Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt XI der Tagesordnung auf:
Wahl der Präsidentin/des Präsidenten des Deutschen Bundestages
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe die Freude und die Ehre, im Namen meiner Fraktion, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Frau Kollegin Professor Dr. Rita Süssmuth zur neuen Präsidentin dieses Hauses vorschlagen zu dürfen.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Vorschlag gehört: Die Fraktion der CDU/CSU hat für die Wahl zur Präsidentin des Deutschen Bundestages die Abgeordnete Frau Dr. Rita Süssmuth vorgeschlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor.Wir kommen dann zum Wahlverfahren. Dazu muß ich Ihnen einiges sagen. Die Wahlausweise haben Sie in den Fächern im Vorraum des Ersatzplenarsaals
gefunden. Ich bitte Sie, sich zu vergewissern, daß der Wahlausweis, den Sie jetzt bei sich haben, auch wirklich Ihren Namen trägt
— es muß sein; Sie glauben nicht, was alles vorkommt, meine Damen und Herren —, damit es draußen in der Eingangshalle zu keiner Verwechselung kommt.Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Die für die Wahl allein gültigen weißen Stimmkarten werden am Stenographentisch und im Eingangsbereich ausgegeben. Sie dürfen Ihre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen und müssen ebenfalls noch in der Wahlkabine die Stimmkarte in den Umschlag legen. Die Schriftführer müssen jeden zurückweisen, der seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine gekennzeichnet oder in den Umschlag gelegt hat. Die Wahl kann jedoch in diesem Fall vorschriftsmäßig wiederholt werden.Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „Ja", „Nein" oder „Enthaltung". Ungültig sind Stimmen auf nichtamtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurne geben, müssen Sie Ihren Wahlausweis dem Schriftführer an der Wahlurne übergeben. Ich darf Sie noch darauf hinweisen, daß allein die Abgabe Ihres Wahlausweises als Nachweis der Teilnahme an der Wahl gilt.Ich bitte jetzt die Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Meine Damen und Herren, ich eröffne die Wahl.Kann ich davon ausgehen, daß alle Stimmkarten abgegeben sind? — Wir müssen noch etwas warten.Ich frage noch einmal: Sind alle Stimmkarten abgegeben? — Dann schließe ich die Abstimmung und bitte um Auszählung.Meine Damen und Herren, wir müssen während der Auszählung die Sitzung für eine Viertelstunde unterbrechen.
— Dies haben wir ausgemacht. — Einen Augenblick, bitte! Bitte bleiben Sie im Raum. Es wird gerade überlegt, ob wir nicht doch fortfahren können.Meine Damen und Herren, wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß wir die Zeit nutzen können, um den nächsten Tagesordnungspunkt zu behandeln.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt XII auf:
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENErhöhung der Anzahl der Stellvertreterinnen/Stellvertreter der Präsidentin/des Präsidenten— Drucksachen 11/3457, 11/3458 —
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7836 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Vizepräsident Frau RengerInterfraktionell sind eine gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunkts und ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Das Haus ist damit einverstanden.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
— Wenn es etwas leiser wäre, wäre es einfacher.
Der Alterspräsident des 11. Bundestages, Willy Brandt, hat in seiner Rede zu Beginn der ersten Plenarsitzung dieser Legislaturperiode folgendes ausgeführt — ich zitiere — :Abgeordnete höheren und niederen Ranges gibt es nach der Verfassung nicht. Für mich ergibt sich hieraus, daß alle Fraktionen über die gleichen Chancen der Mitwirkung verfügen sollten.Das Protokoll dieser Sitzung verzeichnet nach dem ersten Satz — ich zitiere aus dem Protokoll — :Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der GRÜNENMeine Damen und Herren, Sie haben an dieser Stelle Beifall geklatscht, obwohl Sie wissen, daß die Praxis in diesem Bundestag seit 1983 eine andere Praxis ist. Seit 1957 sind alle Fraktionen des Bundestages im Präsidium des Bundestages vertreten, nur die GRÜNEN nicht, seitdem es sie hier gibt. Die Berücksichtigung aller Fraktionen im Präsidium entsprach einem 30 Jahre alten Brauch, bis die GRÜNEN kamen. Und das ist ja nicht alles: Die Mehrheit des Hauses hat uns aus dem G-10-Ausschuß ausgeschlossen, sie hat uns von der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste und ihrer Finanzen ausgeschlossen,
und es gibt hier viele politische Alltagsvorgänge, die immer wieder zeigen, daß viele hier im Hause, die Beifall für die damalige Aussage von Willy Brandt zum Ausdruck gebracht haben, mit dem Anspruch in der Praxis bis heute überfordert sind. Jüngstes Beispiel dafür war der Ausschluß der GRÜNEN von den Beratungen der Fraktionsvorsitzenden über die Konsequenzen der Jenninger-Rede.
Das Problem ist folgendes. Auf dem Papier gibt es keine Abgeordneten zweiter Klasse; in der Praxis gibt es diese Abgeordneten sehr wohl. Gerade diejenigen, die immer so sehr auf Recht und Verfassung pochen, sollten wissen, daß das Hauptproblem dabei nicht nur die unterschiedliche Behandlung von Abgordneten ist. Sie produzieren damit nicht nur Abgeordnete zweiter Klasse, Sie schaffen auch Wähler zweiter Klasse. Es geht dabei immerhin um drei Millionen Wähler.
Unser Antrag, die Anzahl der Stellvertreter des Bundestagspräsidenten auf fünf zu erhöhen, ist eigentlich eine demokratische Selbstverständlichkeit.
Es würde nur einem demokratischen Grundprinzip entsprechen, wenn alle Fraktionen im Bundestag am Präsidium beteiligt wären. Die Arbeitsfähigkeit des Präsidiums würde gewiß nicht zusammenbrechen, wenn statt vier nun fünf Stellvertreter des Präsidenten gewählt würden. Alle Gegenargumente, sofern solche heute noch vorgetragen werden sollten, sind vorgeschoben und fadenscheinig.Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es seit 30 Jahren fester Brauch war, daß alle Fraktionen im Bundestag am Präsidium beteiligt waren, bis wir kamen. Die FDP hat seit 1957 immer einen Vizepräsidenten gehabt, obwohl sie seither in vier Wahlperioden weniger stark an Mandaten war, als die GRÜNEN es jetzt sind.
Die Anzahl der Vizepräsidenten hat sich seit 1949 mehrfach geändert. Zunächst gab es zwei, dann gab es drei, seit 1961 gibt es vier. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich auf die Zahl von vier Stellvertretern zu versteifen. Es gibt auch überhaupt keinen vernünftigen Grund für die Auffassung, eine solche Änderung könne man nur zu Beginn einer Legislaturperiode vornehmen.
Wenn die Neuwahl einer Präsidentin ansteht, dann ist dies allemal ein Grund, die Korrektur eines unguten und vordemokratischen Zustands hier im Bundestag vorzunehmen.
Deswegen möchte ich zum Schluß sagen: Lassen Sie uns doch gerade nach den Vorgängen der letzten Wochen wenigstens in diesem einen Punkt hier den Anfang einer Normalisierung der Verhältnisse machen. Lassen Sie uns Schluß machen mit dieser Ungleichbehandlung. Lassen Sie uns an diesem wichtigen und symbolträchtigen Punkt den Anfang mit der Beendigung einer diskriminierenden Praxis gegenüber einer Fraktion dieses Hauses machen. Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns die Anzahl der Stellvertreter auf fünf erhöhen.Versuchen Sie jetzt nicht, mit irgendwelchen Ausflüchten oder formalen Hinweisen oder solchen besonders wenig plausiblen Argumenten wie „Das kann man nicht mittendrin machen" oder so etwas diese Sache wegzudrücken.Wir haben eine vorzügliche Kandidatin, die für dieses Amt bestens geeignet wäre. Das ist Frau Nickels. Sie ist vielen von Ihnen seit Jahren bekannt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7837
Kleinert
Lassen Sie uns also diese notwendige Korrektur vornehmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der GRÜNEN, die Zahl der Vizepräsidenten von vier auf fünf zu erhöhen, ab.
Aus gutem Grund hat der Deutsche Bundestag die Zahl der Stellvertreter des Präsidenten zu Beginn der 11. Legislaturperiode auf vier festgelegt. Es besteht kein Anlaß, von dem damaligen, für die Dauer der gesamten Legislaturperiode vorgesehenen Beschluß jetzt abzuweichen.
Wie schon damals festgestellt wurde, gibt es keinen Gesichtspunkt, nach dem die Fraktion DIE GRÜNEN einen „Anspruch" auf das Amt eines Vizepräsidenten geltend machen könnte.
Es gibt auch keine parlamentarische Übung oder Tradition — schauen Sie bitte auch in die Landtage —, wonach jede im Parlament vertretene Fraktion oder Partei nach Gewohnheitsrecht im Präsidium vertreten sein müßte.
Sie haben nichts vorgebracht, was es jetzt aus Anlaß der Wahl einer neuen Präsidentin zwingend erscheinen lassen würde,
die Zahl von vier auf fünf zu erhöhen.
Wenn die GRÜNEN hier durch den Kollegen Kleinert vortragen lassen, daß sie in diesem Hause nicht gleichbehandelt würden oder vielleicht die anderen Fraktionen — zumindest meine Fraktion — ihnen mit Skepsis gegenüberträten, dann möchte ich Ihnen die alte Volksweisheit entgegenhalten: „Wie du hineinrufst in den Wald, das Echo dir entgegenschallt" , meine sehr verehrten Damen und Herren;
ein jedenfalls früher gerne gewähltes Thema für Besinnungsaufsätze. Diese Besinnung sollten Sie bei sich vornehmen.
Zwar — das möchte ich zugeben — haben die GRÜNEN im Laufe der Zeit manche Praktiken ihrer frühen Anfangszeit des Einzugs hier in den Deutschen Bundestag abgelegt, sei es, daß sie sich dem Zwang beugten, sei es aber auch, daß die Bequemlichkeit in ihren Reihen etwas überhandnahm, wie etwa ihre Ankündigung, daß alle immer an allen Plenarsitzungen teilnähmen, natürlich der Wirklichkeit überhaupt nicht standhält.
Dennoch sind die GRÜNEN nach der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung noch weit davon entfernt, eine Partei wie die übrigen Parteien in diesem Hause zu werden.
Gedenktage wie der 17. Juni werden von Ihrer Partei nach wie vor boykottiert. Sie nehmen sich auch das Recht heraus,
an Plenartagen, anstatt hier teilzunehmen, auswärts zu Demonstrationen zu fahren.
Da sind natürlich schon Fragen nach Ihrem Verständnis von Parlamentarismus durchaus erlaubt.
Ein Kandidat oder eine Kandidatin dieser politischen Gruppierung wäre dann möglicherweise zwar als Vizepräsident eingeteilt, könnte den Einsatz aber überhaupt nicht wahrnehmen, weil er bzw. sie vielleicht nach Mutlangen oder Wackersdorf zu einer Demonstration unterwegs ist.
Meine Damen und Herren, es war schon ein Fehler, Ihnen diese Plätze in der Mitte des Deutschen Bundestags zu überlassen.
Ich habe damals, Herr Kollege Vogel, in meiner Fraktion nicht aus Liebe zu den GRÜNEN dafür geworben, sondern weil ich es einer traditionellen Partei wie der Ihren nicht zumuten wollte, daß man Ihnen mit Mehrheit Plätze zuweist, die Sie nicht haben wollen. Meine Rücksicht galt damals den Sozialdemokraten und nicht den GRÜNEN. Das möchte ich auch einmal ganz klar gesagt haben.
Meine Damen und Herren, die Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags haben eine hohe Verantwortung für die Einhaltung der parlamentarischen Regeln und für eine überparteiliche Amtsführung. Wir haben Zweifel, ob jemand aus den Reihen der GRÜNEN diesem hohen Anspruch gerecht werden könnte.
Ich bitte Sie deshalb, dem Antrag nicht stattzugeben.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Jahn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, wenn wir über die eigenen Angelegenheiten unseres Hauses reden, wären Sachlichkeit und Ruhe ein guter Ratgeber.
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7838 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Jahn
Der Deutsche Bundestag bestimmt in freier Entscheidung, wieviel Stellvertreter der Präsident oder die Präsidentin haben soll.
Für diese Wahlperiode haben wir die Entscheidung darüber in der ersten Sitzung am 18. Februar 1987 getroffen. Wir als SPD-Fraktion haben damals für unseren Antrag, die Zahl der Stellvertreter auf fünf zu bestimmen und in dem dann sechsköpfigen Präsidium dem Präsidenten die entscheidende Stimme zu geben, keine Mehrheit gefunden. Deshalb ist es bei der jetzigen Regelung geblieben.Die GRÜNEN, um deren Mitwirkung im Präsidium es damals ging, stellen ihren damaligen Antrag heute erneut. Der Anlaß dazu ergibt sich daraus, daß wir mitten in der Wahlperiode, fast auf den Tag genau, sozusagen zur Halbzeit, die Person des Präsidenten neu zu wählen haben. Da bietet es sich schon an, auch die Größe und die Zusammensetzung des Präsidiums, also die Zahl der Stellvertreter, neu zu bedenken.Wir sind dazu bereit. Die SPD-Fraktion unterstützt deshalb den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, die Zahl der Stellvertreter um einen zu erweitern.
Es ist richtig: Ein förmlicher Anspruch auf Mitwirkung im Präsidium besteht für keine Fraktion. Richtig ist auch, daß nicht in jedem Bundestag ausnahmslos alle Fraktionen einen Vizepräsidenten gestellt haben. Aber richtig ist auch, das mit Ausnahme der GRÜNEN
einer Fraktion von 43 Mitgliedern immer ein Stellvertreter gegeben worden ist und sogar — darauf ist mit Recht hingewiesen worden — einer Fraktion, wenn sie noch weniger Abgeordnete hier im Hause hatte.
Meine Damen und Herren, parlamentarische Demokratie lebt von und durch geordneten Streit, auch und gerade mit denen, die uns in der Auseinandersetzung unbequem sind. Streit läßt sich aber nur ordnen, wenn alle, die miteinander zu streiten haben, an dessen Ordnung mitwirken, gerade auch diejenigen, mit denen der Streit schwieriger zu führen ist.Wenn die GRÜNEN einen Sitz für einen Vizepräsidenten erhalten und an der Leitung und Ordnung unserer Arbeit durch das Präsidium beteiligt werden, dann wäre das möglich, ja, es wäre besser möglich. Das ist nicht nur eine Frage des Stils. Das ist auch eine Frage der politischen Klugheit und des redlichen parlamentarischen Umgangs miteinander.
Ich muß nach einigem, was hier gesagt worden ist, wohl daran erinnern: Wir, die frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, haben alle die gleiche Grundlage für unsere Arbeit, den nach freier Entscheidung begründeten Auftrag der Wähler. Niemand hat das Recht, dabei einen Unterschied zu machen. Wer es dennoch tut, handelt willkürlich.
Für Willkür darf im Deutschen Bundestag kein Platz sein.
Das Recht jedes Abgeordneten im Deutschen Bundestag ist gleich, ebenso seine Pflicht. Dem muß die innere Ordnung folgen. Sie, meine Damen und Herren der Mehrheitsfraktionen, sollten sich dem nicht verschließen. Es wäre für die Glaubwürdigkeit der Arbeit des Deutschen Bundestages gut, wenn Sie sich entschließen würden, die Entscheidung vom Februar 1987 bei einer Gelegenheit, die das durchaus glaubwürdig möglich macht, abzuändern und der Zahl der Erhöhung der Stellvertreter zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir haben zu Beginn dieser 11. Legislaturperiode einen Beschluß über die Institutionen dieses Hauses zu fassen gehabt. Dazu gehören natürlich auch die Vizepräsidenten. Das Hohe Haus hat damals beschlossen, daß die Zahl der Vizepräsidenten gegenüber dem bisherigen Brauch seit der 2. Legislaturperiode, vier Vizepräsidenten zu haben, nicht erweitert werden soll.Im übrigen ist die Wahl der Vizepräsidenten keine Anteilswahl. Es ist nicht wie bei den Vorsitzenden
der Ausschüsse, wo das System Hare/Niemeyer, durch Schepers verbessert gilt, sondern hier geht es um eine geheime Wahl, wie wir sie bei der Wahl der Frau Bundestagspräsidentin im Augenblick vornehmen.
Es ist eine geheime Wahl. Deswegen braucht derjenige, der kandidiert, das Vertrauen der Mehrheit des Hauses.Übrigens hat die FDP, Herr Kollege Kleinert, seit 1949 einen Vizepräsidenten gestellt, weil sie seit dieser Zeit durch die Mehrheit des Hauses das Vertrauen bekommen hat.
