist doch nun
wirklich ein liberaler Ladenhüter! – Zuruf von
der LINKEN: Das ist der größte Quatsch!)
ohne allerdings die Rechte der Arbeitnehmer zu be-
schneiden.
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, eben!)
Die Arbeitnehmer sind das Kapital eines Unternehmens.
Niemand will ihre Rechte einschränken. Aber ein Unter-
nehmen kann nur dann überleben, wenn es kostende-
ckend und rational arbeitet.
(Beifall bei der FDP)
Nun komme ich zu den kleinen und mittelständischen
Betrieben. In diesen Unternehmen werden in Deutsch-
land Arbeitsplätze geschaffen. Aber die Inhaber dieser
Unternehmen haben häufig das Haus, den Hof und die
eigene Großmutter bei der Bank verpfändet.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ja! Wer noch eine
hat, der macht das! Die Linken würden ihre
verkaufen; das steht fest!)
In diesen Betrieben ist der Urlaubsanspruch geringer,
und es muss 60 Stunden pro Woche gearbeitet werden.
Diese Betriebe sind dafür verantwortlich, dass es in un-
serem Land aufwärtsgeht. Das wird immer wieder ver-
kannt.
(Zuruf von der LINKEN: Sind Sie eigentlich im-
mer noch beim Thema der aktuellen Debatte?)
Die hohen Kosten führen einerseits zu Entlassungen
und andererseits dazu, dass viele Unternehmen davor zu-
rückschrecken, Leute einzustellen. Stattdessen wird auf
Subunternehmer oder Leiharbeitnehmer ausgewichen.
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Ich würde jetzt
ins Erzgebirge zurückfahren! Das muss ich Ih-
nen sagen!)
Ich kann Ihnen versichern: Wenn wir nicht endlich die
Reformen durchführen, die wir in diesem Land brauchen
– ich meine richtige Reformen und nicht solche Reförm-
chen, die ständig gemacht werden –,
(Beifall bei der FDP)
dann wird der gegenwärtige Aufschwung nicht lange
Bestand haben. Aber trotz des Aufschwungs – der ein
Weltmarktaufschwung ist und nicht Erfolg der Bundes-
regierung – nimmt die Bundesregierung die notwendi-
gen Reformen nicht in Angriff.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie in der Regie-
rung wären, würden Sie das anders sehen!)
Das ist das Problem, das wir haben. Wir müssen uns ent-
scheiden: Reformen und Aufschwung oder so weiter-
wursteln.
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-
gebirge.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Lachen bei der PDS)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Auf unserer touristischen Tour durch Deutschland er-
hält nun das Wort der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion.
(Ulrich Kelber [SPD]: Aus Köln!)
– Das wird er sicherlich freiwillig vortragen.
Martin Dörmann (SPD):
Glück auf, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Obwohl die Arbeitslosenzahl im Vergleich
zum Vorjahr um mehr als 800 000 zurückgegangen ist,
werden wir immer wieder von Meldungen aufge-
schreckt, nach denen gerade deutsche Großunternehmen
in erheblichem Umfang Personal abbauen. Aktuelle Bei-
spiele sind Allianz, Schering, die Deutsche Bank oder
Airbus. Die Hintergründe sind jeweils sehr unterschied-
lich. Gemeinsam haben sie, dass die Ursachen für den
Abbau von Arbeitsplätzen im Unternehmen selbst bzw.
im Marktumfeld liegen. Sie sind also weder von den Be-
schäftigten noch von der Politik zu verantworten. Bei ei-
nigen Unternehmen spielen gravierende Management-
fehler eine entscheidende Rolle. In einigen Fällen wird
Personal abgebaut, obwohl die Ertragslage des Unter-
nehmens sehr gut ist.
Die SPD fordert deshalb gerade die Großunterneh-
men auf, ihrer Verantwortung für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer gerecht zu werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8745
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Martin Dörmann
Oft wird – aus unserer Sicht: zu früh und zu einseitig –
vor allem im Personalabbau das Allheilmittel für größere
Produktivität gesehen. Stattdessen sollten mehr und
rechtzeitig gezielte Innovationen, intelligente Produkt-
entwicklungen, stetige Weiterbildung der Beschäftigten
und andere Maßnahmen der Beschäftigungssicherung
durchgeführt werden. Insofern brauchen wir einen deut-
lichen Mentalitätswechsel zumindest in einem Teil der
Wirtschaft; denn nicht der Abbau, sondern der Erhalt
von Arbeitsplätzen sollte oberste Priorität haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
In der aktuellen Debatte in den letzten Tagen spielt der
geplante Personalumbau bei der Deutschen Telekom AG
eine besondere Rolle. Deshalb möchte ich hierauf etwas
näher eingehen. Erinnern wir uns: Die Privatisierung der
Telekom und die Öffnung des Telekommunikationsmark-
tes haben zu einem scharfen Wettbewerb und zu deutlich
günstigeren Preisen für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher geführt. Es geht um Absenkungen von bis zu
96 Prozent. Heute zahlen wir beispielsweise für ein In-
landsgespräch nicht mehr 30 Cent wie 1997, sondern ge-
rade einmal 1 Cent. Parallel dazu sank die Zahl der Be-
schäftigten bei der Telekom innerhalb Deutschlands von
255 000 im Jahr 1990 auf 166 000 im Jahr 2006, während
bei den Wettbewerbern etwa in gleichem Umfang Be-
schäftigung aufgebaut wurde. Der Personalabbau bei der
Telekom erfolgte stets – das ist ganz besonders wichtig –
sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbedingte Kündi-
gungen, durch natürliche Fluktuation oder durch freiwil-
lige Instrumente. Ich denke, dies ist ein positives Beispiel
dafür, dass man auch einen schwierigen Strukturwandel
sozial gestalten kann.
Der Bund ist noch zu knapp 32 Prozent Anteilseigner;
das wurde gerade erwähnt. Auch wenn der Bund schon
aus aktienrechtlichen Gründen nicht direkt in unterneh-
merische Entscheidungen eingreifen kann, hat seine Be-
teiligung doch indirekt dazu beigetragen, dass der Stel-
lenabbau – im Gegensatz zu manch anderen
Unternehmen – sozialverträglich erfolgte. Auch unter
diesem Gesichtspunkt sollte der Bund nach Ansicht der
SPD-Fraktion auf absehbare Zeit mindestens 25,1 Pro-
zent der Aktienanteile an der Telekom behalten, um eine
Sperrminorität sicherzustellen.
(Beifall bei der SPD)
Von dem geschilderten Personalabbau zu unterschei-
den sind die aktuellen Umbaupläne bei der Telekom. Sie
zielen auf eine bessere Servicequalität, Beschäftigungs-
sicherung und Kostensenkungen ab. Ein zentraler Punkt
dieses Konzepts ist die Gründung von drei neuen Gesell-
schaften unter der Bezeichnung T-Service. Geplant ist
insbesondere die Überführung von bis zu 50 000 Be-
schäftigten zu T-Service, die allerdings weiterhin – das
ist wichtig – unter dem Dach des Konzerns bleiben sol-
len. Es geht also nicht um einen weiteren Personalabbau,
sondern um einen Umbau innerhalb des Konzerns. Die
Unternehmensleitung erhofft sich hierdurch eine bessere
Wettbewerbsfähigkeit angesichts von 2 Millionen Kun-
den, die die Telekom alleine 2006 im Festnetzbereich
verloren hat.
Es ist allerdings mehr als verständlich, dass die Be-
schäftigten die bei T-Service geplanten Einsparungen bei
den Personalkosten durch längere Arbeitszeiten und eine
Absenkung des Entgeltes kritisch sehen. Es ist nun Sa-
che der Tarifvertragsparteien, die konkreten Arbeitskon-
ditionen bei T-Service zu vereinbaren.
In politischer Hinsicht ist aber zu wünschen, dass bei
den anstehenden Tarifverhandlungen gemeinsame Lö-
sungen gefunden werden, die sowohl den Interessen der
Beschäftigten als auch der Wettbewerbssituation der
Deutschen Telekom gerecht werden müssen. Meiner An-
sicht nach darf es aber nicht zu radikalen Einschnitten
bei den Beschäftigten kommen. Denn es kann nicht das
Ziel sein, einen Lohnwettkampf nach unten zu führen.
Außerdem braucht die Telekom auch weiterhin moti-
vierte Beschäftigte.
Es ist aber angesichts der schwierigen Marktsituation,
in der sich die Telekom befindet, unrealistisch, davon
auszugehen, dass keinerlei Veränderungen notwendig
sind. Man wird abwarten müssen, was die anstehenden
Tarifverhandlungen ergeben. Ich hoffe auf gemeinsam
getragene Lösungen.
Immerhin gibt es ein positives Signal bei den Auszu-
bildenden. Die Deutsche Telekom und Verdi haben sich
darauf verständigt, dass auch 2007 wieder 4 000 junge
Menschen neu eingestellt und mindestens 1 000 Nach-
wuchskräfte vor allem in den Serviceeinheiten übernom-
men werden. Damit ist die Telekom nach wie vor das
Unternehmen mit den meisten Auszubildenden in
Deutschland.
Ich denke, diese Einigung gibt Hoffnung. Sie sollte
auch Vorbild für andere sein.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Kai Wegner für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Kai Wegner (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man re-
gelmäßig die Ausführungen der Linkspartei.PDS in die-
sem Haus verfolgt, dann könnte man den Eindruck ge-
winnen, die deutsche Wirtschaft bestehe nur aus
seelenlosen Großunternehmern, die feuern und heuern
wie zu Zeiten des Manchesterkapitalismus.
(Zuruf von der LINKEN)
– Es freut mich, dass Sie das bestätigen. – Diese ständi-
gen Behauptungen Ihrerseits sind aber nicht nur unwahr
und populistisch, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei.PDS, sondern obendrein auch unverant-
wortlich.
(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Wie wäre es
denn mit Sachorientierung?)
8746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Kai Wegner
Die anhaltend gute Konjunktur – das ärgert Sie offen-
sichtlich – hat den Arbeitsmarkt in Deutschland längst
erreicht und bestätigt den von der Bundesregierung ein-
geschlagenen Kurs. Binnen Jahresfrist erhöhte sich die
Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um fast eine
halbe Million. Die Tendenz ist steigend.
Der überaus positive Saldo der Arbeitsmarktzahlen
soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
Stellenabbau gegeben hat. Die medienwirksamsten Fälle
wurden bereits angesprochen; sie sind allgemein be-
kannt. In der Regel handelt es sich hierbei in der Tat um
Managementfehler, die man wahrlich nicht der Bundes-
regierung zuschreiben kann.
In meinem Wahlkreis Berlin-Spandau befinden sich
zahlreiche Industrieunternehmen. Auch dort gab es in
den letzten Jahren Werksschließungen und Stellenabbau.
In meinen Gesprächen mit den Betroffenen konnte ich
die Verzweiflung spüren.
Entlassungen sollten für ein Unternehmen niemals
eine leichte Entscheidung sein. Besonders bei größeren
Unternehmen muss sich das Management auch und ge-
rade seiner sozialen Verantwortung bewusst sein und be-
denken, was es für einen Arbeitnehmer oder eine Arbeit-
nehmerin und deren Familien bedeutet, wenn er oder sie
entlassen wird.
Deshalb ist es für mich völlig unverständlich, wenn
große Konzerne medienwirksam Rekordgewinne ver-
künden und im nächsten Augenblick einen drastischen
Stellenabbau ankündigen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ge-
nau das ist unser Problem!)
– Ich hoffe, Sie bestätigen gleich meinen nächsten
Punkt. – Unverständlich ist für mich aber auch die Wirt-
schaftspolitik der Linkspartei.PDS. Sie ist nicht nur un-
verständlich, sondern auch erfolglos, wie die Zahlen in
Berlin zeigen, wo Sie den Wirtschaftssenator stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Statt sich um Investoren in dieser Stadt zu kümmern
– ich denke dabei zum Beispiel an den Flughafen Tem-
pelhof –, ruft Ihr Senator indirekt zum Boykott von Pro-
dukten von Bayer Schering Pharma auf.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist ja
unglaublich!)
Diese Reaktion auf den angekündigten Stellenabbau ist
wohl kaum dazu geeignet, irgendeinen Arbeitsplatz bei
Bayer Schering Pharma zu retten. Vielmehr macht dieses
Beispiel Ihr gestörtes Verhältnis zur Wirtschaft deutlich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Anstatt um Investoren zu werben, werden diese in der
Bundeshauptstadt beschimpft und vergrault. Berlin ver-
liert nach und nach seine industrielle Grundlage, und den
PDS-Wirtschaftssenator Wolf kümmert das nicht einmal.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Unglaub-
lich!)
Bevor Sie andere verantwortlich machen, sollten Sie
ganz genau dahin schauen, wo Sie regieren und wo Sie
Verantwortung tragen. Ich schlage Ihnen vor: Korrigie-
ren Sie Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik. Die können Sie
korrigieren; denn dafür tragen Sie Verantwortung.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
der LINKEN)
– Das zeigen Ihre Zwischenrufe nur zu deutlich. Ich
freue mich darüber.
Ich verstehe bis heute nicht – ich hoffe, dass Sie es
mir irgendwann einmal erklären werden –, warum Sie
immer noch der Planwirtschaft nachtrauern. Begreifen
Sie endlich: Staatswirtschaft und Planwirtschaft haben
ausgedient. Es ist vorbei. Warum hat die Planwirtschaft
ausgedient? Weil sie im Staatsbankrott endete. Das müs-
sen Sie viel besser wissen als ich.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ralf
Brauksiepe [CDU/CSU]: Das muss man ihnen
immer wieder sagen!)
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, PDS,
statt Unternehmer zu schelten und mit Unterstellungen
zu arbeiten, sollten wir darüber diskutieren, wie wir Be-
schäftigung in Deutschland erhalten und ausbauen kön-
nen. Die großen Unternehmen kennt jeder. Sie werden
viel zu oft mit der deutschen Wirtschaft gleichgesetzt.
Die Realität in diesem Land sieht aber anders aus.
99,7 Prozent von 3,4 Millionen Unternehmen in
Deutschland gehören zum Mittelstand. Er ist der Jobmo-
tor unserer Wirtschaft und sichert den weitaus größten
Teil der Arbeitsplätze in Deutschland. Damit das auch
zukünftig so bleibt, muss der Mittelstand weiterhin im
Fokus der Bundesregierung stehen.
Ich bin ganz optimistisch – die Zahlen zeigen, dass
der Mittelstand wieder einstellt –, dass es im Mittelstand
vorangeht. Der Mittelstand ist wieder optimistisch. Es
gibt mehr Optimisten in unserem Land und damit Poten-
zial für neue Arbeitsplätze. Einzig und allein Sie von der
Linkspartei, PDS haben das noch nicht verstanden und
verwalten Depressionen in unserem Land, die wir nicht
gebrauchen können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte meine Rede mit einem Dank an die klei-
nen und mittelständischen Unternehmer beenden. Sie
leisten einen Beitrag für die Zukunft ihrer Unternehmen
und auch für die Zukunft unseres Landes.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Herbert Schui für
die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8747
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Dobrindt hat mir das Stichwort geliefert. Es geht eigent-
lich gar nicht um ein einzelnes Unternehmen, sondern
ums Ganze. Das Ganze findet – das gilt auch für die Te-
lekom – seinen Anfang bei der Gründung des Gemeinsa-
men Marktes als Vorläufer der EU. Die Idee beim
Gemeinsamen Markt war Deregulierung auf den Güter-
märkten einschließlich der Dienstleistungen als ökono-
mische Güter und darin eingeschlossen die Telekommu-
nikation. Wenn es doch nur bei der Deregulierung der
Gütermärkte geblieben wäre!
Dass sich das Telefonieren verbilligt hat, wie Herr
Dörmann von der SPD sagte, liegt nicht an der Deregu-
lierung oder an der Öffnung des Marktes, sondern vor al-
len Dingen daran, dass sich eine völlig neue Technik in
diesem Bereich durchgesetzt hat.
(Martin Dörmann [SPD]: Das ist eine Kombi-
nation!)
Das ist die logische Konsequenz gerade bei den Tele-
kommunikationsmärkten. Das ist der entscheidende
Punkt. Durch ein wenig Deregulierung können Sie die
Preise nicht senken. Das können Sie nur, wenn die pro-
duktionstechnische Voraussetzung gegeben ist. Lassen
wir es dabei.
Die Grundlage ist, dass über die Deregulierung auf
den Gütermärkten gleichzeitig Wettbewerb auf den Ar-
beitsmärkten geschaffen worden ist. Nun ist es so, dass
die Neueinsteiger im Geschäft der Telekommunikation,
die nicht an Tarifverträge gebunden sind, die Löhne sehr
weit drücken können. Herr Haustein von der FDP hat
ausdrücklich nochmals Flexibilität auf den Arbeitsmärk-
ten gefordert.
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Richtig!)
Das wird den Lohn so lange drücken, bis fast niemand
mehr von der Masse der Bevölkerung telefonieren kann.
Dann haben Sie Ihr Ziel erreicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Dann wird Ihnen wahrscheinlich immer noch nicht deut-
lich werden, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der
Unternehmen auch davon abhängen, wie hoch die Mas-
seneinkommen und damit die Löhne sind. Das ist ein
ganz entscheidender Punkt.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben der EU also zu einem schlechten Start ver-
holfen. Die Deregulierung auf sämtlichen Märkten, da-
mit verbundene Lohnsenkungen, das Infragestellen und
der Abbau der Sozialsysteme, all das führt dazu, dass die
EU keine Staatsidee mehr formulieren kann. Wenn Sie
über Deregulierung und dergleichen sprechen, dann kön-
nen Sie doch nicht in Analogie zur Begründung der
Französischen Republik über Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit reden und auch nicht über das, was in der
Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten steht.
Das Einzige, worüber Sie dann noch reden können, sind
freie Märkte. Das ist keine Staatsidee. So wird aus der
EU niemals ein souveräner Staat. Das ist das Problem.
Wenn Sie so weitermachen, dann wird es selbstver-
ständlich niemals zu einer EU-Verfassung kommen. Die
Erklärungen dafür werden Sie damit zurückweisen, dass
sie populistisch – so hat es Herr Wegner von der CDU/
CSU ausgedrückt – seien. Was ist Ihrer Auffassung nach
populistisch? Immer dann, wenn ein unmittelbar einsich-
tiges und richtiges Argument vorgetragen wird, wenn die
Mehrheit des Volkes dieses Argument bereits verstanden
hat und zu Aktionen neigt, wenn die Politiker allerdings
überhaupt noch nicht begriffen haben, worum es geht,
erklären ebendiese Politiker dieses Argument für popu-
listisch und versuchen, sich aus der Argumentation he-
rauszuwinden.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist ein lausiger Trick.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir
wollen keinen europäischen Staat!)
– Wenn Sie keinen europäischen Staat wollen, dann brin-
gen Sie doch eine Demarche vor, die den Austritt aus der
EU zum Inhalt hat. Warum sind Sie für den Verfassungs-
vertrag, wenn Sie keinen europäischen Staat wollen?
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
eine hat mit dem anderen nichts zu tun!)
Dann können Sie diese ganze Angelegenheit doch ableh-
nen.
Mein letzter Punkt bezieht sich auf den Mittelstand.
In einem Antrag, den die FDP vor einem Jahr einge-
bracht hat, habe ich gelesen, dass Mittelstand eine Gei-
steshaltung ist.
(Heiterkeit bei der LINKEN)
Daraufhin habe ich bei einigen philosophischen Fakultä-
ten nachgefragt, ob Mittelstand eine Geisteshaltung sein
könne. Die Reaktion war bedenkliches Kopfschütteln;
eine richtige Auskunft habe ich nicht bekommen. Man
konnte sie mir nicht geben. Es hieß, so etwas gibt es
nicht.
Dem Mittelstand geht es gut, wenn die gesamtwirt-
schaftliche Nachfrage groß ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Dann können mittelständische Unternehmer mehr Leute
einstellen und ihre Produktionstechnik verbessern. Ihr
Bild von der Wirtschaft ist romantisierend, wenn Sie
glauben, dass nur der mittelständische Unternehmer auf-
grund der ihm eigenen mittelständischen Gesinnung
dann in der Lage ist, mehr zu produzieren, mehr Arbeits-
plätze zu schaffen – und zwar unabhängig von der ge-
samtwirtschaftlichen Nachfrage, unabhängig vom Mas-
seneinkommen –, wenn er hofiert wird und wenn die
Arbeitsverhältnisse flexibilisiert werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Schui!
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Sofort. – Sie können die Wirtschaftstheorie mit Ihrem
Mythos vom Mittelstand nicht ersetzen.
8748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herbert Schui
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter
Haustein [FDP]: Sie haben nichts verstanden!
Das ist das Problem! Sie müssen zuhören! –
Dr. Rainer Wend [SPD]: Das war populis-
tisch!)
– Das war populär.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
war ganz schlimmer Unfug!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Mast für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Katja Mast (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir diskutieren in dieser Aktuellen
Stunde über die Personalpolitik großer Unternehmen in
Deutschland. Die Politik, also wir, kann in unserer
Marktwirtschaft in die Führung von Unternehmen nur
begrenzt eingreifen. Ich spreche hier als Arbeitsmarkt-
politikerin und zeige in meiner Rede daher auf, wo un-
sere Arbeitsmarktpolitik steuernd eingreifen und gestal-
ten kann.
Ich beginne mit einem Beispiel aus der Telekommu-
nikationsbranche. Ein in Vollzeit beschäftigter Mitarbei-
ter in einem Callcenter wird tariflich mit ungefähr
1 600 Euro netto im Monat entlohnt. Ein vergleichbarer
Callcenterangestellter eines Billiganbieters verdient nur
ungefähr 800 Euro netto im Monat, also nur die Hälfte.
Diese Entgeltstruktur hat natürlich Auswirkungen auf
das Preisniveau der angebotenen Dienstleistungen.
Nun seien wir mal ehrlich! Bei welcher Telefonaus-
kunft rufen wir an? Wählen wir, wenn wir zu Hause tele-
fonieren, einen preiswerten Anbieter, der auch preiswert
beschäftigt? Natürlich schauen Verbraucher auf den
Preis, aber auch auf Qualität. Doch wer glaubt, dass wir
diesen Unterschied im Lohngefüge nur durch Qualität
ausgleichen können, der irrt.
Das Beispiel zeigt den Wettbewerbsdruck, unter dem
beispielsweise die Telekom steht. Dynamik in der Perso-
nalstruktur ist ein normaler Vorgang. Der Staat – und da-
mit das Arbeitsrecht – kann in engen Grenzen Einfluss
nehmen, wenn unternehmerische Entscheidungen darauf
abzielen, Unternehmensstrukturen zu ändern, betriebli-
che Organisationen umzugestalten, einen Standortwech-
sel vorzunehmen oder Einsparungen von Arbeitskräften
zu veranlassen.
Gerade das Beispiel der Telekom zeigt aber, dass es
jetzt an den Betriebsparteien liegt, einerseits die notwen-
dige Verbesserung der Servicequalität und andererseits
den Erhalt von Arbeitsplätzen miteinander in Einklang
zu bringen. Beschäftigungssicherung muss dabei natür-
lich ein Ziel sein.
Aber auch dann, wenn ich hier auf die Verantwortung
der Betriebsparteien verweise, gilt: Politik kann handeln.
Ich bin stolz darauf, dass wir bei den Koalitionsverhand-
lungen eine Verständigung darüber erreicht haben, die
Mitbestimmung in Deutschland so zu erhalten, wie sie
war – auch heute noch ist –,
(Beifall bei der SPD)
und zwar bevor wir uns mit den Kolleginnen und Kolle-
gen von der Union an einen Tisch gesetzt haben.
(Ulrich Kelber [SPD], zur CDU/CSU ge-
wandt: Das steht im Koalitionsvertrag! Da
müsst ihr klatschen!)
Bezogen auf die Telekom heißt das: Die Telekom
plant derzeit, ihren Servicebereich umzustrukturieren
und in Servicegesellschaften zu überführen. Die neuen
Servicegesellschaften werden unter dem Dach der Deut-
schen Telekom AG bleiben. Für circa 50 000 Mitarbeiter
bedeutet dies eine Überführung und nicht eine Auslage-
rung. Aufgrund des von mir skizzierten deutschen Mit-
bestimmungsrechts ist es aber nicht möglich, den Tele-
kommitarbeitern von heute auf morgen zu kündigen, ihr
Gehalt zu kürzen oder ihre Arbeitszeit einfach mal so zu
verlängern. Hier hat die Politik den Betriebspartnern
durch die Mitbestimmung große Gestaltungsspielräume
ermöglicht. Darauf bin ich als Sozialdemokratin stolz
– da bin ich ganz ehrlich –; denn Mitbestimmung ist für
uns ein hohes Gut in Deutschland.
Um die Möglichkeiten des politischen Handelns aber
noch an einem anderen Beispiel konkret zu machen,
gehe ich auf die aktuelle Debatte bei den Postdienstleis-
tern ein. Minijobs und Armutslöhne bei den neuen Post-
dienstleistern verdrängen bei der Deutschen Post AG so-
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit tariflicher
Bezahlung. Bei den neuen Postdienstleistern gibt es fast
nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Diese taugen
nur als Hinzuverdienstmöglichkeit mit Zweitjob oder
zum Bezug von aufstockendem Arbeitslosengeld II –
trotz Vollzeitarbeit.
Aber auch hier kann Politik handeln und ist nicht
machtlos.
(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Was?)
Das zeigen uns 20 europäische Nachbarstaaten,
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Genau!)
die einen Mindestlohn eingeführt haben.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Diese Länder sorgen mit ihren Mindestlöhnen für Min-
deststandards. In Deutschland haben wir soziale Min-
deststandards bereits im Arbeitsschutz, Jugendschutz,
Kündigungsschutz und Arbeitszeitgesetz. Nun ist es
meiner Meinung nach an der Zeit,
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Aufzuhö-
ren!)
mit gesetzlichen Regelungen zum Thema Mindestlohn
aktiv zu werden.
Für das Baugewerbe haben wir mit dem Entsendege-
setz schon eine tragfähige Lösung gefunden. Heute Mit-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8749
(A) (C)
(B) (D)
Katja Mast
tag haben wir bereits entschieden, das Entsendegesetz
auf die Gebäudereinigerbranche auszuweiten,
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
reicht aber nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Wei-
tere werden folgen!)
und werden somit für 850 000 Beschäftigte in dieser
Branche ordentliche Löhne garantieren können.
(Beifall bei der SPD)
Wir alle wissen, zu welchen Bedingungen Putzfrauen
und Putzmänner derzeit in Deutschland arbeiten, gerade
auch Putzkräfte aus anderen Ländern, speziell hier in
Berlin. Aber wir haben es in der Großen Koalition ge-
schafft, dass 850 000 Menschen in Deutschland von die-
sem Mindestlohn profitieren. Auch darauf sind wir Sozi-
aldemokraten stolz.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Peter Weiß hat nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Es wäre
schon mal interessant, zu erfahren, was die
Grünen zu der Debatte sagen!)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
dieser von der Linkspartei beantragten Aktuellen Stunde,
die am Freitagnachmittag unter massivem öffentlichen
Interesse stattfindet, wirklich etwas Positives erfahren?
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die
Rede von Herrn Schui hat niemand verstan-
den!)
Wenn man die Reden der beiden Vertreter der Links-
partei zusammenfasst, stellt man erstens fest, dass sie
suggerieren, der Staat, die Bundesregierung könne regu-
lierend in den deutschen Arbeitsmarkt eingreifen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie ist
dazu verpflichtet!)
So soll es Ihrer Meinung nach sein. Das Bild des
Staatsdirigismus, der Planwirtschaft, das die DDR seli-
gen Angedenkens in den Staatsbankrott getrieben hat,
(Zurufe von der LINKEN: Oh!)
soll nun auf die ganze Bundesrepublik ausgedehnt wer-
den. Das ist das Modell.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich finde, das ist ein Schreckensszenario für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.
(Lachen bei der LINKEN)
Zweitens. Die Botschaft der Rede des Kollegen Schui
lautet: Monopole haben etwas Gutes. Er ist gegen Dere-
gulierung und gegen die Öffnung der Märkte. Er hat für
Monopolwirtschaft gesprochen. Es ist doch ein Segen,
dass wir heute auswählen können, dass Angebot und
Nachfrage den Preis bestimmen, dass nicht Monopolun-
ternehmen in verschiedenen Sektoren den Bürgerinnen
und Bürgern die Preise diktieren, gleich ob sie angemes-
sen sind oder nicht. Das ist mit Blick auf den Arbeits-
markt, auf die Möglichkeiten der Verbraucherinnen und
Verbraucher in unserem Land und auf die Chancen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Schreckens-
bild. Arbeitsplätze und wirtschaftlicher Fortschritt wach-
sen unter Wettbewerbsbedingungen und nicht bei Mono-
polstrukturen.
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Sehr gut!)
Die Linkspartei malt hier ein Schreckensbild an die
Wand.
Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen. Die
Verantwortung für das konkrete wirtschaftliche Handeln
der einzelnen Unternehmen liegt zuallererst beim Ma-
nagement. In der Tat erwarten wir auch und gerade von
den Unternehmen, an denen der Bund noch beteiligt ist,
dass das Management zielgerichtete, zukunftsweisende
Entscheidungen trifft. Natürlich wünschen wir auch der
Telekom wirtschaftlichen Erfolg. Wir wünschen, dass sie
sich so aufstellt, dass sie im Wettbewerb mit anderen be-
stehen kann, dass sie sich auf die Zukunft ausrichtet.
Mitverantwortung für die Entscheidungen des Ma-
nagements tragen auch diejenigen, die die Aufsicht füh-
ren. In einem mitbestimmten Unternehmen wie der
Deutschen Telekom tragen übrigens beide Seiten, Ar-
beitnehmerseite und Arbeitgeberseite, in gleichem Maße
– der Aufsichtsrat ist paritätisch besetzt – die Verantwor-
tung. Es ist natürlich bedauerlich, dass diese beiden Sei-
ten in der letzten Aufsichtsratssitzung unterschiedlich
abgestimmt haben und die Entscheidung durch die
Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden gefällt wurde.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist Wirt-
schaftsdemokratie!)
An diesem Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, dass zu
einem erfolgreichen Management auch gehört, die Zu-
sammenarbeit, den Konsens mit den Arbeitnehmerver-
treterinnen und den Arbeitnehmervertretern zu suchen
und solche Kampfabstimmungen, wie sie bei der Tele-
kom stattgefunden haben, möglichst zu vermeiden.
In einer solchen Aktuellen Stunde sollte man keine
Nebelkerzen werfen. Die Verantwortung für die Ent-
scheidungen in den Großunternehmen unseres Landes
– das gilt auch für die Telekom – liegt nicht bei der Bun-
desregierung. Sie liegt auch nicht in den Händen von uns
Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Sie liegt zu-
allererst bei den Unternehmen, bei der Unternehmens-
führung und bei denjenigen, die als Mitglieder des Auf-
sichtsrates die Aufsichtspflicht über diese Unternehmen
wahrnehmen.
Deswegen können die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer aus dieser Aktuellen Stunde nur eines mit-
nehmen: Das, was wir Politiker machen können – das
liegt in unserer Verantwortung –, ist, die richtigen Rah-
menbedingungen zu setzen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Rich-
tig! Genau!)
8750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Peter Weiß (Emmendingen)
Dass wir nach Jahren des Arbeitsplatzabbaus in
Deutschland unter dieser Großen Koalition endlich die
Trendwende geschafft haben, ist für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Großbetrieben ebenso wie für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kleinen und mit-
telständischen Betrieben, die der eigentliche Jobmotor
bei uns in Deutschland sind, die erfreuliche Nachricht.
Es geht wieder aufwärts. Es entstehen wieder Arbeits-
plätze in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit geht deutlich
zurück. Diese Bundesregierung ist auf dem richtigen
Weg. Sie setzt die richtigen Rahmenbedingungen für
eine erfolgreiche Wirtschaft und damit für neue Arbeits-
plätze in Deutschland. Auf diesem Weg wollen wir sie
tatkräftig weiter unterstützen.
Vielen Dank und ein schönes Wochenende.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ich fände es
gut, wenn die Grünen auch einmal dran-
kämen!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Herr Kelber,
reden Sie für die Grünen mit?)
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der Titel dieser Aktuellen Stunde ist recht allge-
mein gehalten. Aber natürlich geht es um die Zukunft
der Arbeitsplätze bei der Deutschen Telekom. Wir wis-
sen, es soll bei der Deutschen Telekom keine Entlassun-
gen geben. Aber für die Beschäftigten geht es um die
Qualität ihrer Arbeitsbedingungen, um die Höhe ihrer
Löhne. Viele haben Angst, dass der Ausgründung in eine
neue Gesellschaft irgendwann der Verkauf dieser Gesell-
schaft folgen könnte, auch wenn das Management hier
beruhigt.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ist
es!)
Politik muss diese Ängste und diese reale Bedrohung
von Arbeitsverhältnissen ernst nehmen. Das heißt aber
nicht, dass wir jetzt aufgefordert sind, wohlfeile Forde-
rungen an das Unternehmen zu stellen. Die neue Leitung
der Deutschen Telekom steht vor großen Herausforde-
rungen, um die knapp 200 000 Arbeitsplätze auf Dauer
gegen einen aggressiven Wettbewerb zu sichern.
Die Probleme der Deutschen Telekom sind sicher
auch hausgemacht, sind Folgen früherer Fehlentschei-
dungen des Managements, aber auch Folgen der beson-
deren Belastungen im Vergleich zu den Wettbewerbern
durch die Privatisierung vor zehn Jahren. Sie sind aber
auch Folgen des Wettbewerbs auf dem Telekommunika-
tionsmarkt. Dieser ist von der Politik gewollt. Durch
seine Preissenkungen hat er den Internetboom der letzten
Jahre überhaupt erst möglich gemacht. Stellen Sie sich
einmal vor, auf die alten Telefonrechnungen wären
Handy- und Internetkosten noch draufgekommen. Das
hätte ein normaler Arbeitnehmer oder eine normale Ar-
beitnehmerin nicht mehr bezahlen können. Von daher
waren der technische Fortschritt und damit verbundene
Preissenkungen natürlich gewollt. Aber dieser Wettbe-
werb hinterlässt seine Spuren, tiefe Spuren.