Frau Kollegin Nickels von den GRÜNEN hat vor einem Jahr hier in geheimer Wahl kandidiert. Sie hat mit 119 Stimmen nicht die Mehrheit des Hauses erhalten
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7839
Wolfgramm
Die Fraktion der FDP bestätigt deswegen den Beschluß, den wir zu Beginn der Legislaturperiode für diese Legislaturperiode getroffen haben.
Das Wort hat der fraktionslose Abgeordnete Herr Wüppesahl.
Meine Damen und Herren! Auch an dieser Stelle freue ich mich über Ihre Vorfreude. Aber ich möchte folgendes sagen.
Herr Wolfgramm, Ihre Begründung sieht doch ungefähr so aus: Weil Sie es zu Beginn der Legislaturperiode so bestätigt haben, wie es zur Zeit geregelt ist, wollen Sie davon nicht abweichen. Das würde bedeuten, daß Sie z. B. auch dafür votieren müßten, daß Herr Jenninger nach wie vor Bundestagspräsident ist. Es ist völlig absurd, was Sie an Argumentation anführen.
Ein weiterer Vorsatz zu Herrn Jahn! — Ich denke, die anspruchsvollen Äußerungen, die Sie über die angeblich gleichen Grundlagen aller Abgeordneten im Deutschen Bundestag gemacht haben, werden sehr genüßlich noch in das Organstreitverfahren in Karlsruhe eingeführt werden, das geführt wird, um meine Rechte so herzustellen, wie sie tatsächlich notwendig sind.
Zur Sache! Dieser Antrag der GRÜNEN ist für sich nicht nur demokratisch, er ist nach dem gesunden Menschenverständnis schlicht und einfach vernünftig. So etwas abzulehnen ist nicht nur eine Torheit, sondern drückt vor allen Dingen aus, mit welcher Brust Sie hier Ihre Mehrheit ausspielen. Mich wundert in der Tat, wie sich bestimmte Personen, im besonderen in der FDP-Fraktion — Sie wissen genau, wen ich meine, auch ohne daß ich den Namen erwähne —, verhalten wollen.
Der Anspruch, den Herr Jahn formuliert hat, ist der Anspruch, den z. B. auch die Initiative Parlamentsreform für sich formuliert. In dieser Initiative sind in der Tat auch sehr viele Kollegen und Kolleginnen aus den Koalitionsfraktionen vertreten.
Diese Kandidatin hat im Vorfeld gesagt, daß sie es begrüßen würde, wenn eine Person aus den Reihen der GRÜNEN auf dem Podium des Bundestagspräsidenten sitzen könnte. Wenn Sie in dieser Situation
dieser Kandidatin bereits im Vorfeld ihres Amtsantrittes — und zwar unmittelbar, ganz zeitnah im Vorfeld des Amtsantrittes — anzeigen, daß Sie mit ihr wieder so verfahren wollen wie in ihrer Eigenschaft als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, ist das eine wirklich bodenlose Torheit, die Sie begehen.
Die Essenz meiner Ausführungen: Es ist eine Werbung dafür, dem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer für den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Erhöhung der Zahl der Stellvertreter des Präsidenten stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Meine Damen und Herren, die Mehrheit war eindeutig für Ablehnung dieses Antrags. Der Antrag ist abgelehnt.
— Das Präsidium ist sich in der Beurteilung der Stimmabgabe einig.
Meine Damen und Herren, ich darf jetzt das Abstimmungsergebnis für die Wahl der Präsidentin des Deutschen Bundestages bekanntgeben:
Abgegebene Stimmen: 475 Mitglieder des Hauses.
Davon gültig: 473 Stimmen. Mit Ja stimmten 380 Mitglieder des Hauses.
Mit Nein stimmten 72 Mitglieder des Hauses. Enthalten haben sich 21 Mitglieder des Hauses.
Die Abgeordnete Frau Professor Dr. Rita Süssmuth hat die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Hauses erhalten. Sie ist damit zur Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt.
Ich frage Sie, Frau Kollegin Süssmuth: Nehmen Sie die Wahl an?
Ja, ich nehme die Wahl an.
Frau Präsidentin, ich darf Ihnen von dieser Stelle des Hauses aus für das ganze Haus meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen, Ihnen Glück und Erfolg in diesem Amt wünschen und Sie bitten, hier Platz zu nehmen.
Präsidentin Dr. Süssmuth : Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir mit Ihrer Stimmabgabe ausgesprochen haben.
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7840 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Präsidentin Dr. SüssmuthZunächst möchte ich meinem Amtsvorgänger, Herrn Dr. Philipp Jenninger, im Namen der Abgeordneten für sein großes persönliches Engagement danken, das er in den vergangenen vier Jahren für den Deutschen Bundestag bewiesen hat.
Er hat in seiner Amtsführung Sachbezogenheit und Toleranz in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung vor alles andere gestellt und entscheidende Impulse für eine lebendige Weiterentwicklung der parlamentarischen Arbeit gegeben.Seine Entscheidung, das ihm übertragene Amt dem Parlament zurückzugeben, verdient unseren Respekt.
Danken möchte ich ihm auch für die vielen Initiativen, die er gerade in bezug auf Israel und für den deutsch-israelischen Jugendaustausch immer wieder gesetzt und auch durchgeführt hat.
Sie haben heute zum zweitenmal eine Frau an die Spitze des Parlaments gewählt. Ich freue mich darüber, daß sich damit eine Tradition auszubilden beginnt,
von der ich hoffe, daß sie auch anderen Frauen Mut macht, politische Verantwortung zu übernehmen. Schließlich gilt, wenn wir auf unser Parlament schauen, immer noch der Satz, den Annemarie Renger bei ihrer Wahl 1972 sprach, daß die Frauen im Parlament — ich zitiere — „zahlenmäßig nicht so stark vertreten sind, wie es ihre Rolle in Staat und Gesellschaft erfordern würde".
Hier liegt eine Herausforderung für alle politischen Parteien.
Ihnen allen versichere ich, daß ich das mir anvertraute Amt unparteiisch, gerecht und mit der notwendigen Offenheit nach allen Seiten führen werde. Ich will die Präsidentin aller Mitglieder des Deutschen Bundestages sein, so wie es alle meine Vorgänger waren. Ich bitte dabei um Unterstützung und kollegiale Zusammenarbeit.
Weil ich die hohen Maßstäbe achte, die die Amtsführung des Präsidenten des Deutschen Bundestages stets bestimmt haben, bedeutet auch dieses Amt für mich in erster Linie politisches Engagement und vorbildliche Arbeit im Dienst aller Bürger unseres Landes. Daher werde ich auch weiterhin aktiv für Gleichberechtigung , soziale Gerechtigkeit, Engagement für die Schwachen und Hilfesuchenden in unserer Gesellschaft eintreten.
Wenn ich dem Vorschlag meiner Fraktion gefolgt bin, so beruht das auf der Überzeugung, daß dem „Herzen unserer Demokratie" — wie der Verfassungsrechtler Maunz das Parlament genannt hat — unser ganzes Engagement gehört und daß sich jeder Abgeordnete fragen muß, welchen Beitrag er hierzu zu leisten hat.Demokratie ist für mich ein Wert, der höchste Einsatzbereitschaft erfordert, auch unter Zurückstellung persönlicher Präferenzen und Planungen. In diesem Sinne verspreche ich Ihnen allen mein ganzes Engagement für diese Aufgabe.Die gefüllte Tagesordnung läßt es heute nicht zu, grundsätzliche Fragen der Aufgaben des Parlaments an dieser Stelle ausführlicher zu behandeln. Dies möchte ich gern in der nächsten Woche tun.Ich danke Ihnen und grüße namens des Deutschen Bundestages von diesem Platz aus alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Wir müssen nun die Wahlkabinen wieder abräumen, damit die Vertreter des Bundesrates wieder Platz nehmen können.
— Für den Fall, daß jemand anwesend ist. Es ist unsere Pflicht, ihnen den Platz einzuräumen. — Deswegen einige Minuten Pause, bitte.
Wir fahren in den Beratungen fort.Ich rufe Tagesordnungspunkt XIII a bis f auf:a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen
— Drucksachen 11/2237, 11/2493 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 11/3320, 11/3480 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Becker KirschnerDr. ThomaeFrau Wilms-Kegelbb) Bericht des Haushaltsausschusses gem. § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/3402 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler Strube
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7841
Vizepräsident Frau RengerZywietzFrau Rust
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dreßler, Fuchs (Köln), Egert, Haack (Extertal), Heyenn, Jaunich, Andres, Becker-Inglau, Dr. Dobberthien, Dr. Hauchler, Gilges, Hasenfratz, Ibrügger, Schanz, Kirschner, Peter (Kassel), Reimann, Schmidt (Salzgitter), Schreiner, Seuster, Steinhauer, Urbaniak, Weiler, von der Wiesche, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDReform des Gesundheitswesens— Drucksachen 11/2500, 11/3320, 11/3480 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Becker KirschnerDr. ThomaeFrau Wilms-Kegelc) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung der Reichsversicherungsordnung— Drucksache 11/280 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 11/3320, 11/3480 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Becker KirschnerDr. ThomaeFrau Wilms-Kegel
d) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes— Drucksache 11/1623 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 11/3320, 11/3480 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Becker KirschnerDr. ThomaeFrau Wilms-Kegel
e) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der Sonderstellung von psychisch Kranken in der Krankenversicherung
— Drucksache 11/2594 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/3411 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. Becker
f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung der Vorschriften über die Meldepflichten des Arbeitgebers in der Kranken- und Rentenversicherung sowie im Arbeitsförderungsrecht und über den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in das Vierte Buch Sozialgesetzbuch — Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung —— Drucksachen 11/2221, 11/2265 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/3445 —Berichterstatter: Abgeordneter Hoss
Zum Gesundheits-Reformgesetz liegen zahlreiche Änderungs- und Entschließungsanträge auf den Drucksachen, wie ausgedruckt, vor. Zu vielen dieser Änderungsanträge und Entschließungsanträge ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Auch die Schlußabstimmung findet namentlich statt.Meine Damen und Herren, für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte sind für die zweite Beratung sechs Stunden vorgesehen. Innerhalb dieser sechs Stunden werden auch die verschiedenen Änderungsanträge begründet. Hierzu gibt es erst eine Bemerkung des Herrn Berichterstatters.Vorher muß ich noch zur Geschäftsordnung wieder wegen der Redezeit dem Herrn Abgeordneten Wüppesahl das Wort geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier stehen zwar 35 Minuten Redezeit, Sie dürfen aber sicher sein, das wird kürzer werden.Es geht um folgendes. Ich habe gestern nachmittag 74 Änderungsanträge für die zweite Lesung eingebracht. Von diesen 74 Änderungsanträgen haben ungefähr 55 bis 60 substantiellen Gehalt, die anderen 15 bis 20 beinhalten mehr redaktionelle Änderungen. Sie wissen, daß ich nicht in erster und auch nicht in dritter Lesung Änderungsanträge einbringen kann.Ich kann auch in die Ausschußberatung keine Änderungsanträge einbringen, weil Sie es so wollen, weil Sie die Geschäftsordnung so ausgeformt haben, wie sie jetzt ausgeformt ist. Ich halte dies, wie Sie wissen, für verfassungswidrig. — Wie dem auch sei, in diesem Sachzwang befinde ich mich: wenn ich also Einfluß auf die Entscheidungsfindung zu dieser sogenannten Gesundheitsstrukturreform nehmen möchte,
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7842 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Wüppesahldann kann ich das nur in dieser zweiten Lesung machen.Nun kann es aber auch nicht angehen, daß ich in dem mir üblicherweise zur Verfügung gestellten Kontingent von 15 Minuten, das sowieso für eine sechsstündige Debatte viel zuwenig ist, in denen man lediglich Grundsatzpositionen zu dem gesamten Gesetzeswerk äußern kann, diese Änderungsanträge vorstellen kann.
— Das ist genau richtig!Ich habe gestern einen Brief an den Ältestenrat geschrieben, in dem ich darum gebeten habe, daß mir zu den Änderungsanträgen mit substantiellem Gehalt auch ein gesondertes Rederecht eingeräumt wird, weil ich nur auf diese Art und Weise überhaupt in der Lage sein könnte, Sie zu überzeugen, daß an bestimmten Stellen der Vorlage aus dem Ausschuß, wie sie uns jetzt vorliegt, die ich, wie Sie wissen, in den meisten Punkten als katastrophal empfinde — ich weiß mich da mit der gesamten übrigen Opposition in diesem Hause einig —, Veränderungen bewirkt werden sollten.
— Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß ich mich sprachlich genauso verhalten kann wie Sie, wenn Sie von der übrigen Opposition sprechen.Das ist also der Sinn dieses Geschäftsordnungsbeitrages. Ich möchte darum bitten, daß mir zu jedem Änderungsantrag mit substantiellem Gehalt ein gesondertes Rederecht eingeräumt wird, und zwar über das Rederecht hinaus, das mir zu dem gesamten Gesetzeswerk sowieso zusteht.Ich denke, daß dieser Antrag für sich sehr plausibel ist und aus der Sachzwanglogik, die Sie mir mit der Ausformung der Geschäftsordnung aufgedrückt haben, von mir gar nicht anders eingebracht werden kann, als ich es jetzt getan habe. Ansonsten könnte ich gleich darauf verzichten, überhaupt Änderungsanträge zu stellen. Wenn das also einen Sinn haben soll, muß ich auch dazu reden dürfen.Ich weiß nicht, wie wir da verfahren wollen, Frau Präsidentin. Vielleicht könnte in einer generellen Abstimmung beschlossen werden, daß ich beispielsweise zu zunächst 20 Änderungsanträgen 30 Minuten Redezeit bekomme oder wie auch immer oder dann für die nächsten 20 Änderungsanträge weitere 30 Minuten Redezeit. Das ist das einzige, was man in vereinfachender Form vornehmen könnte.Ich bitte jedenfalls, darüber eine Abstimmung herbeizuführen.
Meine Damen und Herren, wird weiterhin das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann müssen wir uns darüber einig werden, wie wir verfahren. Wir können Herrn Wüppesahl eine Gesamtredezeit für alle seine Anträge bewilligen — das stelle ich anheim — , und dann kommen wir dazu, wie viele Minuten wir ihm im Verhältnis zu den anderen 518 Abgeordneten hier im Hause zumessen. Dieses muß man natürlich dabei berücksichtigen.
Wir können auch den Weg gehen, daß wir, wie Herr Wüppesahl gewünscht hat, ihm je eine Minute Redezeit für die Begründung jedes seiner Anträge geben. Auch das wäre eine Möglichkeit, um ihm konkret zu helfen.
— Das tut mir leid. Das Haus muß es entscheiden. In der Geschäftsordnung ist das nicht so vorgesehen. Deswegen ist das Haus also souverän, darüber zu entscheiden.
Ich schlage Ihnen vor — Herr Kleinert hat mir das zugerufen —, daß wir Herrn Wüppesahl eine Redezeit von insgesamt 30 Minuten innerhalb dieser sechs Stunden geben. —
— Ich frage ja. Sie können anders entscheiden. — Einen Moment. Wie das bei uns üblich ist, müssen sich erst die Parlamentarischen Geschäftsführer beraten. Dafür bitte ich um Geduld. Es ist immer gut, wenn man sich einigt. — Ich frage mich langsam, was der Parlamentspräsident hier eigentlich noch machen soll.
— Meine Damen und Herren, ich habe nicht den Eindruck, daß man sich hier einigt. — Ich darf noch einmal zu meinem Vorschlag zurückkommen. Ich hatte insgesamt 30 Minuten vorgeschlagen. Aber nach unserer Geschäftsordnung ist nur eine Zeit von bis zu 15 Minuten für den einzelnen Abgeordneten vorgesehen.
Auch die Geschäftsführer sind der Meinung, die Redezeit, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen, auf 15 Minuten festzulegen. Ist das Haus damit einverstanden? — Gegen den Widerspruch von Herrn Wüppesahl so beschlossen.
— Sie können nicht in derselben Sache noch einmal das Wort zur Geschäftsordnung bekommen.
Meine Damen und Herren, Dr. Becker hat jetzt das Wort als Berichterstatter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Berichterstatter habe ich Ihnen folgendes mitzuteilen: Bei der Beschlußempfehlung auf der Drucksache
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7843
Dr. Becker
11/3320 ist eine Korrektur anzubringen. Auf Seite 216 der Beschlußempfehlung muß bei Art. 8 Nr. 10 an Stelle der dort aufgeführten Texte entsprechend dem Beschluß des Ausschusses das Wort „unverändert" gesetzt werden. Der hier aufgeführte Text ist durch ein Büroversehen in die Beschlüsse aufgenommen worden.
Ich eröffne die Debatte. Herr Kollege, ich darf Ihnen sofort das Wort erteilen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute treten wir hier in die Schlußberatungen des Gesundheits-Reformgesetzes ein, der ersten Stufe der Reform im Gesundheitswesen. Dieses Gesetz zählt sicher zu den umfangreichsten, aber auch zu den schwierigsten Gesetzen in dieser Legislaturperiode. Es betrifft nahezu jeden Bürger in unserem Land.
Es hat so viele Details, daß nur noch die Experten der Sozialpolitik einen Durchblick haben.
Daher war es für die Kritiker auch leicht, die Menschen, vor allem die Kranken und Rentner, zu verunsichern.Unser Gesundheitsversorgungssystem ist im allgemeinen gut. Aber es hat Schwachstellen und droht unfinanzierbar zu werden. Kostenentwicklung und Lohnentwicklung klaffen auseinander. Vier Kostendämpfungsgesetze von 1977 bis 1983 hatten nur Kurzzeitwirkung. Die Defizite stellten sich umgehend bei den Krankenkassen wieder ein. Die geringen Steuerungsmechanismen versagen. Die Folge sind seit Jahren steigende Beitragssätze. Hinzu kommen in der Sozialpolitik noch die Finanzprobleme in der Rentenversicherung. Sie machen die Beitragssatzstabilität in den nächsten Jahrzehnten in der Krankenversicherung dringend notwendig.Heute wird von allen Parteien und allen großen Gruppen und Verbänden in der Gesellschaft — bis auf wenige Kurzdenker bei Ärztegruppen und Egoisten —
die Reform des Gesundheitswesens als vordringliche Aufgabe angesehen.
Über das „Ob" sind sich alle einig, nur bei dem „Wie" gehen die Auffassungen auseinander. Die einen Extremgruppen neigen zu mehr Selbstbeteiligung bei der Inanspruchnahme von Leistungen. Das schröpft und belastet jedoch besonders die Schwachen, die Alten und chronisch Kranken. Dann müssen aber verstärkt soziale Abfederungen eingebaut werden, und unter dem Strich kommt nicht mehr viel heraus.Das andere Extrem will das Geld vornehmlich bei den Leistungserbringern, Ärzten, Zahnärzten, Pharmaindustrie, Apothekern und den vielen Gesundheitsberufen holen. Auch das führt zu nichts, denn dann sinkt gewiß die Qualität der Versorgung, beispielsweise bei Fall- oder Kopfpauschalen. Die Dummen sind die Patienten, und der Schritt in die Zweiklassenmedizin ist vorgezeichnet.Die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP haben sich bei der Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung für einen Weg der Mitte entschieden. Sie soll sich an folgenden Zielvorstellungen orientieren.
Erstens. Die Solidarität der sozialen Krankenversicherung wird neu bestimmt.
Die Leistungen werden auf das medizinisch Notwendige beschränkt. Versorgungsdefizite werden ausgeglichen. Zur häuslichen Pflege leistet die Krankenversicherung einen Beitrag.Zweitens. Die Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit wird gestärkt. Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung werden aufgewertet.Drittens. Die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung wird erhöht.Viertens. Die Strukturen der Krankenversicherung werden modernisiert.Fünftens. Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung wird neu kodifiziert, um es dem Bürger verständlicher zu machen.
Meine Damen und Herren, die Reform war ein hartes Stück Arbeit, das Norbert Blüm und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Arbeits- und Sozialministerium geleistet haben. Das Handeln geschah in dem Bewußtsein, daß die Krankenversicherung nur gerettet werden kann, wenn sie reformiert wird. Wenn sie nur fortgeschrieben würde, wäre sie schnell un-finanzierbar. Deshalb fordert diese Reform zwangsläufig Opfer von allen.Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß in dem System der gesetzlichen Krankenversicherung hohe Wirtschaftlichkeitsreserven stecken. Alle stimmen zu, daß hier gespart und noch einmal gespart werden muß, sollen die Krankenkassenbeiträge nicht ins Unermeßliche steigen. Es weiß aber auch jeder, wo gespart werden kann, nämlich beim anderen. Das eigene Sparopfer soll nur ein kleiner, am bester aber gar kein Beitrag sein. Gemeinwohl scheint in unserer Wohlstandsgesellschaft eine fremde Vokabel geworden zu sein,
und Anspruchsdenken fördert Verschwendung.
Weil aber sehr viele vom Sparen betroffen werden, haben wir den politischen Lärm und die maßlose Kritik um diese Reform. Meine Damen und Herren, diese
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7844 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Dr. Becker
Reform in der Krankenversicherung ist seit hundert Jahren die erste Reform mit Aussicht auf Erfolg.
Es gab schon zweimal unter Arbeitsminister Theo Blank und Bundeskanzler Konrad Adenauer Anfang der 60er Jahre Versuche, das Gesundheitswesen zu reformieren. Beide Versuche scheiterten.
Schon damals trafen sich die seltsamsten Verbündeten:
Ärzte und Gewerkschaften saßen mit der Opposition in einem Boot und lehnten das damalige Reformkonzept in Bausch und Bogen ab. Die Reform ging zu Bruch, weil es den vielen Interessengruppen gelang, die Regierungsfraktionen auseinanderzudividieren. Blank stand allein.Jetzt, nach 25 Jahren, wollen wir die dringend notwendige Reform abermals auf den Weg bringen. Wieder ist der Widerstand gewaltig, wieder sitzen die gleichen Partner von damals in einem Boot: SPD und Ärzte, Gewerkschaften und Pharmaindustrie und die GRÜNEN dazu, wahrlich seltsame Koalitionen.
Da wird mit allen Mitteln gefochten, Kranke und Rentner werden vor den eigenen Karren gespannt, verängstigt, verunsichert, verdummt.
Die Eigennutzbrigaden rollen zuhauf durch die bundesdeutsche Landschaft.
Die alten Parolen wurden wieder aus dem Keller geholt und entstaubt. Neue Parolen kamen hinzu: „Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben", „Betrug am Patient" , „Preisdiktat" , „Todesstoß für viele Gesundheits-Betriebe", „Ermächtigungsgesetz", „Festbetrag — ein genial-teuflisches Monstrum", „Überbürokratismus", „Gläserner Patient", „ Mammutbehörde " und viele andere mehr.Bei polemischen Parolen waren die Reformverhinderer groß. Aber bei der Frage nach tragbaren und machbaren Alternativen herrschte Funkstille.
Die Opposition redet vom „Abkassiermodell", die Leistungserbringer im gleichen Boot fürchten vor allem das Abkassieren bei sich selbst.Alles geschieht, wie vor 25 Jahren gehabt. Nur eines ist heute anders: Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP sind sich heute einig. Sie stehen zur Reform, sie stehen zu Norbert Blüm.
Sie wissen, daß der ausgewogene Weg der Mitte der richtige ist. Sie wissen, daß es höchste Zeit für die Reform ist, weil sonst — nun hören Sie gut zu! — das „Hineinschneiden in das soziale Fleisch", von dessen Notwendigkeit 1982 der SPD-Kanzler Schmidt schonsprach, noch viel stärker sein wird und von allen dann noch viel mehr Opfer verlangt werden müssen.Das Gesundheitsreformgesetz ist der erste Schritt der Reform. Die Kritiker monieren, weil nicht alles auf einmal gemacht werde, wie etwa die Reform der Organisationsstruktur der Krankenkassen, die Überprüfung der Krankenhausstruktur und die Begrenzung der Überkapazitäten im Gesundheitswesen, insbesondere bei den Arztzahlen.Die Zweistufigkeit hat Gründe. Sie liegen zum einen einmal in den unterschiedlichen Zuständigkeiten und damit im höheren Beratungsbedarf. Zum anderen hingen sie mit dem riesigen Berg von Problemen zusammen, die nicht von heute auf morgen lösbar sind. Aber die Kritiker sollen zur Kenntnis nehmen, daß auch diese Probleme von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen gelöst werden, wie sie schon erklärt haben. Die Koalition wird daran zügig weiterarbeiten.Im Ausschuß hatten wir viel Arbeit und eine hohe Belastung. Sie traf aber alle in gleicher Weise, die Mitglieder der Koalition wie die der Opposition. Die Oppositionsredner werden hier gewiß das Lied von der unzumutbaren Belastung singen. Alles sei bis an den Rand der psychophysischen Erschöpfung gegangen.
Nun, Politiker sind im allgemeinen keine Neurotiker,
sollten es wenigstens nicht sein. Sie sind auch schon an einiges gewöhnt, auch in alter Zeit, als die SPD an der Regierung war.
Nur eines will ich hervorheben. Zu später Stunde, um 22 Uhr, waren im Ausschuß immer noch 30 oder 32 der Mitglieder bei der Arbeit und nicht am Trinken.
Ich sage dies auch vor den Bürgern in unserem Land, weil eine Fernsehsendung in dieser Woche glauben machen konnte, im Parlament wimmele es von alkoholisierten Abgeordneten.
Als Arzt, dem dies noch am ehesten auffiele, fühle ich mich verpflichtet, das hier klarzustellen.
Die Überstunden und die Sondersitzungen stehen uns durchaus gut an. Wir wollen doch kein „faules" Parlament sein. Die Opposition wird davon reden, sie habe zuwenig Beratungszeit gehabt, die Koalition hätte schon früher beraten können und anderes mehr. Das Klagelied ist nicht neu — die Platte läuft wie immer — und wird durch Wiederholungen nicht wahrer. Vor vier Wochen habe ich Ihnen hier erklärt, daß wir 1977 acht Wochen hatten, um das Krankenversicherungskosten-Dämpfungsgesetz, 1977 unter
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Dr. Becker
Ihrer Führung, unter Ihrer Regierung damals über die Runden zu bringen.Die Fakten des Gesundheitsreformgesetzes kamen bereits im Herbst 1987 auf den Tisch.
Keine Zusatzfragen.
Sie haben nachher genügend Zeit, wenn Sie reden. —
Der Vorentwurf vom Dezember 1987, der Referentenentwurf vom 21. Januar 1988 lag auch der Opposition vor. Die erste Lesung im Parlament fand vor einem halben Jahr statt.Wir hatten eine überaus gründliche Einführung, über neun Ausschußtage hinweg, so wie ich es jedenfalls in meinen zwölf Parlamentsjahren noch nie erlebt habe.
Zu jeder Einzelvorschrift wurde seitens der Regierung ausführlich informiert und von der Opposition intensiv nachgefragt.
Die Regierung hat mehr als 80 zusätzliche Anfragen ausführlichst und detailliert schriftlich beantwortet.Sieben Anhörungen fanden schon vor der Sommerpause statt, bei denen 75 Verbände und 40 Einzelsachverständige gehört wurden. Sie gaben 179 schriftliche Stellungnahmen ab; bis zum Ende der Beratungen waren es 320 Stellungnahmen. Die Wortprotokolle über die Anhörungen und auch über die Einführung standen jedem Ausschußmitglied seit Sommer zur Verfügung.Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP und die Bundesregierung werteten die Anhörungen und Stellungnahmen aus und legten 80 substantielle Änderungsanträge vor. Diese bringen vor allem Verbesserungen und finanzielle Entlastungen für die Kranken, aber auch erhebliche Verminderungen der bürokratischen Verfahren für die Selbstverwaltung und sichern den Datenschutz. Die weiteren 120 Anträge betrafen überwiegend rechtstechnische und redaktionelle Änderungen; sie lösten keinen Beratungsbedarf aus.Über die Änderungsanträge der Koalition, aber auch die recht stattliche Anzahl der Anträge der Opposition, die übrigens erst am 26. Oktober und teils noch später, zuletzt am 9. November, eingereicht worden sind, wurde in neun weiteren Ausschußsitzungen beraten und abgestimmt.
Meine Damen und Herren, 25 Voll-Ausschußberatungen — einschließlich der Anhörungen — hat es für ein Gesetz meines Wissens bisher nicht gegeben.
Was soll also das Feldgeschrei über die mangelnden Beratungsmöglichkeiten?
Gewiß war es keine einfache Beratungsmaterie. Aber über weite Strecken wurde im Ausschuß Nachhilfeunterricht im Sozial- und Krankenversicherungsrecht erteilt und damit wertvolle Beratungszeit verbraucht.
Meine Damen und Herren, trotz aller gegensätzlichen Auffassungen danke ich dem Vorsitzenden, den Obleuten und allen Mitgliedern im Ausschuß, aber insbesondere auch dem Ausschußsekretariat für die geleistete Arbeit und ebenso für die faire und kollegiale Zusammenarbeit.
Das Sperrfeuer der Opposition und auch der vereinigten Protestierer aus den Reihen der Ärzte, Zahnärzte, Zahntechniker, Optiker, Apotheker, Pharmaindustrie, Heilbäder, Taxifahrer, Masseure, Bademeister und Bestattungsunternehmer sollte nun endlich verstummen.
Es hat ohnehin nur zur allgemeinen Verunsicherung beigetragen,
aber die Reform nicht gefährdet.Eine Folge hatte das Geschrei allerdings: Es hat zu einem Run auf neue Zähne, Brillen und Hörgeräte geführt.
Eine rätselhafte Seuche scheint die Deutschen in diesem Jahr befallen zu haben, die auf einmal schlechter kauen, schlechter sehen und hören können, wie dies in der „Welt" stand. Hier möchten sich die Versicherten noch schadlos halten, ehe sie im nächsten Jahr selbst höhere Eigenleistungen erbringen müssen.
An diesen Auswüchsen, meine Damen und Herren, zeigt sich, wie sich unser System fast zu einer Art Selbstbedienungsladen verändert hat.
Dies gilt für Leistungserbringer wie auch für Leistungsnehmer.
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Dr. Becker
Es hat mit Solidarität gewiß nichts mehr zu tun, wenn Optiker aus ihrer Kundenkartei Kunden anschreiben, daß ihre Brille jetzt drei Jahre alt sei und sie dann wieder Anspruch auf eine neue Brille hätten.
Auch die Neujahrsgrüße der Kurheime an die Kurlauber der vergangenen Jahre haben viel Erinnerungswert, in zweierlei Hinsicht. Hier wären noch viele Beispiele zu bringen.Meine Damen und Herren, die Sparabsichten wurden breit ausgewalzt, die Verbesserungen und die Reformschritte aber kaum erwähnt oder völlig totgeschwiegen.
Dies hat die Diskussion nur auf die Kostendämpfung abgedrängt. Die Reformschritte wurden kaum wahrgenommen und wenn überhaupt, nur mit negativen Schlagzeilen besetzt wie: „Das kostet mehr Geld" oder „Entsolidarisiert die Krankenversicherung! ".
In unserem Krankenversicherungssystem kommen die Gesundheitsförderung, die Vorbeugung und die Verhinderung von Krankheiten bisher entschieden zu kurz. Daher ist es ein vorrangiges Ziel unserer Reform, jetzt die Prävention zu stärken.
Die Aufklärung über Gesundheitsgefährdungen, die Beratung über die Vermeidung von Gefährdungen einschließlich der Mitwirkung bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren gehören jetzt mit zu den Aufgaben der Krankenkasse.Bisher wurde zuwenig dafür getan, neue Erkenntnisse in der Medizin so rasch wie möglich in die Breitenversorgung umzusetzen.Überdiagnostik und Übertherapie nützen dem Patienten nicht. Nicht die Gesundheit bedarf der Reform, sondern der Umgang der Menschen mit ihr.
Unendlich viel wäre gewonnen, wenn es gelänge, durch gezielte Beratung die schädlichen Wirkungen von Nikotin, Alkohol, Medikamentenmißbrauch, Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit in aktives Verhalten umzusetzen. Der Gesundheit wäre in hohem Maße gedient, den einzelnen koste es kein Geld, und den Krankenkassen würden enorme Summen erspart.
Dies gehört zur Eigenverantwortung. Gesundheitsreform beginnt mit vernünftigem Leben. Umdenken der Versicherten ist nötig; wir helfen dabei.
Zu den Aufgaben der Krankenkasse gehören auch in Zukunft Unterstützung und Zuschüsse an Selbsthilfegruppen, die im Satzungsrecht geregelt werden können. Bei der Durchführung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung soll in Rahmenrichtlinien die enge Zusammenarbeit der Krankenkassen mit Kassenärzten, Gesundheitsämtern und mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gefördert werden.Zu den wichtigen Reformschritten in diesem Bereich der Prävention gehören auch Prophylaxemaßnahmen bei der Verhütung von Zahnkrankheiten vom Kindesalter an. Die Teilnahme an solchen Maßnahmen zahlt sich auch für den Patienten aus, wenn er einmal Zahnersatz benötigt, weil er dann einen Bonus zum Zuschuß erhält.Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung und frühzeitigen Behandlung der häufigsten Volkskrankheiten wie Herz-, Kreislauf-, Zucker- und Nierenkrankheiten sollen den Patienten bei seiner Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit unterstützen.Die ambulanten und stationären medizinischen Vorsorgeleistungen werden neu geregelt und erweitert. Gerade die frühe Rehabilitation kann chronischen Krankheiten vorbeugen und Siechtum verhindern. Deshalb gehört auch die Verbesserung der Rehabilitation zu unseren Reformzielen.Einer der wichtigsten Reformschritte ist die Verbesserung der Leistungen bei der häuslichen Pflege. Dies ist ein Anliegen, das seit mehr als zehn Jahren verfolgt wird. Wir packen es endlich an. Gewiß ist dieser Schritt nur ein Teilaspekt bei der Gesamtlösung der großen Probleme der Pflegebedürftigkeit. Die häusliche Pflegehilfe wird aber die einzige Aufgabe bleiben, die die Krankenversicherung hier zu übernehmen hat. Ein umfassendes Gesamtkonzept unter Einbeziehung anderer Träger und anderer Finanzmittel wird erarbeitet.Auch für die Versorgung der psychisch Kranken werden in diesem Gesetz die Grundlagen verbessert.