Nicht zuletzt sind aktuelle technische Neuerungen,
vor allem die Umstellung auf internetprotokollbasierte
Netze, eine entsprechende Herausforderung. Diese
Netze benötigen nur noch 10 bis 20 Prozent des Perso-
nals, das bei den alten Techniken notwendig war. Das ist
die schwierige Aufgabe von Unternehmensleitungen,
Beschäftigten und Gewerkschaften.
Aber auch Politik hat eine Aufgabe. Aufgabe der Po-
litik ist es, zu analysieren, welche Rahmenbedingungen
auf dem Telekommunikationsmarkt in Deutschland und
der Europäischen Union herrschen müssen, um niedrige
Preise, modernste Technologie und gute Arbeitsbedin-
gungen gleichwertig zu gewährleisten.
Ein guter Anlass dafür ist die Überarbeitung der
Regulierung des Telekommunikationsmarktes auf euro-
päischer Ebene. Spätestens mit der Umrüstung auf inter-
netprotokollbasierte Netze sinken die Markteintrittsbar-
rieren für Wettbewerber noch einmal entscheidend. Das
ist der Punkt, an dem man überlegen muss, ob man die
bisherigen Formen der Regulierung eins zu eins fort-
schreibt oder ob man auf ein klares Kartellrecht umstellt,
um eine Regulierung, die Druck in Bezug auf Arbeits-
verhältnisse macht und an bestimmten Stellen auch ein
Hindernis für Investitionen in neue Arbeitsplätze ist, in
ein normales Kartellrecht zu überführen.
Wir müssen eine Antwort darauf finden, warum
Deutschland und die Europäische Union bei den Investi-
tionen in Telekommunikationsnetze hinter die USA,
Asien und auch hinter das Europa, das nicht zur Europäi-
schen Union gehört, zum Beispiel die Schweiz, zurück-
fällt. Diese Investitionen sind die eigentliche Methode,
um neue Nachfrage, neue Märkte und damit auch neue
Arbeitsplätze zu schaffen.
(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])
In den USA entstehen neue Telekommunikationsgi-
ganten, in Asien auch.
In Zukunft werden sich aber nicht nur Telekommuni-
kationsfirmen gegenseitig Konkurrenz machen, wie wir
das heute noch – siehe Zeitungsbeilagen und Plakate –
gewöhnt sind. Es werden ganz andere Firmen auftreten,
denn die Ware Netz, also der Transport von digitalen Da-
ten, wird immer preisgünstiger. Die Konkurrenten der
Telekommunikationsfirmen wie der Deutschen Telekom
heißen in Zukunft Google, Microsoft, Time Warner und
Ebay. Diese unterliegen keiner marktspezifischen Regu-
lierung, sondern werden im Gegenteil von der heutigen
marktspezifischen Regulierung noch mit einem günsti-
gen Zugang in die Netze versehen, während sie in ihrem
eigenen Bereich zum Teil über natürliche Monopole ver-
fügen, nämlich bei den Inhalten.
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: So ist es!)
Telekommunikationsmarkt, Fernsehmärkte und
Märkte anderer digitaler Medien wachsen zusammen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8751
(A) (C)
(B) (D)
Ulrich Kelber
Deutschland und Europa können auf Dauer nicht drei,
sich zum Teil noch widersprechende, marktspezifische
Regulierungen behalten. Wir brauchen eine einheitliche
Regulierung entlang der Maßstäbe eines durchsetzungs-
fähigen Kartellrechts. Es muss durchsetzungsfähig, aber
auf Dauer nicht mehr marktspezifisch sein. Das schafft
neue Luft für Unternehmen wie die Deutsche Telekom
für Investitionen. Würden wir nur das Niveau der USA
und der Schweiz bei Investitionen pro Kopf in die Tele-
kommunikation erreichen, wäre das in der Europäischen
Union eine Verdrei- oder Vervierfachung. Das wären al-
lein für Deutschland zusätzliche 100 000 Arbeitsplätze.
Der Markt für diese Dienstleistungen ist da. Darüber
müssen wir sprechen und dann auch entsprechend han-
deln.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, wir bestreiten am Freitagnachmittag eine sehr be-
merkenswerte Debatte. Bemerkenswert sind insbeson-
dere die Wortmeldungen der Kollegen von der Links-
fraktion.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich frage mich da in der Tat: Was hat es eigentlich den
betroffenen Mitarbeitern der Telekom gebracht, was Sie
hier heute zum Besten gegeben haben? Vor allem bei Ih-
ren Einlassungen, Herr Dr. Schui, die doch sehr philoso-
phisch waren, habe ich erhebliche Zweifel, ob das in der
Sache irgendetwas bewirkt hat. Insofern habe ich schon
die Frage zu stellen, inwieweit es notwendig war, diese
Aktuelle Stunde durchzuführen, wenngleich ich Ihnen
zugestehen will, dass wir uns politisch auch einmal ganz
allgemein über dieses Thema unterhalten und uns genau
ansehen müssen, was in den deutschen Großkonzernen
so abläuft.
Es wäre schön gewesen, wenn wir auch die Meinung
der Grünen hätten erfahren dürfen.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das wäre
gut gewesen!)
Leider war das heute am Freitagnachmittag nicht mög-
lich. Wir verstehen das sicherlich alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aber sagen,
dass ich trotzdem dankbar für diese Debatte bin, gibt sie
doch die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass allen
schlechten Nachrichten zum Trotz, die wir leider zur
Kenntnis nehmen müssen, die Entwicklung auf dem Ar-
beitsmarkt wirklich positiv ist. Ich darf Ihnen noch ein-
mal vortragen, wie die Zahlen, die wir in der letzten Wo-
che zur Kenntnis nehmen durften, aussehen. Wir haben
im Vergleich zum Vorjahr einen Abbau der Arbeitslosig-
keit um über 800 000 Personen.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Wir haben 150 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 Jah-
ren weniger als im Vorjahr. Wir haben im Vergleich zum
Vorjahr 77 000 ältere Arbeitslose weniger. Wir haben
vor allem 452 000 mehr sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse. 452 000 Menschen waren
letztes Jahr noch arbeitslos und haben jetzt wieder eine
Beschäftigung. Ich finde, auch diese Aktuelle Stunde ist
durchaus dazu geeignet, sich noch einmal mit diesen
Menschen zu freuen, die vor einem Jahr noch arbeitslos
waren und jetzt wieder eine Beschäftigung haben.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Gleichwohl gebe ich durchaus zu, es gab und gibt ei-
nen bedenklichen Abbau beim Personal, insbesondere
bei großen deutschen Konzernen. Da ist die Telekom
kein Einzelfall. Wir haben in den letzten Jahren dort lei-
der einiges zur Kenntnis nehmen müssen. Ich möchte
das nicht im Einzelnen vortragen; die Namen sind Ihnen
allen bekannt, ob es nun BenQ, Schering, Alcatel, Allianz
oder Marktkauf ist. Überall dort hat es einen Personalab-
bau in erheblichem Maße gegeben. Ich schließe mich all
denen an, die auch heute noch einmal die Gelegenheit
genutzt haben, um deutlich zu machen, dass man kein
Verständnis dafür haben kann, dass man auf Bilanzpres-
sekonferenzen auf der einen Seite große Gewinne ver-
kündet, auf der anderen Seite aber auf derselben Presse-
konferenz sagt, wir müssen uns leider von einigen
Tausend Mitarbeitern trennen. Dafür habe ich genauso
wenig Verständnis. Deswegen ist es gut, dass wir da-
rüber reden.
Wenn man sich einmal die Bedeutung der DAX-Un-
ternehmen ansieht, stellen wir fest, die 30 DAX-Firmen
haben im letzten Jahr gut 27 Milliarden Euro an Gewin-
nen ausgeschüttet. Sie haben 3,6 Millionen Menschen
beschäftigt. Sie haben trotzdem in den letzten Jahren
44 000 Arbeitsplätze gestrichen.
Herr Schui, wenn Sie sagen, Mittelstand sei eine Geis-
teshaltung,
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hat er
nicht gesagt!)
weise ich zumindest darauf hin, dass im Mittelstand seit
1995 2,4 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden sind.
Ich finde, wir sollten die Debatte heute dazu nutzen, uns
bei den kleinen und mittleren Betrieben in unserem
Lande dafür zu bedanken, dass sie den Mut aufgebracht
haben, in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation
noch neue Arbeitsplätze zu schaffen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Dobrindt
[CDU/CSU]: Mittelstand ist gut!)
Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass man
Arbeitgeber braucht, wenn man Arbeitsplätze haben
will. Wer möchte, dass Arbeitgeber Arbeitsplätze anbie-
ten, muss insbesondere in der Politik dafür sorgen, dass
die Rahmenbedingungen, in denen sich die Wirtschaft
bewegt, wettbewerbsfähig ausgestaltet sind.
8752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Stefan Müller (Erlangen)
Ich finde, dass die Große Koalition seit ihrem Amts-
antritt einiges vorzuweisen hat. Wir haben zum Beispiel
den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung zum
1. Januar dieses Jahres um 2,3 Prozent gesenkt. Auch da
gilt die klare Ansage: Jeder finanzielle Spielraum, der
noch in diesem Jahr aufgrund besserer wirtschaftlicher
Entwicklung und verbesserter Entwicklung auf dem Ar-
beitsmarkt entsteht, muss weitergegeben und genutzt
werden, und zwar nicht für neue Arbeitsmarktpro-
gramme, vielmehr muss er an die Beitragszahler zurück-
gegeben werden. Jeder finanzielle Spielraum muss durch
Senkung der Beiträge sichtbar werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir werden die Politik der Großen Koalition fortfüh-
ren. Wir setzen den Bürokratieabbau fort. Auch darüber
ist schon gesprochen worden. Wir werden noch in die-
sem Jahr ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht auf den
Weg bringen. Das alles sind Dinge, die in letzter Konse-
quenz – Sie werden es erleben – dafür sorgen, dass es
aufgrund der Politik dieser Großen Koalition bis zur
Bundestagswahl 2009 deutlich mehr sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geben wird.
Wir lassen uns auf diesem Weg nicht beirren. Wir wer-
den so weitermachen. Eine konstruktive Mitarbeit der
Opposition wäre erwünscht. Aber im Zweifel schaffen
wir das auch allein.
Herzlichen Dank und schönes Wochenende!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-
lege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
Klaus Barthel (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen diese Diskussion bis zum Ende, weil wir deutlich
machen wollen, dass wir bei dieser Thematik nichts zu
verbergen haben und dieser Diskussion nicht auswei-
chen müssen. Wir hätten diese Debatte nicht gebraucht,
um uns klarzumachen, dass es zum Beispiel bei der Tele-
kom um 50 000 Beschäftigte geht. Das sind mehr als
zehnmal soviel wie bei Airbus, über die wir so viel dis-
kutiert haben. Um die Dimensionen sichtbar zu machen:
Es geht um ein Viertel aller Beschäftigten im gesamten
Telekommunikationssektor. Es geht um ein Drittel der
Inlandsbeschäftigten der Deutschen Telekom AG. Das
sind ungefähr genauso viel, wie bei allen Wettbewerbern
zusammen arbeiten. Um so viele Menschen geht es. Das
ist ein neues Ausmaß des Beschäftigungsabbaus in der
Branche.
Es gibt bisher – wir haben es erlebt – jährlich etwa
zehntausend Arbeitsplätze weniger bei der Telekom.
Aber man muss dazu sagen: Die Gewerkschaften und die
SPD haben gemeinsam dafür gesorgt, dass der Perso-
nalabbauprozess bei der Telekom bisher ohne betriebs-
bedingte Kündigungen ausgekommen ist und immer auf
der Basis von betrieblichen und tarifvertraglichen Rege-
lungen abgelaufen ist. Wir sind sehr froh darüber, dass
wir das trotz aller Schwierigkeiten gemeinsam geschafft
haben.
(Beifall bei der SPD)
Welche Verantwortung gibt es heute noch? Wir kön-
nen natürlich viel über die Liberalisierung auf dem Tele-
kommunikationsmarkt philosophieren. Das ist aber lei-
der Geschichte. Wir müssen feststellen, dass sich der
Markt aus einem Bündel von Gründen, die heute schon
genannt worden sind und die ich nicht wiederholen will,
in einer bestimmten Weise entwickelt. Die Telekom lei-
det unter Sachzwängen, unter Wettbewerbsdruck, unter
Regulierungsdruck und unter Managementfehlern.
Die Frage lautet: Was können der Staat, was kann die
Regierung in dieser Situation tun? Ich denke, eines kann
sie nicht tun. Man muss sich nur einmal überlegen, was
passieren würde, wenn sie das tun würde, was Sie von
der Linkspartei sich offensichtlich vorstellen. Wenn
heute ein Vertreter der Bundesregierung erklären würde,
jetzt einmal so richtig in den Aufsichtsrat und in den
Vorstand hauen zu wollen, weil das alles so nicht geht,
dann möchte ich einmal wissen, was auf den Aktien-
märkten passieren würde. Ich möchte wissen, ob ein ein-
ziger Arbeitsplatz gesichert würde, wenn wir das so
machten, wie Sie es gern hätten.
(Beifall bei der SPD)
Aber was kann man tun? Ich denke, wir müssen dem
neuen Vorstand von Herrn Obermann eine Chance ge-
ben. Denn er hat zwei richtige Ansätze. Er hat erstens
gesagt, dass der Säulenegoismus im Konzern überwun-
den werden muss. Zweitens hat er gesagt: Wir brauchen
Service, Service, Service. Das heißt, Betriebsabläufe
müssen reorganisiert werden, Arbeitsprozesse müssen
verbessert werden, und die EDV muss in Ordnung
gebracht werden. Das ist genau das, worauf die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter des Konzerns sehnsüchtig
warten. Der Konzernbetriebsrat hat öffentlich deutlich
gemacht, dass er hinter diesen Zielen steht.
(Zuruf von der Linken)
Wir rufen dem Herrn Obermann aber gleichzeitig zu,
dass dieser Prozess eben nicht ohne qualifizierte und
motivierte Mitarbeiter und nicht im Niedriglohnbereich
funktioniert. Man kann den Beschäftigten nicht einfach
erklären, dass sie eigentlich zu wenig arbeiten und zu
viel verdienen. Der Prozess funktioniert nur mit den Be-
schäftigten, den Betriebsräten, den Gewerkschaften, der
Präsenz in der Fläche und stabilen Zukunftsperspektiven
für die Beschäftigten. Das muss jetzt aber auf betriebli-
cher Ebene und nicht hier im Deutschen Bundestag und
nicht in der Bundesregierung ausgehandelt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Herr Kelber hat gesagt, dass wir eine Neujustierung
der Regulierungspolitik brauchen. Das möchte ich unter-
streichen. Wir brauchen Rahmenbedingungen auf dem
Arbeitsmarkt – Stichwort: Mindestlohn –, und wir brau-
chen eine Stabilität des jetzigen Minderheitsanteils des
Staates, um eine Zerschlagung des Konzerns zu verhin-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8753
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Barthel
dern, wie uns die Beispiele in anderen Ländern gelehrt
haben.
Eines brauchen wir aber wirklich nicht: Populismus.
Herr Schui, ich will hier nicht über einen europäischen
Staat philosophieren, sondern nur sagen, was wir von Ih-
nen in der Telekommunikationspolitik im letzten Jahr
hier erlebt haben. Sie haben es abgelehnt, Vorruhe-
standsregelungen bei der Telekom, bei der Post und bei
der Bahn zu ermöglichen, obwohl die Konzerne sie
selbst bezahlen wollten, indem Sie die Gesetze, mit de-
nen wir das erlaubten, hier im Deutschen Bundestag ab-
gelehnt haben. Sagen Sie das einmal den Beschäftigten
und den Beamtinnen und Beamten der Telekom.
(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
Gott sei Dank wissen sie das!)
Sagen Sie den Beschäftigten der Telekom außerdem,
dass wir bei der Regulierung nachjustiert haben, dass wir
nämlich zum Beispiel die Voraussetzungen dafür ge-
schaffen haben, dass die Inv
bei der Regulierung begüns
Herr Schui hier damals eine
gedacht hat, er wolle das a
wieder aufleben lassen. Da
nicht zusammen.
Sie können hier keine in
treten. Je nachdem, wie es s
sie zum Beispiel auf dem Rücken von Beamtinnen und
Beamten aus oder Sie sprechen bei der Regulierungspo-
litik von scheinbaren Preissenkungen oder wie auch im-
mer. Solange Sie so argumentieren – auch innerhalb ei-
nes Politikfeldes –, dürfen Sie sich doch nicht wundern,
dass Ihre Kritik, die Sie an der Regierung und dieser Ko-
alition üben, nicht wirklich ernst genommen werden
kann.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr.
Herbert Schui [DIE LINKE]: Sie wird aber
von den Belegschaftsvertretern gebilligt!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Ta-
gesordnung. Ich wünsche Ihnen allen ein schönes, ge-
ruhsames und friedliches Wochenende, das vielleicht
auch Gelegenheit bietet, die heute Nachmittag mehrfach
beschworenen Geisteshaltungen zu prüfen und weiterzu-
n und neuen Einsichten zur
en Bundestages zu erschei-
twoch, den 21. März 2007,
n.
6.38 Uhr)
85. Sitzung, Seite 8625 (B
Satz ist wie folgt zu lesen: „I
Leiter des Nationalen Zentr
schenrechte Professor Saido
die das usbekische Regime v
ein Menschenrechtsdialog a
leicht zu zwei Monologen w
haupt nichts bewegt.“
) zweiter Absatz, der zweite
ch befürchte, so wie ich den
ums Usbekistans für Men-
w und andere kluge Leute,
erteidigen, erlebt habe, dass
uf solchen Veranstaltungen
erden kann und sich über-
estitionen ins Breitbandnetz
tigt werden. Stattdessen hat
Rede gehalten, bei der man
ntimonopolistische Bündnis
s ist Populismus und passt
sich schlüssige Politik ver-
ich gerade ergibt, tragen Sie
entwickeln, um dann mit alte
nächsten Sitzung des Deutsch
nen.
Diese berufe ich auf Mit
13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlosse
(Schluss: 1
Berichtigung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8755
(A) (C)
(B) (D)
ren Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit führen und das
Risiko der Altersarmut erheblich verschärfen. Um die
Steinbach, Erika CDU/CSU 09.03.2007
Aufgrund der völlig unzureichenden beschäftigungs-
und arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen wird
die Anhebung des Renteneintrittsalters zu einem weite-
Dr. Solms, Hermann
Otto
FDP 09.03.2007
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dr. Akgün, Lale SPD 09.03.2007
Bismarck, Carl- Eduard
von
CDU/CSU 09.03.2007
Blumenthal, Antje CDU/CSU 09.03.2007
Blumentritt, Volker SPD 09.03.2007
Flach, Ulrike FDP 09.03.2007
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 09.03.2007
Friedhoff, Paul K. FDP 09.03.2007
Gloser, Günter SPD 09.03.2007
Heller, Uda Carmen
Freia
CDU/CSU 09.03.2007
Hilsberg, Stephan SPD 09.03.2007
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 09.03.2007
Kasparick, Ulrich SPD 09.03.2007
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 09.03.2007
Kühn-Mengel, Helga SPD 09.03.2007
Leibrecht, Harald FDP 09.03.2007
Lenke, Ina FDP 09.03.2007
Lopez, Helga SPD 09.03.2007
Merten, Ulrike SPD 09.03.2007
Otto (Frankfurt), Hans-
Joachim
FDP 09.03.2007
Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 09.03.2007
Reiche (Potsdam),
Katherina
CDU/CSU 09.03.2007
Schily, Otto SPD 09.03.2007
Dr. Schmidt, Frank SPD 09.03.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Andreas
Steppuhn, Lothar Mark, Klaus Barthel,
Rüdiger Veit, Gabriele Hiller-Ohm, Martin
Burkert, René Röspel und Willi Brase (alle
SPD) zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der
Regelaltersgrenze an die demografische
Entwicklung und zur Stärkung der Finanzie-
rungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversi-
cherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz)
(Tagesordnungspunkt 20 c)
Die Anhebung der Altersgrenzen in der gesetzlichen
Rentenversicherung ist aus arbeitsmarkt- und sozialpoli-
tischen Gründen nicht vertretbar. Gegenwärtig sind nur
circa 30 Prozent der 55- bis 64-Jährigen sozialversiche-
rungspflichtig beschäftigt; über 1,2 Millionen Personen
in dieser Altersgruppe sind arbeitslos. Die zuletzt anstei-
gende Zahl der Erwerbstätigenquote der Älteren ist nicht
auf vollwertige Beschäftigungsformen, sondern vor al-
lem auf den Anstieg von Teilzeitarbeit, geringfügiger
und anderer prekärer Beschäftigungsformen – zum Bei-
spiel Ein-Euro-Jobs – zurückzuführen. Nur circa ein
Fünftel der heutigen Rentenzugänge erfolgt unmittelbar
aus einer vollwertigen Erwerbstäigkeit in den Ruhe-
stand. Der weitaus größte Teil kommt aus der Arbeitslo-
sigkeit, der Altersteilzeit oder aus einer geringfügigen
Beschäftigung. Die derzeitige und absehbare Beschäfti-
gungssituation der älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer erfüllt somit keineswegs die Voraussetzun-
gen, die für eine Anhebung der Altersgrenzen notwendig
wären. Deshalb wird die Anhebung der Altersgrenzen
nicht zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit füh-
ren, sondern die Lücke zwischen Berufsaustritt und Ren-
teneintritt vergrößern.
Strothmann, Lena CDU/CSU 09.03.2007
Teuchner, Jella SPD 09.03.2007
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 09.03.2007
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 09.03.2007
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
8756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Langzeitarbeitslosigkeit und die damit verbundene
höchst unzureichende materielle Absicherung – Hartz
IV-Bezug – abzukürzen, werden dann viele Betroffene in
die ihnen verbleibende Frühverrentungsmöglichkeit ge-
drängt und müssen lebenslange Rentenabschläge von bis
zu 14 Prozent in Kauf nehmen. Die Anhebung der Al-
tersgrenzen ist für diesen Personenkreis eine zusätzliche
Rentenkürzung und in wachsendem Maß eine Verschär-
fung der Altersarmut. Es ist sozialpolitisch nicht vertret-
bar, wenn trotz jahrzehntelanger Beitragszahlung im Al-
ter nur eine Armutsrente erreicht wird.
Aufgrund der Rentenanpassungen der vergangenen
Jahre hat die gesetzliche Rentenversicherung schon seit
geraumer Zeit erhebliche Vertrauensverluste erfahren.
Die Anhebung der Regelaltersgrenze wird die Akzep-
tanzschäden vor allem bei den Jüngeren noch verstärken.
Die Beitragssatzentlastung von langfristig maximal
0,5 Prozentpunkten steht nämlich in keinem Verhältnis
zu den Schäden, die die Rentenversicherung durch die
Anhebung der Regelaltersgrenze erleidet.
Eine Anhebung der Regelaltersgrenze ist unter ar-
beitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nur dann vertret-
bar, wenn der Anteil der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigten auf dem ersten Arbeitsmarkt im Jahr 2010
in der Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen im Jahres-
durchschnitt 50 von Hundert übersteigt. Die im vorlie-
genden Gesetzesentwurf enthaltene Bestandsprüfungs-
klausel, wonach in Begleitung der geplanten Anhebung
der Altersgrenzen im Jahr 2010 über die Entwicklung
der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer berichtet werden soll, ist unverbindlich und
sieht keinerlei Konsequenzen bei einer negativen Ar-
beitsmarktentwicklung vor. Zudem mangelt es jetzt
schon an einer überzeugenden Regelung des flexiblen
Übergangs von der Erwerbsarbeit in den Altersruhe-
stand, der vor allem für die Beschäftigten mit schweren
körperlichen oder psychischen Belastungen einen geord-
neten und auch materiell gesicherten Wechsel von der
Erwerbsarbeit in die Rente sicherstellt. Ohne entspre-
chende Gleitregelungen werden die vorhandenen Pro-
bleme bei einer Anhebung der Regelaltersgrenze noch
verschärft. Bestandteile einer neu zuschaffenden Alters-
gleitzeit sind:
Die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundes-
agentur für Arbeit – BA – bleibt ohne Befristung erhal-
ten, sofern auf die frei werdende Stelle ein besonders
schwer vermittelbarer Arbeitsloser eingestellt oder ein
Auszubildender oder eine Auszubildende in ein Arbeits-
verhältnis übernommen wird.
In das Altersteilzeitgesetz werden zusätzliche Mög-
lichkeiten aufgenommen, einen gleitenden Übergang in
den Ruhestand zu fördern. Dazu wird die Möglichkeit
geschaffen, innerhalb eines sechsjährigen Förderplans
die Arbeitszeit zu reduzieren. Eine Absenkung auf
50 Prozent, wie bei der Altersteilzeit, ist nicht erforder-
lich. Die BA fördert die Aufstockungsbeträge des Ar-
beitgebers. Eine komplette Freistellung ist höchstens für
ein Jahr möglich. Zudem müssten die Hinzuverdienst-
grenzen bei der Inanspruchnahme einer Teilrente groß-
zügiger ausgestaltet werden. Ziel ist die Beibehaltung
des vorherigen Nettoeinkommens bei Inanspruchnahme
einer Teilrente; mit dieser ergänzenden Regelung für den
gleitenden Übergang in den Ruhestand sollen insbeson-
dere Beschäftigte in den klein- und mittelständischen
Betrieben gefördert werden.
Es bedarf einer Neuordnung der Erwerbsminderungs-
renten. Vor allem Beschäftigten in besonders belasten-
den Berufen ist der Zugang in eine Erwerbsminderungs-
rente zu erleichtern. Dabei ist sicherzustellen, dass der
durch eine Erwerbsminderung bedingte Austritt aus dem
Erwerbsleben Altersarmut vermeidet.
Ohne die Perspektive eines nachvollziehbaren und
materiell auskömmlichen Übergangs von der Erwerbsar-
beit in die Rente werden die vorhandenen Ängste und
Unsicherheiten bei vielen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern nur noch verstärkt. Eine Neuordnung des
Rentenzugangs aus einem Guss, in der die flexiblen
Gleitmöglichkeiten gleichrangig neben anderen Rege-
lungen treten, ist auch zeitlich möglich, da ein akuter
Zeitdruck nicht ersichtlich ist.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Andrea Wicklein, Iris
Gleicke, Andrea Nahles, Peter Friedrich, Dr.
Margrit Spielmann, Petra Bierwirth, Lothar
Binding (Heidelberg), Rolf Kramer, Katja
Mast, Annette Fasse, Renate Gradistanac,
Dirk Manzewski, Christian Lange (Backnang)
Heinz Schmitt (Landau), Petra Heß, Johannes
Pflug, Petra Weis, Uta Zapf, Manfred Zöllmer,
Marko Mühlstein und Christel Riemann-
Hanewinckel (alle SPD) zur namentlichen Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stärkung
der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpas-
sungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 20 c)
Wir stimmen dem oben genannten Gesetzentwurf zu.
Wir tun dies, um die gesetzliche Rentenversicherung
langfristig zu stabilisieren und auf eine solide Finanz-
grundlage zu stellen. Angesichts der steigenden Lebens-
erwartung und der gesunkenen Geburtenrate ist dieser
Schritt notwendig, damit die gesetzliche Rentenversi-
cherung auch künftig als wichtigste Säule der Alters-
versorgung durch die Beitragszahler finanzierbar bleibt.
Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, um mit dieser
langfristig angelegten strukturellen Reform einen Bei-
trag zur gerechten Verteilung der Lasten zwischen den
Generationen zu leisten.
Wir tun dies aber auch, weil die Potenziale älterer
Menschen im Arbeitsleben besser als bisher genutzt wer-
den müssen. Der Alterungsprozess in unserem Land ist
langfristig unumkehrbar. Deshalb brauchen wir in Poli-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8757
(A) (C)
(B) (D)
tik, Gesellschaft und Wirtschaft ein Umdenken zuguns-
ten älterer Menschen. Denn die Anpassung der Alters-
grenzen ist nur dann sinnvoll, wenn es gleichzeitig zu
einer echten Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommt.
Viel zu oft sind Ältere gegen ihren Willen von der Ar-
beitswelt ausgeschlossen und bleiben ihre Fähigkeiten
und Erfahrungen ungenutzt.
Wir verbinden unsere Zustimmung mit der Erwar-
tung, dass noch in diesem Jahr flankierende Regelungs-
vorschläge in den Deutschen Bundestag eingebracht
werden.
Dazu zählt für uns insbesondere, dass auch künftig ab
dem 55. Lebensjahr gleitende Übergänge in den Ruhe-
stand möglich sein müssen. Gerade die Altersteilzeit hat
sich als erfolgreiches und attraktives arbeitsmarktpoliti-
sches Instrument erwiesen, um Älteren eine flexible Ar-
beitszeitreduzierung zu ermöglichen. Hier müssen In-
strumente entwickelt werden, damit die flexiblen
Möglichkeiten der Altersteilzeit sowie der gleitende Ein-
stieg Jüngerer stärker als bisher genutzt werden. Die Al-
tersteilzeit muss zu einer Altersgleitzeit werden.
Die Teilrente aus der gesetzlichen Rentenversiche-
rung bei gleitenden Altersübergangsmodellen muss at-
traktiver gestaltet werden. Dazu zählen außerdem ver-
besserte Zuverdienstmöglichkeiten, ein Teilrentenbezug
bereits ab dem 60. Lebensjahr sowie erweiterte Möglich-
keiten zur Aufstockung des Rentenversicherungsbeitra-
ges.
Gerade in Branchen mit körperlich oder psychisch
stark belastenden Tätigkeiten sollte die Möglichkeit von
Zusatzbeiträgen zur Rentenversicherung geschaffen
werden. Diese können dann von den Tarifpartnern aus-
gestaltet werden. Dazu gehört aber auch, dass ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit gesundheitli-
chen Einschränkungen die Möglichkeit erhalten, den
Umfang ihrer Erwerbstätigkeit ihrem gesundheitlichen
Leistungsvermögen anzupassen.
Nicht zuletzt gehören zu einer altersgerechten Ar-
beitswelt und zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue For-
men der Qualifizierung und Weiterbildung, der Arbeits-
gestaltung und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes –
die Humanisierung der Arbeitswelt.
Wir sind der festen Überzeugung, dass der oben ge-
nannte Gesetzentwurf nur in Verbindung mit diesen un-
terstützenden Maßnahmen eine angemessene Antwort
auf die Herausforderungen des demografischen Wandels
darstellt.
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Anpassung der Regelal-
tersgrenze an die demografische Entwicklung
und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen
der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Al-
tersgrenzenanpassungsgesetz) (Tagesordnungs-
punkt 20 c)
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Ich stimme dem Ge-
setzentwurf zu, weil ich die Rente mit 67 als Finanzie-
rungsmechanismus für die Rente der Zukunft betrachte.
Die wachsende Lebenserwartung verlängert die Renten-
bezugszeit. Die demografische Entwicklung bringt es
mit sich, dass zum einen die Lebenserwartung und damit
die Bezugsdauer der Rente wächst und zum anderen im-
mer weniger junge Menschen die Renten für immer
mehr ältere erwirtschaften. Mir ist wichtig, dass junge
Menschen in Zukunft nicht mit unvertretbar hohen Bei-
tragssätzen zur Rentenversicherung belastet werden und
im Alter eine Rente beziehen können, die dem heutigen
Niveau entspricht.
Ich betrachte aber die Rente mit 67 als Herausforde-
rung und als Chance, die Arbeitsbedingungen für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grundlegend zu
verbessern, damit die Menschen auch tatsächlich bis
zum Alter von 67 Jahren in Würde arbeiten und gesund
in die Rente eintreten können.
Gesetzliche Regelungen sollten die Verbesserung fol-
gender Bedingungen zum Ziel haben: erstens Schaffung
altersgerechter Arbeitsplätze gerade im Niedriglohnsek-
tor, die zurzeit durch Leistungsverdichtung so gut wie
nicht mehr existent sind, zweitens Ermöglichen eines
gleitenden Übergangs in den Ruhestand ab dem 55. Le-
bensjahr, drittens Förderung des präventiven Gesund-
heitsschutzes durch Kuren und Erholungsmaßnahmen,
viertens Gestaltung flexibler altersgerechter Arbeitszei-
ten und Schutz von Arbeitszeitkonten vor Insolvenz,
fünftens Sicherung des Zugangs zur Erwerbsminde-
rungsrente, sechstens Sicherung von Qualifizierungs-
maßnahmen auch für ältere Beschäftigte und siebtens
Einführung eines Mindestlohns für alle Branchen, um
die Rentenbeiträge zu sichern.
Auch wenn alle diese Punkte bereits Gegenstand der
Tarifpolitik sind, muss die Politik in Zusammenarbeit
mit den Tarifparteien die Aufgabe übernehmen, gesetz-
lich für alle Beschäftigten möglichst gleiche Bedingun-
gen zu schaffen.
Unser Ziel muss sein, bis zum Jahr 2010 die oben ge-
nannten Punkte neben der wirtschaftlichen Entwicklung
und der Entwicklung am Arbeitsmarkt gleichwertig in
Betracht zu ziehen.
Ich begrüße es, dass es uns gelungen ist, die Vorbe-
haltsklausel nicht in der Präambel, sondern im Gesetzes-
text zu verankern.
Meine Zustimmung sehe ich als Verpflichtung, an der
Umsetzung der oben genannten Punkte zu arbeiten und
mich an der Gestaltung einer humaneren zukünftigen
Arbeitswelt zu beteiligen.
Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Ich stimme dem
Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finan-
zierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversiche-
8758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
rung zu. Die schrittweise Anhebung des Renteneintritts-
alters auf 67 Jahre ist ein notwendiger, wenn auch noch
nicht hinreichender Beitrag, um die Zukunft der gesetzli-
chen Rentenversicherung zu sichern. Es ist ein großes
Verdienst der Großen Koalition, dieses Vorhaben umzu-
setzen.
Ich habe allerdings schwerwiegende Bedenken gegen
§ 38 SGB VI. Die vorgesehene Einführung einer Alters-
rente für besonders langjährig Versicherte, die nach einer
Wartezeit von 45 Jahren einen vorzeitigen abschlags-
freien Rentenzugang mit 65 Jahren ermöglichen soll, ist
gut gemeint, aber sozial ungerecht und verfassungswid-
rig.
Wer die neue Altersrente für besonders langjährig
Versicherte beanspruchen kann und dennoch bis zum he-
raufgesetzten gesetzlichen Eintrittsalter weiterarbeitet,
muss nach § 38 trotz zusätzlich geleisteter Rentenversi-
cherungsbeiträge mit einer geringeren Rentengesamt-
leistung rechnen als beim Renteneintritt mit 65 Jahren.
Diese soziale Ungerechtigkeit ist einzigartig im deut-
schen Sozialversicherungsrecht: Wer mehr einzahlt, be-
kommt weniger heraus.
Es ist unsozial, dass Versicherte mit besonders vielen
Beitragsjahren und damit überdurchschnittlichen Ren-
tenansprüchen durch vorzeitigen abschlagsfreien Ren-
tenbezug privilegiert werden, weil dies von allen Versi-
cherten, die nicht die Wartezeit von 45 Jahren erfüllen,
bezahlt werden muss. Im Klartext: Wer eine niedrigere
Rente hat, bezahlt die längere Laufzeit der Renten mit
höheren Ansprüchen.
Es ist unsozial, dass Rentner, die zeitweise nicht ren-
tenversicherungspflichtige Tätigkeiten ausgeübt haben,
diskriminiert werden. Denn nach § 38 führen gleich hohe
Beiträge dieser Versicherten zu einer geringeren Renten-
gesamtleistung, weil die Rentenlaufzeit geringer ist.
Diese unsoziale Wirkung gilt zum Beispiel für Personen,
die zeitweise als nichtversicherungspflichtige Selbstän-
dige erwerbstätig waren, oder für Frauen, die aus fami-
liären Gründen über mehrere Jahre nicht rentenversiche-
rungspflichtig tätig waren.
Die Altersrente für besonders langjährig Versicherte
ist zudem gemäß Art. 3 Grundgesetz verfassungsrechtlich
zweifelhaft. Das Bundessozialgericht hat schon die bishe-
rige Ausnahmeregelung für Versicherte, die 45 Jahre mit
Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder
Tätigkeit haben (§ 236 Abs. 2 SGB VI), für verfassungs-
widrig befunden und daher mit Beschluss vom 16. Mai
2006 dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt (Bundes-
sozialgericht, 4. Senat, Vorlagebeschluss vom 16. Mai
2006, B 4 RA 5/05 R).
Verfassungsrechtliche Zweifel bestehen vor allem,
weil die Altersrente für besonders langjährig Versicherte
dazu führt, dass Versicherte mit gleicher Beitragsleis-
tung, aber unterschiedlich langer Dauer der Beitragszah-
lung ohne sachlichen Grund verschieden behandelt wer-
den. Dies legt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1
Grundgesetz nahe. Diejenigen Versicherten, die diese
Altersrente in Anspruch nehmen können, profitieren von
einer grundsätzlich längeren Rentenlaufzeit und damit
einer höheren Rentensumme. Nach dem zukünftigen
Recht werden also allein aufgrund der Dauer der Bei-
tragszahlung unterschiedlich hohe Renten geleistet. Da-
mit wird vom Prinzip der Teilhabeäquivalenz abgewi-
chen. Eine sachliche Rechtfertigung für die mit der
Altersrente für besonders langjährig Versicherte verbun-
dene Ungleichbehandlung fehlt. Insbesondere kann nicht
aus der Erfüllung der Wartezeit von 45 Jahren auf eine
besonders belastende Berufstätigkeit geschlossen wer-
den. Dies gilt schon deshalb, weil bei der Berechnung
der Wartezeit auch Zeiten berücksichtigt werden, in de-
nen eine Berufstätigkeit nicht ausgeübt wird zum Bei-
spiel Zeiten des Vorruhestands, der Erziehung, der
Krankheit.
Außerdem führt § 38 SGB VI zu einer mittelbaren in-
direkten Diskriminierung von Frauen und damit mögli-
cherweise zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1
Grundgesetz. Denn nach einer Stichprobenauswertung
der Deutschen Rentenversicherung Bund für den Ren-
tenzugang 2004 hätten 27 Prozent aller Männer, aber nur
4 Prozent aller Frauen von der Privilegierung durch die
Altersrente für besonders langjährig Versicherte profitie-
ren können, das heißt rund 85 Prozent der Begünstigten
wären Männer gewesen. Auch langfristig wird davon
ausgegangen, dass sehr viel mehr Männer als Frauen die
Altersrente für besonders langjährig Versicherte in An-
spruch nehmen können.
Josip Juratovic (SPD): Ich stimme dem Gesetzent-
wurf zur Anpassung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre zu, weil ich die so genannte Rente mit 67 als Fi-
nanzierungsmechanismus für die Rente in der Zukunft
betrachte. Die wachsende Lebenserwartung verlängert
die Rentenbezugszeit. Die demografische Entwicklung
bringt es mit sich, dass immer weniger junge Menschen
die Renten für immer mehr ältere erwirtschaften. Das
sind Fakten. Es ist mir deshalb wichtig, dass junge Men-
schen in Zukunft nicht mit unvertretbar hohen Beitrags-
sätzen zur Rentenversicherung belastet werden und im
Alter eine Rente beziehen können, die dem heutigen Ni-
veau entspricht.
Allerdings sind die Menschen verunsichert. Sie haben
Angst ob und unter welchen Bedingungen sie bis zum
Renteneintritt arbeiten werden. Aus meiner eigenen
langjährigen Erfahrung im Betrieb und am Fließband
weiß ich, dass es in der heutigen Situation einige nicht
einmal schaffen, bis zum Alter von 60 Jahren zu arbeiten
und schon gar nicht bis 65, geschweige denn bis
67 Jahre.
Ich betrachte aber die Rente mit 67 als Herausforde-
rung und Chance, die Arbeitsbedingungen für ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer grundlegend zu ver-
bessern, damit die Menschen auch bis zum Alter von
67 Jahren in Würde arbeiten und gesund in die Rente
eintreten können.
Es gilt durch gesetzliche Regelungen folgende Bedin-
gungen zu verbessern:
Erstens. Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze ge-
rade im Niedriglohnsektor, die zurzeit durch Leistungs-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8759
(A) (C)
(B) (D)
verdichtung so gut wie nicht mehr existent sind; zwei-
tens: Ermöglichen eines gleitenden Übergangs in den
Ruhestand ab dem 55. Lebensjahr; drittens: Förderung
des präventiven Gesundheitsschutzes durch Kuren und
Erholungsmaßnahmen; viertens: Gestaltung flexibler al-
tersgerechter Arbeitszeiten und Schutz der Arbeitszeit-
konten vor Insolvenz; fünftens: Sicherung des Zugangs
zur Erwerbsminderungsrente; sechstens: Sicherung von
Qualifizierungsmaßnahmen auch für ältere Menschen;
siebentens: Einführung eines Mindestlohns für alle
Branchen, damit die Rentenbeiträge gesichert sind.
Sicherlich sind alle diese Punkte bereits Gegenstand
der Tarifpolitik. Doch angesichts der Tatsache, dass ge-
rade einmal 40 Prozent der Betriebe tarifgebunden sind,
muss die Politik in Zusammenarbeit mit den Tarifpar-
teien die Aufgabe übernehmen, gesetzlich für alle Be-
schäftigten möglichst gleiche Bedingungen zu schaffen.
Ich begrüße es, dass es uns gelungen ist, die Vorbe-
haltsklausel nicht in der Präambel, sondern im Gesetzes-
text zu verankern. Unser Ziel muss sein, bis zum Jahr
2010 die oben genannten Punkte neben der wirtschaftli-
chen Entwicklung und der Entwicklung am Arbeits-
markt gleichwertig in Betracht zu ziehen.
Meine Zustimmung sehe ich als Verpflichtung an der
Umsetzung der oben genannten Punkte zu arbeiten und
mich an der Gestaltung einer humaneren zukünftigen
Arbeitswelt zu beteiligen.
Christian Kleiminger (SPD): Dem Gesetzentwurf
stimme ich zu, um die gesetzliche Rentenversicherung
langfristig zu stabilisieren und auf eine solide Finanz-
grundlage zu stellen. Vor dem Hintergrund steigender
Lebenserwartung und der gesunkenen Geburtenrate in
Deutschland ist dieser Schritt notwendig, damit die ge-
setzliche Rentenversicherung auch künftig als wichtigste
Säule der Altersversorgung durch die Beitragszahler fi-
nanzierbar bleibt.
Allerdings ist die Anpassung der Altersgrenzen nur
dann sinnvoll, wenn es gleichzeitig zu einer nachhalti-
gen Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommt. Nicht zu-
letzt gehören zu einer altersgerechten Arbeitswelt und
zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue Formen der
Arbeitsgestaltung, des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
sowie der Qualifizierung und Weiterbildung.
Meine Zustimmung knüpfe ich an die Erwartung,
dass bis Ende dieses Jahres flankierende Regelungsvor-
schläge in den Deutschen Bundestag eingebracht wer-
den. Dazu zählt, dass auch künftig gleitende Übergänge
in den Ruhestand möglich sein müssen. Die Teilrente
aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei gleitenden
Altersübergangsmodellen muss attraktiver gestaltet
werden. Dazu zählen außerdem verbesserte Zuver-
dienstmöglichkeiten, ein flexiblerer Teilrentenbezug
sowie erweiterte Möglichkeiten zur Aufstockung des
Rentenversicherungsbeitrages. Älteren Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern mit gesundheitlichen Ein-
schränkungen muss weiterhin ermöglicht werden, den
Umfang der Erwerbstätigkeit ihrem gesundheitlichen
Leistungsvermögen anzupassen. Insoweit muss mehr
Flexibilität beim Zugang zu Erwerbsminderungsrenten
erreicht werden.
Ich bin der Überzeugung, dass der Gesetzentwurf nur
in Verbindung mit diesen unterstützenden Maßnahmen
eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen
des demografischen Wandels darstellt.
Dr. Bärbel Kofler (SPD): Zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Regelalters-
grenze an die demografische Entwicklung und zur
Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung – kurz: RV-Altersgrenzenanpas-
sungsgesetz – in der 2. und 3. Lesung der 86. Sitzung des
16. Deutschen Bundestags erkläre ich:
Nach langer und reiflicher Überlegung habe ich mich
dazu entschlossen, mich bei der Abstimmung zu dem
Gesetzentwurf des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes
der Fraktionen CDU/CSU und SPD zu enthalten.
Für die weitere Diskussion des Themas erachte ich es
als wichtig, dass die im Gesetzentwurf enthaltene Be-
standsprüfungsklausel – §154 Abs. 4 Satz 1 und 2 –, nach
der im Jahr 2010 über die Entwicklung der Beschäftigung
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berichtet
werden soll, verbindlichen Charakter erhält. Wichtig wäre
es, die Anhebung des Renteneintrittsalters nur dann zu
vollziehen, wenn der Anteil der sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigten in der Altersgruppe der 55- bis
65-Jährigen auf dem ersten Arbeitsmarkt die 50-Pozent-
Marke im Jahresdurchschnitt übersteigt. Nur so kann mei-
ner Ansicht nach eine Verbindlichkeit der Bestandsprü-
fungsklausel hergestellt werden und auf negative Arbeits-
marktentwicklungen für die von mir angeführte
Altersgruppe reagiert werden.
Ich spreche mich auch entschieden dafür aus, dass der
Übergang von Erwerbsarbeit in das Rentenalter besser
geregelt werden muss. Geeignete Maßnahmen insbeson-
dere bei der Altersteilzeit sind zu ergreifen.
Die arbeitsmarktbedingte Erwerbsminderungsrente soll
ausgebaut werden. Dabei ist meines Erachtens die Recht-
sprechung des Bundessozialgerichtes zu berücksichtigen.
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Die Anhebung der
Mindestaltersgrenze für den Renteneintritt von 65 auf
67 Jahre bedeutet faktisch eine Rentenkürzung, die zwar
erst ab dem Jahre 2012 zu wirken beginnt, aber schon
heute beschlossen wird, damit sich zumindest ein Teil
der Bevölkerung noch auf diese Maßnahme einstellen
kann. Das Ziel ist die Stabilisierung der Beitragssätze im
Rahmen der Alterung der Gesellschaft. Dabei werden
die Lasten insbesondere von den älteren Menschen be-
zahlt, die trotz der Bemühungen der Politik im Alter ar-
beitslos sein werden. Weil aber insgesamt mehr Men-
schen in Zukunft zwischen 60 und 67 Jahre alt sein
werden, könnte die Arbeitslosigkeit im Alter sogar stei-
gen. Sie betrifft insbesondere Arbeitnehmer mit geringer
Qualifikation und ohne Ausbildung. Für diese Menschen
8760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
ist die Arbeitslosigkeit im Alter siebenmal so hoch wie
für Akademiker.
Es gibt zwei gravierende Gerechtigkeitsprobleme in
diesem Zusammenhang, die besonders bedeutsam sind.
Erstens werden viele ältere Menschen aus gesundheitli-
chen Gründen nicht bis 67 Jahren arbeiten können und
daher arbeitslos sein. Formal wird man sie nicht als ar-
beitsunfähig zählen, faktisch sind sie es aber. Durch die
Rente mit 67 wird ihr Rentenanspruch weiter gekürzt.
Sie werden es als ungerecht empfinden, dass sie erst
krank, dann arbeitslos und schließlich altersarm sein
werden, insbesondere im Licht ihrer ohnedies reduzier-
ten Lebenserwartung infolge chronischer Krankheit.
Zweitens benachteiligt die Rente mit 67 systematisch
diejenigen, die eine kurze Lebenserwartung haben. Das
gilt im Durchschnitt für alle arbeitenden Geringverdie-
ner in Deutschland, da die Lebenserwartung im Durch-
schnitt mit dem Einkommen korreliert. Die Einkom-
mensschwachen haben eine Lebenserwartung, die im
Durchschnitt sieben bis zehn Jahre kürzer ist als die Ein-
kommensstarken. Somit wirkt sich die mit der Rente mit
67 einhergehende Kürzung der durchschnittlichen Be-
zugsdauer der Rente für diese Menschen besonders stark
aus. Relativ wird die Rendite der Rente für Geringver-
diener stärker gekürzt als für Gutverdiener.
Beide Ungerechtigkeiten sind aus der Sicht einer ge-
rechten Rentenpolitik schwer nachvollziehbar und be-
dürfen der Korrektur. Der beste Weg dafür wäre ein Aus-
bau der Erwerbsminderungsrente, die in Deutschland
stärker reduziert wurde als in den skandinavischen Län-
dern, England oder den Niederlanden. Sie beseitigt am
besten die Rentenungerechtigkeiten die dadurch entste-
hen, dass sich Krankheit und Arbeitslosigkeit und Armut
im Sinne eines Teufelskreises gegenseitig bedingen.
Dazu sollen in Zukunft Konzepte diskutiert und geprüft
werden. Nur aufgrund entsprechender Zusagen des Mi-
nisters stimme ich dem Entwurf eines „RV-Altersgren-
zenanpassungsgesetz“ der Fraktionen von SPD und
CDU/CSU zu.
Christoph Strässer (SPD): Nach langen, gründli-
chen Überlegungen werde ich trotz grundlegender Be-
denken heute bei der namentlichen Abstimmung dem
Entwurf des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes zu-
stimmen, nachdem ich mit anderen Kolleginnen und
Kollegen bei einer entsprechenden Abstimmung in der
SPD-Bundestagsfraktion deutlich unterlegen bin.
Ich unterwerfe mich damit den Grundregeln über die
Zusammenarbeit in der Fraktion, denen ich freiwillig zu-
gestimmt habe, da das geplante Gesetzesvorhaben trotz
weiter bestehender Bedenken für mich nicht den Rang
einer „Gewissensentscheidung“ annimmt.
Die Gründe hierfür sind wir folgt:
Erstens. Es ist unbestreitbar, dass der aktuelle Zustand
und die vorhersehbare Entwicklung im Bereich der Ren-
tenversicherung ein „Weiter so“ ohne Veränderung nicht
zulassen. Angesichts der sich dramatisch verändernden
tatsächlichen Relationen zwischen Beitragszahlern und
Leistungsempfängern, der – erfreulicherweise – steigen-
den Lebenserwartung und der damit verbundenen deutli-
chen Verlängerung der Rentenbezugsdauer bei gleichzei-
tigem – unterschiedlich begründeten – Rückgang der
Beitragseinnahen kann und darf auch die Anhebung des
gesetzlichen Renteneintrittsalters kein Tabu sein. Dies
gebietet allein schon die Anwendung der allgemein ak-
zeptierten Regeln der Grundrechenarten, wenn man
nicht aktuell an Leistungskürzungen und/oder drastische
Beitragssatzanhebungen heranwill. Die stufenweise An-
hebung der Altersgrenze ab 2012 kann deshalb auch ein
Betrag zur Verwirklichung von Generationengerechtig-
keit sein.
Zweitens. Dies ist die aktuelle und vorhersehbare sta-
tistische Wirklichkeit. Daneben existiert aber auch eine
aktuelle Lebenswirklichkeit, die jenseits aller statisti-
schen Berechnungen aktuell eine sofortige Anhebung
der Altersgrenze aus arbeitsmarkt- wie sozialpolitischen
Gründen verbietet. Dazu zählen die Arbeitsmarktbedin-
gungen für ältere Menschen sowie die in vielen Berei-
chen insbesondere harter körperlicher Tätigkeiten gege-
bene tatsächliche Unmöglichkeit, beispielsweise
45 Jahre oder bis zum 67. Lebensjahre sozialversiche-
rungspflichtig zu arbeiten. Für all diese Menschen würde
in der Tat eine ausnahmslose und nicht durch flankie-
rende Maßnahmen begleitete unmittelbare Anhebung zu
verstärkter Altersarmut fuhren und wäre insoweit nicht
zu rechtfertigen.
Drittens. Um trotz der unter „Zweitens“ geäußerten
Bedenken eine Zustimmung zu rechtfertigen, bedarf es
deshalb zusätzlicher Überlegungen und Maßnahmen, die
durch den Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion vom
06. März 2007 gewährleistet sind. Im Einzelnen handelt
es sich hierbei um folgende Grundgedanken: Ohne eine
klar erkennbare und nicht nur theoretische Verbesserung
der Arbeitsmöglichkeiten Älterer muss im Jahr 2009 von
der „Revisionsklausel“ Gebrauch gemacht und die An-
hebung der Altersgrenze gestoppt werden. Die Arbeits-
bedingungen und die gesundheitsschonende Gestaltung
der Arbeitsplätze sind gezielt voranzutreiben. Die Über-
gänge in den Ruhestand ab dem 55. Lebensjahr sind wei-
terhin flexibel zu gestalten, ein gleitender Übergang
muss möglich bleiben. Ein zumindest anteiliger Renten-
bezug ab dem 60. Lebensjahr muss möglich sein, für
Versicherte mit 35 Beschäftigungsjahren muss es wie zur
Zeit möglich bleiben, mit 63 in Altersrente zu gehen. Die
Teilrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei
gleitenden Altersübergangsmodellen muss attraktiver
gestaltet werden. Dazu zählen auch verbesserte Zuver-
dienstmöglichkeilen sowie weitere Möglichkeiten zur
Aufstockung des Rentenversicherungsbeitrages. Insbe-
sondere in Bereichen mit körperlich und/oder psychisch
stark belastenden Tätigkeiten sollte die Möglichkeit von
Zusatzbeiträgen zur Rentenversicherung geschaffen
werden. Es gehört auch dazu, dass ältere Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Ein-
schränkungen die Möglichkeit erhalten, den Umfang
ihrer Erwerbstätigkeit ihrem Leistungsvermögen anzu-
passen.
Das Gesetz wird nur dann eine angemessene Antwort
auf die zukünftigen Anforderungen an ein gerechtes
Rentensystem darstellen, wenn die unter „Drittens“ ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8761
(A) (C)
(B) (D)
nannten flankierenden Maßnahmen durchgeführt werden
und sich bei einer ständigen Überprüfung der Arbeits-
marktsituation ergibt, dass tatsächlich die Beschäfti-
gungschancen älterer Menschen in den nächsten Jahr-
zehnten, anders als gegenwärtig, sich so entwickeln,
dass überhaupt die angegebenen Zielsetzungen erreicht
werden. Das bedeutet, dass im Jahr 2010 – erster Zeit-
punkt der Überprüfung – der Anteil der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten in der Altersgruppe der
55- bis 65-Jährigen im Jahresdurchschnitt bei über
50 Prozent liegen muss, dass die Förderung der Alters-
teilzeit durch die BA ohne Befristung erhalten bleibt, so-
fern auf die zu besetzende Stelle ein besonders schwer
zu vermittelnder Arbeitsloser eingestellt oder ein Auszu-
bildender in ein Arbeitsvcrhältnis übernommen wird,
und dass bei einer Neuordnung der Erwerbsminderungs-
rente Beschäftigten in besonders belastenden Berufen
der Zugang in eine Erwerbsminderungsrente zu erleich-
tern ist. Ziel ist, bei einem durch Erwerbsminderung be-
dingten Austritt aus dem Erwerbsleben Altersarmut zu
vermeiden.
Werden die vorstehenden Bedingungen nicht erreicht,
muss bei einer Überprüfung im Sinne der im Gesetz ent-
haltenen Revisionsklausel die Anhebung der Alters-
grenze rückgängig gemacht werden.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ortwin Runde, Renate
Schmidt (Nürnberg), Elke Ferner, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Lothar Mark, Petra Merkel
(Berlin), Marlene Rupprecht (Tuchenbach),
Ulla Burchardt, Dirk Manzewski, Christian
Kleiminger, Marko Mühlstein, Dr. Margrit
Spielmann, Sönke Rix, Dr. Rainer Tabillion,
Reinhold Hemker, Angelika Krüger-Leißner,
Frank Hofmann (Volkach), Mechthild Rawert,
Renate Gradistanac, Hilde Mattheis, Wolfgang
Spanier, Martin Burkert, Ute Kumpf, Gabriele
Hiller-Ohm, Jürgen Kucharczyk und Christel
Humme (alle SPD) zur namentlichen Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung zu dem
Antrag der Bundesregierung: Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
einer Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386
(2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003),
1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 21 a)
Seit über fünf Jahren ist die Bundesrepublik Deutsch-
land aktiv am Aufbau von staatlichen und gesellschaftli-
chen Strukturen sowie in verschiedenen Bereichen der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Afghanistan enga-
giert. Seit Ende 2001 war Deutschland führend am Pro-
zess zum Aufbau rechtsstaatlicher und demokratischer
Ordnung beteiligt und hat dazu drei internationale Af-
ghanistankonferenzen organisiert. Die Bundeswehr leis-
tet seit Beginn des internationalen Engagements im Rah-
men eines UN-Mandat – ISAF – einen mit unserer
zivilen Unterstützung vernetzten, wichtigen Beitrag zur
militärischen Absicherung des Stabilisierungs- und Wie-
deraufbauprozesses in Afghanistan.
Das bisherige, auf die beschriebene Weise vernetzte
Engagement Deutschlands im Norden Afghanistans hat
wesentlich zur Stabilisierung in Kabul und im Norden
Afghanistans beigetragen und genießt hohe internatio-
nale Reputation. Dauerhafter Frieden und zuverlässige
humanitäre Hilfe waren und sind für die deutsche Au-
ßenpolitik zwei Seiten derselben Medaille. Diese Ver-
bindung unterstütze ich auch weiterhin.
Die deutsche Außenpolitik hat sich dabei auf sehr
wohltuende Weise von der Politik anderer Nationen un-
terschieden. Anders als in der Außenpolitik anderer Län-
der wurde der Kampf gegen den Terrorismus nicht als
Krieg betrachtet. Dass die „Kriegsstrategie“ bislang
nicht aufgegangen ist, belegt nicht nur der Umstand,
dass die Friedenssicherung im Osten und Süden Afgha-
nistans nach dem Willen der dort verantwortlichen Na-
tionen nun ebenfalls um eine zivile Begleitung mit höhe-
rem Gewicht ergänzt werden soll, die Deutschland im
Norden Afghanistans bereits erfolgreich betreibt.
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass selbst diese
Korrektur der „Kriegsstrategie“ noch zu wenig sein
könnte: Denn eigentlich war die internationale Schutz-
truppe ISAF vor fünf Jahren mit 20 000 Soldatinnen und
Soldaten angetreten, um den zügigen Aufbau eines phy-
sisch und moralisch zerstörten Landes zu garantieren.
Die Reste der Taliban und von al-Qaida sollten von
hochgerüsteten Truppen in wenigen Monaten besiegt
sein. Die Realität, auf deren Grundlage der Antrag der
Bundesregierung jetzt gestellt wird, sieht leider anders
aus. Die Zahl der Anschläge auf militärische Ziele in
Afghanistan ist von 2005 auf 2006 dramatisch gestiegen:
von 1 632 auf 5 338. Insgesamt waren 4 000 Tote zu be-
klagen. Das sind zehnmal so viele wie drei Jahre zuvor.
Angesichts dieser Entwicklung stellen wir uns die
Frage, ob man diese Entwicklung beenden kann, indem
deutsche Tornados mit Aufklärungsflügen den Boden-
truppen den Weg weisen. Angesichts dieser Entwicklung
– insbesondere der Fehlentscheidungen in Ost- und Süd-
afghanistan, den Frieden dort vornehmlich mit militäri-
schen Mitteln erreichen zu wollen – sind wir mehr denn
je aufgerufen, alles zu tun, damit die Afghanen die Mit-
glieder fremder Nationen als ihre Unterstützer wahrneh-
men und anerkennen. Jeder zusätzliche militärische Bei-
trag mit nahezu unvermeidlichen zusätzlichen Opfern
aufseiten der Zivilbevölkerung birgt den Verdacht in
sich, die Afghanen nicht als gleichberechtigte Partner
anzuerkennen, sondern die Besatzungssituation perpetu-
ieren zu wollen.
Mit der nun von der Bundesregierung beantragten Be-
teiligung an dem Einsatz einer internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe verbinden wir daher die Be-
fürchtung, dass die bisherige, fruchtbringende deutsche
Außenpolitik anders als bisher wahrgenommen würde.
8762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Gegenwärtig drohen die Kommandeure der Taliban
damit, das Land zu irakisieren, mit funkgesteuerten
Kleinstbomben zu agieren, die Selbstmordattentate zu
erhöhen. Das Ganze könnte nicht trotz, sondern sogar
wegen der Tornados geschehen. Dass dann der Ruf nach
deutschen Bodentruppen im Osten und Süden Afghanis-
tans noch stärker als bislang ertönen dürfte, ist für uns
die militärisch logische und wahrscheinliche Konse-
quenz. Deutschland könnte mit zunehmendem Zeitab-
lauf nicht mehr vermitteln können, warum es nicht mit
gleichem Risiko wie die anderen Nationen beteiligt ist.
Dies gilt umso mehr, als die Tornado-Einsätze nun in
die gerade anlaufende Frühjahrsoffensive der NATO und
in die Operation Enduring Freedom, OEF, einbezogen
werden sollen. Es besteht daher die Gefahr, dass deut-
sche Soldaten für Kriegsoperationen verantwortlich ge-
macht werden, auf deren Planung und Durchführung sie
kaum Einfluss haben. Dies hätte letztlich Auswirkungen
auf das gesamte deutsche ISAF-Kontingent. Deutsche
Stellungen der ISAF-Truppe könnten zunehmend Ziel
von Angriffen und Anschlägen werden, und auch die er-
reichte Stabilisierung der Lage im Norden Afghanistans
wäre gefährdet.
Der Einsatz deutscher Tornados wäre damit kein Bei-
trag zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan. Das Ge-
genteil wäre der Fall. Wir sehen daher in der Entsendung
von „Recce-Tornados“ nach Afghanistan ein nicht ver-
tretbares Risiko für unsere deutschen Soldatinnen und
Soldaten und für das Gelingen des ISAF-Einsatzes ins-
gesamt und werden daher dem erweiterten Mandat nicht
zustimmen.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Heinz Schmitt (Landau),
Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Marlies
Volkmer, Detlef Müller (Chemnitz), Waltraud
Lehn, Christel Riemann-Hanewinckel, Dr.
Bärbel Kofler, Dr. Wolfgang Wodarg, Christine
Lambrecht und Elvira Drobinski-Weiß (alle
SPD) zur namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413
(2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004),
1623 (2005) und 1707 (2006) des Sicherheits-
rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
punkt 21 a)
Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe,
ISAF, soll einen Beitrag für Sicherheit, Recht und Ord-
nung und damit für eine friedliche politische Entwick-
lung in Afghanistan leisten. ISAF hat beim Wiederauf-
bau Afghanistans Erfolge vorzuweisen. Insbesondere die
deutsche Bundeswehr hat in ihrem Verantwortungsbe-
reich zu einer Stabilisierung im afghanischen Norden
beigetragen. Das ISAF-Mandat beinhaltet das Recht der
Soldaten auf Selbstverteidigung. Militärische Gewalt ist
auch zulässig, wenn es darum geht, die Regierung und
die Menschen in Afghanistan zu schützen.
ISAF ist klar abzugrenzen von der Operation Endu-
ring Freedom, OEF, welche die Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus zum Ziel hat. Die bisherige rela-
tive Sicherheit deutscher Soldaten beruht nicht zuletzt
auf der erkennbaren Trennung beider Operationen.
Unter dieser Prämisse haben die Unterzeichnenden
bisher Einsätzen deutscher Soldaten in Afghanistan zu-
gestimmt. Der jetzt geplante Einsatz von Tornados der
Bundeswehr über ganz Afghanistan führt zu erheblichen
Unschärfen bei der Aufgabenteilung von ISAF und OEF.
Die Luftaufklärung der Bundeswehrtornados dient
nach Aussage des Bundesverteidigungsministers
Dr. Franz Josef Jung dem „Schutz der ISAF-Truppen“
und der „Zielaufklärung vermuteter Stellungen militan-
ter Widerstandgruppen“ (OEF).
Wir bezweifeln, dass es gelingen wird, die Einsatzbe-
dingungen – insbesondere hinsichtlich der Zusammenar-
beit zwischen ISAF und OEF – detailliert zu regeln. Es
steht also zu befürchten, dass Widerstandsgruppen in Af-
ghanistan eine solche Differenzierung nicht nachvollzie-
hen werden und die deutschen Tornados als Flugzeuge
im Kampfeinsatz bewerten. Deutsche Soldaten könnten
damit für Kriegsoperationen verantwortlich gemacht
werden, auf deren Planung und Durchführung sie keiner-
lei Einfluss haben. Als Folge von Einsätzen der Ameri-
kaner sind fast jeden Tag Opfer unter der afghanischen
Zivilbevölkerung zu beklagen, zuletzt zum Beispiel am
Sonntag, 4. März 2007. Mit dem Einsatz der deutschen
Tornados wären wir – zumindest in der Wahrnehmung
der Afghaninnen und Afghanen – in diese verhängnis-
volle Kette von Gewalt hineingezogen.
Dies hätte letztlich Auswirkungen auf das gesamte
deutsche ISAF-Kontingent. Deutsche Stellungen der
ISAF-Truppe könnten zunehmend Ziel von Angriffen
und Anschlägen werden. Der Einsatz deutscher Torna-
dos wäre damit kein Beitrag zur Stabilisierung der Lage
in Afghanistan. Das Gegenteil wäre der Fall.
In dieser Einschätzung fühlen wir uns bestärkt durch
Warnungen von in Afghanistan tätigen NGOs wie Me-
dica Mondiale. Diese zivile deutsche Organisation, die
in Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif und Kandahar hervorra-
gende Arbeit zum Thema „Gewalt gegen Frauen“ leistet,
befürchtet, dass sich die Gefahr für Mitarbeiter und Mit-
arbeiterinnen vor Ort durch einen Einsatz von Bundes-
wehrtornados stark erhöhen würde. Bei einer weiteren
Militarisierung der Lage würden sich immer weniger zi-
vile Fachkräfte imstande sehen, sich dem erhöhten Si-
cherheitsrisiko auszusetzen.
Wir teilen die Ansicht, dass nur eine weitere Stärkung
der Zivilgesellschaft und eine Fortsetzung der sinnvollen
Wiederaufbauhilfe, die Deutschland in der Vergangen-
heit geleistet hat, ein Gegengewicht zu einer weiteren
Eskalierung militärischer Gewalt bilden kann.
Die Unterzeichnenden sehen daher in der Entsendung
von Recce-Tornados nach Afghanistan ein nicht vertret-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8763
(A) (C)
(B) (D)
bares Risiko für unsere deutschen Soldaten, für das Ge-
lingen des ISAF-Einsatzes insgesamt und für die Arbeit
von NGOs in Afghanistan.
Daher lehnen wir die Entsendung von acht Recce-
Tornados nach Afghanistan und deren Einsatz ab.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Andrea Nahles, Niels Annen,
Gerold Reichenbach, Monika Griefahn, Ursula
Mogg, Garrelt Duin, Anette Kramme, Nicolette
Kressl und Kerstin Griese (alle SPD) zur
namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung zu dem Antrag der Bundesregie-
rung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an dem Einsatz einer Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
unter Führung der NATO auf Grundlage der
Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444
(2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005)
und 1707 (2006) des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen (Tagesordnungspunkt 21 a)
2001 haben die Mitglieder des Deutschen Bundesta-
ges und mit ihnen die Abgeordneten der SPD eine
Grundsatzentscheidung getroffen. Deutschland ist der
Bitte der afghanischen Regierung nachgekommen, sich
an einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe,
ISAF, zu beteiligen. Durch diesen Einsatz auf Grundlage
von Kapitel VII der UN-Charta wollten wir Afghanistan
auf seinem Weg des Wiederaufbaus begleiten und stabili-
sieren. Den vorläufigen Staatsorganen Afghanistans
sollte die Vorbereitung und Durchführung von demokra-
tischen Wahlen in sicherem Umfeld ermöglicht werden.