— Nachlesen.
Der vor wenigen Tagen übergebene Expertenbericht über die Ergebnisse der Modellversuche nach der Psychiatrie-Enquete wird nun in Bund, Ländern und Gemeinden ausgewertet.
Hier werden später weitere Verbesserungen notwendig sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Nein.
Tut mir leid. — Generell nein? Dann brauchen wir nicht immer wieder zu fragen.
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Generell, das hatte ich schon vorhin gesagt.
Das hört man hier so schlecht.
Dies ist eine Aufklärung, meine Damen und Herren, deshalb trage ich sie im Zusammenhang vor. An der Aufklärung hat es bisher am meisten gemangelt.
Ein besonders wichtiger Reformschritt ist die Einführung von Festbeträgen für Arznei-, Verband- und Hilfsmittel. Wir sehen darin eine Steuerungsmöglichkeit für mehr Wettbewerb und für die Senkung der Preise. Dabei haben wir Vorkehrungen getroffen, daß die Innovationsfähigkeit unserer pharmazeutischen Industrie erhalten bleibt, denn niemand will das Ende der Pharmaforschung in Deutschland. Aber niemand kann auch überhöhte Preise zu Lasten der Krankenkassen verlangen. Wo Festbeträge gebildet sind, entfallen für die Patienten in Zukunft die Zuzahlungen.
Die verbleibenden Zuzahlungen werden durch Härtefall- und Überforderungsklauseln erheblich gedämpft. Eine Witwe mit 600 DM Renteneinkommen braucht bei Arzneimitteln, bei Massagen, bei Heilmitteln, bei Zahnersatz oder bei Fahrten nichts zuzuzahlen.
— Nur weiter zuhören! —Auch die Witwe mit 1 000 DM Renteneinkommen bleibt zuzahlungsfrei, und auch bei 1 200 DM Renteneinkommen im Monat entfallen die Zuzahlungen in Zukunft.
Ich spreche dies hier so deutlich an, weil in der Bevölkerung, vor allem bei den Rentnern und auch bei den Geringverdienern, eine große Verunsicherung durch die Desinformationskampagne entstanden ist.
Auch bei Beziehern mittlerer Einkommen werden, vor allem bei chronisch Kranken, die Belastungen durch die neue Überforderungsklausel gemindert. Sie legt fest, daß bei Arznei- und Heilmitteln sowie bei Fahrkosten alle Zuzahlungen, die über 2 % des Einkommens bis zu 4 575 DM liegen, von der Krankenkasse übernommen werden. Dadurch werden sich vor allem chronisch Kranke besserstehen als nach geltendem Recht und geringere Zuzahlungen haben; denn bisher gibt es keine Obergrenzen bei den Zuzahlungen für Arzneimittel, Heilmittel und Fahrkosten.
Auch nach den Vorstellungen der SPD bleibt es bei den alten Regeln der Zuzahlungen und damit bei höheren Belastungen für die chronisch Kranken.
— Völlig d'accord, Herr Dreßler; Sie können es noch verbessern.
In unserem System gibt es große Wirtschaftlichkeitsreserven, die durch kostenbewußtes Verhalten bei Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern und sonstigen Leistungserbringern zu mobilisieren sind. Dies soll durchgesetzt werden, auch durch mehr Wettbewerb, Im Vertragswege werden von der Selbstverwaltung Ärzte — Krankenkassen für verordnete Leistungen globale Vorschläge festgelegt. Bei ihrer Überschreitung folgen Wirtschaftlichkeitsprüfungen, bei nachgewiesener Unwirtschaftlichkeit Beratung und gegebenenfalls auch Regresse.Um diese Wirtschaftlichkeitsprüfungen wirksam durchführen zu können, war eine größere Transparenz in dem System erforderlich. Hier wurden die ursprünglich vorgesehenen umfangreichen Datensammlungen in den Beratungen ganz erheblich beschnitten. Auf Versicherte bezogene Daten werden nur noch für die Stichprobenprüfung benötigt. Die Selbstverwaltung kann darüber hinaus Vereinbarungen für eine Reduzierung der Überprüfungszahlen und der Datensammlung treffen, wenn das angestrebte Ziel auf einfacherem Weg erreicht wird. Das sollten die Leistungserbringer einmal zur Kenntnis nehmen.
Im Gesetz sind jetzt neue Regelungen über das Sammeln von Daten, das Verarbeiten und die Löschung der Daten getroffen worden. Leistungskonten sind damit nicht möglich, und das Gerede vom „gläsernen Patienten" ist zerplatzt.
Auch die Kosten werden dadurch erheblich reduziert. Sie werden bei allen, d. h. bei Krankenkassen, Ärzten, Apotheken und den anderen Leistungserbringern, insgesamt bei ca. 200 Millionen DM liegen und nicht, wie behauptet, bei 2 Milliarden DM.Auch der neue medizinische Dienst wurde von den Leistungserbringern oft als ein Monstrum aufgebauscht. Er ist jetzt zu einem eigenständigen Beratungsdienst der Krankenkassen mit begrenzten Aufträgen unter Vorrang von Honorarkräften umgestaltet. Er wird kaum mehr kosten, als die Krankenkassen bisher schon dafür aufwenden mußten.Meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen werden in ihren Reden auf weitere Einzelheiten des Gesundheitsreformgesetzes eingehen. Ich will jetzt auf die Alternativen der Opposition zu sprechen kommen.Es lohnt sich kaum, bei den Vorschlägen der GRÜNEN länger zu verweilen.
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Dr. Becker
Außer einem Streichungskonzert betreffend 135 Paragraphen und acht Artikel hatten ihre Vorschläge nur das Wegstreichen jeglicher Selbstbeteiligung, die besondere Förderung von Naturheilmitteln sowie die Streichung der Transparenzkapitel und des medizinischen Dienstes zum Inhalt.
Sie sprachen im Ausschuß davon, Sie hätten sich nicht in der Lage gesehen, bessere Anträge vorzubereiten.
Die Anträge der GRÜNEN verfehlen das notwendige Stabilisierungsziel völlig.
Einsparungen gibt es keine. Die Abschaffung sämtlicher heute bereits geltender Selbstbeteiligungen führt zu Mehrausgaben für die Krankenkassen von rund 4 Milliarden DM.
Die Einführung neuer und die Anhebung bestehender Leistungen bringen weitere 6 Milliarden DM Mehrausgaben,
von den 12 Milliarden DM für ein neues Pflegegesetz erst gar nicht zu reden. Beitragszahler und Steuerzahler werden damit enorm belastet.
Die GRÜNEN können anscheinend sowieso nicht mit den eigenen Finanzen umgehen.
Man kann da nur rufen: Wehe dem Staat, der einmal in solche Hände fällt!
Nach den Vorschlägen der SPD-Fraktion sollen zur Durchführung der Versorgung mit medizinischen Leistungen drittelparitätisch besetzte regionale Gesundheitskonferenzen gebildet werden, die je zu einem Drittel mit Vertretern der Krankenkassen, der Leistungserbringer und der Länder besetzt sein sollen.
Diese Gesundheitskonferenz stellt den Bedarf an Gesundheitsleistungen fest. Sie erstellt — wie könnte es bei Genossen anders sein? — einen Gesundheitsbedarf splan
und legt die Zahl der Praxen, der Krankenhäuser und Krankenhausbetten sowie der weiteren Leistungserbringer bzw. Versorgungseinrichtungen bis hin zum letzten Gesundheitshandwerker fest. Hier werden gesundheitspolitische Entscheidungen einer Proporzbürokratie überantwortet und nachher über sie abge-wickelt. Die medizinische Versorgungsstruktur wird dann durch die Interessenkonstellation der in der Gesundheitskonferenz vertretenen Gruppierungen bestimmt. Innerhalb dieser Gruppen bestehen aber unterschiedliche Interessenlagen. Der Entscheidungsprozeß würde in diesen Gremien durch vielfältige Sonderinteressen und taktische Koalitionen geprägt sein. Die Krankenkassen wären in den Gremien in einer Minderheitenposition, hätten jedoch die Kosten der medizinischen Versorgung in vollem Umfang zu tragen.
Es ist absehbar, daß die Interessen der Leistungserbringer und der Ländervertreter gemeinsam auf eine Ausweitung des Leistungsangebotes gerichtet sein werden. Dann ist es nicht mehr weit, bis die Krankenkassen in die Rolle von Melkkühen geraten. Die Auswirkungen auf die Ausgabenentwicklung wären unkalkulierbar.
Auch bei der Zulassung der Krankenhäuser nach den Vorschlägen der SPD bestehen auf Grund der drittelparitätischen Zusammensetzung im Zulassungsgremium erhebliche Zweifel hinsichtlich der Erreichbarkeit einer notwendigen Begrenzung. Viel eher werden die Krankenkassen auch hier dem Diktat einer Mehrheit von Ländern und Leistungserbringern ausgeliefert.Bei Arzneimitteln sollen nach den Vorstellungen der SPD die Krankenkassen-Spitzenverbände mit den Arzneimittelherstellern auf der Grundlage einer Positivliste die Preise der Arzneimittel vereinbaren.
Dies bedeutet aber die Abschaffung eines Preiswettbewerbs auf der Ebene der Hersteller.
Dies ist aus ordnungspolitischen Gründen, aber auch wegen mangelnder Effektivität und Praktikabilität abzulehnen. Denn die Krankenkassen werden kaum über eine ausreichende Verhandlungsmacht verfügen, um Preissenkungen durchzusetzen. Hier werden die Instrumente der Koalitionsparteien, nämlich Festbeträge und wirksamere Wirtschaftlichkeitsprüfungen, viel eher zum Erfolg führen.
Wer sich die finanziellen Auswirkungen der SPDAnträge einmal ansieht, stellt fest, daß durch die Ablehnung von Leistungseinschränkungen und Zuzahlungen außer bei Bagatellarznei- und -hilfsmitteln mögliche Einsparungen von 4,5 Milliarden DM entfallen. Da die Festbeträge von der SPD abgelehnt werden, entfallen weitere 3 Milliarden DM.Rechnet man die zusätzlichen Ausgaben für Pflegeleistungen, für den Pauschbetrag bei Entbindungen und für die Gleichstellung psychisch Kranker in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM hinzu, so ergibt sich gegenüber den Vorschlägen der Koalition durch
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die SPD-Anträge eine zusätzliche Gesamtbelastung von über 9,5 Milliarden DM.Neue Geldquellen sind also erforderlich. Daher will die SPD die Beitragsbemessungsgrenze und die Sozialversicherungspflichtgrenze aufheben.Meine Damen und Herren, mit solchen Vorschlägen läßt sich aber die gesetzliche Krankenversicherung nicht reformieren.Wir sind überzeugt, daß unser Konzept besser ist, daß es der richtige Weg ist, um unser freiheitlich orientiertes und gegliedertes gesundheitliches Versorgungssystem zu verbessern und auf Dauer finanzierbar zu halten. Schon sprechen die Fachleute davon: Diese Reform ist besser als ihr Ruf.
Das wird noch deutlicher werden, wenn die vielen Strukturveränderungen des GRG erst einmal bekannt sind und die Bürger am 2. Januar 1989 merken, daß sie bei Krankheit wie bisher eine gute, ausreichende und zweckmäßige Versorgung erhalten, ohne daß sie überfordert werden.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß lassen Sie mich noch einiges hervorheben. Ohne einen Mann mit dem Mut, der Tatkraft und Aktivität, mit dem Beharrungs- und Durchsetzungsvermögen, wie es unser Arbeitsminister Norbert Blüm immer wieder gezeigt hat, wäre diese Reform nicht durchzusetzen gewesen.
Daher gilt ihm unser besonderer Dank.
Ein gleicher Dank gebührt auch den Beamtinnen und Beamten und Angestellten seines Ministeriums, allen voran dem Leiter der Abteilung Krankenversicherung, Karl Jung.
Einen besonderen Dank will ich aber auch noch der Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales" der CDU/CSUBundestagsfraktion wie auch der Arbeitsgruppe „Sozialpolitik" der FDP-Fraktion aussprechen, die in unermüdlichem Einsatz und hervorragender Zusammenarbeit das Reformwerk mit getragen haben.Besten Dank für das Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetzesvorhaben, das Bundesregierung und Koalitionsfraktionen zu den zentralen Aufgaben der Sozial- und Gesundheitspolitik dieser Wahlperiode des Deutschen Bundestages erklärt haben.
Mit Ihrem sogenannten Gesundheitsreformgesetz wollen Sie die Antworten auf die Probleme und Herausforderungen unseres Gesundheitswesens geben.Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich erstens fest: Ihr sogenanntes Gesundheitsreformgesetz geht an den eigentlichen Problemen des Gesundheitswesens vorbei.
Ich stelle zweitens fest: Ihr Gesundheitsreformgesetz ist gesundheitspolitisch schädlich.
Ich stelle drittens fest: Ihr sogenanntes Gesundheitsreformgesetz ist sozialpolitisch ein schwerwiegender Rückschritt.
Meine Damen und Herren, Sie lösen mit Ihrem Gesetz keines der wirklichen Probleme des Gesundheitswesens, Sie weichen diesen Problemen aus; denn wo sind Ihre Vorschläge, mit denen Sie die gravierenden und sozial ungerechten Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen von bis zu 8 % beseitigen? Wo sind sie?
Wo sind Ihre Vorschläge zur Gleichstellung aller Versicherten, insbesondere zur Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten?
Wo, Herr Seehofer, sind Ihre Vorschläge zur Neuordnung des unübersichtlichen Krankenversicherungssystems mit fast 1 200 Krankenkassen?
Wo sind Ihre Vorschläge zur Stärkung der Selbstverwaltung, damit die Krankenkassen die Interessen der Versicherten besser gegenüber Ärzten, Zahnärzten und der Pharmaindustrie durchsetzen können? Wo sind Ihre Vorschläge zur Beseitigung von Überkapazitäten im Gesundheitswesen, zur Neuordnung des Krankenhauswesens, zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts und der Arzneimittelpreisbildung?
Wo sind Ihre Vorschläge zur Neuordnung der Krankenhauspflegesätze, der ärztlichen und zahnärztlichen Honorierung?Nichts, überall Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Das ist das Faktum.
Genau dies sind die eigentlichen Probleme des Gesundheitswesens. Dies sind die Fragen, die beantwortet werden müßten, um deren Beantwortung sich der Bundesarbeitsminister und die gesamte CDU/CSUFDP-Koalition drücken.Was machen Sie statt dessen, meine Damen und Herren? Sie unterlassen nicht nur die Beseitigung der
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Dreßlersozialen Ungerechtigkeiten, die durch die vielen Fehler und Mängel des Gesundheitswesens hervorgerufen werden; nein, Sie fügen den bestehenden Ungerechtigkeiten durch Ihr Gesetz neue Ungerechtigkeiten hinzu.
Das, was Sie heute verabschieden wollen, ist keine Gesundheitsreform, sondern dies ist ein Gesetz zur Zerstörung der sozialen Krankenversicherung, meine Damen und Herren.
Sie werden den Rentnern und Alten die Krankenkassenbeiträge erhöhen und gleichzeitig den Gesunden Beiträge zurückerstatten. Sie wissen: Dies zerstört die Solidarität.
Sie werden für Zahnersatz und Kieferorthopädie die Kostenerstattung einführen, und Sie wissen: Dies zerstört das Sachleistungsprinzip.
Nein, Sie wollen unser Gesundheitswesen und unsere Krankenversicherung nicht reformieren. Sie wollen ein ganz anderes Gesundheitswesen, eine andere Krankenversicherung. In der Krankenversicherung, die Sie wollen, werden Worte wie „sozial" und „solidarisch" zu Fremdwörtern. Sie wollen die Fundamente unserer sozialen Krankenversicherung untergraben.
Sie wollen eine Krankenversicherung, in der nicht mehr die Gesunden für die Kranken, sondern die Kranken zuallererst für sich selbst einstehen. Ihr Motto heißt für viele Kranke: Hilf dir selbst! — Das sind die Tatsachen.
Dies, meine Damen und Herren, ist zutiefst unchristlich, ja steht in krassem Widerspruch zu den Geboten der Mitmenschlichkeit und des FüreinanderEinstehens.
Ihre sogenannte Gesundheitsreform schließt sich nahtlos an Ihre unsoziale Steuerreform an: Den Kleinen wird genommen, und den Großen wird gegeben. Das ist das Ergebnis.