Der Bevölkerung Afghanistans sollte mit Unterstützung
der Vereinten Nationen und zahlreicher internationaler
Hilfskräfte eine Chance auf einen Neuanfang in Sicher-
heit und politischer Selbstbestimmung gegeben werden.
Wir haben Afghanistan und seiner Bevölkerung damit
Unterstützung zugesagt, sich vor der erneuten Kontrolle
durch extremistische und terroristische Kräfte und vor
der Ausbeutung von Land und Leuten zu schützen.
An diesen grundsätzlichen Zielen hat sich nichts ge-
ändert. Der Deutsche Bundestag hat das ISAF-Mandat
daher nicht nur verlängert, sondern auch auf Regionen
jenseits von Kabul ausgeweitet. Die Bundesregierung
hat die deutsche Verantwortung für die Zukunft Afgha-
nistans nicht zuletzt im Afghanistan-Compact Anfang
2006 bestätigt. Ressortübergreifend leistet Deutschland
daher unermüdlich und mit umfangreichen finanziellen
Mitteln einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des
Landes. Besonders hervorzuheben sind dabei die Ausbil-
dung der afghanischen Polizei und insbesondere die be-
achtenswerten Programme und Projekte in der Entwick-
lungszusammenarbeit. Deutsche Bundeswehrsoldaten
kommen dabei weiter ihrem Mandat nach und sichern
die Bemühungen der afghanischen Zivilbevölkerung und
der internationalen Hilfskräfte ab. Nicht zuletzt durch
die Einbeziehung der afghanischen Zivilgesellschaft und
ziviler Hilfskräfte konnten deutsche Soldaten Vertrauen
schaffen und dadurch nachhaltige Verbesserungen errei-
chen. Das bisherige Auftreten der deutschen Bundes-
wehrsoldaten und der deutsche Ansatz der zivil-militäri-
schen Zusammenarbeit haben sich bewährt.
Die Lage in Afghanistan hat sich in den letzten Mona-
ten dramatisch verschlechtert, denn die Regierung
Karzai ist nach wie vor schwach und weit davon ent-
fernt, ihre Kontrolle auf das gesamte Land auszuweiten.
Die Rückkehr der Taliban in das Sicherheitsvakuum im
Süden Afghanistans bedroht daher den weiteren Ent-
wicklungsprozess und die politische Stabilität des gan-
zen Landes.
Wir sehen in der Entsendung von Tornados keine qua-
litative Änderung des bisher von Deutschland verfolgten
Kurses. Auch der Einsatz von Tornados zielt darauf ab,
Afghanistan bei der Gewinnung und Aufrechterhaltung
der inneren Sicherheit zu unterstützen. Die Aufklärungs-
flüge dienen der Sicherheit der Menschen und internatio-
nalen Hilfskräfte und damit der Stabilität weit über den
Süden Afghanistans hinaus.
Wir betrachten mit wachsender Sorge, dass Deutsch-
land mit einer verfehlten Antiterrorpolitik identifiziert
wird. Denn Deutschland hat stets betont, dass ein rein
militärischer Ansatz, der nur auf die Verfolgung von
Terroristen setzt, aber den zivilen Wiederaufbau ver-
nachlässigt, zu kurz greift. Militärische Maßnahmen
ohne flankierendes ziviles Engagement können nicht
von nachhaltigem Erfolg gekrönt sein. Die dank der
Bundesregierung auf dem NATO-Gipfel in Riga verab-
schiedeten Auflagen, auch die zivile Komponente des
Engagements in Afghanistan zu verstärken, entsprechen
dieser Einschätzung. Sie reichen aber nicht aus.
Wir begrüßen daher die intensive Debatte um den
ISAF-Einsatz und die Tornado-Entsendung in den letz-
ten Wochen, in denen sich viele von uns umfangreich
über die Situation in Afghanistan informiert haben.
Eine grundlegende Überprüfung der Afghanistan-
strategie sehen wir als Voraussetzung für die anstehende
Verlängerung der Mandate von ISAF und Operation
Enduring Freedom an. Wir erwarten von der Bundesre-
gierung, dass sie die verbleibende Zeit nutzt, um die be-
gonnene Debatte im Bündnis weiterzuführen und inten-
siv mit dem Deutschen Bundestag abzustimmen.
Wir haben dadurch die Basis für die Diskussion ge-
schaffen, die wir im Hinblick auf die für den Herbst an-
stehende Entscheidung über die Verlängerung des ISAF-
Mandats führen werden.
Die Entscheidung über die Entsendung von deutschen
Tornados muss der Beginn einer ehrlichen Analyse der
bisherigen NATO-Strategie in Afghanistan sein. All die-
jenigen, die unsere Kritik teilen, dass der Einsatz von
Mitteln für militärische Zwecke im Vergleich zu den In-
vestitionen in zivile Maßnahmen unverhältnismäßig
hoch ist, bitten wir, gemeinsam mit uns dafür zu sorgen,
dass in Zukunft in angemessenem Umfang Gelder für
den zivilen Wiederaufbau von Afghanistan bereitgestellt
werden.
8764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Die SPD ist die Friedenspartei. Eine umfassende Si-
cherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik. Doch diese
muss langfristig und vorausschauend geplant sein. Mili-
tärisches Engagement, für das wir uns in Afghanistan
entschieden haben, kann nur dann ermöglicht werden,
wenn man zu dauerhaften Verpflichtungen auch im flan-
kierenden zivilen und entwicklungspolitischen Bereich
bereit ist. Die zivil-militärische Zusammenarbeit steht
dabei im Vordergrund. Im Oktober läuft das Mandat für
den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan aus. Spä-
testens bis dann gehört eine nachhaltige Strategie für ei-
nen stabilen Frieden auf die Tagesordnung.
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Ute Koczy, Volker
Beck (Köln), Dr. Gerhard Schick, Thilo Hoppe
und Bärbel Höhn (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zur namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413
(2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004),
1623 (2005) und 1707 (2006) des Sicherheitsra-
tes der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
punkt 21 a)
Wir lehnen den Antrag der Bundesregierung zur Ent-
sendung deutscher Tornados ab.
Der Stabilisierungs- und Aufbauprozess in Afghanis-
tan durchläuft in diesem Jahr eine besonders kritische
Phase. Nach der Verschärfung der Lage im Vorjahr muss
die internationale Gemeinschaft in den nächsten Mona-
ten die Wende zum Besseren schaffen. Für uns bleibt die
nach Kap. VIl der VN-Charta mandatierte ISAF-Schutz-
truppe weiterhin sinnvoll und notwendig. Ohne die mili-
tärische Friedenssicherung durch ISAF hätte es die bis-
herigen Teilerfolge in Afghanistan nicht gegeben. Wer
jetzt zu einem Abzug der Bundeswehr und der ISAF-
Truppen insgesamt aufruft, nimmt die Rückkehr der Ta-
liban an die Macht und den Zusammenbruch des Frie-
densprozesses in Kauf. Für die Stabilisierung und den
Wiederaufbau Afghanistans ist das militärische Engage-
ment der Staatengemeinschaft eine unverzichtbare Vo-
raussetzung.
Unsere Ablehnung des Tornado-Einsatzes erfolgt
nach sorgfältiger Abwägung. Die Aufklärungstornados
können nicht nur Aufklärungsmaterial zur Absicherung
der Stabilisierungsoperationen von ISAF liefern. Sie tra-
gen vor allem auch zur Kampfunterstützung in den um-
kämpften Provinzen im Süden bei. Seriösen Quellen ist
zu entnehmen, dass im Süden und Osten vielfach militä-
risch undifferenziert und unverhältnismäßig gegen Auf-
ständische vorgegangen und zugleich der Aufbau ver-
nachlässigt wurde. Eine auf Felderzerstörung fixierte Art
der Drogenbekämpfung tat das Ihre zur Konfliktver-
schärfung. Dass dadurch mehr Feinde produziert und
Freunde verloren wurden, ignoriert die Bundesregierung
bisher. Es besteht also die akute Gefahr, dass Aufklä-
rungstornados zu einer kontraproduktiven und opferrei-
chen Militärstrategie und Operationsführung beitragen.
Seit Monaten wird auf allen Ebenen der Staatenge-
meinschaft betont, dass die Konflikte in Afghanistan
nicht militärisch zu lösen seien und dass es eines Strate-
giewandels sowie forcierter und effizienterer Aufbauan-
strengungen bedürfe. Bisher bleiben die Taten weit hin-
ter den richtigen Worten zurück. Das gilt für die
Staatengemeinschaft insgesamt, wo eine deutliche Dis-
krepanz zwischen der proklamierten Revision der Stabi-
lisierungsstrategie und dem tatsächlichen Forcieren einer
primär militärischen Bekämpfung aufständischer Grup-
pen besteht. Das gilt insbesondere auch für die Bundes-
republik, die wohl seit fünf Jahren einen konzeptionell
vorbildlichen Ansatz ziviler, polizeilicher und militäri-
scher Maßnahmen vertritt, aber mit dem Tornado-Ein-
satz ihre militärischen Anstrengungen verstärkt und viel
zu wenig für die weitaus dringlicheren zivilen Bemühun-
gen tut. Wenn nun für die Tornados ungefähr so viele
Millionen Euro in einem Jahr ausgegeben werden sollen
wie für die deutsche Hilfe zum Polizeiaufbau in fünf
Jahren – circa 70 Millionen – und wenn die deutsche Po-
lizeihilfe trotz des drängenden Bedarfs weitgehend un-
verändert bleibt, dann ist das kurzsichtig und halbherzig.
Das bisherige Missverhältnis zwischen militärischem
und zivilem Engagement wird somit vertieft statt über-
wunden. Ohne mehr und besseren Aufbau bleibt jede
militärische Anstrengung aussichtslos. Deshalb fordern
wir eine „zivile Frühjahrsoffensive“.
Das Nein zum Tornado-Einsatz ist ausdrücklich kein
Aufruf zum Ausstieg aus dem multilateralen Projekt von
Gewalteindämmung, State-Bildung und Friedensförde-
rung, sondern ein Aufruf für eine Erfolgsstrategie in Af-
ghanistan und ein dringender Warnruf, das schmale Zeit-
fenster für die Veränderung der Militärstrategie und der
zivilen Anstrengungen jetzt zu nutzen. Seit Juli 2006 ha-
ben wir immer wieder gegenüber der Bundesregierung
darauf gedrängt. Eine praktische Wirkung blieb weitge-
hend aus.
Wir unterstützen die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, die in Afghanistan eingesetzt werden, ge-
nauso wie die Polizistinnen und Polizisten, Zivilexper-
tinnen und Zivilexperten sowie Helferinnen und Helfer.
Wir werden deren Einsatz kritisch-konstruktiv begleiten
und uns weiterhin dafür einsetzen, dass das in Afghanis-
tan gutangesehene Deutschland dort seiner besonderen
Verantwortung auch bestmöglich gerecht wird: im Ein-
satz für eine glaubwürdige, ausgewogene und wirklich
hilfreiche Politik der internationalen Gemeinschaft.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt,
Kerstin Andreae, Christine Scheel, Elisabeth
Scharfenberg, Dr. Thea Dückert, Margareta
Wolf (Frankfurt) und Brigitte Pothmer (alle
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8765
(A) (C)
(B) (D)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein-
satz einer Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386
(2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003),
1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 21 a)
Afghanistan bedarf weit mehr als bisher der Unter-
stützung, gerade durch zivile Mittel. Ohne Strategie-
wechsel und deutlich mehr ziviles Engagement sind die
Köpfe und Herzen der Menschen in Afghanistan dauer-
haft nicht für die Demokratie zu gewinnen. Afghanistan
braucht eine politische und zivile Frühjahrsoffensive.
Zugleich können wir nicht übersehen, dass sich Af-
ghanistan in einer Situation befindet, in der zivile Maß-
nahmen allein nicht zum Erfolg führen können. Beson-
ders im Süden und Osten des Landes muss Stabilität
auch mit militärischen Mitteln herbeigeführt werden, um
zivilen Helfern ihren Einsatz überhaupt erst zu ermögli-
chen. Im ganzen Land ist militärischer Schutz und Absi-
cherung des zivilen Aufbaus unverzichtbar. Hierin be-
steht der Auftrag der Tornado-Aufklärungsflugzeuge.
Ich stimme der Entsendung der Aufklärungsflug-
zeuge zu, weil ich die Notwendigkeit militärischer Flan-
kierung der zivilen Maßnahmen anerkenne. Meine Zu-
stimmung ist jedoch untrennbar verbunden mit der
Aufforderung an die Bundesregierung, innerhalb der
NATO auf einen Kurswechsel zu dringen. Nur als Teil
einer tatsächlich gewalteindämmenden Militärstrategie
ist der Einsatz der Tornados für den Aufbau Afghanis-
tans aussichtsreich.
Für eine ausgewogenen Afghanistanpolitik ist eine
Vervielfachung der zivilen Mittel notwendig, die ange-
kündigte Erhöhung um 20 Millionen Euro reicht nicht
aus. Deutschland hat die Koordinierungsverantwortung
für den Aufbau der Polizei in Afghanistan übernommen.
Um dies zum Erfolg zu führen, ist eine deutliche Aufsto-
ckung von Personal und Mitteln notwendig. Gemeinsam
mit der internationalen Gemeinschaft müssen schlüssige
Konzepte zur Drogenbekämpfung entwickelt und politi-
scher Druck auf Pakistan ausgeübt werden, das die Reor-
ganisation der Talibankräfte auf seinem Territorium dul-
det. Dazu fordere ich die Bundesregierung auf.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter
Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Harald Terpe,
Sylvia Kotting-Uhl und Monika Lazar (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein-
satz einer Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386
(2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003),
1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 21 a)
Heute entscheidet der Deutsche Bundestag über die
Entsendung von Tornado-Aufklärungsflugzeugen nach
Afghanistan. Diese Flugzeuge können im gesamten
ISAF-Bereich eingesetzt werden, also auch in den um-
kämpften Regionen im Süden und Osten. Sie sollen zu
mehr Sicherheit beitragen. Doch zum Aufspüren von
Selbstmordattentätern, deren Anschläge die Sicherheit
zunehmend bedrohen, sind Tornados weder gedacht
noch geeignet. Die hochmodernen Aufklärungsflug-
zeuge ersetzen britische Aufklärungs- und Kampflieger,
die sich ohne Aufklärungsarbeit ganz auf den Kampf aus
der Luft konzentrieren werden. Deutsche Tornados ha-
ben vor allem die Aufgabe, genaue Bilder von „aufstän-
dischen (Taliban-)Kämpfern“ für anschließende Bom-
bardements zu liefern.
Die NATO-Partner erwarten, dass Deutschland sich
endlich am schwierigen und schmutzigen Kampf gegen
den Widerstand im Süden Afghanistans beteiligt. Torna-
dos sind dazu die elegante Lösung. Deutsche Soldaten
müssen – noch – nicht im direkten Kampf ihr Leben ris-
kieren, dafür liefern deutsche Flugzeuge die Infobilder
zur blutigen Bekämpfung und Zerstörung. Faktisch wird
mit dem Tornadoeinsatz die bisherige Linie des deut-
schen ISAF-Einsatzes verlassen, der sehr darauf bedacht
war, im Norden Afghanistans möglichst zivilpolizeilich
die Aufbauprojekte zu sichern. Ganz anders als die
NATO im Süden, die sich immer wieder als martialische
Besatzungsarmee aufspielt.
Das relativ gute Ansehen der Bundeswehr vor Ort,
das wesentlich mit dieser eher zivilen Strategie zusam-
menhängt, wird bald blutbeschädigt sein. Und auch in
Afghanistan wird sich herumsprechen, dass deutsche
Flugzeuge die Bombardements der NATO vorbereitet
haben. Der scheinbar harmlose Bundeswehreinsatz mit
sechs Aufklärungstornados könnte die Rolle der Bundes-
wehr in Afghanistan entscheidend verändern: von der
Aufbauschutztruppe zur gewaltsamen Besatzungsarmee.
Aber mit noch so viel militärischer Gewalt wird man
ein Volk nicht „überzeugen“ und auch keine „Herzen ge-
winnen“. Und mit noch so viel Waffengewalt und Krieg
kann auch Demokratie nicht durchgesetzt werden.
Die Tornados werden den Friedensprozess sicher
nicht beschleunigen, wohl aber eine neue militärische
Eskalationsstrategie einleiten. Wir befürchten eine Aus-
weitung und Brutalisierung des Krieges wie die Mehr-
zahl der Menschen in Deutschland. Afghanistan braucht
keine militärische, wohl aber eine zivile Frühjahrsoffen-
sive. Der Einfluss der Taliban kann allenfalls mit zivilen
Mitteln zurückgedrängt werden. Sinnvoller wäre es, die
35 Millionen Euro für den Tornadoeinsatz in den zivilen
Wiederaufbau einzusetzen. Deshalb und aufgrund weite-
rer grundsätzlicher Bedenken sagen wir Nein zu deut-
schen Tornados in Afghanistan.
8766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Hans-Josef Fell und Wolfgang
Wieland (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes-
regierung: Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationa-
len Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
nistan unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444
(2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005) und
1707 (2006) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen (Tagesordnungspunkt 21 a)
Der Antrag der Bundesregierung auf Beteiligung an
der NATO-geführten Internationalen Sicherheitsunter-
stützungstruppe in Afghanistan – ISAF – mit sechs bis
acht Tornados zur Aufklärung und Überwachung aus der
Luft ist zum Teil plausibel.
Die Sicherungsunterstützungstruppe – ISAF – ist Teil
der auch von den Grünen in der Vergangenheit massiv
eingeklagten und unterstützten Verbindung von zivilem
Aufbau auf der einen und militärischer Absicherung auf
der anderen Seite. Dieser Einsatz ist vom Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen mehrfach legitimiert und in dem
sogenannten Petersberger Prozess mit der Verpflichtung
der Staatengemeinschaft konkretisiert worden. Die Grü-
nen, insbesondere das grün geführte Auswärtige Amt,
waren in diesem Prozess immer eine treibende Kraft. Es
war und ist unser erklärtes Ziel, das geschundene Afgha-
nistan nach 25 Jahren Bürgerkrieg in einer langfristig an-
gelegten Entwicklung des zivilen Wiederaufbaus und
des Nation Building wieder zur Ruhe kommen zu lassen.
Es war und ist unsere Überzeugung, dass dieser Prozess
noch auf absehbare Zeit der militärischen Absicherung
bedarf.
Gerade weil die Grünen im November 2006 zum ers-
ten Mal einer Verlängerung des Antiterrormandats Ope-
ration Enduring Freedom – OEF – nicht zugestimmt ha-
ben, stehen wir bei der realistischen Ausgestaltung des
ISAF-Mandats in einer besonderen Verantwortung.
Auch in der Öffentlichkeit und in der politischen Diskus-
sion der NATO wird zunehmend ein Strategiewechsel
angestrebt, der eine Stärkung und Beschleunigung des
zivilen Aufbaus unter dem Schutz von ISAF zum Inhalt
hat.
Angesichts der schwierigen Lage in Afghanistan, die
sich im Laufe des Jahres 2006 weiter verschlechtert
hat, muss die Sicherungsunterstützungstruppe aller-
dings auch mit den nötigen militärischen Kapazitäten
ausgestattet werden. Insofern ist der Antrag der Bun-
desregierung plausibel. Mit den Aufklärungsflugzeu-
gen vom Typ Tornado Recce wird die Fähigkeit von
ISAF deutlich verbessert, sich ein Lagebild vom ge-
samten Verantwortungsbereich zu machen. Diese Fä-
higkeit kommt unmittelbar der Sicherheit der Soldaten
und der zivilen Helfer zugute. Die Aufklärung kann die
Führungsfähigkeit der Operation ISAF verbessern und
die Effizienz der ISAF Stabilisierungs- und Sicher-
heitsoperationen steigern. Verbesserte Aufklärungsfä-
higkeit von ISAF kann zu verbesserter, angemessener
und verhältnismäßiger Reaktion von ISAF führen.
Deutschland steht hier auch in einer Gesamtverant-
wortung und Bündnisverpflichtung für alle Teilnehmer-
länder der Schutztruppe. Diese Verpflichtungen erlauben
es nur in extremen Ausnahmefällen, Bündnisanfragen
abzulehnen, obwohl die Kapazitäten vorhanden sind.
Deshalb können wir den Antrag der Bundesregierung
nicht ablehnen.
Allerdings: Die Aufklärungsergebnisse der Tornados
können auch zu Zwecken missbraucht werden, die mit
den Zielen des zivilen Wiederaufbaus nicht im Einklang
stehen. Unsere Kritik an Teilen der OEF-Operationen,
die im Ergebnis eher den Taliban die Anhänger in die
Arme getrieben haben, verweist auf Zweifel an der Füh-
rung der künftigen Gesamtoperation und auf die Tatsa-
che, dass der angekündigte Strategiewechsel noch nicht
umgesetzt ist. Hierzu gehört insbesondere die Kritik an
Bombardierungen, die hauptsächlich Zivilpersonen in
Mitleidenschaft nehmen. Die Versicherung des Bundes-
ministers der Verteidigung, der Tornado-Einsatz vermin-
dere die Zahl der Kolateralschäden, ist solange nicht
glaubhaft, wie die Ergebnisse der Luftaufklärung – wenn
auch restriktiv – für die OEF zu Verfügung gestellt wer-
den.
Auch hat für uns die Unterstützung des zivilen Auf-
baus höchste Priorität. Wir müssen leider beobachten,
wie die schwarz-rote Bundesregierung die Finanzierung
der zivilen Komponente gegenüber der militärischen Si-
cherung nicht mit dem gleichen Einsatz verfolgt. Militär
darf nicht zum Ersatz von zivilen politischen Maßnah-
men werden. Deshalb können wir dem Antrag der Bun-
desregierung nicht zustimmen.
Da der geplante Tornado-Einsatz deshalb zum einen
sinnvoll für eine Absicherung von ISAF ist, zum ande-
ren aber Grundlage für eine falsche Strategie im Rahmen
von OEF sein kann – beide Funktionen sind untrennbar
miteinander verwoben –, werden wir uns der Stimme
enthalten.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Britta Haßelmann und
Ulrike Höfken (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zur namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413
(2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004),
1623 (2005) und 1707 (2006) des Sicherheits-
rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
punkt 21 a)
Die Bundesregierung hat einen Antrag auf Entsen-
dung von sechs bis acht deutschen Tornados zur Ergän-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8767
(A) (C)
(B) (D)
zung der UN-mandatierten ISAF-Mission in Afghanis-
tan in den Deutschen Bundestag eingebracht, über den
das Parlament heute entscheidet. Diese Tornados sollen
zur luftgestützten Aufklärung in ganz Afghanistan die-
nen. Hier geht es für jede und jeden von uns darum, den
Nutzen eines solchen Einsatzes gegen die Risiken abzu-
wägen. Ich unterstütze weiterhin die Stabilisierung
Afghanistans, weil ein Scheitern der internationalen Ge-
meinschaft für die Menschen in Afghanistan und die in-
ternationale Gemeinschaft fatal wäre.
Die ISAF (International Security Assistance Force)
als Verbindung von militärischer Sicherheit auf der einen
Seite und zivilem Aufbau und Nation-Building auf der
anderen Seite sollte die Umsetzung der Ziele Sicherheit
und Stabilisierung gewährleisten. Dieser Einsatz ist vom
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mehrfach legiti-
miert und in dem sogenannten Petersberger Prozess mit
der Verpflichtung der Staatengemeinschaft konkretisiert
worden. Der Kampf gegen Gewalt und terrorbereite
Kräfte macht den Einsatz von Polizei- und Streitkräften
erforderlich, denn ohne eine Mindestmaß an Sicherheit
ist der Aufbau staatlicher und zivilgesellschaftlicher
Strukturen nicht möglich. Aus meiner Sicht muss es um
eine Gesamtstrategie gehen, die eine Stabilisierung
stützt und nicht gefährdet. Bei der Ablehnung von OEF
(Operation Enduring Freedom) im November 2006 ha-
ben wir Grüne gleichzeitig gefordert, dass ISAF als in-
ternationale Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
nistan unter Führung der NATO gestärkt werden muss.
Heute sind die Risiken und Chancen der Bereitstel-
lung von Tornado-Aufklärungsflugzeugen zu bewerten.
ISAF braucht sicher zur Erfüllung des Stabilisierungs-
auftrags eine robuste Komponente und, da die Partner
wechselseitig aufeinander angewiesen sind, ergeben sich
aus einem gemeinsamen Vorgehen der internationalen
Gemeinschaft auch bündnispolitische Verpflichtungen.
Die Aufklärungsergebnisse allerdings sind in mehrfa-
cher Hinsicht nutzbar. Sie können zum Schutz und zur
Stabilisierung eingesetzt werden, könnten aber auch zu
Zwecken missbraucht werden, die mit den Zielen des zi-
vilen Wiederaufbaus nicht im Einklang stehen.
Die im Laufe des Jahres 2006 verschlechterte Lage in
Afghanistan erfordert aus meiner Sicht einen grundle-
genden Strategiewechsel, der die klare Priorität auf ei-
nen zivilen Aufbau legt und zu einer nachhaltigen Stabi-
lisierung des Landes führt. Wir brauchen eine zivile und
politische Offensive und eine Verstärkung der zivilen
Anstrengung.
Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung ei-
nen größeren Beitrag für einen Strategiewechsel der
NATO leisten muss. Zu diesem Zeitpunkt ist für mich
nicht erkennbar, in welcher Weise die Bundesregierung
durch ihr nationales Engagement und durch internatio-
nale Bemühungen auf der Ebene der EU und der NATO
diesen Strategiewechsel wirklich im Sinne einer Ge-
samtstrategie voranbringen will. Deshalb kann ich dem
Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen und werde
ich mich bei dieser Entscheidung enthalten.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ernst Kranz und Frank
Schwabe (beide SPD) zur namentlichen Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung zu dem
Antrag der Bundesregierung: Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
einer Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386
(2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003),
1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 21 a)
Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe,
ISAF, soll einen Beitrag für Sicherheit, Recht und Ord-
nung und damit für eine friedliche politische Entwick-
lung in Afghanistan leisten. ISAF hat beim Wiederauf-
bau Afghanistans Erfolge vorzuweisen. Insbesondere die
deutsche Bundeswehr hat in ihrem Verantwortungsbe-
reich zu einer Stabilisierung im afghanischen Norden
beigetragen. Das ISAF-Mandat beinhaltet das Recht der
Soldaten auf Selbstverteidigung. Militärische Gewalt ist
auch zulässig, wenn es darum geht, die Regierung und
die Menschen in Afghanistan zu schützen.
ISAF ist klar abzugrenzen von der Operation Endu-
ring Freedom, OEF, welche die Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus zum Ziel hat. Die bisherige rela-
tive Sicherheit deutscher Soldaten beruht nicht zuletzt
auf der erkennbaren Trennung beider Operationen. Der
jetzt geplante Einsatz von Tornados der Bundeswehr
über ganz Afghanistan führt zu erheblichen Unschärfen
bei der Aufgabenteilung von ISAF und OEF. Die
Luftaufklärung der Bundeswehr-Tornados dient nach
Aussage des Bundesverteidigungsministers Dr. Franz
Josef Jung dem Schutz der ISAF-Truppen und der
„Zielaufklärung vermuteter Stellungen militanter Wider-
standgruppen“, OEF.
Ich bezweifle, dass es gelingen wird, die Einsatzbe-
dingungen – insbesondere hinsichtlich der Zusammen-
arbeit zwischen ISAF und OEF – detailliert zu regeln. Es
steht also zu befürchten, dass Widerstandsgruppen in
Afghanistan eine solche Differenzierung nicht nachvoll-
ziehen werden und die deutschen Tornados als Flug-
zeuge im Kampfeinsatz bewerten. Deutsche Soldaten
könnten damit für Kriegsoperationen verantwortlich ge-
macht werden, auf deren Planung und Durchführung sie
keinerlei Einfluss haben. Als Folge von Einsätzen der
Amerikaner sind jeden Tag Opfer unter der afghanischen
Zivilbevölkerung zu beklagen, zuletzt zum Beispiel am
Sonntag, 4. März 2007. Mit dem Einsatz der deutschen
Tornados wären wir – zumindest in der Wahrnehmung
der Afghaninnen und Afghanen – in diese verhängnis-
volle Kette von Gewalt hineingezogen. Dies hätte letzt-
lich Auswirkungen auf das gesamte deutsche ISAF-Kon-
tingent. Deutsche Stellungen der ISAF-Truppe könnten
zunehmend Ziel von Angriffen und Anschlägen werden.
Der Einsatz deutscher Tornados wäre damit kein Beitrag
zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan. Das Gegen-
teil wäre der Fall.
8768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
In dieser Einschätzung fühle ich mich bestärkt durch
Warnungen von in Afghanistan tätigen NGOs wie
Medica Mondiale. Diese zivile deutsche Organisation,
die in Kabul, Herat, Masar-i-Scharif und Kandahar her-
vorragende Arbeit zum Thema „Gewalt gegen Frauen“
leistet, befürchtet, dass sich die Gefahr für Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen vor Ort durch einen Einsatz von
Bundeswehr-Tornados stark erhöhen würde. Bei einer
weiteren Militarisierung der Lage würden sich immer
weniger zivile Fachkräfte imstande sehen, sich dem er-
höhten Sicherheitsrisiko auszusetzen.
Ich bin der Ansicht, dass nur eine weitere Stärkung
der Zivilgesellschaft und eine Fortsetzung der sinnvollen
Wiederaufbauhilfe, die Deutschland in der Vergangen-
heit geleistet hat, ein Gegengewicht zu einer weiteren
Eskalierung militärischer Gewalt bilden kann. Ich sehe
daher in der Entsendung von Recce-Tornados nach Af-
ghanistan ein nicht vertretbares Risiko für unsere deut-
schen Soldaten, für das Gelingen des ISAF-Einsatzes
insgesamt und für die Arbeit von NGOs in Afghanistan.
Daher lehne ich die Entsendung von acht Recce-Torna-
dos und deren Einsatz in Afghanistan ab.
Anlage 14
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes-
regierung: Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationa-
len Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
nistan unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444
(2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005)
und 1707 (2006) des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen (Tagesordnungspunkt 21 a)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Zunächst ist fest-
zustellen, dass ich dem Antrag auf Einsatz von Recce-
Tornados zur Verstärkung des Bundeswehreinsatzes in
Afghanistan im Rahmen von ISAF nur unter größten
Vorbehalten zustimme.
Das Grundmandat wurde 2001 von der damaligen rot-
grünen Bundesregierung befürwortet und mit entspre-
chenden Mehrheiten beschlossen. Ich war damals noch
nicht Mitglied des Deutschen Bundestages und würde un-
ter heutigen Bedingungen für einen verstärkt auf militäri-
sche Präsenz ausgerichteten Auftrag keine Zustimmung
geben. Der jetzt geplante Einsatz der Tornado-Aufklä-
rungsflugzeuge ist keine solche Grundsatzentscheidung,
sondern eine Ergänzung, die wegen unserer Bündnisver-
pflichtungen und aus Sicherheitsgründen – für den Schutz
unserer Soldaten, der zivilen Entwicklungshelfer sowie
gefährdeter Wiederaufbauprojekte – notwendig erscheint.
Mit den Aufklärungsflügen soll es besser als jetzt mög-
lich sein, Gefahren rechtzeitig zu erkennen, insbesondere
hinsichtlich der fragilen Sicherheitslage im Südosten
Afghanistans.
Insgesamt aber sollte Deutschland innerhalb der
NATO und der EU darauf drängen, eine grundlegende
Überprüfung der Strategie hinsichtlich der Aufwertung
der UN-Mission im Sinne einer Verstärkung der wirt-
schaftlichen und politischen Hilfe zu erreichen. Diese
umfassende politische Stabilisierung Afghanistans
wurde bereits auf dem NATO-Gipfel im November 2006
angemahnt. Mit der derzeitigere Befristung des Einsat-
zes der Tornado-Aufklärer bis Oktober dieses Jahres ist
eine Möglichkeit der Überprüfung dieses Strategiewech-
sels gegeben.
Nur unter der Bedingung dieser Befristung, des beab-
sichtigten Strategiewechsels und der großen Befürch-
tung um die afghanische Bevölkerung, insbesondere um
Frauen und Mädchen, stimme ich zu. Ein Erstarken der
Taliban ist unter allen Umständen zu verhindern, da an-
sonsten der Wiederaufbau des Landes und die Rechte
und Freiheiten der Bevölkerung gefährdet würden.
Dr. Axel Berg (SPD): Die Internationale Sicherheits-
beistandtruppe unterstützt die Regierung Afghanistans
bei ihrer Aufgabe, für Sicherheit, Recht und Ordnung im
ganzen Land zu sorgen. ISAF soll eine friedliche politi-
sche Entwicklung Afghanistans gewährleisten. ISAF hat
beim Wiederaufbau Afghanistans Erfolge vorzuweisen.
Insbesondere die deutsche Bundeswehr hat in ihrem Ver-
antwortungsbereich zu einer Stabilisierung des Nordens
Afghanistans beigetragen.
Das ISAF-Mandat beinhaltet das Recht der ISAF-Sol-
daten auf Selbstverteidigung. Militärische Gewalt ist
auch dann zulässig, wenn es darum geht, die Regierung
und die Menschen in Afghanistan zu schützen.
ISAF ist dabei klar abzugrenzen von der Operation
Enduring Freedom, die die Bekämpfung des internatio-
nalen Terrorismus zum Ziel hat. Die Sicherheit deut-
scher Soldaten bisher beruht nicht zuletzt auf der relativ
klaren Trennung beider Operationen. Unter dieser Prä-
misse habe ich bisher allen Einsätzen deutscher Soldaten
in Afghanistan zugestimmt.
Der jetzt geplante Einsatz von Tornados der Bundes-
wehr über ganz Afghanistan führt zu erheblichen Un-
schärfen bei der Aufgabenteilung von ISAF und OEF.