Sie wollen im Gesundheitswesen sparen; 14 Milliarden DM, so sagen Sie. Wieso eigentlich 14 Milliarden DM? Warum nicht 20 Milliarden DM oder 7 Milliarden DM oder 15 Milliarden DM oder 9 Milliarden DM? Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß Ihre 14 Milliarden DM eine völlig willkürlich gegriffene Zahl sind, die Sie mit der gleichen Berechtigung durch irgendeine andere Zahl ersetzen können? Willkürlich ein Einsparvolumen vorgeben, dann die politischen Maßnahmen auf die Erfüllung dieser willkürlichen Vorgabe ausrichten — was hat dies mit rationaler, zielgerichteter oder gar gestaltender Gesundheitspolitik zu tun? — Gar nichts hat das damit zu tun!Dies alles wissen die Damen und Herren der Koalition, und das weiß natürlich auch der Arbeitsminister. Wenn Sie sich trotzdem nicht danach richten, wenn Sie bei Ihrer völlig willkürlichen Sparoperation bleiben, zeigt dies Ihr wahres Ziel: Sie wollen keine Strukturreform, Sie wollen abkassieren, den Patienten in die Tasche greifen. Das ist alles.
Weil Einsparungen das Ergebnis einer Reform sein können, aber nicht zu deren Voraussetzungen gehören, wird jede Zahlenangabe über Sparvolumina zum jetzigen Zeitpunkt blanke Spekulation.
Sie kann bestenfalls Hoffnung sein. Reden Sie also den Bürgerinnen und Bürgern nicht ein, Sie würden 14 Milliarden DM einsparen. Sagen Sie ihnen die Wahrheit: Sie hoffen, daß Sie 14 Milliarden DM einsparen werden. Ich sage Ihnen: Ihre Hoffnung wird Sie trügen. Ihre Rechnereien über vermeintliche Einsparungen sind abgrundtief unseriös.
— Ruhig, meine Damen und Herren, jetzt kommen wir zu Ihren Fakten.Lassen Sie mich das beispielhaft erläutern. In Ihrer Einsparrechnung gibt es eine Position „Struktureffekte", was immer das auch sein mag. Sie beziffern sie mit 3,6 Milliarden DM. Wie kommen Sie eigentlich auf diese Zahl? Wenn Sie behaupten, daß durch verschiedene Effekte, die sich aus dem Zusammenwirken der von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen ergeben würden, Einsparungen von 3,6 Milliarden DM entstehen, was ist denn das anderes als Spekulation? Das sind doch Taschenspielertricks. Ihre 3,6 Milliarden DM sind nicht belegbar. Sie sind Luftbuchungen, meine Damen und Herren.
Nun hat der Bundeskanzler am Dienstag in der Haushaltsdebatte gesagt, die SPD würde sich mit ihrer Kritik am sogenannten Gesundheits-Reformgesetz hinter den Interessenverbänden verstecken.
In welcher Welt lebt Herr Kohl eigentlich? Erkennen Sie nicht, daß der Widerstand gegen dieses Gesetzesmachwerk einhellig ist, von den Arbeitgeberverbänden, den Handwerksverbänden bis zu den Gewerkschaften, von den Sozialverbänden über Städte und Gemeinden bis zu Patienten und Versicherten?
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DreßlerMit anderen Worten: Wir verstecken uns nicht. Wir haben ein eigenes Konzept vorgelegt, mit dem Sie sich überhaupt nicht sachlich auseinandersetzen wollen.
Wir Sozialdemokraten fühlen uns nämlich den breiten Schichten der Bevölkerung eng verbunden. Und genau gegen diesen großen Teil der Bevölkerung, gegen Versicherte und Patienten, richtet sich Ihr Gesetz zuallererst.
Wir verstecken uns nicht, meine Damen und Herren, wir tun unsere Pflicht, wenn wir den Stimmen dieser Bürgerinnen und Bürger hier im Deutschen Bundestag Ausdruck verleihen und Ihr unsoziales Gesetzesvorhaben bekämpfen. Was fällt Ihnen eigentlich ein, eine solche bürgernahe Position zu diffamieren? Was fällt Ihnen eigentlich ein?
Wie kommen Sie eigentlich dazu, den Protest der Bevölkerung, den Protest der Versicherten und Patienten als Lobbyismus zu verunglimpfen? Was hat es eigentlich mit Lobbyismus zu tun, meine Damen und Herren, wenn sich eine Rentnerin mit 1 500 DM Rente im Monat dagegen wehrt, daß sie für ihre Zahnprothese statt 400 DM dank Ihres famosen Gesetzes zukünftig 1 000 DM zu zahlen hat?
Ich will Ihnen sagen: Diese Frau wehrt sich dagegen, weil sie das nicht bezahlen kann, und sie wehrt sich zu Recht, meine Damen und Herren.
Wir werden auch deshalb weiter am Thema bleiben.
Wir werden weiter mit Ihnen über eine Gesundheitsreform streiten. Glauben Sie nicht, Verbalinjurien könnten vom Thema ablenken! Glauben Sie nicht, wir würden Ihnen auf den Leim kriechen, damit in dieser Republik nur noch über Ihre Vokabeln, aber nicht mehr über die Unanständigkeiten in Ihrem Gesetz diskutiert wird! Das werden wir nicht zulassen.
Nun rufen die Damen und Herren laufend, ich sollte die Wahrheit sagen.
Nun, meine Damen und Herren, wenden wir uns dem Kapitel Wahrheit zu: Der Bundeskanzler hat vor drei Tagen von diesem Pult aus erklärt,
wir würden von A bis Z die Unwahrheit sagen. Beifall? — Kein Beifall, gut. — Nun schließen sich die Damen und Herren der Koalition dem an.Nun kommen wir einmal zur angeblichen SPD-Unwahrheit. Ich frage: Ist es unwahr, daß den Patienten für die Erhöhung der Zuzahlung bei Zahnersatz 2,3 Milliarden DM abgenommen werden sollen? Ist das unwahr?
Ist es unwahr, daß für die Einschränkungen bei der Kieferorthopädie 200 Millionen DM abkassiert werden?
Ist es unwahr, daß bei den Einschränkungen bei Fahrtkosten 580 Millionen DM abkassiert werden?
Ist es unwahr, daß für die Kürzung des Sterbegeldes 910 Millionen DM abkassiert werden?
Sie kassieren ab für die Erhöhung der Zuzahlungen im Krankenhaus 270 Millionen DM. Ist das unwahr?
Ist es unwahr, daß für die Kürzung des Kurzuschusses 165 Millionen DM abkassiert werden?
Für den Leistungsausschluß bei sogenannten Bagatellarzneimitteln 300 Millionen DM! Für die Erhöhung der Verordnungsgebühr bei Heilmitteln 100 Millionen DM!
Für Leistungskürzungen bei Brillen und Kontaktlinsen 1,05 Milliarden DM!
Für Leistungsbegrenzung bei Hörgeräten 170 Millionen DM!
Für Leistungsausschluß von Bagatellhilfsmitteln 230 Millionen DM!
Für Leistungsbegrenzung auf Festbeträge bei Arzneimitteln 1,95 Milliarden DM! Für Erhöhung der Rezeptgebühr bei Arzneimitteln zunächst 100 Millionen DM und ab 1992 mindestens das Zehnfache!
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7852 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
DreßlerEs wird eingesammelt, besser: abkassiert. Das sind die Tatsachen. Sie wollten die Wahrheit hören; ich habe Sie Ihnen serviert, meine Damen und Herren.
Nun bin ich mir ja darüber im klaren, daß die CDU/CSU-Abgeordneten bei den 24-Stunden-Schichten, die der Ausschuß hat fahren müssen, nicht mehr alle Drucksachen lesen konnten. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß die Zahlen, die ich gerade vorgetragen habe, in Ihren eigenen Drucksachen stehen — nur, damit Klarheit darüber besteht.
Auch auf unseren Flugblättern, die Sie so heftig kritisieren, stehen doch Ihre Zahlen. Was regen Sie sich also auf?Herr Kollege Cronenberg, Sie möchten sicherlich eine Zwischenfrage stellen. Nachdem der Kollege Becker — ich nehme an, aus Hemmungen — keine zugelassen hat — durch eine Zwischenfrage könnte ja die Wahrheit bekanntwerden — , wollen wir beide uns jetzt der Wahrheit widmen. — Bitte.
Ich glaube nicht, Herr Kollege Dreßler, daß die Unterstellung, die Sie gerade vornahmen, der Sachlichkeit der Debatte dient. Aber würden Sie die Güte haben, zuzugestehen, die von Ihnen eben aufgelisteten Einsparungen, die im wesentlichen, was die Positionen anbelangt, ja nicht falsch sind, niemandem anderen als dem Beitragszahler und dem Patienten in Form von weniger Beitrag, stabilisiertem Beitrag und neuen Leistungen zur Verfügung gestellt werden?
Herr Kollege Cronenberg, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
daß diese ganzen Summen, die ich hier genannt habe, und von denen Sie gerade gesagt haben, Sie seien zutreffend — es kann ja auch nicht anders sein, Sie stehen ja in Ihren Drucksachen — , den Patienten, den Versicherten und den Kranken ab dem 1. Januar 1989 abgenommen werden sollen.
— Jetzt möchten Sie eine weitere Frage stellen?
Lieber Herr Kollege Dreßler, ich habe es nicht nötig, eine weitere Frage zu stellen. Ich bitte eigentlich nur um die Beantwortung der ersten, die da lautete — um es in Ihre Erinnerung zurückzurufen — , ob die eingesparten Mittel außer den Beitragszahlern und Versicherten in Form von Beitragssenkungen oder in Form von neuen Leistungen jemandem anderen zur Verfügung gestellt werden!
Herr Kollege Cronenberg, ich hatte bereits in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf darauf hingewiesen — das ist nachzulesen im Protokoll — , daß zum erstenmal in der zweiten deutschen Republik, soweit ich sozialpolitisch zurückdenken kann, ein Arbeitsminister mit Unterstützung dieser beiden Fraktionen — der FDP gehören Sie selbst an — eine Sozialpolitik macht, die Benachteiligten der Gesellschaft, nämlich Kranken, Geld abnimmt und es anderen Benachteiligten gibt, daß es noch keinen Arbeitsminister in der Bundesrepublik gegeben hat, egal, ob er CDU- oder SPD-Mitglied war, der mit diesem Mechanismus — den bestätige ich Ihnen jetzt ausdrücklich — mit einer solchen Unverfrorenheit das Geld diesen Benachteiligten aus der Tasche gezogen hat. Das bestätige ich ausdrücklich.
Damit kein Mißverständnis besteht — ich will das eben gern ausführen — : Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, daß das Thema hier heute nachmittag sozusagen abgehakt wird. Hier in diesem Hause Leistungskürzungen und zusätzliche Selbstbeteiligungen von rund 9 Milliarden DM zu beschließen und den Patienten und Versicherten im Land weismachen zu wollen, es bleibe alles beim alten, das geht nicht, meine Damen und Herren, das geht wirklich nicht. — Bitte.
Herr Urbaniak.
Herr Kollege Dreßler, da es um die Wahrheit geht: Können Sie mir bestätigen, daß die Zahlen, die Sie genannt haben, im Bericht auf Seite 138, 139 und 140 aufgeführt sind, und müssen wir nicht davon ausgehen, daß die Berichterstatter und der Vorsitzende des Ausschusses, der diesen Bericht unterzeichnet, Zahlen, die die Bundesregierung selber vorgelegt hat, wahrheitsgemäß wiedergeben?
Herr Kollege Urbaniak, ich gestehe Ihnen alles zu bis auf einen kleinen Punkt: Bei diesem Stapel von 1,78 m Unterlagen hatte ich die Seitenzahlen nicht mehr im Kopf. Ansonsten ist alles korrekt.
Nun brüsten Sie sich mit Ihrer unsäglichen Sparoperation. Also stehen Sie auch dafür gerade, und hören Sie auf, bei den Bürgerinnen und Bürgern so zu tun, als wäre gar nichts geschehen und als würde sich gar nichts ändern!Da wird gesagt: Stimmungsmache gegen die Regierung. Wenn ich das schon höre! Sie ernten mit den heftigen Protesten der Bürgerinnen und Bürger nur das, was Sie mit Ihrer Liste von Boshaftigkeiten in Ihrem Gesetz gesät haben.Aber da wir gerade beim Thema „zutreffend oder „unzutreffend" sind, noch ein Wort. Der Kollege Günther, sozialpolitischer Sprecher seiner Fraktion, hat in der vorigen Woche in einem Pressegespräch die Botschaft verkündet, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sei beschlossen worden, in Sachen Zahner-
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Dreßlersatz von der Vorleistungspflicht des Patienten Abstand zu nehmen.
Der Patient brauche nun doch nicht, wie ursprünglich geplant, die gesamte Zahnarztrechnung vorzulegen. Ich stelle fest: Ein solcher Beschluß ist im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung nie gefaßt worden.
Das Gesetz enthält keine — ich betone: keine — solche Bestimmung. Herr Kollege Günther, wie ist das denn nun mit der Unwahrheit?
Warum verschweigen Sie, daß im Sinne einer echten Rollenverteilung Ihr Koalitionspartner ausdrücklich darauf bestanden hat, daß im Ausschußbericht festgehalten wird, bei Zahnersatz werde die Kostenerstattung eingeführt? Also das genaue Gegenteil Ihrer Verlautbarung.
Jetzt versuchen Sie, den Bürgern einzureden, die Kostenerstattung, die Sie beschlossen haben, sei eigentlich gar keine. Wer sagt denn hier wohl die Unwahrheit? Wer streut denn hier den Bürgern Sand in die Augen?
Wenn Sie nicht wollen, meine Damen und Herren von der CDU, daß der Patient beim Zahnarzt den gesamten Rechnungsbetrag vorlegt, dann schreiben Sie es doch in Ihr Gesetz. Sie haben es aber nicht hineingeschrieben, weil Sie es nämlich nicht wollen. Sie wollen, daß der Patient zahlen muß. So ist das nämlich.
Ihre neueste Masche ist jetzt die Wiederbelebung des Gespenstes von der Erblast. Sie müßten das jetzt alles machen, so behaupten Sie, weil die sozialliberale Koalition, weil also die SPD und die Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
mit denen Sie ja jetzt in einer Regierung sitzen, das während Ihrer Regierungszeit nicht gemacht habe. Welch ein Unsinn! Dank der erfolgreichen gesetzlichen Bemühungen der sozialliberalen Koalition in den Jahren 1977 und 1981
— nun hören Sie genau zu — haben sich die Krankenversicherungsbeiträge in dieser Republik bis in das Jahr 1984, also bis weit in Ihre Regierungszeit hinein, bei 11,4 % stabilisiert. Die Gesetze, die das bewirkt haben, haben Sie samt und sonders abgelehnt. Wir haben die Stabilisierung der KrankenversicherungEnde der 70er und zu Beginn der 80er Jahre gegen Ihren erbitterten Widerstand durchsetzen müssen.Und was ist seit 1984? Von 1984 bis heute sind die Krankenversicherungsbeiträge von 11,4 % auf 13 % gestiegen. Das sind 1,6 % zu Ihrer Regierungszeit. Was ist daran eigentlich Erblast? Wenn es eine Erblast in der Krankenversicherung gibt, dann werden die Sozialdemokraten sie nach dem Regierungswechsel 1990 abzutragen haben. Diese Erblast werden nämlich Sie hinterlassen haben.
Nun hat der Arbeitsminister wiederholt beredt Klage geführt, die in den letzten Monaten sprunghaft gestiegenen Ausgaben für Zahnersatz, für Brillen, Hörgeräte seien ein Akt der Plünderung der Krankenversicherung durch die Patienten. Ich nenne diese Äußerung, Herr Blüm, eine schnöde Verunglimpfung und weise sie auf das entschiedenste zurück.
Hier werden nämlich Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt. Richtig ist doch, daß erst der Arbeitsminister selbst mit seinem unsozialen Machwerk diesen Ausgabenschub verursacht hat. Die Patienten haben erkannt, was da an Belastungen auf sie zukommt, und wollen die Leistungen, die sie ohnehin benötigen, zu sozial erträglichen Bedingungen. Tun Sie also nicht so, als würden hier Zahnprothesen, als würden hier Hörgeräte, Rollstühle oder Massagen auf Vorrat verordnet! Wenn Sie, Herr Blüm, ein vernünftiges Gesetz vorgelegt hätten, gäbe es keinen Ausgabenschub.Im übrigen: Das, was jetzt an Mehrausgaben entsteht, sind doch die Minderausgaben im nächsten Jahr. Der Versicherte, der seinen Zahnersatz jetzt erhält, benötigt ihn nicht im nächsten Jahr. Wenn Sie also im nächsten Jahr Ihr unsoziales Gesetz feiern wollen, weil es angeblich Kosten begrenzt, werden wir Sie an die Ursachen erinnern; dies kündige ich Ihnen schon heute an.Nun, meine Damen und Herren, ganz ohne Zweifel gehört das Thema Entbürokratisierung zu den Lieblingsthemen dieser Koalition. Das allerdings, was Sie unserem Land mit Ihrem sogenannten GesundheitsReformgesetz an Bürokratisierung zumuten, ist wirklich ein Alptraum. Die Versicherten werden sich zu Fachleuten im Krankenversicherungsrecht weiterbilden müssen, wenn sie alles das verstehen oder gar nachvollziehen wollen, was Sie ihnen mit Ihren Beschlüssen abverlangen.
— Nun paß mal auf, Kollege! — Nehmen wir einmal das Beispiel der Arzneimittelversorgung — wir kommen ja immer direkt den Wünschen der Herren nach und machen das an konkreten Beispielen fest — : Zukünftig wird es erstens Arzneimittel geben, die die
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DreßlerKrankenversicherung nicht bezahlt, die also der Patient voll selber tragen muß,
zweitens Arzneimittel, die unter einen Festbetrag fallen, die also der Patient ohne Zuzahlung voll von der Krankenkasse erhält,
drittens Arzneimittel, die mit einem Festbetragspräparat konkurrieren, bei denen also der Patient den Unterschiedsbetrag zwischen dem Festbetrag und dem Arzneimittelpreis selber tragen muß, viertens Arzneimittel, die nicht festbetragsfähig sind, bei denen also der Patient die Rezeptgebühr von 3 DM und später dann 15 % des Preises, höchstens 15 DM, zu tragen hat — vier verschiedene Erstattungsstufen nur bei Arzneimitteln!
Selbst wir hier, die wir uns mit der Materie befaßt haben, tun uns doch schwer, die Unterschiede zwischen diesen vier Erstattungsstufen bei Arzneimitteln zu erkennen.
Welcher Patient soll dies eigentlich später noch nachvollziehen können? Können Sie sich eigentlich vorstellen, was nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes in den Apotheken los sein wird? Hat das alles nach Ihrer Auffassung etwas mit Entbürokratisierung zu tun? Haben Sie sich eigentlich einmal überlegt, wie Ihre Härtefallklausel, insbesondere Ihre Überforderungsklausel bei der Festlegung der Höhe der Selbstbeteiligung des einzelnen Patienten im Verwaltungsverfahren wirkt?Ich will einmal ein Beispiel eines freiwillig Versicherten nennen, dessen Verdienst über der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 4 500 DM liegt. Für ihn gilt nämlich die Überforderungsklausel: Er muß 4 % seines Einkommens im Jahr an Selbstbeteiligungsleistungen aufbringen.
— Achtung!
Erstes Problem: Die Krankenkasse kennt das Jahreseinkommen des Versicherten nicht. Sie weiß nur, daß er monatlich über 4 500 DM verdient. Sie muß also in einem ersten Schritt durch einen Fragebogen beim Versicherten das Jahreseinkommen feststellen, und dies müssen alle anderen Krankenkasse bei Millionen von freiwillig Versicherten, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, auch.Zweites Problem: Die Krankenkasse muß die Leistungen des Versicherten im ablaufenden Jahr feststellen und die von ihm gezahlten Zuzahlungen ausrechnen, und das müssen alle anderen Krankenkassen bei Millionen von Versicherten auch.
Drittes Problem: Die Krankenkasse muß die Zuzahlungen auseinanderrechnen, und zwar in Zuzahlungen, die auf die 4 % angerechnet werden, und Zuzahlungen, die nicht auf die 4 % angerechnet werden, wie etwa Zahnersatz oder Krankenhaus, und das müssen alle anderen Krankenkassen für Millionen freiwillig Versicherter auch.Viertes Problem: Die Krankenkasse muß für den Versicherten vergleichen, welche Zuzahlungen er nach der 4 %-Klausel hätte leisten müssen und wieviel Zuzahlungen er tatsächlich geleistet hat, und das müssen alle anderen Krankenkassen für Millionen von freiwillig Versicherten auch.Fünftes Problem: Stellt die Krankenkasse beim Versicherten fest, daß er zuviel an Zuzahlungen geleistet hat, muß sie ihm den überschießenden Betrag zurückerstatten, und das müssen alle anderen Krankenkassen für die Millionen freiwillig Versicherten auch.
— Sind Sie mitgekommen, meine Damen und Herren? —
Das, meine Damen und Herren, ist die Entbürokratisierung, wie sie sich Konservative und diejenigen, die von sich behaupten, liberal zu sein, vorstellen.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Wir begrüßen die Christlich-Bürokratische Union im Verbund mit der Freien Bürokratischen Partei.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier? — Bitte.
Herr Dreßler, kann ich Sie nach all dem, was Sie ausgeführt haben, so verstehen, daß wir in Zukunft neben dem Stoltenbergschen Quellensteueramt ein Blümsches Zuzahlungsrückerstattungsamt brauchen?
Ja, das ist eine besonders gute Wortschöpfung. Wir sollten sie weiterempfehlen, damit auch jeder weiß, woran er ist.Meine Damen und Herren, das, was ich Ihnen hier für einen freiwillig Krankenversicherten vorexerziert habe, gilt so oder etwas abgewandelt für alle anderen Versicherten, und das sind immerhin 39 Millionen in dieser Republik. Ich weiß nicht, ob die Krankenkassen in dem Zeitraum von Anfang Januar bis Ende März überhaupt noch zu etwas anderem kommen, als auszurechnen und Ihren bürokratischen Unfug nachzuvollziehen.
Aber eines weiß ich mit Gewißheit: Das, was Sie denKrankenkassen hier an zusätzlicher Bürokratie abverlangen, hat mit ihren originären Aufgaben, nämlich
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Dreßlerfür ihre Versicherten da zu sein und ihnen bei Krankheit zur Seite zu stehen, nichts, aber überhaupt nichts zu tun.
Ich weiß noch eines: Wenn es Ihnen darum geht, die kleinen Leute zu piesacken, dann ist Ihnen keine bürokratische Hürde hoch genug. Wenn es Ihnen aber darum geht, den Großen zu mehr Geld zu verhelfen, dann kann es Ihnen nicht unbürokratisch genug zugehen. — Aber so sind die eben.
Nun lassen Sie sich ja gerne als Erfinder und Verteidiger der Marktwirtschaft feiern. Das, was Sie auf dem Arzneimittelmarkt mit Ihrem sogenannten Festbetragskonzept derzeit anrichten, hat mit Marktwirtschaft nichts, aber überhaupt nichts zu tun. Was Sie dort praktizieren wollen, ist blanker Interventionismus; Herr Kolb, zum Mitschreiben: ein ungeeigneter staatlicher Eingriff in den Wirtschaftsablauf.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen. Sie haben in Ihrem Gesetz vorgesehen, daß die Festbeträge für wirkstoffgleiche Arzneimittel bis zum 30. Juni des nächsten Jahres von der Selbstverwaltung festgelegt werden müssen. Die Betroffenen haben also ganze sechs Monate Zeit. Alle Betroffenen sagen Ihnen, das sei in sechs Monaten nicht zu schaffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
eine staatliche Festpreisfestsetzung.
Man stelle sich vor, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Diejenigen, die — wie Sie — das Wort Marktwirtschaft in ihre Sofakissen eingestickt haben,
landen in der Arzneimittelversorgung letztendlich bei einer staatlichen Preisfestsetzung. Das ist ja toll. Das Eindrucksvollste dabei ist: Sie werden dabei noch nicht einmal rot, Herr Cronenberg, sondern bezeichnen diese Art von Preisfestsetzung als marktwirtschaftliches Element. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Sie haben nun in einem zweiten Schritt zur Gesundheitsreform angekündigt, die Fragen der Organisationsreform der Krankenkassen und die Fragen des Krankenhauses lösen zu wollen. Wir Sozialdemokraten haben Ihnen — ich möchte Sie daran erinnern — zu Beginn Ihrer Überlegungen zu dieser sogenannten Gesundheitsreform unsere Mitarbeit angeboten. Dieses Angebot bezog sich auf die gesamte Gesundheitsreform. Sie haben unser Angebot brüsk zurückgewiesen. Spekulieren Sie also nicht darauf, daß die SPD bei dem von Ihnen geplanten zweiten Schritt ihr Angebot wiederholt! Dieses Angebot kommt nicht wieder. Sie haben den Weg alleine begonnen, obwohl es möglich war, ihn gemeinsam zu gehen. Jetzt müssen Sie ihn alleine zu Ende gehen.
Die politische Verantwortlichkeit muß klar bleiben im Deutschen Bundestag.
Im übrigen, wie haben Ihnen unsere Vorschläge zur Organisations- und Krankenhausreform als Änderungsanträge zu Ihrem Gesetz vorgelegt. Sie haben sie abgelehnt. Sie liegen Ihnen heute wieder vor. Sie werden sie wieder ablehnen.
Zudem: Die Vorschläge, die Sie heute hier zum zweitenmal abschmettern, sind auch die Vorschläge der SPD-geführten Bundesländer. Ich sage dies nur für den Fall, daß Sie vergessen haben sollten, wo die Zuständigkeit im Krankenhausbereich liegt. Die Zahl der SPD-geführten Bundesländer wird sich weiter vermehren. Da können Sie so sicher sein, wie wir es schon sind.
Wenn die Koalition ihr schlimmes Gesetz — ich nenne es nach wie vor „Abkassierungsmodell" — heute mit ihrer Mehrheit durchgesetzt haben wird, sollte sie nicht darauf spekulieren, daß dann alles vergessen sein wird. Bedenken Sie, Ihre Liste der Gemeinheiten mögen Sie heute verabschieden, bedenken Sie aber auch, ab dem 1. Januar 1989 tritt sie in Kraft! Jeder Patient wird ab 1. Januar 1989 am eigenen Leib spüren, was Sie an sozialer Ungerechtigkeit angerichtet haben. Ab 1. Januar 1989 wird nicht mehr über soziale Ungerechtigkeit theoretisch geredet und gestritten, dann wird sie Tag für Tag ganz hautnah von vielen Bürgerinnen und Bürgern erlitten. Dies, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, ist der Grund, warum wir Sozialdemokraten, die seit 125 Jahren für soziale Gerechtigkeit kämpfen, keine Ruhe geben werden.
Jetzt hat der Herr Abgeordnete Cronenberg das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Dreßler hat einiges Neue und einiges Richtige hier heute morgen gesagt. Bedauerlicherweise war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht neu.Wir legen Ihnen einen Katalog notwendiger Maßnahmen zu einem späten, aber, wie ich meine, nicht zu späten Zeitpunkt vor. Kollege Dreßler, unser Vorschlag ist meiner festen Überzeugung nach kein Rückschritt, sondern Fortschritt, der auf veränderte gesellschaftliche Strukturen, auf veränderte Bedürfnisse und veränderte Heilmöglichkeiten Rücksicht nimmt.
— Herr Kollege Heyenn, ich wäre Ihnen dankbar,wenn Sie wenigstens den Versuch unternehmen wür-
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Cronenberg
den, einem Teil zunächst mal zuzuhören, ehe Sie mit Ihren Zwischenrufen mich zu verunsichern versuchen.
Deswegen mache ich kein Hehl daraus, daß ich froh bin, daß die Gesundheitsreform allen Unkenrufen und Protesten zum Trotz heute hier voraussichtlich verabschiedet wird.Zunächst gilt mein Dank den Mitarbeitern des Ministeriums und Ausschusses und mein Respekt den Kollegen, die sich an der kontroversen Diskussion engagiert beteiligt haben. Ich möchte auch insbesondere meinem Kollegen Dr. Thomae und dem Mitarbeiter Baum, der sich in dieser Sache sehr engagiert betätigt hat, von hier aus meinen herzlichen Dank aussprechen.
Mein Dank gilt auch denjenigen Verbandsvertretern und unzähligen Bürgern, die mit sachlichen Beiträgen das Gesetz begleitet haben.
Ich verhehle aber nicht, daß es unzulässige Beeinflussungsversuche gegeben hat, und stelle mit großem Bedauern und großer Besorgnis fest, daß einige Interessentenproteste nicht nur geschmacklos waren, sondern die Grenze des Erträglichen nach meiner Bewertung bei weitem überschritten haben.
Mit AIDS Stimmung gegen die Reform zu machen, das finde ich nicht nur geschmacklos, dafür habe ich null Verständnis.
Interessenvertretung ist legitim. Anregungen, Kritik wie auch Wünsche der Betroffenen und von Verbänden können hilfreich sein. Sie sind für uns Abgeordnete — mit Verlaub gesagt, auch für mich — notwendiges Gegengewicht zur übermächtigen Ministerialbürokratie. Wenn aber Rat in Diffamierung, wenn Anregung in Beschimpfung umschlagen, wenn mit sachlicher Kritik Emotionen geschürt werden, wenn mit Unwahrheiten und Überziehungen Ängste geweckt werden, dann halte ich dies für nicht akzeptabel.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in der Sache auch feststellen, daß das Gesetz nach meiner Überzeugung gründlich vorbereitet worden ist und sich alle Beteiligten — hier schließe ich ausdrücklich die Oppostion ein — intensiv mit der Problematik beschäftigt haben. Dabei verhehle ich nicht, daß dies für die in dem Bereich aktiv Tätigen eine fast unzumutbare Überbelastung gewesen ist. Aber ausdrücklich möchte ich den Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion für die letztlich gezeigte Kooperation in den Ausschußberatungen hier von dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Dies gilt ganz besonders fürdie faire Verhandlungsführung des Ausschußvorsitzenden.
Meine Damen und Herren, worum geht es in diesem Gesundheits-Reformgesetz? Wir haben es mit kontinuierlich steigenden Abgabenlasten zu tun, wobei man feststellen muß, daß die Steuerlastquote konstant zwischen 23 und 25 % des Bruttosozialprodukts pendelt. Die Summe aller Sozialausgaben allerdings ist kontinuierlich auf 32 % des Bruttosozialprodukts gestiegen, wobei die beitragsfinanzierten vier Säulen unserer sozialen Sicherheit, Renten-, Arbeitslosenversicherung, Berufsgenossenschaft und eben die gesetzliche Krankenversicherung in ganz erheblichem Umfang zu diesem überproportionalen Anstieg beigetragen haben. Meine Damen und Herren, vom Bruttoverdienst des Arbeitnehmers bleibt nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen netto erschreckend wenig übrig. Ich empfehle auch den Kollegen der SPD, sich mal in die Lohnbuchhaltung der Betriebe zu begeben, um zu sehen, was die Leute verdient haben — dafür haben sie gearbeitet — und was sie ausgezahlt kriegen.
Und die steigenden Krankenversicherungsbeiträge haben zu dieser Entwicklung beachtlich beigetragen.Unsere Aufgabe war es und ist es, Veränderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen, um einen überproportionalen Anstieg der Beiträge zu verhindern und die notwendigen Leistungen — und das war ebenso wichtig — für die Versicherten sicherzustellen. Es ist mit Recht vom Kollegen Dreßler darauf hingewiesen worden: Das sind 90 % unserer Bevölkerung. Mir, meine Damen und Herren, war von Anfang an klar, daß der Beifall der Beitragszahler spärlich, die Proteste derjenigen, ob Leistungserbringer oder Versicherte, die Opfer zu bringen haben würden, aber um so lauter sein würden. Wer also Beifall erwartet hat, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, der hat sich gründlich geirrt, mit Verlaub zu sagen, dem möchte ich bescheinigen, daß er die Problematik überhaupt nicht begriffen hat.
Die hohen Sozialabgaben: Immerhin werden — machen Sie sich das bewußt — bei einem Jahreseinkommen von 54 000 DM brutto 20 000 DM an Sozialversicherungsbeiträgen abgeführt. Diese hohen Sozialabgaben sind beschäftigungsfeindlich, verteuern den Faktor Arbeit, sind Gift für eine exportorientierte Wirtschaft. Und außerdem: Zu hohe Abgaben führen zu einer Taschengeldgesellschaft. Den Leuten wird ja weniger ausgezahlt, als ihnen weggenommen wird. Da ist nach unserem Verständnis unerträglich.