Die Luftaufklärung der Bundeswehrtornados dient nach
Aussage des Bundesverteidigungsministers Dr. Franz
Josef Jung dem Schutz der ISAF-Truppen und der
Zielaufklärung vermuteter Stellungen militanter Wider-
standgruppen.
Ich bezweifle, dass es gelingen wird, die Einsatzbe-
dingungen – insbesondere hinsichtlich der Zusammenar-
beit zwischen ISAF und OEF – detailliert zu regeln. Es
steht also zu befürchten, dass Widerstandsgruppen in Af-
ghanistan eine solche Differenzierung nicht nachvollzie-
hen werden und die deutschen Tornados als Flugzeuge
im Kampfeinsatz bewerten.
Die Recce-Tornados könnten sowohl die ISAF – als
auch die OEF-Operationen in ihrer ganzen Breite unter-
stützen und haben insofern einen doppelten Verwen-
dungszweck die Stabilisierungsoperationen vor allem in
Nord-, West- und Zentralafghanistan und die zum Teil
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8769
(A) (C)
(B) (D)
hochintensiven Kampfoperationen bei der Aufstandsbe-
kämpfung im Süden und Osten. Es geht also weder nur
um Schutz, noch nur um Kampf, sondern sowohl um
Stabilisierungs- als auch um Kampfunterstützung.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Ma-
schinen zur Überwachung der bergigen afghanisch-
pakistanischen Grenze sowie zur Erkundung von Schlaf-
mohnfeldern eingesetzt werden. Die bisherige Drogen-
bekämpfung war, trotz positiver Einzelfälle, insgesamt
erfolglos. Feldzerstörungen trafen in einem Umfeld feh-
lender Alternativen oder nicht eingehaltener Zusagen
vor allem die ärmsten Bauern. Auch dies fördert Ent-
fremdung – und den Zulauf zu den Taliban. Für dieses
Jahr ist eine massive Ausweitung der Eradication ange-
kündigt. Die afghanische Regierung konnte bisher noch
dem massiven US-Druck für einen Herbizideinsatz wi-
derstehen.
Auch die präzisere Aufklärung durch Tornados kann
das hohe Risiko ziviler Opfer nicht entscheidend redu-
zieren, da Kombattanten und Zivilbevölkerung ange-
sichts landesüblicher Kleidung und Bewaffnung kaum
zu unterscheiden sind. Zur Praxis und Operationsfüh-
rung im Süden liegen kaum verlässliche Angaben vor.
Da dort vorrangig die Strategie verfolgt wird, die Auf-
ständischen zu bekämpfen, werden nicht nur eigene Sol-
daten einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sondern auch
die Zivilbevölkerung massiv in Mitleidenschaft gezogen
und Nothilfe und Aufbau vernachlässigt.
Deutsche Soldaten könnten damit für Kriegsoperatio-
nen verantwortlich gemacht werden, auf deren Planung
und Durchführung sie keinerlei Einfluss haben. Jeden
Tag sind als Folge von Einsätzen der Amerikaner Opfer
unter der afghanischen Zivilbevölkerung zu beklagen,
zuletzt am Sonntag, dem 4. März 2007. Mit dem Einsatz
der deutschen Tornados wären wir zumindest in der
Wahrnehmung der Afghaninnen und Afghanen in diese
verhängnisvolle Kette von Gewalt hineingezogen. Dies
hätte letztlich Auswirkungen auf das gesamte deutsche
ISAF-Kontingent. Deutsche Stellungen der ISAF-
Truppe könnten zunehmend Ziel von Angriffen und An-
schlägen werden. Der Einsatz deutscher Tornados wäre
damit kein Beitrag zur Stabilisierung der Lage in Afgha-
nistan. Das Gegenteil wäre der Fall.
In dieser Einschätzung fühle ich mich bestärkt durch
Warnungen von in Afghanistan tätigen NGOs wie
Medica Mondiale. Diese zivile deutsche Organisation,
die in Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif und Kandahar her-
vorragende Arbeit zum Thema Gewalt gegen Frauen
leistet, befürchtet, dass sich die Gefahr für Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter vor Ort durch einen Einsatz von
Bundeswehrtornados stark erhöhen würde. Bei einer
weiteren Militarisierung der Lage würden sich immer
weniger zivile Fachkräfte imstande sehen, sich dem er-
höhten Sicherheitsrisiko auszusetzen.
Ich teile die Meinung von Medica Mondiale, dass nur
eine weitere Stärkung der Zivilgesellschaft und eine
Fortsetzung der sinnvollen Wiederaufbauhilfe, die
Deutschland in der Vergangenheit geleistet hat, ein Ge-
gengewicht zu einer weiteren Eskalierung militärischer
Gewalt bilden kann. Der Einsatz von sechs Tornados
wird für die nächsten sechs Monate auf 35 Millionen
Euro taxiert. Das deutsche Jahresbudget für bilaterale
Aufbauhilfe in Afghanistan betrug bisher lediglich
80 Millionen Euro.
Wenn der Aufbau im bisherigen Tempo fortgesetzt
wird, wären in fünf Jahren vielleicht 10 Prozent der Zer-
störungen von 26 Jahren Krieg wieder aufgebaut. Afgha-
nische Polizisten und Soldaten erhalten 50 bis 60 US-
Dollar im Monat, Taliban-Söldner 200 bis 600 Dollar.
Die Forderungen nach einer Forcierung des zivilen Auf-
baus fanden bisher nur ein unzureichendes Echo. Es ist
zu hoffen, dass die beschlossene Polizeimission der Eu-
ropäischen Union mit einer deutlichen Verstärkung der
Kapazitäten einhergeht.
Der Einsatz von Recce-Tornados kann neben dem po-
sitiven Teilnutzen für die Stabilisierungsoperationen auf
die Unterstützung einer falschen Strategie hinauslaufen,
in jedem Fall würde sie die militärisch-zivile Unausge-
wogenheit des deutschen Engagements verstärken.
Ich sehe daher in der Entsendung von Recce-Torna-
dos nach Afghanistan ein nicht vertretbares Risiko für
unsere deutschen Soldaten, für das Gelingen des ISAF-
Einsatzes insgesamt und für die Arbeit von NGOs in Af-
ghanistan und lehne den Einsatz ab.
Lothar Binding (SPD): Nachfolgend deute ich den
Abwägungsprozess für meine unten angefügte Entschei-
dung an. Dabei greife ich in einigen Fällen wortgleich
auf Informationen der Bundesregierung bzw. einiger
Kollegen aus der SPD-Fraktion zurück.
Seit über fünf Jahren ist die Bundesrepublik Deutsch-
land aktiv am Aufbau von staatlichen und gesellschaftli-
chen Strukturen sowie in verschiedenen Bereichen der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Afghanistan enga-
giert. Seit Ende 2001 war Deutschland führend am Pro-
zess zum Aufbau rechtsstaatlicher und demokratischer
Ordnung beteiligt und hat dazu drei internationale Af-
ghanistankonferenzen organisiert. Die Bundeswehr leis-
tet seit Beginn des internationalen Engagements im Rah-
men eines UN-Mandates – ISAF – einen mit unserer
zivilen Unterstützung vernetzten wichtigen Beitrag zur
militärischen Absicherung des Stabilisierungs- und Wie-
deraufbauprozesses in Afghanistan.
Bisher habe ich allen Afghanistaneinsätzen in enger
Abstimmung mit meinen afghanischen Freunden zuge-
stimmt. Unser Konzept ist darauf orientiert, in Afghanis-
tan zivile Aufbauprozesse zu ermöglichen und einen
Rahmen zu schaffen, der Terrorismus stetig weiter ein-
engt. Durch bessere Bildungschancen, durch Stärkung
der Frauenrechte, durch Ausweitung der zivilgesell-
schaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten, den Aufbau
wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Infrastruktur
usw. soll jeglichem Terrorismus der Boden entzogen
werden. Soweit eine – meine – Idealvorstellung. In der
Praxis stellt sich diese Aufgabe aber als sehr risikoreich
dar und erfordert schon aus Gründen einer eventuell not-
wendigen Selbstverteidigung über rein zivile Vorerfah-
rungen hinausgehende Erfahrungen – militärische Prä-
senz war und ist heute noch erforderlich und auch von
8770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Afghanistan erwünscht. An dieser Aufgabe – Aufbau
des Landes und Schutz vor terroristischen Übergriffen –
möchte ich solange festhalten, bis Afghanistan selbst
diese Aufgabe übernehmen kann.
Diese Aufgabe hat die Bundeswehr bisher im Norden
sehr gut erfüllt. Natürlich gab es Rückschläge, aber in
noch immer tribalen Strukturen und einem Land, das
maßgeblich vom Drogenanbau dominiert wird, müssen
die Maßstäbe für die oben genannten Ziele entsprechend
transformiert werden. Insgesamt sind die Entwicklungen
im Norden Afghanistans, also dem Einsatzgebiet der
Bundeswehr, ein Erfolg deutscher Außenpolitik. Eine
der Voraussetzungen für diesen Erfolg war sicherlich ei-
nerseits die räumliche Begrenzung, andererseits die Ar-
beitsteilung zwischen den verschiedenen Nationen. So
konnten unterschiedliche Konzepte zur Anwendung
kommen und die Aufträge für die Bundeswehr – einer
„Parlamentsarmee“ – entsprechend definiert werden.
Soldaten der Bundeswehr waren in der Vergangenheit
an verschiedenen Auslandseinsätzen im Rahmen der
kollektiven Bündnisse der Vereinten Nationen und der
NATO beteiligt. In einer Entscheidung vom 12. Juli
1994 hat das Bundesverfassungsgericht bekräftigt, dass
Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz im Zusammenwirken mit
Art. 87 a Abs. 2 Grundgesetz die verfassungsrechtliche
Grundlage für die Einordnung der Bundesrepublik
Deutschland in ein System gegenseitiger kollektiver Si-
cherheit zur Wahrung des Friedens darstellt. Als Abge-
ordneter muss ich bei meiner Entscheidung berücksichti-
gen, dass die Bundesrepublik als Mitglied in der NATO
Verantwortung für deutsche Soldatinnen und Soldaten
und auch für alle Soldaten der NATO-Vertragsstaaten
übernimmt und Verpflichtungen eingeht.
Die Verpflichtungen, die sich aus der NATO-Mit-
gliedschaft ergeben, erfordern außenpolitische Verläss-
lichkeit als Bündnispartner. Diese setzt innenpolitische
Unterstützung der Bundesregierung durch die sie tragen-
den Koalitionsfraktionen voraus. Denn jede letztgültige
Entscheidung muss von innen bestimmt und nach außen
vertreten werden.
Die angeforderte und auch erforderliche Bündnistreue
steht in Konflikt mit der Entscheidungs- und Gewissens-
freiheit als Abgeordneter. Die NATO-Mitgliedschaft be-
gründet keinen Automatismus; denn die Letztentschei-
dung über einen Einsatz unserer Soldatinnen und
Soldaten obliegt dem Bundestag. Dieser Parlamentsvor-
behalt ist eng mit dem freien Mandat und der Gewissens-
freiheit des Abgeordneten verbunden. Er genießt Vor-
rang gegenüber den außenpolitischen Erfordernissen und
ist zusätzlich begründet durch die besondere historische
Verantwortung Deutschlands.
Dies gilt umso mehr, als der Abgeordnete eines natio-
nalen Parlaments am Entscheidungsprozess der NATO,
der zu bestimmten Anforderungen führt, nicht immer
hinreichend beteiligt ist. Dies gilt gleichermaßen für die
Abgeordneten anderer nationaler Parlamente.
Im Falle einer Koalitionsmehrheit muss die Gewis-
sensfreiheit abgewogen werden gegen die Handlungsfä-
higkeit der gesamten Regierung in allen Politikfeldern –
eine schwierige Entscheidungssituation für jeden einzel-
nen Abgeordneten, auch für mich.
Mit dem Beitritt Deutschlands zu den Vereinten Na-
tionen und zur NATO wurden auch Einsätze der Bundes-
wehr im Rahmen und nach den Regeln von VN und
NATO möglich; mit Blick auf die wechselseitigen Ver-
pflichtungen, die man in Bündnissen eingeht, sind solche
Einsätze vielleicht sogar nötig. Allerdings ist für mich
Bündnistreue allein kein hinreichender Grund, für Ein-
sätze der Bundeswehr zu stimmen. Art und Ziel des Ein-
satzes dominieren meine Entscheidung.
Auslöser der aktuellen Entscheidung über eine Ent-
sendung von Tornados nach Afghanistan war eine An-
frage der NATO. Die Bundesregierung hat nach Prüfung
dieser Anfrage über die Ergänzung des vom Bundestag
am 26. September vergangenen Jahres verlängerten
ISAF-Mandates einen Beschluss gefasst, wonach zeit-
lich befristet Aufklärungsflugzeuge des Typs Recce-Tor-
nado nach Afghanistan verlegt werden sollen.
Die Bundesregierung hat wichtige Beschränkungen
für den Einsatz der Tornados vorgesehen. Sie dürfen nur
zum Zwecke der Aufklärung und Überwachung aus der
Luft eingesetzt werden. Wie die Bundesregierung in ih-
rer Mandatsbegründung ausführt, sieht der ISAF-Opera-
tionsplan eine restriktive Übermittlung von Aufklä-
rungsergebnissen an die internationale Operation
Enduring Freedom vor. Die Übermittlung von Aufklä-
rungsdaten darf nur erfolgen, wenn dies zur erfolgrei-
chen Durchführung der ISAF-Operation oder für die
Sicherheit von ISAF-Kräften erforderlich ist. Die Aufklä-
rungsflugzeuge sollen nicht zur Luftnahunterstützung ein-
gesetzt werden. Die Erkenntnisse werden von ISAF für
Schutzmaßnahmen genutzt, aber auch zur Bekämpfung
der Taliban und anderer oppositioneller militanter
Kräfte.
Neben der Bitte um eine Ausweitung des militäri-
schen Engagements und die aktive Beteiligung deutscher
Soldaten an Kampfeinsätzen steht das Bemühen seitens
der NATO, die Europäische Union und weitere interna-
tionale Organisationen wie Weltbank und Vereinte Na-
tionen zu einem verstärkten Engagement in Afghanistan
aufzurufen. Der NATO-Generalsekretär de Hoop
Scheffer kritisierte in diesem Zusammenhang bereits die
Einsatzbeschränkungen für mehrere Kontingente der aus
verschiedenen Ländern stammenden internationalen Af-
ghanistanschutztruppe ISAF.
Auch der Bundestag hat im Rahmen des Stabilisie-
rungsmandates der Vereinten Nationen in Afghanistan,
– kurz ISAF – solche Beschränkungen hinsichtlich des
geografischen Einsatzgebietes in Afghanistan und der
Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfhandlungen
definiert, die meine volle Unterstützung hatten und ha-
ben. Das Parlament hat einer Verlängerung dieses Enga-
gements der Bundeswehr am 28. September 2006 zuge-
stimmt.
Dieses Mandat erlaubt den Einsatz von maximal
3 000 Soldaten in Afghanistan. Gegenwärtig sind etwa
2 850 dort stationiert. Das Mandat sieht einen Einsatz
nicht im Süden des Landes, sondern nur im Norden vor.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8771
(A) (C)
(B) (D)
Im Rahmen des Selbstverteidigungs- und Nothilferechts
darf die Truppe alle zum Schutz der Regierung und der
Zivilbevölkerung erforderlichen Maßnahmen ergreifen.
Darüber hinaus dürfen die deutschen Streitkräfte aber
nicht zu Kampfhandlungen eingesetzt werden. In ande-
ren Regionen des Landes, in denen Militäreinheiten un-
serer Bündnispartner seit Sommer verstärkte Offensiven
gegen die bewaffnete Opposition in Afghanistan durch-
führen, wird ein Einsatz wie bisher nur für zeitlich und
im Umfang begrenzte Unterstützungsleistungen ermög-
licht. Forderungen unserer NATO-Partner nach einem
direkten Einsatz der Bundeswehr, insbesondere von Ein-
heiten des Kommandos Spezialkräfte – KSK –, bei der
aktiven Bekämpfung des Drogenanbaus und -handels
waren von der Bundesregierung zurückgewiesen wor-
den. In einer Protokollnotiz hatte die Bundesregierung
im Oktober 2003 klargestellt, dass „die Drogenbekämp-
fung nicht im Mandat des Bundeswehreinsatzes enthalten
ist“.
Gegenwärtig drohen die Kommandeure der Taliban
damit, das Land zu irakisieren, mit funkgesteuerten
Kleinstbomben zu agieren, die Selbstmordattentate zu
erhöhen. Das Ganze könnte nicht trotz, sondern sogar
wegen der Tornados geschehen. Dass dann der Ruf nach
deutschen Bodentruppen im Osten und Süden Afghanis-
tans noch stärker als bislang ertönen dürfte, ist für uns
die militärisch logische und wahrscheinliche Konse-
quenz. Deutschland könnte mit zunehmendem Zeitab-
lauf nicht mehr vermitteln können, warum es nicht mit
gleichem Risiko wie die anderen Nationen beteiligt ist.
Diese Weigerung, sich an Kampfeinsätzen zu beteili-
gen, halte ich für die richtige Entscheidung, die ich auch
zur Grundlage meiner gegenwärtigen Einschätzung der
politischen Situation mache. Denn die Erfahrungen mit
bisherigen Militärmissionen, die unter dem Mandat der
VN oder der NATO standen, zeigt, dass Truppen oftmals
zahlreiche eigene Todesopfer zu beklagen hatten und
eine Beteiligung in engster Kooperation schnell an
Selbstbestimmung verliert. Das ist ein in der Praxis nicht
kalkulierbares Risiko. Das Wissen um diese möglichen
Konsequenzen meiner Entscheidung für die betroffenen
Bundeswehrsoldaten und ihre Angehörigen stellt eine
schwere moralische Bürde dar.
Meine Entscheidung bespreche ich auch mit afghani-
schen Freunden, die mir ein genaues und lebensnahes
Bild von der Lage im Land zeichnen und deren Friedens-
orientierung für mich zweifelsfrei feststeht. Gegenwärtig
werde die Aufbauarbeit durch die afghanische Regie-
rung in der Öffentlichkeit nicht genug sichtbar; die Re-
gierung gilt als schwach. Militärische Präsenz dagegen
werde viel deutlicher sichtbar. Statt ziviler Projekte, de-
ren Lebensdauer oft auf wenige Monate begrenzt ist, sei
der Schwerpunkt des Engagements umzulenken von mi-
litärischen Aktivitäten in zivilen Aufbau. Meine Auf-
gabe ist es, die verschiedenen Aspekte der Auslandsein-
sätze und der Terrorismusbekämpfung sensibel zu
betrachten und Handlungsalternativen besonnen gegen-
einander abzuwägen. Entscheidungen wie die, Soldatin-
nen und Soldaten in ein militärisches Krisengebiet zu
schicken, sind schwierige Gewissensfragen für mich.
Dies gilt genauso für Kolleginnen und Kollegen, die
anders abstimmen. Für sie gibt es mit Blick auf die Hilfe
und Unterstützung anderer Einsatztruppen auch Gründe,
für den Einsatz zu stimmen. Hier gilt es, wechselseitig
die Ernsthaftigkeit der Abwägungsprozesse mit unter-
schiedlichen Ergebnissen zu respektieren. Die Unbere-
chenbarkeit in terroristischem Umfeld führt bei allen
Handlungsoptionen zu Restzweifeln über „die richtige“
Entscheidung.
Zudem befürchte ich, dass sich unsere Weigerung,
Bodentruppen für einen möglichen Kampfeinsatz zu ent-
senden, angesichts drohender Verluste anderer Truppen-
teile nicht aufrechterhalten lassen wird, wenn wir der
Entsendung von Tornado-Flugzeugen zugestimmt und
damit unsere Bereitschaft zu Kampfeinsätzen signalisiert
haben. Der Tornado-Einsatz liegt zwischen den bisher
getroffenen Entscheidungen und weiteren Erwartungen
bestimmter Bündnispartner, deren Schwelle zu militäri-
schen Kampfeinsätzen sehr viel niedriger ist.
Ich möchte auch die Leistungsfähigkeit unserer Sol-
daten und Soldatinnen nicht aus den Augen verlieren.
Die Belastungsgrenze ist angesichts deutscher Beteili-
gung an vielen Missionen in der Welt erreicht.
Die Pläne der Regierung hatten zunächst vorgesehen,
die lange geplante Rückverlegung von Soldaten aus
Mazar-i-Sharif in Nordafghanistan und das damit ver-
bundene Freiwerden eines Truppenkontingentes von
400 Mann dazu zu nutzen, um 250 Soldaten der Luft-
waffe mit den Tornados nach Afghanistan zu schicken.
Damit hätte man sich im Rahmen des laufenden Bundes-
tagsmandates bewegt, das eine Obergrenze von 3 000
Soldaten für den Einsatz vorsieht; aus formalrechtlicher
Sicht wäre damit eine Debatte um das Mandat und eine
Entscheidung des Bundestages vermieden worden. Da
meines Erachtens mit der aktiven Beteiligung der Bun-
deswehr an Kampfeinsätzen in Süd- und Ostafghanistan
allerdings eine inhaltliche Neuausrichtung des Mandates
einhergeht, halte ich eine Entscheidung im Bundestag
für erforderlich.
Den Vorschlag aus den Reihen unseres Koalitions-
partners, der Bundestag solle die Bundesregierung zu
Beginn einer Legislaturperiode ermächtigen, internatio-
nalen Organisationen Truppen anzubieten, den konkre-
ten Marschbefehl vom Bundeskabinett erteilen zu lassen
und dem Parlament lediglich ein Rückholrecht innerhalb
von 90 Tagen zuzugestehen, halte ich unter dem Aspekt
der zivilen Kontrolle der Streitkräfte für nicht sinnvoll
und praktikabel. Gerade bei solch schwierigen Entschei-
dungen darf ein Parlament vor der Verantwortung nicht
zurückschrecken.
Außerdem gilt für die Entscheidung über den Einsatz
bewaffneter deutscher Streitkräfte der wehrverfassungs-
rechtliche Vorbehalt des Parlaments. Dieser verpflichtet
die Bundesregierung, grundsätzlich im Voraus die Zu-
stimmung des Bundestages zu Einsätzen einzuholen. Mit
Inkrafttreten des neuen Gesetzes über die parlamentari-
sche Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte im Ausland – dem Parlamentsbe-
teiligungsgesetz vom 24. März 2005 – werden diese Mit-
8772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
wirkungsrechte des Deutschen Bundestages konkreti-
siert. Zu den Befugnissen gehören insbesondere das
Rückholrecht der Soldaten im Kampfeinsatz und die
Verpflichtung der Regierung zur Unterrichtung des Par-
laments.
Neben diesen gesetzlichen Schranken gegen einen
Missbrauch militärischen Engagements hat auch der ein-
zelne Abgeordnete einen wichtigen Anteil an der Kon-
trolle über die Streitkräfte. Denn es handelt sich bei der
Bundeswehr um eine Parlamentsarmee, und die Angehö-
rigen unserer Streitkräfte müssen darauf vertrauen kön-
nen, dass die Abgeordneten das Für und Wider eines
Einsatzes genau abwägen.
Die jüngere Vergangenheit hat deutlich gemacht, dass
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sich ihrer
Verantwortung, die mit einem Einsatz deutscher Truppen
im Ausland verbunden ist, bewusst sind und ihre Ent-
scheidungen erst nach reiflicher Überlegung und sorgfäl-
tiger Gewissensprüfung getroffen haben. In diesem
Zusammenhang erinnere ich daran, dass ich dem Liba-
noneinsatz der Bundeswehr im Rahmen der UNIFIL-
Mission nicht zugestimmt habe.
Deshalb plädiere ich dafür, bei der Analyse unserer
Vorgehensweise und der Suche nach Wegen zu Befrie-
dung und Wiederaufbau in Afghanistan behutsam zu ar-
gumentieren, auch wenn man damit Gefahr läuft, keine
einfachen Auswege aus dem Dilemma anbieten zu kön-
nen. Momentan sehe ich keine vernünftige Alternative
zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Si-
cherheit und Ordnung durch militärische Präsenz in Nord-
afghanistan und bin mir dabei durchaus des Dilemmas
der Erzwingung von Ruhe und Frieden bewusst. Aller-
dings habe ich auch keine befriedigende Antwort auf die
Frage gefunden, in welchem Zustand sich Afghanistan
ohne den militärischen Schutz der internationalen Trup-
pen, die im Rahmen der Mandate Operation Enduring
Freedom – ORF – und International Security Assistance
Force – ISAF – operieren, befände.
Aufgabe der OEF ist der Kampf gegen den internatio-
nalen Terrorismus und seine Unterstützer auf der Grund-
lage von Art. 51 der VN-Satzung, der das Recht auf
Selbstverteidigung festschreibt, und den Resolutionen
1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie Art. 5 des Nordatlantikvertra-
ges.
Die OEF besteht derzeit aus zwei weitgehend unab-
hängigen Teiloperationen: Eine wird in Afghanistan, die
andere im Seegebiet am Horn von Afrika durchgeführt.
Die Bundeswehr war an den Kampfeinsätzen zur Terro-
rismusbekämpfung im Rahmen der OEF nur mit kleinen
Einheiten des Kommandos Spezialkräfte – KSK – betei-
ligt. Nach Angaben von Verteidigungsminister Franz
Josef Jung (CDU) hat es seit dem Regierungswechsel
keine KSK-Einsätze in Afghanistan mehr gegeben. Der
letzte Beitrag wurde im Mai 2005 beendet, und im Okto-
ber 2005 wurde die Rückverlegung aller deutschen
KSK-Kräfte nach Deutschland abgeschlossen. Hier ist
gut zu erkennen, wie sensibel Regierung und Parlament
mit diesen Fragen umgehen, und dass eine digital redu-
zierte Beurteilung – ja/nein, gut/böse, richtig/falsch – an
friedensorientierten Lösungen vorbeiführt.
Innerhalb der NATO-geführten internationalen Si-
cherheitsunterstützungstruppe – ISAF – sollen unsere
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan den Frieden sichern
und den Wiederaufbau unterstützen. Nach den terroristi-
schen Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA
und dem Sturz des Talibanregimes hatten sich Vertreter
unterschiedlicher politischer Kräfte Afghanistans Ende
2001 anlässlich der Petersberger Konferenz in Bonn auf
eine „Vereinbarung über provisorische Regelungen in
Afghanistan“ bis zum Wiederaufbau dauerhafter
Regierungsinstitutionen geeinigt. Mit dieser sogenann-
ten Bonner Vereinbarung war die politische Grundlage
für die NATO-geführte International Security Assistance
Force – ISAF – geschaffen, deren Aufstellung der UN-
Sicherheitsrat am 20. Dezember 2001 mit der Resolution
1386 beschlossen hat. Mit der am 5. Oktober 2006 er-
folgten Ausdehnung des Einsatzgebiets der NATO-ge-
führten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe
– ISAF – auf ganz Afghanistan besteht die Hoffnung,
dass es mit dem auch stärker an zivilen Erfordernissen
orientierten Ansatz von ISAF gelingen kann, die Regie-
rungsgewalt der Zentralregierung und damit auch die
Aufbaubemühungen auf diese bislang vernachlässigten
Regionen auszuweiten.
Meine Auffassung ist, dass die Bekämpfung des Ter-
rorismus in erster Linie keine militärische, sondern eine
politische Aufgabe ist. OEF und ISAF sind daher als ein
Element einer Gesamtstrategie zu sehen, die Maßnah-
men auch und gerade in zahlreichen anderen nichtmilitä-
rischen Bereichen umfasst. Sie kann dabei auf militäri-
schen Schutz nicht verzichten. Afghanistan ist trotz
eines insgesamt erfolgreich verlaufenden Stabilisie-
rungsprozesses weiterhin auf die Unterstützung der in-
ternationalen Gemeinschaft angewiesen, sodass eine
Fortsetzung der Anwesenheit internationaler Sicher-
heitskräfte unbedingt erforderlich bleibt. Militärische
Mittel sind bei der Bekämpfung des Terrorismus nur ein
– allerdings unerlässliches – Element, das von polizeili-
chen, politischen, wirtschaftlichen, entwicklungspoliti-
schen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen begleitet
werden muss. Daher begrüße ich die Aufstockung der fi-
nanziellen Mittel um 20 Millionen auf 100 Millionen
Euro, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung am vergangenen Mitt-
woch bekanntgegeben hat. Die deutsche Aufbauhilfe
konzentriert sich auf die Bereiche Energie- und Wasser-
versorgung sowie die Bildungsförderung in Groß- und
Kleinprojekten und soll auch auf den Süden des Landes
ausgeweitet werden, um diese Krisenregion weiter zu
stabilisieren.
Seit fast fünf Jahren ist die Bundesrepublik Deutsch-
land aktiv am Aufbau von staatlichen Strukturen und in
verschiedenen Bereichen der wirtschaftlichen Zusam-
menarbeit engagiert. Dazu wurden im November 2003
und im September 2004 je ein „Provincial Reconstruc-
tion Team“, das heißt ein regionales Wiederaufbauteam,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8773
(A) (C)
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in Kunduz und Faisabad aufgestellt, die mit ihrer zivilen
Ausrichtung die Autorität der Zentralregierung in den
Provinzen stärken und die Wiederaufbaubemühungen
unterstützen sollen. Zentrale Aufgabe der deutschen
Wiederaufbauteams war „die Schaffung eines Klimas
der Sicherheit, in dem afghanische Kräfte zur Drogenbe-
kämpfung ausgebildet werden“. Deutsche Soldaten sollen
deshalb, wie bisher, nur logistische Unterstützung leis-
ten.
Deutschland hat bis 2010 weitere 400 Millionen Euro
für den Wiederaufbau zugesagt. Das BMZ hat im No-
vember 2006 ein Pilotprojekt für die Provinzen Paklia
und Khost im Südosten begonnen. Weitere Aktivitäten
im Süden sind nötig, um den Menschen zu zeigen, dass
die internationale Präsenz ihren Interessen dient. Die EU
hat zu diesem Zweck Ende Januar weitere 600 Millionen
Euro für zivile Entwicklung bereitgestellt. Darüber hin-
aus wurde im Februar eine ESVP-Mission beschlossen,
die 160 Kräfte für den Polizeiaufbau und 70 Berater für
die Reform der Justiz umfassen soll. Da der Nachschub
aus den paschtunischen Stammesgebieten Pakistans eine
zentrale Rolle für die Stärke der afghanischen Taliban
spielt, setzt sich Deutschland zusammen mit seinen Ver-
bündeten für eine bessere Kooperation der pakistani-
schen Regierung mit den afghanischen Nachbarn ein.
Bei einem Treffen der EU-Troika mit Pakistan konnten
Anfang Februar 2007 gemeinsame Anstrengungen zur
Sicherung der Grenze vereinbart werden. Dafür stellt die
EU wiederum 200 Millionen Euro bereit.
Deutschland ist in Afghanistan weiterhin ein aner-
kannter und angesehener Partner und leistet einen un-
verzichtbaren Beitrag zur notwendigen militärischen
Absicherung des Stabilisierungsprozesses in Afghanis-
tan. Allerdings sind 23 Jahre Bürgerkrieg und Taliban-
herrschaft nicht kurzfristig zu überwinden. Die fortbe-
stehende Gefährdungslage erfordert von der Allianz
weiterhin die Bereitstellung ausgewählter militärischer
Fähigkeiten für die Bekämpfung des Terrorismus. Die
militante Opposition, sowie die lokalen und regionalen
Machthaber und die organisierte Kriminalität sind im-
mer noch bestimmende Faktoren für die Sicherheits-
lage Afghanistans. Besonders im Süden und Osten stel-
len diese Faktoren eine wesentliche Bedrohung
afghanischer und internationaler Sicherheitskräfte, aber
auch der gesellschaftlichen, sozialen und ökonomi-
schen Entwicklung dar. Es bedarf hier weiterhin der ak-
tiven Terrorismusbekämpfung durch OEF, bis die af-
ghanischen Sicherheitskräfte eigenständig in der Lage
sind, die Sicherheit im eigenen Lande zu gewährleis-
ten. Die Bundesrepublik leistet hierzu ihren Beitrag mit
der Ausbildung von Sicherheitskräften, der Bereitstel-
lung logistischer Unterstützung und der Bewahrung ei-
nes Raums relativer Sicherheit und Ruhe im Norden.
In Abwägung all dieser Aspekte trete ich für die Bei-
behaltung der bisherigen Präsenz deutscher Soldaten in
Afghanistan ein, lehne aber eine Erweiterung der bishe-
rigen Aufgabe und die Entsendung von Aufklärungs-
flugzeugen des Typs Recce-Tornado nach Afghanistan
ab.
Klaus Brandner (SPD): 2001 haben die Mitglieder
des Deutschen Bundestages und mit ihnen die Abgeord-
neten der SPD eine Grundsatzentscheidung getroffen.
Deutschland ist der Bitte der afghanischen Regierung
nachgekommen, sich an einer Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe – ISAF – zu beteiligen. Durch
diesen Einsatz auf Grundlage von Kapitel VII der UN-
Charta wollten wir Afghanistan auf seinem Weg des
Wiederaufbaus begleiten und stabilisieren. Den vorläufi-
gen Staatsorganen Afghanistans sollte die Vorbereitung
und Durchführung von demokratischen Wahlen in siche-
rem Umfeld ermöglicht werden. Der Bevölkerung
Afghanistans sollte mit Unterstützung der Vereinten Na-
tionen und zahlreicher internationaler Hilfskräfte eine
Chance auf einen Neuanfang in Sicherheit und politi-
scher Selbstbestimmung gegeben werden. Wir haben Af-
ghanistan und seiner Bevölkerung damit Unterstützung
zugesagt, sich vor der erneuten Kontrolle durch extre-
mistische und terroristische Kräfte und vor der Ausbeu-
tung von Land und Leuten zu schützen.
An diesen grundsätzlichen Zielen hat sich nichts ge-
ändert. Der Deutsche Bundestag hat das ISAF-Mandat
daher nicht nur verlängert, sondern auch auf Regionen
jenseits von Kabul ausgeweitet. Die Bundesregierung
hat die deutsche Verantwortung für die Zukunft Afgha-
nistans nicht zuletzt im „Afghanistan Compact“ Anfang
2006 bestätigt.
Ressortübergreifend leistet Deutschland daher uner-
müdlich und mit umfangreichen finanziellen Mitteln ei-
nen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes.
Besonders hervorzuheben sind dabei die Ausbildung der
afghanischen Polizei und insbesondere die beachtens-
werten Programme und Projekte in der Entwicklungszu-
sammenarbeit. Deutsche Bundeswehrsoldaten kommen
dabei weiter ihrem Mandat nach und sichern die Bemü-
hungen der afghanischen Zivilbevölkerung und der in-
ternationalen Hilfskräfte ab. Nicht zuletzt durch die Ein-
beziehung der afghanischen Zivilgesellschaft und ziviler
Hilfskräfte konnten deutsche Soldaten Vertrauen schaf-
fen und dadurch nachhaltige Verbesserungen erreichen.
Das bisherige Auftreten der deutschen Bundeswehrsol-
daten und der deutsche Ansatz der zivil-militärischen
Zusammenarbeit haben sich bewährt.
Die Lage in Afghanistan hat sich in den letzten Mona-
ten dramatisch verschlechtert; denn die Regierung
Karzai ist nach wie vor schwach und weit davon ent-
fernt, ihre Kontrolle auf das gesamte Land auszuweiten.
Die Rückkehr der Taliban in das Sicherheitsvakuum im
Süden Afghanistans bedroht daher den weiteren Ent-
wicklungsprozess und die politische Stabilität des gan-
zen Landes.
Wir sehen in der Entsendung von Tornados keine qua-
litative Änderung des bisher von Deutschland verfolgten
Kurses. Auch der Einsatz von Tornados zielt darauf ab,
Afghanistan bei der Gewinnung und Aufrechterhaltung
der inneren Sicherheit zu unterstützen. Die Aufklärungs-
flüge dienen der Sicherheit der Menschen und internatio-
nalen Hilfskräfte und damit der Stabilität weit über den
Süden Afghanistans hinaus.
8774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Wir betrachten mit wachsender Sorge, dass Deutsch-
land mit einer verfehlten Antiterrorpolitik identifiziert
wird. Denn Deutschland hat stets betont, dass ein rein
militärischer Ansatz, der nur auf die Verfolgung von Ter-
roristen setzt, aber den zivilen Wiederaufbau vernach-
lässigt, zu kurz greift. Militärische Maßnahmen ohne
flankierendes ziviles Engagement können nicht von
nachhaltigem Erfolg gekrönt sein. Die dank der Bundes-
regierung auf dem NATO-Gipfel in Riga verabschie-
deten Auflagen, auch die zivile Komponente des En-
gagements in Afghanistan zu verstärken, entsprechen
dieser Einschätzung. Sie reichen aber nicht aus.
Wir begrüßen daher die intensive Debatte um den
ISAF-Einsatz und die Tornado-Entsendung in den letz-
ten Wochen, in der sich viele von uns umfangreich über
die Situation in Afghanistan informiert haben. Eine
grundlegende Überprüfung der Afghanistanstrategie se-
hen wir als Voraussetzung für die anstehende Verlänge-
rung der Mandate von ISAF und Operation Enduring
Freedom an. Wir erwarten von der Bundesregierung,
dass sie die verbleibende Zeit nutzt, um die begonnene
Debatte im Bündnis weiterzuführen und intensiv mit
dem Deutschen Bundestag abzustimmen. Wir haben da-
durch die Basis für die Diskussion geschaffen, die wir
im Hinblick auf die für den Herbst anstehende Entschei-
dung über die Verlängerung des ISAF-Mandats führen
werden.
Die Entscheidung über die Entsendung von deutschen
Tornados muss der Beginn einer ehrlichen Analyse der
bisherigen NATO-Strategie in Afghanistan sein. Alle
diejenigen, die unsere Kritik teilen, dass der Einsatz von
Mitteln für militärische Zwecke im Vergleich zu den In-
vestitionen in zivile Maßnahmen unverhältnismäßig
hoch ist, bitten wir, gemeinsam mit uns dafür zu sorgen,
dass in Zukunft in angemessenem Umfang Gelder für
den zivilen Wiederaufbau von Afghanistan bereitgestellt
werden.
Die SPD ist die Friedenspartei. Und eine umfassende
Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik. Doch diese
muss langfristig und vorausschauend geplant sein. Mili-
tärisches Engagement, für das wir uns in Afghanistan
entschieden haben, kann nur dann ermöglicht werden,
wenn man zu dauerhaften Verpflichtungen auch im flan-
kierenden zivilen und entwicklungspolitischen Bereich
bereit ist. Die zivil-militärische Zusammenarbeit steht
dabei im Vordergrund. Im Oktober läuft das Mandat für
den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan aus. Spä-
testens bis dann gehört eine nachhaltige Strategie für ei-
nen stabilen Frieden auf die Tagesordnung.
Martin Gerster (SPD): Seit über fünf Jahren ist die
Bundesrepublik Deutschland aktiv am Aufbau von staat-
lichen und gesellschaftlichen Strukturen sowie in ver-
schiedenen Bereichen der wirtschaftlichen Zusammenar-
beit in Afghanistan engagiert. Seit Ende 2001 war
Deutschland führend am Prozess zum Aufbau rechts-
staatlicher und demokratischer Ordnung beteiligt und hat
dazu drei internationale Afghanistankonferenzen organi-
siert. Die Bundeswehr leistet seit Beginn des internatio-
nalen Engagements im Rahmen eines UN-Mandates,
– ISAF – einen mit unserer zivilen Unterstützung ver-
netzten, wichtigen Beitrag zur militärischen Absiche-
rung des ISAF-Stabilisierungs- und Wiederaufbaupro-
zesses in Afghanistan.
Das bisherige, auf die beschriebene Weise vernetzte
Engagement Deutschlands im Norden Afghanistans hat
wesentlich zur Stabilisierung in Kabul und im Norden
Afghanistans beigetragen und genießt hohe internatio-
nale Reputation. Dauerhafter Frieden und zuverlässige
humanitäre Hilfe waren und sind für die deutsche Au-
ßenpolitik zwei Seiten derselben Medaille. Diese Ver-
bindung unterstütze ich auch weiterhin.
Die deutsche Außenpolitik hat sich dabei auf sehr
wohltuende Weise von der Politik anderer Nationen un-
terschieden. Anders als in der Außenpolitik anderer Län-
der wurde der Kampf gegen den Terrorismus nicht als
Krieg betrachtet. Dass die „Kriegsstrategie“ bislang
nicht aufgegangen ist, belegt nicht nur der Umstand,
dass die Friedenssicherung im Osten und Süden Afgha-
nistans nach dem Willen der dort verantwortlichen Na-
tionen nun ebenfalls um eine zivile Begleitung mit höhe-
rem Gewicht ergänzt werden soll, die Deutschland im
Norden Afghanistans bereits erfolgreich betreibt.
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass selbst diese
Korrektur der „Kriegsstrategie“ noch zu wenig sein
könnte; denn eigentlich war die internationale Schutz-
truppe ISAF vor fünf Jahren mit 20 000 Soldatinnen und
Soldaten angetreten, um den zügigen Aufbau eines phy-
sisch und moralisch zerstörten Landes zu garantieren.
Die Reste der Taliban und von al-Qaida sollten von
hochgerüsteten Truppen in wenigen Monaten besiegt
sein. Die Realität, auf deren Grundlage der Antrag der
Bundesregierung jetzt gestellt wird, sieht leider anders
aus. Die Zahl der Anschläge auf militärische Ziele in Af-
ghanistan ist von 2005 auf 2006 dramatisch gestiegen:
von 1 632 auf 5 338. Insgesamt waren 4 000 Tote zu be-
klagen. Das sind zehnmal so viele wie drei Jahre zuvor.
Angesichts dieser Entwicklung stelle ich mir die
Frage, ob man diese Entwicklung beenden kann, indem
deutsche Tornados mit Aufklärungsflügen den Boden-
truppen den Weg weisen. Angesichts dieser Entwicklung
– insbesondere der Fehlentscheidungen in Ost- und Süd-
afghanistan, den Frieden dort vornehmlich mit militäri-
schen Mitteln erreichen zu wollen – sind wir mehr denn
je aufgerufen, alles zu tun, damit die Afghanen die Mit-
glieder fremder Nationen als ihre Unterstützer wahrneh-
men und anerkennen. Jeder zusätzliche militärische Bei-
trag mit nahezu unvermeidlichen zusätzlichen Opfern
aufseiten der Zivilbevölkerung birgt den Verdacht in
sich, die Afghanen nicht als gleichberechtigte Partner
anzuerkennen, sondern die Besatzungssituation perpetu-
ieren zu wollen.
Mit der nun von der Bundesregierung beantragten Be-
teiligung an dem Einsatz einer internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe verbinde ich daher die Be-
fürchtung, dass die bisherige fruchtbringende deutsche
Außenpolitik anders als bisher wahrgenommen würde.
Gegenwärtig drohen die Kommandeure der Taliban
damit, das Land zu irakisieren, mit funkgesteuerten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8775
(A) (C)
(B) (D)
Kleinstbomben zu agieren, die Selbstmordattentate zu
erhöhen. Das Ganze könnte nicht trotz, sondern sogar
wegen der Tornados geschehen. Dass dann der Ruf nach
deutschen Bodentruppen im Osten und Süden Afghanis-
tans noch stärker als bislang ertönen dürfte, ist für mich
die militärisch logische und wahrscheinliche Konse-
quenz. Deutschland könnte mit zunehmendem Zeitab-
lauf nicht mehr vermitteln können, warum es nicht mit
gleichem Risiko wie die anderen Nationen beteiligt ist.
Dies gilt umso mehr, als die Tornado-Einsätze nun in
die gerade anlaufende Frühjahrsoffensive der NATO und
in die Operation Enduring Freedom – OEF – einbezogen
werden sollen. Es besteht daher die Gefahr, dass deut-
sche Soldaten für Kriegsoperationen verantwortlich ge-
macht werden, auf deren Planung und Durchführung sie
kaum Einfluss haben. Dies hätte letztlich Auswirkungen
auf das gesamte deutsche ISAF-Kontingent. Deutsche
Stellungen der ISAF-Truppe könnten zunehmend Ziel
von Angriffen und Anschlägen werden und auch die er-
reichte Stabilisierung der Lage im Norden Afghanistans
wäre gefährdet.
Der Einsatz deutscher Tornados wäre damit kein Bei-
trag zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan. Das Ge-
genteil wäre der Fall. Ich sehe daher in der Entsendung
von Recce-Tornados nach Afghanistan ein nicht vertret-
bares Risiko für unsere deutschen Soldatinnen und Sol-
daten und für das Gelingen des ISAF-Einsatzes insge-
samt und werde dem erweiterten Mandat daher nicht
zustimmen.
Petra Hinz (Essen) (SPD): Wie alle anderen Mitglie-
der des Deutschen Bundestages bin auch ich der Auffas-
sung, dass die Situation in Afghanistan zutiefst beun-
ruhigend ist und ein erneutes Erstarken der Taliban
verhindert werden muss.
Wir entscheiden heute über den Einsatz von zusätz-
lich 500 deutschen Soldaten in Afghanistan für Aufklä-
rungs- und Überwachungsmissionen aus der Luft. Wird
dieser Einsatz heute vom Bundestag beschlossen, so be-
finden sich dann rund 8 000 deutsche Soldatinnen und
Soldaten in Auslandseinsätzen. Der Antrag erhöht nicht
nur die Zahl der eingesetzten Soldaten, sondern erweitert
auch den Auftrag und das Einsatzgebiet der Bundes-
wehr. Zum ersten Mal seit Beginn des deutschen En-
gagements in Afghanistan im Jahr 2002 werden bewaff-
nete deutsche Streitkräfte im gesamten afghanischen
Hoheitsgebiet eingesetzt und greifen aktiv in das Kampf-
geschehen ein. Deshalb geht es heute nicht um einen
Friedenseinsatz, sondern wir entscheiden über einen
Kampfeinsatz. Eine gleichlautende Aussage traf auch
der ehemalige Verteidigungsminister im Bonner „Gene-
ral-Anzeiger“.
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang
Schneiderhan, bestätigte, dass die eingesetzten Tornados
nahezu alles und zu jeder Zeit fotografieren werden.
Durch die Fotos können detaillierte Lagebilder über zi-
vile Einrichtungen, Truppenbewegungen der ISAF und
auch über mögliche Stellungen der Taliban erstellt wer-
den. Die Aufklärungsarbeit der deutschen Tornados ist
demnach geeignet, um die Angriffspläne und die Taktik
einer militärischen Offensive zu unterstützen.
In der Begründung des Antrages wird von einer „rest-
riktiven Übermittlung von Aufklärungsergebnissen“ an
die Streitkräfte der Operation Enduring Freedom, OEF,
gesprochen. Diese dürfen dann auch nur zur Sicherung
der ISAF-Kräfte verwendet werden. Eine andere Nut-
zung der Erkenntnisse durch OEF kann aber nicht ausge-
schlossen werden. Eine alleinige Verwendung der Fotos
zum Schutz von Zivilisten, Aufbauhelfern und Soldaten
der ISAF vor versehentlichen Angriffen ist zu begrüßen,
kann aber nicht sichergestellt werden. Deutschland un-
terstützt damit direkt die Kampfhandlungen der OEF in
Afghanistan. Darüber müssen sich alle Mitglieder des
Deutschen Bundestages im Klaren sein.
Kurz: Die gewonnenen Lagebilder dienen nicht dem
Wiederaufbau, sondern dienen dem Kampfeinsatz, auch
wenn einige Kolleginnen und Kollegen das nicht gerne
hören. Nach den Lagebildern werden die Bomben fallen.
Es ist absehbar, dass unsere Soldatinnen und Soldaten in
die Kämpfe einbezogen werden. Und schon jetzt ist klar,
dass im Herbst weitere Einsatzbefehle für weitere Bo-
dentruppen folgen werden. Dann steht die nächste Ent-
scheidung an die heute noch bestritten wird.
Ich begrüße das zivile deutsche Engagement beim
Wiederaufbau des Landes und seiner Sicherheitsstruktu-
ren. Zuletzt hat Deutschland für die Ausbildung afghani-
scher Polizeieinheiten die Federführung übernommen.
42 deutsche Polizistinnen und Polizisten sind derzeit in
Afghanistan tätig. Dem stehen derzeit 2 953 Bundes-
wehrsoldaten gegenüber. Anstatt zusätzlich in militäri-
sche Operationen zu investieren und den Einsatz von
Soldatinnen und Soldaten auszudehnen, sollten wir die
Ausbildung der Polizisten intensivieren. Damit unter-
stützen wir Afghanistan aktiv, in absehbarer Zeit die Si-
cherheit allein herstellen zu können.
Der Deutsche Bundestag hat noch immer keine De-
batte über die zukünftige Ausrichtung der Deutschen
Bundeswehr und die Schaffung entsprechender verfas-
sungsrechtlicher Grundlagen geführt. Im Rahmen der
Legitimierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr
wird sich derzeit auf Art. 24 Abs. 2 GG bezogen. Dort
wird lediglich die Beteiligung an multinationalen Sicher-
heitsinstitutionen ermöglicht. Nach meiner Auslegung
beinhaltet dies nicht die Beteiligung an internationalen
Militäroperationen. Für mich ist deshalb Art. 87 a Abs. 2
bindend. Danach definiert das Grundgesetz die Aufgabe
der Bundeswehr in der Landesverteidigung. Ich zitiere
Art. 87 a Abs. 2 GG: „Außer zur Verteidigung dürfen die
Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grund-
gesetz es ausdrücklich zulässt.“ Eine solche Legitima-
tion beinhaltet das Grundgesetz nicht, im Besonderen
nicht für Kampfeinsätze.
Aufgrund der internationalen Verantwortung Deutsch-
lands und der Einbindung in die Strukturen der Vereinten
Nationen ist es an der Zeit, die Einsatzmöglichkeiten
und -ziele der Bundeswehr im Ausland klar zu definie-
ren. Eine Änderung des Grundgesetzes ist dabei un-
vermeidbar. Gleichzeitig muss auch über den Parla-
mentsvorbehalt diskutiert werden. Die Bundesregierung
8776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
machte in der Vergangenheit immer wieder Zusagen zur
Beteiligung an militärischen Auslandseinsätzen, ohne
zuvor eine Entscheidung des Parlamentes abzuwarten.
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang fragen, wel-
chen Zweck der Parlamentsvorbehalt hat, wenn wir uns
jeweils mit vollendeten Tatsachen beschäftigen.
Solange das Parlament sich dieser Debatte nicht stellt
und schlüssige Regelungen beschließt, ist es mir nicht
möglich, Auslandseinsätzen deutscher Soldatinnen und
Soldaten zuzustimmen. Vor allem kann ich den heute zur
Abstimmung stehenden Kampfeinsatz der Bundeswehr
in Afghanistan nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
Ich stimme dem Antrag der Bundesregierung deshalb
nicht zu.
Iris Hoffmann (Wismar) (SPD): Ich unterstütze und
befürworte ausdrücklich das bisherige zivile und militä-
rische Engagement Deutschlands für den Wiederaufbau
und die Stabilisierung Afghanistans. Die Bundeswehr
leistet dabei einen wichtigen und hervorragenden Bei-
trag zur Absicherung dieses Prozesses im Norden
Afghanistans. Insbesondere unterstütze ich den deut-
schen Ansatz der Verschränkung von zivilen und militä-
rischen Maßnahmen.
Eine Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsät-
zen in Afghanistan lehne ich jedoch entschieden ab. Und
ich habe die Befürchtung, dass mit der nun anstehenden
Entscheidung über die Entsendung deutscher Tornado-
Aufklärungsflugzeuge genau dieser Weg beschriften
wird. Es kann zumindest nicht ausgeschlossen werden,
dass die Erkenntnisse aus den Aufklärungsflügen schon
jetzt zur Vorbereitung und Durchführung von Kampfein-
sätzen genutzt werden. Zudem wird eine Entsendung der
Tornados den Druck auf Deutschland zur Entsendung
von Bodentruppen für Kampfeinsätze im Süden und Os-
ten Afghanistans verstärken. Dies erscheint als logischer
nächster Schritt.
Die Strategie, Frieden und Stabilität in Afghanistan
vornehmlich mit militärischen Mitteln erzwingen zu
wollen, halte ich jedoch für grundlegend falsch. Sie for-
dert zu viele, vor allem zivile Opfer und ist insgesamt
nicht zielführend, wie die Entwicklung im Süden des
Landes eindrucksvoll zeigt.
Auch deshalb kann ich nicht erkennen, inwieweit die
nun geplante Entsendung der Aufklärungsflugzeuge zur
bisher verfolgten deutschen Strategie beitragen kann. Ich
befürchte vielmehr, dass sie sich kontraproduktiv aus-
wirken und die zumindest in Teilen Afghanistans er-
reichte Stabilisierung gefährden könnte. Damit verbun-
den wäre ein unvertretbares Risiko für die Sicherheit und
Unversehrtheit unserer Soldaten.
Ich werde deshalb der Entsendung deutscher Tor-
nado-Aufklärungsflugzeuge und der Erweiterung des
ISAF-Mandates heute nicht zustimmen.
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Seit Beginn meiner
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 1990 habe ich
aus innerer Überzeugung immer allen internationalen
Einsätzen der Bundeswehr zugestimmt. Dem heute zur
Beschlussfassung im Deutschen Bundestag anstehenden
Tornado-Einsatz in Afghanistan kann ich jedoch aus den
folgenden Gründen nicht zustimmen:
Erstens. Ähnlich wie im Irak gelingt es dem Westen
offenbar nicht, ein demokratisches Staatswesen aufzu-
bauen und die Menschen innerlich dafür zu gewinnen.
Vielmehr hat sich die Sicherheitslage dramatisch ver-
schlechtert, und Kriminalität, Korruption und Drogenan-
bau nehmen wieder zu; letzterer erreichte 2006 eine All-
zeitrekordernte.
Zweitens. Die zunehmende Militarisierung führt zu
einer wachsenden Anzahl von unschuldigen Opfern un-
ter der Zivilbevölkerung, hauptsächlich durch Luftan-
griffe. Mittlerweile dürfte bei solchen sogenannten Kol-
lateralschäden eine vielfache Anzahl an unschuldigen
Menschen getötet worden sein, wie bei den schreckli-
chen Terrorangriffen vom 11. September 2001 auf New
York, die Ausgangspunkt unseres Engagements waren.
Mit jedem unschuldig getöteten Zivilisten bekämpfen
wir nicht den Terror, sondern schaffen diesem neuen Zu-
lauf.
Drittens. Mit dem Tornado-Aufklärungseinsatz und
sich der daran anschließenden militärischen Verwendung
dieser Aufklärungsergebnisse findet ein Kurswechsel
von der zivilen Aufbauhilfe hin zu einem stärkeren Mili-
täreinsatz statt. Die Tornados sind genau das falsche
Symbol für den demokratischen Wiederaufbau Afgha-
nistans. Diesen Kurswechsel kann ich im Interesse Af-
ghanistans, der Bundesrepublik Deutschlands sowie des
gesamten Westens nicht mittragen. Wir brauchen viel-
mehr eine Grundsatzdebatte darüber, wie die Bundesre-
publik Deutschland und der Westen insgesamt den Ter-
ror bekämpfen und Demokratie und Rechsstaatlichkeit
in Afghanistan aufbauen können.
Jürgen Koppelin (FDP): Der geplanten Mandats-
ausweitung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanis-
tan werde ich nicht zustimmen.
Der Bundesregierung fehlt in Afghanistan ein schlüs-
siges Konzept. Einerseits möchte die Bundesregierung
ihrer Bündnisverpflichtung in der NATO Genüge tun –
dann wäre die Entsendung lediglich von Aufklärungs-
tornados der falsche, weil unzureichende Beitrag. Ande-
rerseits spricht sich die Bundesregierung auf dem
NATO-Gipfel in Riga für eine Strategieänderung im
Sinne einer politischen Stabilisierung aus. Auch in die-
sem Fall wäre die Entsendung der Tornados der falsche
Beitrag. Diesen von der Bundesregierung selbst geschaf-
fenen Widerspruch will sie mit der Entsendung von Tor-
nados lösen.
Dabei hat selbst die Bundeskanzlerin noch im No-
vember 2006 im Deutschen Bundestag erklärt, dass ein
Einsatz der Bundeswehr im Süden von Afghanistan
nicht infrage komme. Gleichzeitig werden die Zustände
in Afghanistan immer besorgniserregender. Trotz des
ISAF-Einsatzes befinden sich Teile des Landes im
Kriegszustand. Ebenso haben die Anschläge im gesam-
ten Land sehr stark zugenommen. Auch bei der Reduzie-
rung des Drogenanbaus konnten bisher keine Erfolge er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8777
(A) (C)
(B) (D)
zielt werden, im Gegenteil, der Anbau hat sich noch
ausgeweitet. Die internationale Gemeinschaft hat daher
bisher keines ihrer Ziele erreicht und muss sich nun fra-
gen lassen, ob die Mittel, die sie einsetzt, geeignet sind,
die Stabilisierung und Demokratisierung in der Zukunft
zu erreichen.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt be-
zeichnet die Entwicklung in Afghanistan als „vorherseh-
bar chaotisch“ und sagt, „dass man sich nicht auf militä-
rische Abenteuer einlässt, deren Ausgang vorhersehbar
chaotisch – Interview im „Tagesspiegel“ vom 10. De-
zember 2006 – seien.
Bei Gesprächen mit den Piloten der Tornados und
weiteren Soldaten ist klar geworden, dass diese Maschi-
nen technisch nicht optimal für einen Einsatz in solchen
Klimaten ausgelegt sind. Die Bundeswehr hat für ein
solches Engagement keine Erfahrungen gesammelt.
Auch die Ausbildung der Piloten für derartige Einsätze
ist nicht ausreichend. Ebenso ist die Versorgung mit Er-
satzteilen aus verschrotteten Tornados nicht verantwort-
bar, da auch dieses Material bereits „Materialermüdun-
gen“ zeigt. Das ist für die deutschen Soldaten ein nicht
zumutbarer Zustand.
Abschließend ist nicht einmal die Chance eines Endes
des Bundeswehreinsatzes und eine Verbesserung des Zu-
stands der Verhältnisse in Afghanistan unter den gegen-
wärtigen Bedingungen in Sicht.
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Der Einsatz von
deutschen Tornado-Aufklärungsflugzeugen in Afghanis-
tan dient entsprechend des Antrages der Bundesregie-
rung ausschließlich dem rechtzeitigen Erkennen mögli-
cher Gefahren. Dadurch soll vor allem der Schutz der
afghanischen Bevölkerung sowie der eingesetzten deut-
schen Soldaten und der Soldaten der Verbündeten ver-
größert werden. Die nunmehr mögliche verbesserte Auf-
klärung dient nicht zuletzt dem Schutz von zivilen
Entwicklungshelfern sowie gefährdeter Wiederaufbau-
projekte. Der Antrag der Bundesregierung ist durch das
bestehende Mandat der Vereinten Nationen begründet.
Er sieht eine Einbeziehung in aktive kriegerische Hand-
lungen nicht vor. Dem Auftrag der Bundeswehr liegt die
politische Grundüberzeugung „ohne Sicherheit keine
Entwicklung“ zugrunde. Deshalb stimme ich dem An-
trag zu. Ich verweise darauf, dass bei grundsätzlich ver-
änderten Bedingungen die Beteiligung deutscher Solda-
ten an der internationalen Sicherheitstruppe ISAF mit
entsprechenden Beschlussfassungen durch den Deut-
schen Bundestag eingeschränkt bzw. gestoppt werden
sollte.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Afghanistan bedarf weit mehr als bisher der Unterstüt-
zung, gerade durch zivile Mittel. Ohne Strategiewechsel
und deutlich mehr ziviles Engagement sind die Men-
schen in Afghanistan dauerhaft nicht für die Demokratie
zu gewinnen. Afghanistan braucht eine politische und
zivile Frühjahrsoffensive.
Zugleich können wir nicht übersehen, dass sich Af-
ghanistan in einer Situation befindet, in der zivile Maß-
nahmen allein nicht zum Erfolg führen können. Beson-
ders im Süden und Osten des Landes muss Stabilität
auch mit militärischen Mitteln herbeigeführt werden, um
zivilen Helfern ihren Einsatz überhaupt erst zu ermögli-
chen. Im ganzen Land ist militärischer Schutz und Ab-
sicherung des zivilen Aufbaus unverzichtbar. Hierin be-
steht der Auftrag der Tornado-Aufklärungsflugzeuge.
Ich stimme der Entsendung der Aufklärungsflug-
zeuge zu, weil ich die Notwendigkeit militärischer Flan-
kierung der zivilen Maßnahmen anerkenne. Meine Zu-
stimmung erkläre ich gleichzeitig mit der Aufforderung
an die Bundesregierung, innerhalb der NATO auf einen
Kurswechsel zu dringen. Nur als Teil einer effektiven
Gesamtstrategie, die Gewalt eindämmt und Frieden
schafft, ist der Einsatz der Tornados für den Aufbau
Afghanistans aussichtsreich.
Für eine ausgewogene Afghanistanpolitik ist eine
Vervielfachung der zivilen Mittel notwendig, die ange-
kündigte Erhöhung um 20 Millionen Euro reicht nicht
aus. Deutschland hat die Koordinierungsverantwortung
für den Aufbau der Polizei in Afghanistan übernommen.
Um dies zum Erfolg zu führen, ist eine deutliche Auf-
stockung von Personal und Mitteln notwendig. Gemein-
sam mit der internationalen Gemeinschaft müssen
schlüssige Konzepte zur Drogenbekämpfung entwickelt
und politischer Druck auf Pakistan ausgeübt werden, das
die Reorganisation der Talibankräfte auf seinem Territo-
rium duldet. Dazu fordere ich die Bundesregierung auf.
Gisela Piltz (FDP): Der Einsatz deutscher Tornado-
Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan stellt aus meiner
Sicht eine besondere Herausforderung für die deutsche
Bundeswehr dar. Ich bin der Überzeugung, dass sich
Deutschland an einer internationalen Sicherheitsunter-
stützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO beteiligt. Es ist dabei aber sicherzustellen, dass
die Tornado-Aufklärungsflugzeuge auf dem technisch
bestmöglichen Stand sind, um so die Besatzung der Auf-
klärungsflugzeuge mit den zurzeit besten Sicherheitsvor-
kehrungen auszustatten. Beispielsweise sind die Recce-
Tornados nicht mit einem Notfunkgerät ausgestattet, das
in einem Notfall über eine Databurst-Funktion gesichert
deren Position und einen Code an einen Satelliten über-
mittelt. Dies stellt ein Beispiel der unzureichender Si-
cherheitstechnik der Tornados dar.
Außerdem kann es im äußersten Nordosten von Af-
ghanistan aufgrund der Leistungsparameter der Recce-
Tornados und der extremen geografischen Verhältnisse
dazu kommen, dass eine Höhe von 3 800 Meter über
Grund auch aus nichttaktischen Gründen unterschritten
werden muss. Dabei kann es zu Situationen kommen, in
der die Tornado-Aufklärungsflugzeuge in den Wirkungs-
bereich von Manpads gelangen, wodurch für die Besat-
zung der Tornado-Aufklärungsflugzeuge Gefahr für
Leib und Leben besteht.
Weiterhin verfügen die Tornado-Aufklärungsflug-
zeuge nicht über eine Link-Fähigkeit und somit auch
nicht über die Möglichkeit, grafische Lageinformationen
während des Fluges zu empfangen. Dies ist technisch
möglich. Die Tornado-Aufklärungsflugzeuge der deut-
8778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
schen Bundeswehr verfügen jedoch nicht über diese
Link-Fähigkeit und entsprechen somit nicht den besten
Sicherheitsstandards.
Zusammenfassend komme ich zu dem Schluss, dass
Deutschland sich an einem Einsatz der internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter
Leitung der NATO beteiligen muss. Nichtsdestoweniger
bin ich der Auffassung, dass der Einsatz deutscher Tor-
nado-Aufklärungsflugzeuge nur dann erfolgen kann,
wenn sie mit den besten Sicherheitsvorkehrungen ausge-
stattet sind. Dies ist in den letzen Jahren versäumt wor-
den. Aus den oben genannten Gründen enthalte ich mich
meiner Stimme bei der namentlichen Abstimmung zu
Tagesordnungspunkt 21 am 9. März 2007.
Maik Reichel (SPD): Die Bundesrepublik Deutsch-
land ist seit Ende 2001 aktiv am Aufbau staatlicher und
gesellschaftlicher Strukturen beteiligt. Neben einer Be-
friedung der Verhältnisse in diesem Land hat sich
Deutschland maßgeblich am Aufbau einer demokrati-
schen und rechtsstaatlichen Ordnung beteiligt. Die dabei
von Deutschland organisierten Afghanistankonferenzen
sind markantes Zeichen dafür.
Unsere Bundeswehr leistet seitdem im Rahmen eines
VN-Mandates einen wichtigen Beitrag zur militärischen
Absicherung des Wiederaufbauprozesses, der durch
Deutschland auch finanziell unterstützt wird. Dieses
zweifache Engagement unseres Landes hat sicher dazu
beigetragen, die Situation im Norden Afghanistans und
auch in Kabul zu stabilisieren. Dauerhafter Frieden im
Land und eine notwendige stetige humanitäre Unterstüt-
zung sind sehr wichtige Aspekte bei dieser Mission.
Zu Beginn des ISAF-Mandates war das richtige An-
sinnen, ein am Boden liegendes Land rasch wieder auf-
zubauen. Dazu sollten Tausende Soldaten die Grundvo-
raussetzung für einen solchen Aufbau schaffen, nämlich
die Friedenssicherung leisten.
Doch leider haben wir es nicht erreicht, die Taliban
und al-Quaida zu besiegen. Zunehmend mehr Anschläge
– auch im Norden – sind zu verzeichnen. Die Befürch-
tung vieler, unsere direkte Hilfe bei militärischen Aktio-
nen könnte unsere gute Arbeit im Norden diskreditieren,
teile ich. Darüber hinaus fürchte ich, dass unsere gute
und für Afghanistan nützliche friedenssichernde Außen-
politik Schaden nehmen könnte. Vielleicht provoziert
der Einsatz von Tornados sogar mehr Anschläge im Nor-
den. Zum anderen werden die durch die Aufklärungs-
flugzeuge gewonnenen Daten nicht nur für ISAF, son-
dern eben auch für die Operation Enduring Freedom
verwandt. Damit wird sicher eine Unterstützung der be-
ginnenden Frühjahrsoffensive gegeben sein. Es besteht
die Gefahr, dass deutsche Soldaten und damit unser
Land für Kriegsoperationen und deren unabsehbare Fol-
gen verantwortlich gemacht werden.
Zudem befürchte ich, dass die Operationen vor allem
im Südosten Afghanistans, an der Grenze zu Pakistan, zu
weiteren Komplikationen zwischen beiden Ländern füh-
ren werden, wo wir doch gerade im Rahmen der G-8-
Präsidentschaft auf eine Stabilisierung der Beziehungen
zwischen Pakistan und Afghanistan hinwirken wollen.
Ich sehe im Einsatz deutscher Tornados folglich kei-
nen Beitrag zur Stabilisierung der noch immer prekären
Lage in Afghanistan. Ein Gelingen des ISAF-Einsatzes
ist damit gefährdet. Deshalb stimme ich der Entsendung
der Recce-Tornados nicht zu.
Dr. Rainer Stinner (FDP): Ich stimme dem Antrag
der Bundesregierung zur Entsendung von Aufklärungs-
tornados nach Afghanistan zu.