Auch deswegen war und ist die Reform erforderlich.Es gibt einen müßigen Streit. Die einen sagen: reine Kostendämpfung — haben wir eben wieder gehört —, die anderen sagen: echte Strukturreform. Natürlich ist das Ziel möglichst große Beitragsstabilität bei Wah-
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rung aller notwendigen Leistungen. Dabei bedienen wir uns selbstverständlich auch reiner Kostendämpfungsmaßnahmen. Ich will gar nicht darum herumreden. Wer wollte denn bestreiten, daß die Beschränkungen auf das Notwendige beim Zahnersatz, beim Sterbegeld, bei der Bagatellmedizin, bei den Fahrtkosten klassische Kostendämpfungsmaßnahmen sind? Niemand bestreitet, daß die Zuzahlungen z. B. im Krankenhaus die Ausgaben der Krankenkassen entlasten sollen. Alles andere ist dummes Gerede.Aber, meine Damen und Herren, kann denn eigentlich mit Anspruch auf Seriosität irgend jemand bestreiten, daß die Einführung der Prävention, der Vorsorgeuntersuchungen, die Bonusregelung und Kostenerstattung bei Zahnersatz und Kieferorthopädie, die steuernden prozentualen Zuzahlungen, die viel-diskutierten Festbeträge und Festzuschüsse, die ich gleich, Herr Kollege Dreßler, da Sie das im Gegensatz zu anderen nicht begriffen haben, noch erläutern werde, die Teilarbeitsfähigkeit, die Rückvergütungsmöglichkeiten, die zusätzliche Transparenz, die Förderung der häuslichen Pflege zur Entlastung des Krankenhauses, die Einführung der Versicherungspflichtgrenze für Arbeiter strukturelle Veränderungen sind?
Man mag das ja ablehnen oder begrüßen, aber man kann doch nicht bestreiten, daß das strukturelle Veränderungen sind.Es wird wohl niemanden überraschen, so hoffe ich, daß ich die Realisierung oder Teilrealisierung von liberalen Forderungen wie Kostenerstattung, wie mehr Wettbewerb, wie mehr Selbstbeteiligung als beachtlichen Erfolg unserer Politik bewerte.
Meine Damen und Herren, die Neubestimmung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Kernpunkt dieser Reform. Das Eintreten der Solidargemeinschaft wird in Zukunft dort beginnen, wo der einzelne überfordert wäre. Diese Grenze ist heute anders als vor fünfzig Jahren. Selbstverständlich müssen dabei soziale Härten ausgeschlossen werden.
Dafür sind ja auch Härtefallregelungen vorgesehen, übrigens bessere als bisher. Kollege Becker hat mit Recht darauf hingewiesen. Meine Damen und Herren, wer dies verschweigt, sagt nur die halbe Wahrheit.
Und wer die halbe Wahrheit sagt, sagt auch manchmal die Unwahrheit.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Feststellung treffen. Mit Genugtuung haben wir vermerkt, daß in diesem Zusammenhang ein bestimmter Ausdruck des Bundeskanzlers mit Bedauern zurückgenommen wurde. Entsprechend dem Wunsch meines Kollegen, des Herrn Vizepräsidenten Westphal, von gestern möchte ich hier im Bundestag diesen Ausdruck auch nicht verwenden und auch nicht mehr verwendet sehen.Meine Damen und Herren, die Verunsicherung der chronisch Kranken zum Beispiel beruht im wesentlichen auf Halbwahrheiten. Wir haben für die Zuzahlung bei Arzneimitteln, Heilmitteln und Fahrtkosten eine vom Einkommen abhängige Zuzahlungsobergrenze festgelegt. Das heißt konkret, daß bei einem Monatsverdienst von 2 200 DM brutto im äußersten Fall zu Arzneimitteln, Heilmitteln und Fahrtkosten 40 DM zugezahlt werden. Selbstverständlich sind Sozialhilfempfänger, Arbeitslosenhilfeempfänger, Personen mit Einkommen unter 1 260 DM wie auch Kinder von den Zuzahlungen ausgenommen worden.Wir wollen 13 bis 14 Milliarden DM, 10 % der gesamten GKV-Ausgaben, für Beitragssenkungen, Kollege Dreßler, und für neue Leistungen, also ausschließlich im Interesse der Versicherten und für niemanden anders, zusammenholen.
Ausschließlich die Versicherten haben Vorteile von diesen neuen Leistungen und von den niedrigeren Beiträgen. Niemand anders profitiert davon. Proteste der Leistungserbringer dürften auch für Sie ein hinreichender Beweis für die Richtigkeit dieser These sein.
Ob die Rechnung letztlich aufgeht, hängt davon ab, ob die Selbstverwaltung mit den neuen Instrumenten, insbesondere mit den Festbeträgen und Festzuschüssen, fertig wird. Der Vorrang der Selbstverwaltung war, ist und bleibt für uns eine Selbstverständlichkeit.
Bei allem Respekt vor der Phantasie intelligenter, aber gelegentlich regelwütiger Beamter: Mein Vertrauen in die Selbstverwaltung ist weitaus größer als ins ganze BMA.
Deswegen hat die FDP so großen Wert darauf gelegt, daß dort, wo die Selbstverwaltung die Angelegenheiten besser regeln kann, auf die ursprünglich vorgesehenen Rechtsverordnungen verzichtet wurde, z. B.: Bewertung zahnärztlicher und zahntechnischer Leistungen, Arzneimittelverträge, Wirtschaftlichkeitsprüfung, Datenerfassung. Konsequenterweise haben wir eine gesetzliche Deckelung der Beiträge, Norbert Blüm, weil systemfremd und ordnungspolitisch bedenklich, abgelehnt. Ganz nebenbei, lieber Norbert Blüm: Mein Vertrauen in die Wirksamkeit der vorgesehenen Maßnahmen ist so groß, daß ich noch nicht einmal eine Notwendigkeit dafür gesehen habe.Meine sehr verehrten Damen und Herren, unverantwortlich wäre, alles beim alten zu belassen und in der Bevölkerung die Illusion zu nähren, daß Totalversorgung vom Heftpflaster über Augenklappen bis zur
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Herzoperation weiterhin uneingeschränkt von den Kassen bezahlt werden kann.
Ich habe nichts gegen Heftpflaster oder Augenklappen. Allerdings sind die Abrechnungskosten dafür manchmal höher als die Produkte selber.Das führt letztendlich zum Kollaps eines Systems. Und der Kollaps, meine Damen und Herren, ist der Beginn der bürokratisch gesteuerten Zuteilungsmedizin mit zentralen Planungsinstanzen.
Die Opposition nennt das vornehm „Gesundheitskonferenz", was aber nichts anderes als die totale Verplanung unseres Gesundheitswesens ist, lieber Rudolf Dreßler,
indem der Staat sogar vorgibt, welche Medikamente verschrieben werden dürfen. Auch das umschreibt man dann vornehm als Positivliste. Das heißt mit anderen Worten: Ein Großteil der Medikamente kann von der Kasse nicht mehr bezahlt werden, kann nicht mehr verordnet werden. Das ist eine Einschränkung der Therapiefreiheit.
Das ist kein Horrorgemälde. Sie können das alles im Ausschußbericht im Detail nachlesen. Und das ist nachlesenswert.Dabei, Frau Wilms-Kegel, muß ich Ihnen sagen, interessiert mich relativ wenig, wer der Urheber der ganzen Geschichte ist. Da gibt es ja offensichtlich einen Streit zwischen den GRÜNEN und der SPD. Aber ich empfehle mit allem Nachdruck jenen Verbandsvertretern, die gemeinsam mit GRÜNEN und SPD diese Gesetzesvorlage bekämpfen, sich die Alternativen ihrer neuen Bündnispartner in aller Ruhe anzusehen.
Wir Liberalen haben Angriffe auf die freiheitliche Ordnung unseres Gesundheitssystems auch zu sozialliberalen Zeiten, seinerzeit unter Führung meines Lehrmeisters Hannsheinrich Schmidt mit Erfolg abgewehrt. In konsequenter Verfolgung dieser Linie haben wir selbstverständlich auch bei den Beratungen dieses Gesetzes darauf geachtet, daß freiheitliche Strukturen nicht beeinträchtigt, sondern wo immer möglich ausgebaut werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, mein lieber Rudolf Dreßler, in aller Ruhe und Zurückhaltung folgendes feststellen. Die Verhaltensweisen der damaligen Opposition gegen unsere Maßnahmen unterscheiden sich bestenfalls graduell von den Verhaltensweisen der derzeitigen Opposition. Deswegen nehme ich beides nicht so fürchterlich ernst.
Wir vertrauen auf marktwirtschaftliche Steuerungselemente, auf ökonomische Anreize und auf das Verantwortungsbewußtsein aller Beteiligten. Uns sind freiberuflich niedergelassene, eigenverantwortlich tätige Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Masseure, Krankengymnastinnen und eigenverantwortlich arbeitende Optiker, Zahntechniker und Orthopäden dreimal lieber als eingesetzte Vollzieher eines wie auch immer ausgestalteten Bedarfsplans. Ich bin davon überzeugt, daß ein im SPD-Bedarfsplan vorgesehener quasi beamteter, einkommens- und leistungsgedeckelter, in seiner Therapiefreiheit eingeschränkter Arzt ein uneffektiver, ein teurer und ein demotivierter Arzt ist.
Wer unseren engagierten Einsatz für freiheitliche Strukturen als Lobbyismus für bestimmte Berufsgruppen diffamiert, tut uns bitter, bitter unrecht.
Wir sind überzeugt, daß möglichst freiheitliche Strukturen effektiver, preiswerter und humaner sind als ein mehr oder weniger verstaatlichtes Gesundheitssystem. An Negativvorbildern in dieser Welt fehlt es nicht. Ich empfehle allen, den nächsten Osterurlaub — Weihnachten ist dafür zu schade — zu opfern, um sich die Lage in England anzusehen. Sie kommen kuriert wieder.
Lassen Sie mich nun zu einzelnen besonders umstrittenen Maßnahmen Stellung nehmen.Es ist, wie gesagt, das Ziel unserer Bemühungen, notwendige Leistungen sicherzustellen und die Beitragszahler zu entlasten. Dagegen kann ja niemand etwas haben.In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Dreßler, sind Medikamente, Hilfsmittel, Brillen und Hörgeräte von großer Bedeutung. Es versteht sich für einen Liberalen von selbst, daß dabei ein vielfältiges Angebot wichtig ist, und es ist ganz selbstverständlich, daß auch hier möglichst viel Preiswettbewerb herrschen sollte. Wir haben versucht, eine Methode zu finden, wo die mit Pflichtbeiträgen finanzierten Ausgaben für Medikamente, Hilfsmittel, Hörgeräte und Brillen so organisiert werden, daß nicht mehr bezahlt werden muß, als notwendig ist. Deswegen halte ich persönlich Festbeträge und Festzuschüsse für ordnungspolitisch vernünftig, weil wettbewerbsfördernd, und für effektiv, weil Überzahlungen ausgeschlossen werden.Insoweit nehme ich den Spruch von dem Sofakissen nicht übel, sondern werde dies zur Veranlassung nehmen, mir ein solches machen zu lassen.
Bei vergleichbaren Medikamenten wird die Zahlungsverpflichtung der Kassen auf das qualitativ Gleichwertige und Preisgünstige begrenzt. Kollege Dreßler, das ist vernünftig. Das ist marktwirtschaft-
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Cronenberg
lieh. Die Preisbildungsautonomie der Hersteller — Kollege Dreßler, ich bitte, zuzuhören — wird dadurch überhaupt nicht berührt.
Wenn jemand mehr als sein Konkurrent verlangt, hat der Käufer das Mehr zu bezahlen. Für mich ist es selbstverständlich, daß Festbeträge nur bei vergleichbaren Therapiemöglichkeiten gebildet werden können. Es war nicht einfach, das genau zu definieren. Aber ich hoffe und meine, wir sind zu einer vernünftigen Lösung gekommen.Dabei war es für die FDP selbstverständlich, daß bei wirkstoffgleichen Medikamenten die Bioverfügbarkeit berücksichtigt werden muß, wenn dies für die Therapie von Bedeutung ist.
Es war und ist für uns selbstverständlich, daß die Arzneimittelforschung angemessen berücksichtigt werden muß. Wir wünschen uns eine innovative, forschungsintensive und erfolgreiche Arzneimittelindustrie.
Wir wissen, daß die effektiven Patentnutzungszeiten durch lange Erprobungszeiten, aber auch durch allzu lange Zulassungszeiten stark verkürzt werden. Deswegen war es für uns selbstverständlich und notwendig, daß die Festbeträge bei wirkstoffgleichen Arzneimitteln erst drei Jahre nach Ablauf des Patents gebildet werden können — ein Zeitraum, in dem sich Wettbewerb auch bilden kann.Und es war für uns selbstverständlich, patentgeschützte Arzneimittel aus der Festbetragsregelung bei Gruppe 2 und 3 herauszunehmen, aber auch nur dann, wenn sie neue Wirkungsweisen haben oder wenn sie neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen, also Indikationspatente sind, oder aber auch, wenn sie weniger Nebenwirkungen haben. Solche Arzneimittel sind, weil sie nicht vergleichbar sind, für Festbeträge eben nicht geeignet.Meine Damen und Herren, nun gibt es unter den Fachleuten einen großen Streit, ob 40, 50, 60 oder 70 % der Medikamente festzuschußfähig sind. Ich kann das mit letzter Sicherheit, ehrlich gesagt, auch nicht beurteilen.
Aber eines weiß ich: Je geringer der Anteil der Medikamente ist, für die Festbeträge gebildet werden können, um so notwendiger ist es, die Selbstbeteiligung einzuführen.
Deswegen war es für uns unverzichtbar, ab 1992 eine sozial verträgliche Selbstbeteiligung von 15 % mit einer Obergrenze von 15 DM einzuführen. Eine prozentuale Zuzahlung fördert den sparsamen Umgang und wird ebenfalls Wettbewerbsdruck auf die Arzneimittelhersteller ausüben. Das ist, wie die Kollegen von der SPD wissen, ja ein Uraltanliegen von mir, das wir nun endlich — wenn auch in zu bescheidenem Maß — durchsetzen können.Meine Damen und Herren, noch etwas: Wer behauptet, die Pharmaindustrie wird geschont, irrt gewaltig. Das marktwirtschaftliche Instrument der Festbeträge wird einen ganz erheblichen Beitrag zur Stabilisierung unseres Gesundheitssystems leisten. Dabei stimmt manches Horrorgemälde, das die Industrie uns vorlegt, nicht. Aber der von uns eingeschlagene, ordnungspolitisch saubere — weil wettbewerbsfördernde — Weg ist sicher bedeutsamer, wichtiger und aus meiner Bewertung auch richtiger als Preisstopp mit Zwangspreissenkungen, die vornehm mit Solidarbeitrag umschrieben werden.Durch die Festbeträge — auch das wird nicht geleugnet — werden die Apotheker ebenfalls betroffen. Deshalb habe ich Rabatterhöhungen, Veränderungen des Kalkulationssystems und andere Spitzfindigkeiten abgelehnt,
weil das ein die flächendeckende Arzneimittelversorgung gefährdendes Sonderopfer eines Berufsstandes gewesen wäre.Meine Damen und Herren, in unserem Gesundheitssystem weiß im Grunde genommen niemand so richtig, was Heilen kostet.
Unter dem Motto „Die anonyme Kasse zahlt" geht das Gefühl für den sparsamen Umgang verständlicherweise verloren. Ich verkenne nicht gewisse Vorteile des Sachleistungssystems, aber es hat auch entscheidende Nachteile. Die Liberalen setzen sich deswegen schon lange für Kostenerstattung ein.
Deswegen wird mir wohl niemand verübeln, Herr Kollege Heyenn, daß die Einführung des Kostenerstattungssystems bei Zahnersatz und Kieferorthopädie von mir begrüßt, ja, als Erfolg unserer jahrelangen Bemühungen bewertet wird.
Wir hoffen, verehrte Kollegen von der SPD, daß dieser erste, aber entscheidende Schritt die Kritiker so überzeugen wird, daß die Erweiterung auf andere Bereiche in Zukunft keine allzu großen Schwierigkeiten auslösen wird.