ISAF ist ein Gesamteinsatz der NATO. Wir können
und dürfen uns nicht auf die Position zurückziehen, die
Lage im Süden ginge uns nichts an. Schon heute gilt: Im
Norden ist es auch deswegen relativ ruhig, weil unsere
NATO-Partner im Süden ein Vordringen von Taliban-
kräften in den Norden aktiv verhindern. Als Teil der
ISAF ist Deutschland mitverantwortlich für die Situation
in Gesamtafghanistan. Deutschland ist das einzige Land
der NATO, das derzeit mit seinen Recce-Tornados eine
dringend notwendige Aufklärungsfähigkeit für den ge-
meinsam geplanten und durchgeführten ISAF-Einsatz in
dieser Qualität zur Verfügung stellen kann. In dieser Si-
tuation können wir unseren Partnern die Solidarität nicht
verweigern.
Die Aufklärungsergebnisse der Recce-Tornados wer-
den selbstverständlich Folgen für die anschließende
Operationsplanung – auch im Rahmen von OEF – ha-
ben. Sie können Kampfeinsätze hervorrufen. Sie können
aber auch bereits geplante Einsätze verändern, oder sie
können Einsätze verhindern. Ich bin davon überzeugt,
dass eine bessere Aufklärung insgesamt dazu beiträgt,
zielgenauer zu operieren und damit eventuell Kollate-
ralschäden zu verhindern.
Ich erwarte von der Bundesregierung eine ehrliche
Darstellung des Mandats: Aufklärung ist integraler Be-
standteil von Kampfeinsätzen. Jede Beschönigung dieser
Tatsache wäre unehrlich der Öffentlichkeit und den Sol-
daten gegenüber.
Gegner des Tornado-Einsatzes befürchten, dass durch
die Zustimmung ein Automatismus für den Einsatz von
Bodentruppen im Süden entsteht. Selbstverständlich
kann niemand – weder der Bundestag noch die Bundes-
regierung – ausschließen, dass es zu weiteren Forderun-
gen von NATO-Partnern an die Bundesrepublik
Deutschland kommen wird. Dabei spielt die jetzt anste-
hende Entscheidung über den Einsatz der Tornados aber
keine Rolle. Es gibt keinerlei Automatismus für weitere
Entscheidungen, weder militärisch noch politisch.
Ich habe, ebenso wie meine gesamte Fraktion, der
Verlängerung des ISAF-Mandates im September 2006
unter der Erwartung zugestimmt, dass es in Afghanistan
zu einem grundsätzlichen Strategiewechsel kommt.
Erste Ansätze für einen solchen Strategiewechsel sind
erkennbar. Ob diese dauerhaft und ausreichend sein wer-
den, ist noch offen. Deshalb ist es gerade jetzt entschei-
dend, dass die Bundesregierung mehr Einfluss auf die
Gesamtstrategie und die Operationsplanung von ISAF
einfordert und ausübt. In dieser Situation eine Unterstüt-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8779
(A) (C)
(B) (D)
zungsanfrage abzulehnen, wäre für das Ziel des grund-
sätzlichen Strategiewechsels und der deutschen Einfluss-
nahme kontraproduktiv.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich lehne den Antrag der Bundesregierung, Tor-
nado-Flugzeuge der Bundeswehr auch im Süden Afgha-
nistans einzusetzen, ab und stimme deshalb mit Nein.
Mit dem geplanten Einsatz unterstützen die deutschen
Tornado-Flugzeuge den schmutzigen Krieg der US-
Streitkräfte im Süden Afghanistans; sie werden zumin-
dest auch Ziele feststellen und zeitnah an das militäri-
sche Hauptquartier im Süden melden, die anschließend
mit Raketen und Bomben aus der Luft angegriffen und
zerstört werden. Bei zukünftigen Meldungen über zer-
störte Häuser, Gehöfte und ganze Ortschaften steht dann
zu befürchten, dass diese Ziele mit all den menschlichen
Opfern mit deutscher Unterstützung vernichtet wurden.
Diese Art der Kriegsführung der USA im Süden Af-
ghanistans hat in den letzten Jahren nicht dazu geführt,
dass islamistischer Terrorismus wirksam bekämpft wird.
Sie hat auch nicht dazu geführt, dass nur die Verantwort-
lichen für die Anschläge in New York und Washington
vom 11. September 2001 zur Verantwortung gezogen
und der Gerechtigkeit zugeführt wurden, „bring to jus-
tice“, wie es in der UN-Resolution als Grundlage des
Militäreinsatzes festgelegt wurde. Diese Art der Kriegs-
führung war eher geeignet, Hass und Terrorismus welt-
weit zu schüren und hat in Afghanistan den Widerstand
so gestärkt, dass er inzwischen den aus den Jahren seit
2001 bei weitem übertrifft.
Es gibt Alternativen: Die Strategie für Afghanistan
muss grundlegend geändert werden. Eine neue Strategie
muss daran ausgerichtet sein, statt immer mehr Krieg an-
zufachen, die Kriegshandlungen zu beenden, statt immer
mehr Militär einzusetzen, die Truppenstärke zügig zu re-
duzieren und die Soldaten in einem absehbaren und ver-
antwortbaren Zeitraum abzuziehen. Die verhängnisvolle
Kriegsführung insbesondere der US-Streitkräfte muss
sofort gestoppt werden. Es müssen Verhandlungen auf-
genommen werden mit dem Ziel, einen Waffenstillstand
auch im Süden Afghanistans zu erreichen – für das
ganze Land oder auch nur für einzelne Teile, für Provin-
zen oder Teilprovinzen. Verhandlungspartner müssen da-
bei alle sein können, die bereit sind, über einen Waffen-
stillstand zu reden, das sind Stammesführer genauso wie
Teile der Taliban oder bewaffnete Widerstandsgruppen.
Zaghafte Versuche, etwa der britischen Militärs in der
jüngsten Vergangenheit, für einzelne Regionen Waffen-
stillstände zu vereinbaren, waren so lange erfolgreich,
bis sie durch neue Kampfhandlungen der US-Streitkräfte
zunichte gemacht wurden. Der Widerstand im Süden Af-
ghanistans wird schon lange nicht mehr nur von Taliban
organisiert, sondern auch von sehr unterschiedlichen an-
deren Gruppen, die sich zusammenfinden in der Ableh-
nung der fremden Truppen im Lande, häufig motiviert
durch Verluste von Familienangehörigen infolge der
Kriegsführung der US-Streitkräfte.
Darüber hinaus ist eine Waffenstillstandskonferenz
mit allen Nachbarstaaten, nicht nur mit Pakistan sondern
auch mit dem Iran, notwendig. Nur wenn die militäri-
sche Strategie in Richtung Schweigen der Waffen nach-
haltig verändert wird, können auch zivile Wiederaufbau-
arbeiten durchgeführt und der Bevölkerung eine lebbare
Alternative aufgezeigt werden. Die Waffenstillstands-
strategie muss ergänzt werden durch entschieden ver-
stärkte zivile Aufbaumaßnahmen, vor allen Dingen der
Infrastruktur, der Verwaltung und Justiz und jeglicher
Förderung von Bildung und Ökonomie. Die Mittel für
den zivilen Wiederaufbau müssen und können mindes-
tens in der Höhe zur Verfügung gestellt werden wie der-
zeit für die Militäreinsätze.
Auch zur Lösung des Drogenproblems müssen radi-
kal neue Wege geprüft und gegangen werden. So gibt es
den Vorschlag, die gesamte Opiumernte vor Ort aufzu-
kaufen und weltweit dem Roten Kreuz und anderen in-
ternationalen Organisationen zur wirksamen Schmerzbe-
kämpfung auf der Grundlage ärztlicher Verordnung zur
Verfügung zu stellen. Die Vernichtung verbleibender
Reste der aufgekauften Ernte käme allemal billiger als
der Kampf gegen den kriminellen Opium- bzw. Heroin-
handel in Afghanistan und überall auf der Welt. Dem il-
legalen Opiumanbau und kriminellen Drogenhandel in
Afghanistan, mit dem auch Milizen, Privatarmeen und
Warlords bis hinein in die Regierung finanziert werden,
würde damit von einem Tag auf den anderen die Grund-
lage entzogen. Insbesondere den Bauern und der Land-
wirtschaft könnte damit auch der Weg geöffnet werden
für die Entwicklung einer Landwirtschaft, die der Ernäh-
rung der Bevölkerung dient und für die allmähliche Be-
endigung des Drogenanbaus sorgt.
Der bisherige Weg zum Ziel einer modernen, humani-
tären Zivilgesellschaft in Afghanistan hat sich als falsch
erwiesen; Afghanistan steckt tiefer im Krieg als in den
Jahren davor. Deshalb ist die Öffnung neuer Wege un-
verzichtbar. Ein „Weiter so“ mit immer mehr Militär darf
es nicht geben.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Arbeitsplatzabbau
bei Airbus verhindern – Staatliche Sperrminori-
tät bei EADS herstellen (Tagesordnungspung 23)
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
EADS ist aufgrund der Verzögerungen bei der Ausliefe-
rung des Airbus A380, aufgrund des hohen Dollarkurses
und politisch beeinflusster, ineffizienter Strukturen in
Turbulenzen geraten. Eine Rolle hat auch die mangelnde
Berücksichtigung der innovativen Kohlefasertechnik
gespielt. Jetzt geht es darum, Airbus wieder auf einen
langfristig produktiven und wettbewerbsfähigen Weg zu
bringen. Niemandem wäre geholfen, wenn die
55 000 Arbeitsplätze insgesamt riskiert werden und es
nicht gelingt, das Unternehmen wettbewerbsfähig gegen
Boeing zu halten.
Bei der Umsetzung des Sanierungsprogramms
„Power8“ sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
8780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
mer nun die Konsequenzen von Managementfehlern tra-
gen. Es ist geplant, 10 000 der 55 000 Arbeitsplätze ab-
zubauen, in Deutschland sollen 3 700 Arbeitsplätze
wegfallen. Es fällt schwer, diese Entscheidungen zu ak-
zeptieren. Wir verstehen die Empörung der betroffenen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nun die Leid-
tragenden sein sollen.
Wir erwarten, dass die Betriebsvereinbarung für die
deutschen Werke, nach der bis 2012 betriebsbedingte
Kündigungen ausgeschlossen sind, eingehalten wird und
der Abbau von Beschäftigten sozialverträglich gestaltet
wird.
Darüber hinaus soll eine Reihe von Werken ausge-
gliedert werden. Fraglich ist auch, ob Abstimmungspro-
zesse durch die Ausgliederung nicht erschwert werden.
Die deutschen Werke Varel, Nordenham und Laupheim
gelten als hochproduktiv. Es muss darauf geachtet wer-
den, dass nicht wertvolles technologisches Know-how
verloren geht.
Wesentlicher Grund für die Schieflage des Konzerns
ist die bisherige politische Einflussnahme auf den Kon-
zern. Die ineffizienten Management- und Produktions-
strukturen sind nicht zuletzt durch staatliche Einfluss-
nahme entstanden.
Wir sehen heute, wie das Sanierungskonzept
„Power8“ im französischen Wahlkampf und im Wettbe-
werb deutscher Ministerpräsidenten zerrieben zu werden
droht. Wie brauchen daher nicht mehr, sondern weniger
staatlichen Einfluss bei Airbus.
Staatliche Unterstützung des Airbusprojekts war zu
Beginn des Projektes notwendig, zwischenzeitlich hat
sich Airbus jedoch eine gefestigte Position auf dem
Weltmarkt erarbeitet. Die staatliche Einflussnahme ist
dort zu einem Problem geworden, wo politische Ziele
über betriebswirtschaftliche Logik gestellt werden.
Die Linke dagegen fordert den Ausbau staatlichen
Einflusses. Da es nicht vorstellbar ist, dass der deutsche
Staat mehr Anteile als der französische hält, bedeutet
eine Sperrminorität für Deutschland – also 25 Prozent
plus eine Aktie – nichts anderes als die Verstaatlichung
des Konzerns. Das ist der falsche Weg.
In der aktuellen Krise war und ist es dennoch richtig
von der Bundesregierung, ihren Einfluss gelten zu ma-
chen. Ein einseitiger Rückzug nur der Bundesrepublik
wäre falsch. Nötig ist, dass sich alle beteiligten Staaten
perspektivisch aus dem Unternehmen zurückziehen.
Wir betrachten die aktuelle Diskussion über die
Schließung von Standorten sehr kritisch. Die Standorte,
über deren Verkauf diskutiert wird, sind innovative
Standorte für die Luftfahrtindustrie. Die Standorte Varel,
Nordenham und Laupheim sind hochproduktiv. Durch
Innovationsförderung, Unterstützung regionaler For-
schungskapazitäten, Förderung von Weiterbildung müs-
sen Bund und Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit unter-
stützen. Das Beispiel CFK-Valley in Stade hat gezeigt,
wie Innovationspartnerschaften wirken können. Regio-
nale Innovationscluster müssen durch stärkere Einbin-
dung der Schulen und Hochschulen gestärkt werden.
Dann werden die Standorte auch außerhalb des Airbus-
konzerns wettbewerbsfähig bleiben.
Wie ist es also bestellt um die Zukunftsfähigkeit von
Airbus? Wir sehen die Perspektiven von Airbus nach
wie vor positiv. Voraussetzung ist, dass Airbus auf Inno-
vation, Material- und Energieeffizienz setzt und bei dem
Thema Lärmreduzierung einen großen Schritt nach vorn
macht.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
Einmalzahlungen für die Jahre 2005, 2006 und
2007 (Einmalzahlungsgesetz 2005, 2006 und
2007 – EzG 2007) (Tagesordnungspunkt 25)
Siegmund Ehrmann (SPD): Wir beraten heute über
einen Gesetzentwurf, der schon im Sommer 2005 auf der
Tagesordnung stand. Damals sollte der Tarifabschluss
für den öffentlichen Dienst des Bundes, mit dem Ein-
malzahlungen für die Jahre 2005 bis 2007 vereinbart
worden waren, auf die Besoldung des Bundes übertragen
werden. Einen ersten Teilbetrag von 100 Euro hatte die
Bundesregierung bereits unter Vorbehalt ausgezahlt. Das
Artikelgesetz, in dem der Entwurf damals enthalten war,
fiel aber dem Grundsatz der sachlichen Diskontinuität
zum Opfer, als der 16. Deutsche Bundestag nach der
vorgezogenen Bundestagswahl 2005 zusammentrat.
Ähnlich wie im Tarifrecht war dann beabsichtigt, die
Einmalzahlungen zusammen mit der strukturellen Besol-
dungsreform zu regeln. Dazwischen kam die Föderalis-
musreform, mit der unter anderem die Bestrebungen der
Länder erfolgreich abgeschlossen wurden, ihre früheren
Befugnisse auf dem Gebiet des Besoldungsrechts wie-
derzuerlangen. Dieses Ergebnis hat mich nicht über-
zeugt, ist aber jetzt Wirklichkeit. Nebenfolge der Föde-
ralismusreform war, dass die Strukturreform der
Besoldung länger auf sich warten lässt als ursprünglich
gedacht.
Deshalb sind die Koalitionsfraktionen im vergange-
nen Herbst zu der Auffassung gelangt, dass mit der
Übertragung der tariflichen Einmalzahlungen auf die
Besoldung nicht länger zugewartet werden kann. Ich
danke der Bundesregierung dafür, dass sie unseren An-
stoß aufgegriffen und den Gesetzentwurf vorgelegt hat,
über den wir heute beschließen werden. Mit der Vorlage
des Gesetzentwurfs konnte dann schon der Restbetrag
für das Jahr 2005 und die Einmalzahlung für das Jahr
2006 unter Vorbehalt gezahlt werden.
Von den Gewerkschaften ist kritisiert worden, dass
sich die Einmalzahlungen nur auf die Besoldung erstre-
cken und die Versorgungsempfänger deshalb leer ausge-
hen. Auch in diesem Punkt entspricht der jetzt vorlie-
gende Entwurf demjenigen, der im Jahr 2005
eingebracht worden war. Damals ist man davon ausge-
gangen, dass auch die Rentner keine Rentensteigerung
erfahren würden, was sich zwischenzeitlich bestätigt hat.
Zugeben muss ich allerdings in diesem Zusammenhang,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8781
(A) (C)
(B) (D)
dass den Versorgungsempfängern für die Jahre 2006 bis
2010 die jährliche Sonderzahlung, also das sogenannte
Weihnachtsgeld, gekürzt wird. Dies ist allerdings keine
Kürzung der monatlichen Bezüge, sondern eben die
Kürzung einer Sonderzahlung, und sie resultiert zwangs-
läufig daraus, dass sich die Verminderung der Sonder-
zahlung nicht auf die aktiven Beamten beschränken
kann. Im wirtschaftlichen Ergebnis trifft die Halbierung
der Sonderzahlung die Aktiven sogar stärker als die Pen-
sionäre. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass die Ar-
beitszeit der aktiven Bundesbeamten ohne finanziellen
Ausgleich in den vergangenen Jahren um circa 6,5 Pro-
zent erhöht wurde.
Um die Versorgungsempfänger nicht besser, aber
auch nicht schlechter zu behandeln als die Rentner, stre-
ben wir an, im Versorgungsrecht eine Evaluationsklausel
einzuführen, mit der die jeweilige Entwicklung in der
Rentenversicherung besser nachgezeichnet werden
kann. Damit werden wir den Ansatz weiter verfolgen,
die Veränderungen in der Rentenversicherung wirklich
wirkungsgleich zu übertragen, denn es muss ausge-
schlossen werden, dass Regelungsmechanismen, die
strukturbedingt unterschiedlich sind, zu einem Aus-
einanderlaufen der Entwicklung in beiden Altersvorsor-
gesystemen führen.
Nicht unerwähnt kann an dieser Stelle bleiben, dass
die Gewährung der Sonderzahlung für Versorgungsemp-
fänger nach dem jeweiligen Versorgungssatz insgesamt
Kosten von über 400 Millionen Euro auslösen würde.
Damit wäre der Beitrag, den der öffentliche Dienst des
Bundes zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes leis-
ten musste, wesentlich beeinträchtigt. Ich möchte an die-
ser Stelle aber auch sagen, dass es sich bei der Halbie-
rung der Sonderzahlung um eine vorübergehende
Maßnahme handelt, die auf die Zeit bis zum Jahr 2010
beschränkt ist. Niemand sollte auf den Gedanken kom-
men, dass es sich hier nur um den ersten Streich handele,
dem der zweite sogleich folge. Das sage ich mit Blick
auf den Haushaltsausschuss, sollte dieser erwägen, eine
gesetzliche Befristung einfach mal so eben zu kassieren.
Ganz generell gilt, dass die Zeit der notwendigen Be-
scheidenheit nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern
auch im öffentlichen Dienst kein Dauerzustand sein
kann. Im Tarifbereich haben die Länder bereits für das
nächste Jahr einen Abschluss von 2,9 Prozent vorgelegt,
und man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszuah-
nen, was das und was die Tarifabschlüsse des Jahres
2007 für die Tarifentwicklung im Jahr 2008 auch im öf-
fentlichen Dienst bedeuten. Die wirkungsgleiche Über-
tragung auf die Besoldung wird dann eine Selbstver-
ständlichkeit sein.
Es stimmt zwar, dass nicht in den öffentlichen Dienst
gehen sollte, wer einen Haufen Geld verdienen möchte,
wie man bei anderer Gelegenheit aus dem Mund des
Innenministers hören konnte. Nebenbei bemerkt: Ich
finde es freilich ebenso abwegig, wenn Einzelne in der
Privatwirtschaft in einem einzigen Jahr so viel verdienen
wollen wie andere im ganzen Berufsleben. Der Eintritt
in den öffentlichen Dienst ist aber keinesfalls mit einem
lebenslangen Armutsgelübde verbunden. Die Diensther-
ren müssen sich dem Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt
stellen, was für beide Seiten Vor- und Nachteile nach
sich ziehen kann. Dazu gehört, dass bei der Konkurrenz
um die Besten auch die Bezahlung ein wichtiges Krite-
rium ist. Dieses moderne Verständnis des Berufsbeam-
tentums muss aber auch den Wechsel vom Staatsdienst
in die Privatwirtschaft und umgekehrt ermöglichen.
Dienstzeiten im Beamtenverhältnis von der Volljährig-
keit bis zur Altersgrenze entsprechen nicht mehr der Le-
benswirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Die Mitnahme-
fähigkeit der Versorgung erleichtert die anzustrebende
Mobilität zwischen den Sektoren. Natürlich sind die
finanzwirtschaftlichen Wirkungen solcher, die Mobilität
fördernder Komponenten sorgfältig zu bedenken. Ich
halte es jedoch im Grundsatz für dringend angeraten, das
Instrument der Mitnahmefähigkeit offensiv anzugehen.
Zu einer zeitgemäßen Besoldung gehört die angemes-
sene Berücksichtigung individueller Leistung. Um die
dafür erforderlichen Mittel zu gewinnen, können struk-
turelle Änderungen der Besoldung nicht ausgeschlossen
werden. Ich darf daran erinnern, dass bereits die Ent-
würfe eines Besoldungsstrukturgesetzes und eines Struk-
turreformgesetzes den Verzicht auf den Verheiratetenan-
teil des Familienzuschlags vorsahen. Im Tarifbereich des
öffentlichen Dienstes gibt es, ebenso wie in der Privat-
wirtschaft, überhaupt keine familienstandsabhängigen
Leistungen mehr. Hier hat sich die Auffassung durchge-
setzt, dass der Staat die notwendigen Maßnahmen der
Familienförderung für alle Bürger zur Verfügung stellt.
Diese Entwicklung lässt sich, angesichts der verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben, nicht schematisch auf die
Beamtenbesoldung übertragen, sollte aber bei der
Dienstrechtsreform bedacht werden.
Ich gebe zu, dass ich mich jetzt ein wenig entfernt
habe von der Vorlage, die heute hier zur Abstimmung
steht, aber gerade nach der zwangsläufig nicht immer er-
freulichen Entwicklung in den vergangenen Jahren halte
ich es für angebracht, in die Zukunft zu blicken und eine
Perspektive für den öffentlichen Dienst des Bundes zu
entwickeln. Im Rahmen des Entwurfs eines Dienst-
rechtsneuordnungsgesetzes, den der Innenminister zur-
zeit vorbereitet, werden wir Gelegenheit haben, uns da-
mit auseinanderzusetzen.
Max Stadler (FDP): Es ist ein alter, leider nicht im-
mer durchgängig eingehaltener Grundsatz, dass die Er-
gebnisse der Tarifverhandlungen auf die Besoldung der
Beamtinnen und Beamten übertragen werden. Im Tarif-
vertrag vom 9. Februar 2005 ist für die Tarifbeschäftig-
ten des Bundes jeweils eine Einmalzahlung in Höhe von
300 Euro für die Jahre 2005, 2006 und 2007 vereinbart
worden. Es hat viel zu lange gedauert, bis diese Einmal-
zahlungen auf den Beamtenbereich des Bundes übertra-
gen worden sind. Mit dem heute zu beratenden Gesetz-
entwurf kommt die Bundesregierung diesem Anliegen
nun endlich, allerdings mit großer Verspätung, nach. Die
FDP stimmt dem Gesetzentwurf daher zu.
Für uns ist allerdings unverständlich, warum sich
CDU/CSU und SPD weigern, diese Einmalzahlung auf
die Versorgungsempfänger des Bundes zu erstrecken.
Dazu muss man wissen, dass das Versorgungsniveau
8782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
derzeit dem des Jahres 2002 entspricht. Da zu Recht bei
solchen Fragen der Vergleich mit dem Rentenbereich he-
rangezogen wird, ist festzustellen, dass es im Jahre 2003
eine Rentenerhöhung gegeben hat.
Bundesländer wie beispielsweise Baden-Württem-
berg und Nordrhein-Westfalen haben daher für ihre Ver-
sorgungsempfänger Regelungen für eine Einmalzahlung
getroffen. Dies entspricht dem Prinzip, die Versorgungs-
empfänger in angemessener Weise an der allgemeinen
wirtschaftlichen Entwicklung und den Besoldungserhö-
hungen für die aktiven Bediensteten teilhaben zu lassen.
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren das
Gegenteil gemacht und den Versorgungsempfängern im-
mer wieder Sparmaßnahmen zugemutet.
Im Innenausschuss hat die FDP daher einen Ände-
rungsantrag zugunsten einer Einmalzahlung für Versor-
gungsempfänger gestellt. Dieser wurde jedoch mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD abgelehnt. Als Ge-
genargument wurde ausschließlich auf den finanziellen
Aufwand einer Einmalzahlung hingewiesen.
Die FDP möchte daher der Koalition eine Brücke
bauen. Wir haben in unserem Änderungsantrag, der in
zweiter Lesung im Plenum wieder zur Abstimmung ge-
stellt worden ist, mit Rücksicht auf die Haushaltslage
des Bundes nur vorgesehen, dass die Einmalzahlung
ausschließlich das Jahr 2007 betreffen soll und nicht in
voller Höhe, sondern anteilig je nach dem Prozentsatz
gezahlt wird, der dem Pensionsanspruch des jeweiligen
Versorgungsempfängers entspricht.
Wenn die Bundesregierung und die Große Koalition
sich einem solch maßvollen Antrag verschließen, zeigt
dies leider mit Deutlichkeit, dass ihnen die Interessen
derjenigen Staatsdiener, die in ihrer aktiven Zeit einen
maßgeblichen Beitrag für das Funktionieren des Staats-
wesens geleistet haben, gleichgültig sind.
Für eine lediglich auf das Jahr 2007 bezogene Ein-
malzahlung spricht nämlich ein entscheidendes Argu-
ment: Erfreulicherweise wird es im Sommer 2007 aller
Voraussicht nach eine – wenn auch relativ geringfügige –
Rentenerhöhung geben. Im Hinblick darauf ist nicht ein-
zusehen, warum sich CDU/CSU und SPD dem Antrag
der FDP nicht anschließen wollen. Denn wenn die Ren-
ten erhöht werden, muss im Gleichklang dazu auch die
Beamtenversorgung angepasst werden.
Unabhängig davon will die FDP-Fraktion mit ihrer
Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung
den Weg dafür freimachen, dass die Einmalzahlungen
für die aktiven Beamten des Bundes endlich auf den
Weg gebracht werden.
Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Die Linke wird der
Einmalzahlung für Beamtinnen und Beamte zustimmen.
Und das, obwohl wir sie bestimmt nicht für der Weisheit
letzten Schluss halten. Aber: Diese Einmalzahlung
wurde von den Tarifpartnern ausgehandelt, sie ist seit
zwei Jahren überfällig, und sie ist nötig, um den Anstieg
der Lebenshaltungskosten abzufedern.
Zweitens. Diese Einmalzahlung ersetzt natürlich nicht
die fehlende Anpassung der allgemeinen Besoldung. Da-
bei spreche ich nicht über die höheren oder hohen Besol-
dungsgruppen. Ich plädiere vor allem für die Beamtin-
nen und Beamten, ob bei der Feuerwehr oder auf
Kiezstreife, die ihre Euros zweimal umdrehen müssen,
bevor sie sie ausgeben können.
Drittens. Gleichwohl hat die Einmalzahlung, über die
wir gleich abstimmen, einen gravierenden Webfehler.
Sie gilt für Besoldungsempfänger, nicht aber für Versor-
gungsempfänger. Das heißt übersetzt: Beamtinnen und
Beamte im Ruhestand müssen daher de facto weitere
Kürzungen ihrer Pensionen in Kauf nehmen. Das wurde
noch 1995, 2003 und 2004 gerechter geregelt.
Viertens. Nun schlägt die FDP vor, die Einmahlzah-
lung 2007 auch auf Versorgungsempfänger anzuwenden.
Das klingt nobel. Aber es schließt bei weitem nicht die
Lücke, die in den vergangenen Jahren gerissen wurde
und die selbst das Bundesverfassungsgericht kritisch be-
urteilt. Deshalb will die Linke die Einmalzahlung auch
rückwirkend bis 2005.
Fünftens. Schließlich werde ich noch mal grundsätz-
lich. Sie wissen, die Linke kann dem Beamtentum nicht
allzu viel abgewinnen. Es ist ein Deal, bei dem den Be-
schäftigten im unmittelbaren Staatsdienst Vergünstigun-
gen zugesagt werden, wenn sie im Gegenzug auf demo-
kratische Bürgerrechte verzichten, etwa das Streikrecht.
Schon das ist fragwürdig.
Sechstens. Aber dieses Geschäft wird natürlich umso
fragwürdiger, je geringer die Gegenleistungen des Staa-
tes dafür werden. Deshalb werde ich mich weiterhin da-
für einsetzen, dass die Rechte von Beamtinnen und Be-
amten ausgebaut und nicht weiter eingeschränkt werden.
Das ist heute hier nicht unser konkretes Thema. Aber es
muss immer wieder gesagt werden.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Jetzt sollen also auch die Beamtinnen und Beam-
ten die Einmalzahlungen bekommen, die im Tarifab-
schluss für den öffentlichen Dienst des Bundes vom
Februar 2005 vereinbart wurden. Empfänger von Dienst-
und Amtsbezügen des Bundes erhalten für die Jahre
2005, 2006 und 2007 eine Einmalzahlung in Höhe von
jeweils 300 Euro, Empfänger von Anwärterbezügen er-
halten jeweils 100 Euro.
Die Große Koalition setzt damit jetzt endlich um, was
Rot-Grün bereits 2005 im Entwurf für ein Versorgungs-
nachhaltigkeitsgesetz regeln wollte, was aber im Bun-
desrat scheiterte. Warum sie dafür so lange brauchte,
wird ihr Rätsel bleiben.
Da der Entwurf dem entspricht, was wir 2005 einge-
bracht haben, wird es Sie nicht verwundern, dass wir
dem Entwurf zustimmen werden. Allerdings bedauern
wir sehr, dass die Versorgungsempfängerinnen und Ver-
sorgungsempfänger keine Einmalzahlungen bekommen.
Hierunter leiden wieder einmal vor allem die Empfänge-
rinnen und Empfänger kleiner und mittlerer Versor-
gungsbezüge.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8783
(A) (C)
(B) (D)
Während unserer Regierungszeit waren wir immer
bemüht, einen größtmöglichen Gleichklang zwischen
der Einkommensentwicklung von Beamten und Tarifbe-
schäftigten, Versorgungsempfängern und Rentnern her-
zustellen. Die im Rentenversicherungsbereich vorge-
nommenen Kürzungen haben wir unter Rot-Grün stets
wirkungsgleich auf die Versorgungsempfängerinnen und
-empfänger übertragen. Was im Negativen für die Be-
troffenen gilt, muss umgekehrt auch im Positiven gelten:
Wenn die Besoldung der aktiven Beamtinnen und Beam-
ten erhöht wird, müssen hiervon auch die Versorgungs-
empfänger profitieren; denn die Versorgung orientiert
sich nun einmal an der Besoldungsentwicklung. Genau
das haben wir 2003 und 2004 gemacht. Genau das macht
uns jetzt auch Baden-Württemberg vor. Was dort mög-
lich ist, sollte doch auch im Bund möglich sein.
Wir bedauern noch mehr, dass Schwarz-Rot noch
nicht einmal den Kompromissvorschlag der FDP im In-
nenausschuss, der zumindest eine Einmalzahlung für das
Jahr 2007 vorsieht, mit uns unterstützt hat. Dies wird sie
wohl auch heute nicht tun.
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern: Der Gesetzentwurf über
Einmalzahlungen für die Jahre 2005, 2006 und 2007
überträgt die tarifvertraglich vereinbarten Einmalzahlun-
gen auf den Beamtenbereich des Bundes.
In Anlehnung an das Tarifergebnis sieht der Gesetz-
entwurf vor, Empfängerinnen und Empfängern von
Dienst- und Amtsbezügen des Bundes für die Jahre
2005, 2006 und 2007 jeweils 300 Euro zu zahlen. An-
wärterinnen und Anwärter erhalten für die genannten
Jahre Einmalzahlungen in Höhe von jeweils 100 Euro
pro Jahr.
Die Regelungen entsprechen dem bereits in der ver-
gangenen Legislaturperiode eingebrachten Entwurf ei-
nes Einmalzahlungsgesetzes 2005 bis 2007. Dieser
Gesetzentwurf war Bestandteil des Entwurfs eines Ver-
sorgungsnachhaltigkeitsgesetzes, das nach der vorzeiti-
gen Auflösung des 15. Deutschen Bundestages nicht
mehr abschließend parlamentarisch beraten werden
konnte und nach dem Grundsatz der Diskontinuität ver-
fallen ist.
Deshalb hat die Bundesregierung den vorliegenden,
heute zu beschließenden Gesetzentwurf erneut auf den
Weg gebracht. Inhaltlich entspricht er – ich sagte es be-
reits – weitgehend dem Gesetzentwurf aus der vergange-
nen Legislaturperiode. Mit einer Ausnahme: Entfallen
ist die damals aufgenommene Öffnungsklausel für die
Länder. Sie sollte es den Ländern ermöglichen, über ent-
sprechende Einmalzahlungen für ihre Beamtinnen und
Beamte selbst zu entscheiden. Mit der Kompetenzverla-
gerung im Besoldungs- und Versorgungsrecht durch die
Föderalismusreform können die Länder auch ohne Öff-
nungsklausel für ihre Landesbeamtinnen und Landesbe-
amten eigenständig entscheiden.
Die neue, klarere Aufgabenverteilung zwischen Bund
und Ländern hat sich im Bundesratsverfahren bereits
ausgewirkt. Der Bundesrat hat am 16. Februar 2007
keine Einwendungen gegen den vorliegenden Gesetzent-
wurf erhoben. In der vergangenen Legislaturperiode war
dies noch anders. Der Bundesrat hatte damals den Ge-
setzentwurf zu den Einmalzahlungen 2005 bis 2007 we-
gen der Präjudizwirkung der Öffnungsklausel mit Blick
auf die seinerzeit noch laufenden Tarifverhandlungen in
den Ländern abgelehnt.
Trotz Föderalismusreform interessiert natürlich auch
die Entwicklung in den Ländern. Hierzu nur soviel: Die
Regelungen in den Ländern sind sehr unterschiedlich
und können hier nicht Maßstab sein. Das Tarifergebnis
in den Ländern vom Juni 2006 unterscheidet sich deut-
lich von dem hier nachzuzeichnenden Tarifergebnis im
Bund vom 9. Februar 2005. Es umfasst nicht nur andere
Leistungen, sondern vor allem auch andere Zeiträume.
Die Länder zahlen für 2005 überhaupt keine Einmalzah-
lungen und haben aber andererseits bereits für das Jahr
2008 eine allgemeine lineare Erhöhung vereinbart. Für
den Bundesbereich liegt für das kommende Jahr noch
kein Tarifergebnis vor; hier müssen zunächst die Tarifge-
spräche und -verhandlungen abgewartet werden. Das ist
gute Übung und daran wollen wir festhalten.
Insoweit bezieht der jetzt eingebrachte Gesetzentwurf
– wie bereits der in der vergangenen Legislaturperiode
eingebrachte Regelungsentwurf – die Versorgungsemp-
fängerinnen und Versorgungsempfänger im Bereich des
Bundes nicht in die Leistungen ein.
Ich möchte diesen Punkt ganz offen ansprechen. Der
Bundesregierung ist diese Entscheidung nicht leicht ge-
fallen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Pensionäre
und die Hinterbliebenen zusammen mit den aktiven
Empfängerinnen und Empfängern von Dienst- und
Amtsbezügen des Bundes durch die Kürzung des Weih-
nachtsgelds im Jahr 2006 gerade erst einen deutlichen
Beitrag zur weiterhin zwingend notwendigen Haushalts-
sanierung geleistet haben. Diese Maßnahmen waren un-
abwendbar, weil die verschiedenen Alterssicherungssys-
teme unseres Landes bekanntlich gleichermaßen vor
besonderen Herausforderungen stehen – es sei nur an die
erfreulicherweise gestiegene und weiter steigende Le-
benserwartung erinnert. Immer weniger Beitrags- und
Steuerzahler müssen die Mittel für immer mehr Renten
und Pensionen aufbringen, die zudem infolge steigender
Lebenserwartung und eines früheren Ausscheidens der
Menschen aus dem Erwerbsleben immer längere Lauf-
zeiten aufweisen. Das ist – für Bund, Länder und Kom-
munen – auf Dauer nicht finanzierbar und auch nicht zu
verantworten. Deshalb haben wir gehandelt und die Rah-
menbedingungen angepasst.
Vor diesem Hintergrund ist es gegenwärtig nicht mög-
lich, auch die Versorgungsempfängerinnen und Versor-
gungsempfänger in die Einmalzahlungen einzubezie-
hen. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jah-
ren zahlreiche Maßnahmen zur Gewährleistung einer
stabilen und nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung
eingeleitet. Dazu gehören auch die Reformen im Bereich
der gesetzlichen Rentenversicherung. Wegen der allge-
meinen Lohnentwicklung und der demografischen Ent-
wicklung haben Rentnerinnen und Rentner in den ver-
gangenen Jahren keine Rentenerhöhungen erhalten.
8784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Um diese Entwicklung bei gesetzlichen Rentenversi-
cherungen nachzuzeichnen, können daher die Versor-
gungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger im
Bereich des Bundes bei den Einmalzahlungen nicht be-
rücksichtigt werden.
Derzeit wird von verschiedener Seite prognostiziert,
dass im Jahr 2007 wegen der Lohnentwicklung im ver-
gangenen Jahr erstmals wieder eine geringfügige Ren-
tenanpassung zur Mitte des Jahres, das heißt zum Juli,
möglich sein könnte.
Ich möchte mich an diesen Spekulationen nicht betei-
ligen. Wenn es – was mich freuen würde – in diesem
Jahr noch zu einer linearen Anpassung für die Rentnerin-
nen und Rentner kommt, sollte einer solchen Entwick-
lung jetzt nicht vorab und auch nicht vorschnell für die
Pensionäre und Hinterbliebenen durch eine anteilige
Einmalzahlung vorgegriffen werden, zumal dies allen-
falls zu einem geringfügigen Betrag führen würde.
Vielmehr sollte die weitere Entwicklung im Renten-
bereich bei den künftigen Entscheidungen zur allgemei-
nen Anpassung der Versorgungsbezüge angemessen be-
rücksichtigt werden. Dies dürfte nach meiner
Auffassung auch weitaus mehr den Interessen der Ver-
sorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfängern
entsprechen.
Die Entwicklung der Versorgungsbezüge soll nämlich
nicht von der allgemeinen Entwicklung abgekoppelt
werden. Entsprechend dem Auftrag des Koalitionsver-
trages halten wir auch weiterhin an dem Leitziel fest,
Beamtenversorgung und Rentenversicherung künftig
wirkungsgleich zu entwickeln und dabei die Systemun-
terschiede zu berücksichtigen. Das soll dadurch sicher-
gestellt werden, dass wir im Rahmen der Dienstrechtsre-
form eine Evaluationsklausel einführen wollen. Damit
wird der Gesetzgeber verpflichtet werden, eine wir-
kungsgleiche und systemgerechte Entwicklung der bei-
den großen Alterssicherungssysteme zu gewährleisten.
Mit der Nichtberücksichtigung im Rahmen dieses Ge-
setzes leisten die Pensionäre und Hinterbliebenen – das
steht außer Frage – einen weiteren Beitrag zur Konsoli-
dierung der Staatsfinanzen. Ich möchte dies an dieser
Stelle ausdrücklich hervorheben und anerkennen. Ange-
sichts der erheblichen finanziellen Belastungen der öf-
fentlichen Haushalte ist ein Festhalten an den bisherigen
Sparanstrengungen aber auch unverzichtbar.
Ich bin überzeugt davon, dass die eingeleiteten Sanie-
rungsmaßnahmen auch im Interesse der Ruhestandsbe-
amtinnen und Ruhestandsbeamten liegen. Denn nur auf
der Grundlage eines auch in Zukunft handlungsfähigen
Bundeshaushalts wird es gelingen, die Altersversorgung
der Beamtinnen und Beamten langfristig auf eine sichere
Grundlage zu stellen.
Mit den Regelungen zur Einmalzahlung soll zugleich
– entsprechend einem Änderungsantrags der Koalitions-
fraktionen – auch die bisherige Recht für Stellenober-
grenzen für den Bundesbereich um zwei Jahre bis zum
1. Juli 2009 verlängert werden. Die Bundesregierung un-
terstützt diesen Antrag.
Im Stellenobergrenzenrecht werden durch besol-
dungsgesetzliche Höchstgrenzen die Anzahl der Beför-
derungsämter in Laufbahnen und Verwaltungsbereichen
festlegt.
Durch das Besoldungsstrukturgesetz ist im Jahre 2002
die Regelung der Obergrenzen für Beförderungsämter
neu gefasst worden. Die Bundesregierung und die Lan-
desregierungen wurden ermächtigt, jeweils für ihren Be-
reich für die Zahl der Beförderungsämter abweichende
Obergrenzen durch Rechtsverordnung festzulegen. Bis
zum Inkrafttreten dieser Verordnungen sind die früheren
Obergrenzenregelungen und die Rechtsverordnungen
der Bundesregierung und der Landesregierungen weiter
anzuwenden. Diese Weiteranwendung würde am 1. Juli
2007 auslaufen. Danach würden für bestimmte Laufbah-
nen – etwa für die Polizeibeamten des Bundes – erheb-
lich ungünstigere Stellenschlüssel gelten. Dies gilt es zu
vermeiden.
Die Neuregelung der Stellenobergrenzen musste bis-
her aufgrund der föderalen Neuordnung der dienstrecht-
lichen Regelungskompetenzen und mit Blick auf die
geplante Dienstrechtsreform im Bund zurückgestellt
werden. Zudem ist eine Neubestimmung von Obergren-
zen auch von organisatorischen und strukturellen Verän-
derungen abhängig.
Nach der föderalen Neuordnung der dienstrechtlichen
Regelungskompetenzen ist im Bund der Reformprozess
zur Modernisierung des öffentlichen Dienstrechts mit
der Abstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechts
eingeleitet worden. Erst auf der Grundlage eines neu
ausgerichteten Besoldungsrechts können in einem weite-
ren Schritt auch Stellenobergrenzen entsprechend den
Anforderungen an die jeweiligen Laufbahnen und Funk-
tionen neu bestimmt werden. Daher soll die bisherige
Obergrenzenregelung um zwei Jahre verlängert werden.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 4. Juli 2006 zur Verlänge-
rung des Abkommens vom 9. April 1995 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und den
Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermö-
gen und zur Belebung der wirtschaftlichen Be-
ziehungen (Tagesordnungspunkt 26)
Lothar Binding (SPD): Versuchen Sie kurz, sich ei-
nen leeren Anwendungsbereich vorzustellen. Keine Vor-
stellung? Dann liegen Sie richtig. Und nun versuchen
Sie sich noch vorzustellen, Sie sollten darüber Verhan-
deln und einen Vertrag entwerfen. Das ungefähr ist die
Ausgangslage – eine recht unbequeme Lage für unsere
Regierung.
Das ursprünglich zum August 2006 nach zehn Jahren
auslaufende Doppelbesteuerungsabkommen mit den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8785
(A) (C)
(B) (D)
Vereinigten Arabischen Emiraten – VAE – wurde mit
Rücksichtnahme auf das besondere Verhältnis zwischen
den Vereinigten Arabischen Emiraten und Deutschland
und im Hinblick auf die Unternehmensteuerreform 2008
für eine kurze Übergangsfrist bis zum August 2008 ver-
längert.
Doppelbesteuerungsabkommen dienen im Allgemei-
nen der Vermeidung einer doppelten Besteuerung von
grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeiten, die
in den Bereich der Steuerhoheit mehrerer Staaten fallen.
Das ist beim Doppelbesteuerungsabkommen mit den
Vereinigten Arabischen Emiraten nicht der Fall, denn es
werden dort im Wesentlichen keine direkten Steuern er-
hoben. Wir verhandeln also mit einer Steueroase.
Hauptziel des DBA vom 9. April 1995 mit den Verei-
nigten Arabischen Emiraten war vielmehr die Schaffung
von Anreizen für Investitionen in Deutschland durch den
Verzicht auf deutsche Quellensteuerrechte – eine seltene,
aber gut motivierte Zielstellung für ein DBA. Nach An-
gaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-
nologie wurde dieses Hauptziel des DBA jedoch nicht
erreicht. Das Investitionsvolumen der Vereinigten Arabi-
schen Emirate in Deutschland ist deutlich geringer als
erwartet. Der Wert der in Deutschland getätigten Investi-
tionen beläuft sich gegenwärtig auf etwa 2 Milliarden
Euro. Dazu gehören Beteiligungen an DAX-Unterneh-
men oder deren Töchtern sowie Immobilieninvestitio-
nen. Dagegen gibt es große Investitionen aus Deutsch-
land in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Darüber
lohnt es sich aus insbesondere auch steuerpolitischer
Sicht nachzudenken.
Den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde seitens
des Bundesfinanzministeriums unmissverständlich deut-
lich gemacht, dass das Abkommen unter den gegenwär-
tigen Bedingungen über das Jahr 2008 hinaus nicht ver-
längert werden wird. Innerhalb dieses Zeitraumes sollen
im Herbst 2007 erneut Verhandlungen über den Ab-
schluss eines neuen Doppelbesteuerungsabkommens
aufgenommen werden; denn wir messen den Vereinigten
Arabischen Emiraten in strategischer Perspektive große
außenpolitische und wirtschaftliche Bedeutung im bila-
teralen Verhältnis bei. Dieser Bedeutung möchten wir
mit einem substanziell neuen Abkommen Ausdruck ver-
leihen. Damit sind wir bzw. ist die Verhandlungsführung
unserer Regierung auf dem richtigen Weg.
Die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich zum
wichtigsten deutschen Exportmarkt in der arabischen
Welt entwickelt. Das Land ist einer der dynamischsten
Wirtschaftsstandorte der Welt und eine äußerst dynami-
sche Handelsdrehscheibe und Vertriebsknotenpunkt für
deutsche Unternehmen geworden. Das Doppelbesteue-
rungsabkommen hat zu guten kompetitiven Rahmenbe-
dingungen für exportorientierte deutsche Unternehmen
wesentlich beigetragen, etwa durch Produktionskosten
zu ortsüblichen Preisen.
Derzeit sind etwa 500 deutsche Unternehmen, in ers-
ter Linie Vertriebs- und Projektgesellschaften, in den
Emiraten vertreten. Die Bundesrepublik ist zum viert-
größten Importeur in den VAE aufgestiegen und hat im
Jahr 2005 Waren im Wert von mehr als 4,3 Milliarden
Euro eingeführt. Das Handelsvolumen beläuft sich auf
etwa 4,5 Milliarden Euro und hat sich seit dem Jahr 2000
fast verdoppelt. Auch die VAE sind an einer Stärkung
der wirtschaftlichen Beziehungen interessiert und wollen
nach eigenen Angaben ihr Investitionskapital in Deutsch-
land in den nächsten Jahren auf etwa 10 Milliarden US-
Dollar erhöhen.
Die vereinbarte Übergangszeit sollte meiner Ansicht
nach dazu genutzt werden, ein substanziell neues Ab-
kommen zu erarbeiten, welches der Tatsache Rechnung
trägt, dass wir eine strategische Partnerschaft mit den
dynamisch wachsenden VAE wünschen. Zum anderen
muss es aber auch unser Bestreben sein, grenzüber-
schreitende Steuervermeidungsstrategien zu unterbin-
den; es muss den Zielen der Unternehmensteuerreform,
Verbreiterung und Schutz der steuerlichen Bemessungs-
grundlage, dienlich sein. Wir wollen mit dem Gesetz die
Steuereinnahmen unseres Staates sichern, die grenzüber-
schreitende Unternehmenstätigkeit weiter stärken und
somit den Weg für Investitionen zur Sicherung bestehen-
der und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ebnen.
Bei den Verhandlungen über ein substanziell neues
Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten
Arabischen Emiraten müssen wir dem Umstand Rech-
nung tragen, dass es sich dabei um ein Land handelt, das
keine direkten Steuern erhebt. Gewinne eines in
Deutschland ansässigen Unternehmens unterliegen le-
diglich dann der Besteuerung der VAE, sofern das deut-
sche Unternehmen seine Tätigkeit in den VAE durch
eine dort gelegene Betriebsstätte ausübt. Liegt keine Be-
triebsstätte des deutschen Unternehmens in den VAE
vor, unterliegen die in den VAE erzielten Gewinne des
deutschen Unternehmens weiterhin der deutschen Be-
steuerung. Das Vorliegen einer Betriebsstätte eines deut-
schen Unternehmens in den VAE ist von entscheidender
Bedeutung für die Frage, ob die Gewinne des deutschen
Unternehmens, die durch eine Geschäftstätigkeit in den
VAE erzielt werden, der deutschen Besteuerung oder der
Besteuerung der VAE unterliegen.
Deutsche Unternehmen, die ihre Geschäftstätigkeiten
in Dubai entsprechend den Vorgaben des Doppelbesteu-
erungsabkommens ausrichten, können die in den Verei-
nigten Arabischen Emiraten erzielten Einkünfte steuer-
frei nach Deutschland transferieren. Diese Einkünfte
unterliegen in Deutschland nicht mehr der deutschen
Steuer, da diese, wenn auch mit 0 Prozent, bereits in den
Vereinigten Arabischen Emiraten besteuert worden sind.
Die in den Vereinigten Arabischen Emiraten erzielten
Einkünfte unterliegen nur dem sogenannten Progres-
sionsvorbehalt, das heißt die Einkünfte werden in die
Bemessung des Steuersatzes einbezogen, der auf das zu
versteuernde Einkommen des Unternehmens in Deutsch-
land anzuwenden ist.
Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich aus dem Dop-
pelbesteuerungsabkommen auch für Gewinne, die als
Einkünfte aus Dividenden aus der gesellschaftsrechtli-
chen Beteiligung einer deutschen Gesellschaft an einer
Gesellschaft in Dubai entstehen. Sofern es sich bei der
Muttergesellschaft um eine deutsche Kapitalgesellschaft
handelt, die mit mindestens 10 Prozent direkt an einer in
8786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dubai gelegenen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, kön-
nen Gewinnausschüttungen der in Dubai gelegenen Ge-
sellschaft an die deutsche Muttergesellschaft grundsätz-
lich von der deutschen Steuer freigestellt werden.
Bei einem ersatzlosen Auslaufen des Doppelbesteue-
rungsabkommens im Jahre 2008 können Unternehmen
und Privatpersonen aus den Vereinigten Arabischen
Emiraten mit ihrem Welteinkommen zur Besteuerung
herangezogen werden. Dies ist eine Folge der unbe-
schränkten Steuerpflicht, die einem Immobilienbesitz
unter gewissen Folgen anhaften kann. Um vor diesem
Hintergrund einen Abzug emiratischen Kapitals und eine
Minderung der Steuereinnahmen aus dieser Quelle zu
verhindern, ist ein neues Doppelbesteuerungsabkommen
notwendig.
Das geltende Doppelbesteuerungsabkommen regelt
auch das sogenannte Arbeitsortprinzip, das in den Verei-
nigten Arabischen Emiraten tätige Arbeitnehmer dem
dortigen Steuerrecht unterwirft. Dieses verzichtet be-
kanntlich auf eine Einkommensbesteuerung. Unterhält
ein Arbeitnehmer in Deutschland noch einen wie auch
immer gearteten Wohnsitz, ist er ohne DBA auch bei ge-
wöhnlichem Aufenthalt in den VAE in Deutschland un-
beschränkt steuerpflichtig, das heißt er müsste die in den
VAE erzielten Einkünfte hier voll versteuern. Ähnliches
gilt für Investoren eines Immobilienfonds. Daraus er-
zielte Ausschüttungen werden im deutschen Steuerrecht
als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung qualifi-
ziert. Mit dem DBA fiele auch das darin normierte „Be-
legenheitsprinzip“ weg, wonach die Einkünfte am Ort
der Immobilie – hier: in den VAE – zu besteuern sind. In
Deutschland ansässige bzw. wohnhafte Investoren müs-
sen diese Einkünfte dann als Teil ihres Welteinkommens
in Deutschland versteuern.
Aus all dem folgt, wie wichtig es ist, entweder zu ei-
ner vernünftigen neuen Regelung im Rahmen eines
neuen DBA mit den VAE zu kommen oder aber künftig
darauf gänzlich zu verzichten. Um in diesem Span-
nungsfeld zu optimalen Lösungen zu kommen, unter-
stützen wir das Vorhaben unserer Regierung bzw. des
Finanzministers, im Zeitraum des noch einmal verlän-
gerten Abkommens die Verhandlungen mit den VAE zu
führen.
Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit der heutigen De-
batte soll der Bundestag das derzeit geltende Doppelbe-
steuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland
mit den Vereinigten Arabischen Emiraten bis August
2008 verlängern. Hierzu ist zu bemerken, dass das Dop-
pelbesteuerungsabkommen 1995 beschlossen wurde und
zeitlich auf zehn Jahre begrenzt war. In der Verhand-
lungsrunde mit den Vereinigten Arabischen Emiraten im
Juli 2006 konnte keine Einigung über ein neues Abkom-
men erzielt werden.
Deshalb würde das Abkommen am 10. August 2006
auslaufen, wenn es nicht durch die heutige Entscheidung
verlängert wird.
Die Vereinigten Arabischen Emirate erheben keine
bzw. nur geringe direkte Steuern. Deshalb stellt sich bei
der Frage nach dem Nutzen des Doppelbesteuerungsab-
kommens weniger die Vermeidung von Doppelbesteue-
rung. Es geht vielmehr darum, die abschließende
Zuweisung von Besteuerungsrechten und die Wettbe-
werbsfähigkeit deutscher Investoren in den Vereinigten
Arabischen Emiraten auf der einen Seite und auch des
Investitionsstandortes Deutschland für Gelder aus den
Vereinigten Arabischen Emiraten auf der anderen Seite
in den Vordergrund zu stellen.
Hierzu ist aus meiner Sicht zu bemerken, dass weder
auf die Vereinigten Arabischen Emirate noch auf Dubai
der Begriff „Steueroase“ zutrifft. Es sind viele deutsche
Unternehmen dort angesiedelt, auch mit Niederlassun-
gen. Gerade diese Firmen stellen keine Briefkastenunter-
nehmen dar, sondern bei ihnen handelt es sich um
„echte“ Unternehmen. Der Text soll an vielen Stellen an
moderne Abkommenstexte angepasst werden, die unter
anderem auch Umgehungsmöglichkeiten erschweren
sollen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch andere
europäische Staaten entsprechende Doppelbesteuerungs-
abkommen mit den Vereinigten Emiraten unterhalten.
Bei einer zukünftigen Verhandlung ist aus Sicht der
FDP zu berücksichtigen, dass die Wettbewerbsfähigkeit
deutscher, in den Vereinigten Emiraten tätigen Unterneh-
men nicht beeinträchtigt werden darf. Dieses gilt sowohl
für Unternehmen wie auch für die Mitarbeiter der Unter-
nehmen. Die vom Bundesfinanzministerium befürchtete
steuerliche Verlagerung von Unternehmensaktivitäten in
die Vereinigten Arabischen Emirate ist wegen der dorti-
gen Lebensbedingungen und des hohen Kostenniveaus
nicht sehr wahrscheinlich.
Auch die vom Bundesfinanzministerium befürchtete
Steuervermeidung bei Immobilienanlagen spielt bisher
nur eine geringe Rolle. Sie dürfte wegen bereits geschei-
terter Projekte künftig kaum relevant sein.
Bei den anstehenden Verhandlungen ist darauf zu
achten, dass für den Fall eines Auslaufens des Doppelbe-
steuerungsabkommens Umgehungsmöglichkeiten dadurch
bestehen, dass betroffene deutsche Unternehmen Aktivi-
täten über Tochterunternehmen unter anderem in Öster-
reich, Luxemburg oder Belgien lenken können, die
Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten
Arabischen Emiraten unterhalten. Insbesondere ist auch
mit diesen Ländern die Freistellung abgeschlossen wor-
den.
Wenn die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Ver-
längerung ablehnt, dann schadet sie den Interessen der in
den Vereinigten Arabischen Emiraten tätigen deutschen
Unternehmen. Ich halte dieses nicht für verantwortlich.
Zusammenfassend möchte ich für die FDP bemerken,
dass es unglücklich ist, dass Ministerien dieser Bundes-
regierung sehr unterschiedlich agieren. Es wäre zu be-
grüßen, wenn diese Frage zunächst innerhalb der Bun-
desregierung gelöst wird, damit dann mit einer Stimme
im Interesse deutscher Firmen, ihrer Arbeitnehmer und
Investitionen, wie auch von Investitionen der Vereinig-
ten Arabischen Emirate in Deutschland, über ein sachge-
rechtes Doppelbesteuerungsabkommen verhandelt wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007 8787
(A) (C)
(B) (D)
Für die anstehenden Verhandlungen wünscht die FDP
viel Erfolg.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wir entscheiden
heute hier über den Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens
mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, VAE. Das
klingt zunächst eher undramatisch, und deswegen wird
in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden, wo-
rüber wir hier heute entscheiden werden. Das ist ein Feh-
ler. Ich nenne den Gesetzentwurf lieber einen „Gesetz-
entwurf zur Verlängerung der Existenz Steueroase
Vereinigte Arabische Emirate“. Das bringt den Konflikt,
der hinter der Debatte heute steht, besser auf den Punkt.
Was ist denn die Situation? Das existierende Doppel-
besteuerungsabkommen sagt unter anderem: Wirtschaft-
liche Aktivitäten deutscher Steuerpflichtiger in den VAE
sind von der Besteuerung in Deutschland freigestellt.
Das ist nichts Ungewöhnliches, denn Doppelbesteue-
rungsabkommen sind ja an sich sinnvolle Abkommen
zur Verhinderung einer Doppelbesteuerung: Sie schaffen
Ausnahmen vom eigentlich in Deutschland allgemein
gültigen Welteinkommensprinzip. Danach wären eigent-
lich alle Einkommen eines deutschen Steuerpflichtigen
hier zu versteuern, egal wo die Einkommen entstehen.
Um zu verhindern, dass nun dasselbe Einkommen zwei-
mal besteuert wird – nämlich hier und an dem Ort der
Entstehung –, gibt es Doppelbesteuerungsabkommen.
Im Fall der VAE treten nun aber zwei Probleme auf.
Das erste Problem ist: Dort gibt es schlicht und einfach
keine direkten Steuern, also keine Einkommensteuer
oder Körperschaftsteuer. Zweites Problem: In dem Dop-
pelbesteuerungsabkommen wird – wie in fast allen sol-
chen Abkommen – nicht das Anrechnungsverfahren ge-
wählt, sondern das Freistellungsverfahren: Die in den
VAE erzielten Einkommen stellt die Bundesrepublik
also von der Steuerzahlung in Deutschland frei – statt,
wie beim Anrechnungsverfahren, lediglich im Ausland
gezahlte Steuern anzurechnen. Ergebnis dieser Konstel-
lation: Faktisch sind Einkommen, die in den VAE erzielt
werden, für deutsche Steuerpflichtige steuerfrei. Fak-
tisch werden die VAE damit zu einer Steueroase. Nicht
umsonst stehen die VAE auf der Liste der Steueroasen,
die kürzlich in der „Financial Times“ veröffentlicht
wurde. Dazu sagt Die Linke ganz deutlich: Mittelfristig
müssen solche Möglichkeiten zur Steuerumgehung ab-
geschafft werden. Mittelfristig muss dieses Doppelbe-
steuerungsabkommen grundsätzlich geändert werden!
Aber – und das hat die Sitzung des Finanzausschusses
ja deutlich gemacht – da stehen wir ja nicht alleine. Es
gab einen breiten Konsens, dass dieser Zustand grund-
sätzlich beendet werden muss, dass mit Nachdruck ein
neues Doppelbesteuerungsabkommen verhandelt wer-
den muss und dass die hier vorgeschlagene Verlängerung
des Doppelbesteuerungsabkommens mit einer Gelben
Karte in Richtung VAE verbunden sein muss, die sagt:
Nochmals verlängern wir diesen Zustand nicht. Bis Ende
2008 müssen sich die VAE zu einer Änderung bereiter-
klären, dann läuft das Doppelbesteuerungsabkommen
definitiv aus – auch wenn kein neues an seine Stelle tritt.
Das Problem sieht ja auch das BMF. Es hat sich aber
mit seiner Auffassung wohl gegenüber anderen Ministe-
rien nicht durchsetzen können. Deswegen liegt zum
Zeitpunkt des Auslaufens des Doppelbesteuerungsab-
kommens kein neuer Entwurf vor, und deswegen müssen
wir hier heute über die Verlängerung des alten, unbefrie-
digenden Doppelbesteuerungsabkommens entscheiden.
Die Motivation der anderen Ministerien scheint dabei
auf der Hand zu liegen. Ich denke da nur an Artikel in
der Finanzpresse, in denen über eine engere Zusammen-
arbeit unter anderem im Bereich EADS spekuliert
wurde. Das alles deutet darauf hin, dass hier möglicher-
weise auch von deutscher Seite nicht mit dem vollen
Nachdruck an einem neuen Doppelbesteuerungsabkom-
men gearbeitet wurde. Das könnte auch erklären, warum
wir heute noch nicht einen Schritt weiter sind und ein
neues Doppelbesteuerungsabkommen zur Abstimmung
vorliegt. Das ist die Ursache dafür, dass wir heute nur
die – unbefriedigende – Wahl haben zwischen einer Ver-
längerung des bestehenden Abkommens oder gar kei-
nem Abkommen.
Deswegen sagt die Fraktion Die Linke: Hier muss
wirklich die Gelbe Karte gezeigt werden – in Richtung
VAE, aber auch in Richtung der Bundesregierung, die
nicht zeitgerecht einen Alternativentwurf vorlegen
konnte. Dabei sind die Alternativen klar und relativ ein-
fach umzusetzen. Das haben wir in den vergangenen De-
batten um Doppelbesteuerungsabkommen auch schon
immer gesagt: Wir müssten einfach vom Freistellungs-
prinzip zum Anrechnungsprinzip übergehen. Dann gäbe
es eine Menge der Probleme, die wir jetzt haben, gar
nicht. In diese Richtung muss die Entwicklung gehen,
grundsätzlich und im konkreten Fall VAE. Daher können
wir dem Gesetzentwurf nur mit allergrößten Bauch-
schmerzen zustimmen.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf soll das Doppelbesteuerungsabkommen
mit den Vereinigten Arabischen Emiraten einmalig um
zwei Jahre verlängert werden. Die Notwendigkeit zur
Verlängerung hat sich aus folgenden Gründen ergeben:
Das alte, aus dem Jahr 1995 stammende Abkommen war
abweichend von der üblichen Abkommenspolitik auf
zehn Jahre befristet worden. Im Hinblick auf die beson-
dere steuerliche Situation in den Vereinigten Arabischen
Emiraten behielt sich Deutschland vor, nach Ablauf von
einigen Jahren das Abkommen noch einmal zu überprü-
fen.
Bei einer Prüfung ist zunächst besonderes Augen-
merk auf den Hauptzweck von Doppelbesteuerungsab-
kommen zu lenken, nämlich Doppelbesteuerungen von
grenzüberschreitenden Einkünften zu vermeiden. Dies
setzt voraus, dass beide Staaten vergleichbare Steuern
erheben. Dies ist hier nicht der Fall. Im Verhältnis zu den
Vereinigten Arabischen Staaten trat ein wirtschaftspoliti-
scher Zweck in den Vordergrund, nämlich Investitionen
aus diesem Erdöl produzierenden Staat in Deutschland
durch den Verzicht auf deutsche Quellensteuerrechte zu
fördern. Solche Investitionen sind jedoch nicht im er-
hofften Umfang erfolgt. Gleichwohl wird dieser Aspekt
(A) (C)
(B) (D)
bei künftigen Verhandlungen auch zu berücksichtigen
sein.
Beim Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen
ist noch ein dritter Aspekt zu berücksichtigen: Doppel-
besteuerungsabkommen sollen auch der Pflege der au-
ßenpolitischen Beziehungen der Vertragsstaaten dienen.
Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate ha-
ben im April 2004 eine strategische Partnerschaft verein-
men ohne besondere steuerliche Schutzmechanismen,
wie sie von deutscher Seite gefordert werden, wird es je-
doch nicht geben.
Anlage 18
Amtliche Mitteilung
bart. Darin haben beide Regierungen ihren Willen be-
kundet, ihre Beziehungen über den umfangreichen
Handel hinaus auch im politischen Bereich zu intensivie-
ren. Ein schlichtes Auslaufenlassen des Doppelbesteue-
rungsabkommens kam somit vor allem aus Gründen der
außenpolitischen Rücksichtnahme auf dieses besondere
bilaterale Verhältnis nicht in Betracht.
Beide Staaten sollten versuchen, ein neues, substan-
ziell besseres Abkommen zu vereinbaren. Die Bundesre-
gierung hat deswegen Neuverhandlungen angeboten. In
einer ersten Verhandlungsrunde im Sommer 2006 konnte
jedoch keine Einigung über ein neues Abkommen erzielt
werden. Im Hinblick auf die Befristung im alten Abkom-
men wurde das vorliegende Protokoll vereinbart, dass
für eine kurze Übergangsfrist das alte Abkommen bis
zum 9. August 2008 verlängert. Gleichzeitig wurde ge-
genüber den Vereinigten Arabischen Emiraten unmiss-
verständlich deutlich gemacht, dass das bisherige Ab-
kommen über die zwei Jahre hinaus nicht verlängert
werden wird. Dies bedeutet, dass wichtige Inhalte des al-
ten Abkommens auf jeden Fall wegfallen bzw. grundle-
gend neu formuliert werden. Die Übergangszeit soll
nach dem Willen beider Seiten dazu genutzt werden, ein
neues Abkommen zu erarbeiten.
Für die Bundesregierung ist entscheidend, dass ein
neues Abkommen der Verbreiterung und dem Schutz der
Bemessungsgrundlage, Zielen der Unternehmensteuer-
reform 2008, besser dient. Der Tatsache, dass in den Ver-
einigten Arabischen Emiraten im Wesentlichen keine di-
rekten Steuern erhoben werden, ist dabei besonders
Rechnung zu tragen. Sollte eine Einigung auf dieser Ba-
sis nicht zustande kommen, könnte durchaus die Situa-
tion eintreten, dass es im Verhältnis zu den Vereinigten
Arabischen Emiraten kein Doppelbesteuerungsabkom-
men geben wird.
Die Bundesregierung hat den Vereinigten Arabischen
Emiraten vorgeschlagen, im August oder November
2007 mit den Verhandlungen zu beginnen. Eine Antwort
der Vereinigten Arabischen Emirate zu diesem Vor-
schlag steht noch aus. Ich versichere Ihnen, dass der
Bundesregierung daran gelegen ist, ein substanziell
neues Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinig-
ten Arabischen Emiraten zu vereinbaren. Ein Abkom-
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Auswärtiger Ausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühun-
gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtver-
breitung sowie über die Entwicklung der Streitkräfte-
potenziale (Jahresabrüstungsbericht 2005)
– Drucksache 16/1483 –
– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla-
mentarischen Versammlung der NATO
Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung
der NATO vom 26. bis 30. Mai 2006 in Paris, Frank-
reich
– Drucksachen 16/3556, 16/4101 Nr. 2 –
Haushaltsausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 Titel 882 05
– Beteiligung des Bundes an den Kosten des Landes
Mecklenburg-Vorpommern für zusätzliche Sicherheits-
maßnahmen für den G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm –
– Drucksachen 16/4223, 16/4248 Nr. 1.3 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische
Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-
tung abgesehen hat.
Rechtsausschuss
Drucksache 16/2555 Nr. 2.83
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Drucksache 16/150 Nr. 2.193
Drucksache 16/1942 Nr. 1.14
Drucksache 16/3382 Nr. 2.17
Drucksache 16/3573 Nr. 1.6
Drucksache 16/4105 Nr. 2.18
Drucksache 16/4105 Nr. 2.60
8788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2007
nd 91, 1
2, 0, T
22
86. Sitzung
Berlin, Freitag, den 9. März 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18