Meine Damen und Herren, auch auf die Gefahr hin, erneut als Lobbyist für Zahnärzte beschimpft zu werden: Ich rechne es den Zahnärzten hoch an, daß sie in dieser Frage ihre Haltung, obwohl ihren Interessen widersprechend, nicht aufgegeben haben.Es war nicht leicht, die Grenzen zwischen notwendiger Transparenz und unzulässiger Datenschnüffelei zu ziehen. Nach langen und ausführlichen Diskussionen auch mit dem Datenschutzbeauftragten ist jetzt ein akzeptabler Kompromiß gefunden worden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat den überarbeiteten Vorschriften zugestimmt.Für alle diejenigen, die es noch immer nicht glauben oder bewußt nicht wahrhaben wollen, sei es noch
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7860 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Cronenberg
einmal klar und deutlich gesagt: Es wird keine Zusammenführung aller ärztlichen Leistungsdaten mit allen veranlaßten Leistungen auf den Versichertenkonten geben. Die ärztliche Schweigepflicht bleibt uneingeschränkt gewahrt. Nur im Falle des Stichprobenprüfverfahrens, also nur für 2 % der Ärzte, werden ärztliche Leistungen und veranlaßte Leistungen überhaupt zusammengebracht. Selbst dabei wird die Diagnose den Kassen selbstverständlich nicht übermittelt, und das Ganze wird sofort nach der Prüfung gelöscht.Mit diesem Ergebnis sind wesentliche Forderungen, die wir Freien Demokraten von Anfang an in die Diskussion eingebracht haben, erfüllt worden. Wir bedanken uns dafür beim Koalitionspartner. Wir hätten uns aber die ganze Diskussion ersparen können, wenn wir alle Leistungen auf Kostenerstattung umgestellt hätten. Das wäre wirkliche Transparenz, und Datenschutzprobleme hätten wir auch nicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wegen der Kürze der Zeit kann ich auf die Probleme ambulante Versorgung, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Zahnersatz, Organisationsreform, Pflege und Krankenhaus nicht eingehen. Das wird mein Kollege Dr. Thomae gleich im zweiten Durchgang machen.Wir legen Ihnen heute ein Reformkonzept vor, mit dem nicht alle Probleme des Gesundheitswesens gelöst werden. Mit dem, was wir Ihnen heute vorlegen, kommen wir aber beachtliche Schritte in die richtige Richtung weiter, und zwar mit ordnungspolitisch sauberen Instrumenten. Die Grundlagen unseres freiheitlichen Gesundheitssystems werden uneingeschränkt erhalten. Die freie Arztwahl ist und bleibt die einzige vernünftige, nicht der Staat bestimmt, zu welchem Arzt ich gehe. Der Arzt bleibt Freiberufler. Die Therapiefreiheit bleibt erhalten. Es wird niemandem vorgeschrieben, zu welchem Optiker, zu welchem Masseur oder zu welchem Akustiker er zu gehen hat oder gehen soll.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich mit dem Unsinn aufräumen, der immer erzählt wird und offensichtlich in der politischen Auseinandersetzung eine gewisse Resonanz findet: Hier die Leistungserbringer, dort die Beitragszahler. Hier wird so viel gebracht, dort wird so viel gebracht. Der wird so viel in Anspruch genommen etc.Meine Damen und Herren, ich wiederhole es; folgendes ist richtig: Die Auswirkungen erstrecken sich quer durch die Bank auf alle.
Die Einbußen der Leistungserbringer und das, was wir den Versicherten unbestritten zumuten, kommt, Herr Kollege Dreßler, nur einem zugute: dem Beitragszahler und dem Patienten; niemandem anders.
Es geht bei dieser Reform auch um eine gesellschaftspolitische Weichenstellung.
Es geht um die Anpassung eines wichtigen sozialen Sicherungssystems, Frau Kollegin Fuchs, an die veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft.
Heute werden in der gesetzlichen Krankenversicherung Risiken von der Solidargemeinschaft abgedeckt, die in einer Wohlstandsgesellschaft ohne weiteres dem einzelnen übertragen werden können.
Vieles, allzu Vieles ist zum bequemen Besitzstand geworden.Kein Solidarsystem, meine Damen und Herren, kann funktionieren, wenn Eigennutz und Gemeinnutz auseinanderlaufen, wenn nur Solidarität gefordert wird, Selbsthilfe, Eigenverantwortlichkeit und Subsidiarität aber überhaupt nicht stattfinden. Das ist gefährlich; das ist falsch. Sozialpolitik, die den einzelnen aus seiner persönlichen Verantwortung entläßt, geht zu Lasten der Freiheit, sowohl zu Lasten der Freiheit des einzelnen wie der Gesellschaft. Mit dieser Gesundheitsreform wird dieser Entwicklung entgegengewirkt.Dieses Reformgesetz wird unseren liberalen Grundsätzen in wesentlichen Teilen gerecht — bei allem Verständnis für die Kritik in diesem oder jenem Detail, die auch ich habe. Meine Damen und Herren, wer sich den Blick für das Wesentliche erhalten hat, wer Notwendiges von Nichtnotwendigem zu trennen weiß, wer mehr Vertrauen in die Selbstverwaltung als in staatliche Bürokratie hat, wer eine hervorragende medizinische Versorgung sicherstellen will, wer ein freiheitliches Gesundheitssystem erhalten will, der wird zu diesem Gesetz ja sagen können.Meine Damen und Herren, wer ja sagt — davon bin ich überzeugt — wird seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber den Patienten und den Versicherten und gegenüber den Beitragszahlern, aber auch gegenüber den Heilberufen gerecht. Sie können, meine Damen und Herren, dieses Gesetz ruhigen Gewissens annehmen, ihm zustimmen.
Dies empfehle ich der Opposition auch. Ich bin sogar überzeugt, Herr Dr. Vogel, sollten Sie einmal wieder Regierungsverantwortung übernehmen, werden Sie den größten Teil der in diesem Gesetz vorgenommenen Maßnahmen ebenso pfleglich behandeln wie die Kollegen von der Union heute unsere gemeinsame Ostpolitik.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Sie, Herr Blüm, auch im Namen vieler Bürgerinnen und Bürger darum bitten, die Debatte um Ihr Gesundheitsruinge-
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Frau Wilms-Kegelsetz und die damit verbundene Diskussion heute einmal nicht in eine Karnevalsbüttenrede umzumünzen.
Es würde Ihre Achtung vor den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, wenn Sie heute der Bevölkerung endlich einmal die Wahrheit sagen würden, warum Sie dieses Gesundheitsruingesetz wollen. Der Gesetzentwurf zu einer angeblichen Reform des Gesundheitswesens ist nicht dazu angetan, in der Maske eines biederen Clowns billige Sprüche und abfällige Bemerkungen über die Versicherten und Verharmlosungen über die Zwei-Klassen-Medizin der Zukunft vorzutragen.
Für die Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN kann ich Ihren Gesetzentwurf nur als einen diagnostischen und finanziellen Overkill bewerten. Sie haben unserem Gesundheitswesen die falsche Diagnose gestellt und damit die völlig falsche Therapie verordnet.
Frau Kollegin, ich muß Sie unterbrechen. Ich habe das eben verbal nicht verstanden, aber meine Kollegen haben mich eben unterrichtet, daß Sie eine Bezeichnung für den Arbeitsminister oder einen unserer Kollegen verwendet haben, die ich hier nicht dulden kann.
Ich habe damit niemanden persönlich angegriffen.
Wir müssen uns alle daran halten, daß wir parlamentarich durchhaltbares Vokabular verwenden, gegenüber jedem von uns.
Ich denke, ich habe diese Bezeichnung auf niemanden persönlich gemünzt, sondern eine ganz allgemeine Aussage getroffen.
— Nein. — Das werden Sie dem Protokoll entnehmen können.
Ich habe gesagt, ganz allgemein, daß dieser Gesetzentwurf nicht dazu angetan ist, „in der Maske eines biederen Clowns billige Sprüche und abfällige Bemerkungen über die Versicherten
und Verharmlosungen über die Zwei-Klassen-Medizin der Zukunft vorzutragen".
Frau Kollegin, im Zusammenhang mit dem, was Sie gesagt haben, war es nur so verständlich, daß es auf eine bestimmte Person gezielt war.
Deswegen rüge ich.
Das war ein Satz, der sich auf jeden anderen hätte beziehen können, denke ich,
aber ich akzeptiere die Entscheidung des Präsidenten.Sie begründen Ihren Gesetzentwurf mit der Behauptung, die versicherten Bürgerinnen und Bürger seien nichts anderes als Hamsterer und Plünderer der Krankenkassen, und deshalb seien Sie geradezu gezwungen gewesen, dieses unsoziale Reformwerk ins Parlament einzubringen, also gewissermaßen als Strafe für die Versicherten.Sie, Herr Blüm, und Ihre politischen Freunde sind der Meinung, das Gesundheitswesen sei unbezahlbar geworden und sei daher reformbedürftig. Wahr ist doch vielmehr, daß Sie den Unternehmern und der Industrie entgegenkommen wollten, daß Sie, eingekesselt von Lobbyisten, denen etwas Gutes tun wollten, die am Gesundheitswesen verdienen. Die Bilanzen der pharmazeutischen Industrie bersten weiter, auch die Hersteller von medizinischen Großgeräten haben eine rosige Zukunftsperspektive, und kranke und schwerstkranke Menschen müssen das mit Sondersteuern bezahlen. Zugleich fahren Sie einen Frontalangriff auf die Solidargemeinschaft, die sowieso nur bruchstückhaft vorhanden war, wenn ich daran erinnere, daß Besserverdienende, Selbständige und Beamte und Beamtinnen mit ihren guten Risiken nie gezwungen waren, der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten beizutreten. Jetzt wollen Sie gerade denen den Zutritt zur gesetzlichen Krankenversicherung völlig verbieten. Auch Studenten über 30 Jahre und über dem 14. Fachsemester dürfen nicht mehr pflichtversichert sein. Wie diese Regierung mit Studenten umgeht, ist in dieser Woche ja schon ausführlich diskutiert worden.Herr Blüm, Sie werden nicht müde, zu behaupten, auch in Zukunft werde jeder das bekommen, was er brauche. Diese Unwahrheit werden Sie auch heute dem Deutschen Bundestag wieder kundtun. Da lohnt es sich, Sie wirklich beim Wort zu nehmen. Denn das, was die 10 Millionen Brillenträger, die 5,7 Millionen Schwerhörigen, die 1 Million Prothesenträger und die 300 000 Rollstuhlfahrer brauchen, dürfen die Betroffenen nicht selbst festlegen, sondern ein Minister Blüm schwingt sich auf und maßt sich an, bürokratisch festzulegen, was für den einzelnen ausreichend ist.
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Frau Wilms-KegelDas zeigt ganz allein die Einführung einer Festbetragsregelung, die individuelle Bedürfnisse nicht mehr berücksichtigt.
Der Standard und die medizinische Versorgung, die Sie für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger vorgesehen haben, sind, wie ich finde, eine Verletzung der Menschenwürde, eine Bevormundung der Betroffenen
und eigentlich nur von Ihnen selbst, Herr Blüm, noch zu übertreffen. Denn genau das tun Sie, wenn Sie jetzt landauf, landab, behaupten, die Bürgerinnen und Bürger hätten gerade in den letzten Wochen eine weitere niederträchtige Eigenschaft an den Tag gelegt, nämlich ihre Mitnahmementalität.
Herr Blüm, sind Sie tatsächlich der Meinung, daß Menschen ohne medizinische Notwendigkeit Hörgeräte haben wollen, etwa als Schmuckstück oder Statussymbol? Gerade den Mehrbedarf an Hörgeräten prangern Sie in letzter Zeit ständig an. Hörgeräte werden aber verschrieben, sicherlich nicht als Kapitalanlage.
Wer eine solche sucht, wird vielleicht Aktien der Pharmaindustrie kaufen, aber bestimmt kein Hörgerät.Überhaupt, Herr Blüm, ich verstehe Ihre Aufregung über den sogenannten Blüm-Bauch nicht. Sie werden nicht müde, von Patientinnen und Patienten Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu fordern. Genau das, Herr Blüm, setzen die Versicherten zur Zeit um. Sie tun nichts anderes, als Ihren Reden zu folgen. Die Bürgerinnen und Bürger denken doch sparsam, wenn sie sich in den letzten Wochen des Jahres noch unter den für sie günstigeren Bedingungen mit lebensnotwendigen Dingen — ich betone: lebensnotwendigen Dingen — versorgen lassen,
die sie nach dem Willen der Bundesregierung im nächsten Jahr nur zu viel höheren Preisen und bei einem niedrigeren Standard erhalten dürfen.Sie vergleichen die angebliche Mitnahmementalität mit der Haltung, die durch das Schlagwort „Freibier macht durstig" gekennzeichnet ist. Herr Blüm, welches Menschenbild haben Sie eigentlich, wenn Sie den Versicherten mit solchen platten Sprüchen unterstellen, sie gingen völlig überflüssig und aus Lustgewinn zum Zahnarzt, der dann ebenso völlig überflüssig und ohne jeglichen medizinischen Grund Zahnersatz verschreibt.
Glauben Sie wirklich, irgend jemand ließe sich nurdeswegen noch in diesem Jahr die Gallenblase her-ausoperieren, weil Sie die Zuzahlung für den Kran-kenhausaufenthalt im nächsten Jahr von 5 DM auf 10 DM erhöhen werden?
— Herr Blüm, die Bürgerinnen und Bürger sind keine Masochisten, aber sie haben Angst,
Angst vor Ihnen, vor Ihrer Bürokratie, vor Ihrem Gesetzentwurf zu einer Strukturreform des Gesundheitswesens. Ich denke, sie haben zu Recht Angst.
Die Zeit reicht nicht aus, um alle Scheußlichkeiten im Bereich der sogenannten Selbstbeteiligung auf zuzählen. Ich habe auf Veranstaltungen oft geschlagene drei Stunden gebraucht, um diese zu erläutern. Lieber möchte ich darauf eingehen, daß Sie gleich hier am Pult sagen werden, Ihre Härtefallregelung und Ihre Überforderungsklausel garantierten angeblich eine optimale gesundheitliche Versorgung.
Dies, Herr Blüm, ist falsch und zynisch. Es zeigt deutlich, wie weit Sie sich schon von den Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger entfernt haben. Sie gestehen die Härtefallregelung einem Alleinstehenden bis zu einem Bruttomonatseinkommen von 1 232 DM zu.
Das heißt, er wird von einigen Zuzahlungen verschont, andere muß er selbst tragen. Verdient er aber nur eine Mark mehr, dann ist er kein Härtefall mehr, sondern muß sich von Ihnen zu den Wohlhabenden zählen lassen. Das bedeutet dann für diesen Bürger, daß er von seinem Jahresbruttoverdienst zusätzlich zu seinen Krankenversicherungsbeiträgen 2 % zahlen muß,
wenn er nicht das unverdiente Glück hat, gesund zu sein und zu bleiben. Die Krankheiten sind ja üblicherweise von uns nicht beeinflußbar.
Dieses Gesetz wird in jedem Fall den Einstieg in die Totalverdatung aller Krankenversicherten bringen. Ich bestehe darauf; denn eben hat Herr Cronenberg deutlich ausgeführt, was alles erfaßt werden muß; Herr Dreßler hat das ebenfalls herausgestellt. Sie können mir nicht erzählen, daß das alles handschriftlich und mit kleinen Zettelchen passiert.
Damit werden sicherlich nicht der Ausbau und die Verbesserung unseres Sicherungssystems erreicht werden. Neben zahlreichen Verzeichnissen bei den Krankenkassen, den maschinenlesbaren Krankenversicherungskarten und der kompletten Datenerfassung aller Versicherten und Leistungserbringer, schon um sie den Stichproben zuzuführen, gibt es über den legalen Umweg über Forschungsvorhaben schließlich
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Frau Wilms-Kegelauch Dateien über Krankheiten, z. B. auch eine AIDSDatei. Dazu kommt die Erfassung aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und vieler Menschen mehr durch die neue personenbezogene Zentraldatei bei den Berufsgenossenschaften, also den gesetzlichen Unfallversicherungen.
Nach Art. 1 § 20 dieses Gesundheits-Reformgesetzes sollen die noch fehlenden Angaben unverzüglich von den Krankenkassen übermittelt werden. Das ist etwas, was Sie ganz eindeutig in der Ausschußberatung selber gesagt haben und was uns genau in dieser Weise von der Bundesregierung erläutert worden ist.Ich kann allen Versicherten nur raten, ab dem 1. Januar 1989 alle Belege sorgfältig zu sammeln. Denn nur wenn sie diese vorlegen, haben sie die Möglichkeit, die eben angesprochene Überforderungsklausel überhaupt in Anspruch zu nehmen, und auch das nur, wenn es ihnen gelingt, auch die Verdienst- und Rentenbescheide der Familienangehörigen zusammenzubekommen; denn diese müssen sie mit vorlegen. Das alles ist sehr verwirrend und sehr schwer nachvollziehbar, aber wohl so gewollt.
— Das machen sie beim Finanzamt ebenfalls. Aber ich glaube nicht, daß die gesetzliche Krankenversicherung vor hat, ein zweites Finanzamt zu werden. Das wäre sicherlich auch nicht angemessen.
Diesen Dschungel zu durchblicken, wird in Zukunft, wie ich denke, ein sehr enges Verhältnis der Versicherten zu ihren Ärtzen und Ärztinnen und zu ihren Krankenkassen voraussetzen, damit die Versicherten keinen finanziellen Nachteil erleiden. Für mich steht jedenfalls fest: Die Reformer, die Herren Blüm und Kohl, plündern ihre Opfer aus.
Ein weiteres Druckmittel in Ihrem sogenannten Reformwerk wird in Zukunft der neue medizinische Dienst sein. Der medizinische Dienst wird als Nachfolgeorganisation des vertrauensärztlichen Dienstes, der ja jetzt schon in breiten Kreisen der Bevölkerung auf Ablehnung stößt, perfektioniert. Überwachung, Bevormundung und Anweisungen werden das Hauptbetätigungsfeld des medizinischen Dienstes sein.
Nicht nur, daß der medizinische Dienst die Kranken jederzeit ohne Vorankündigung — so ist uns ausdrücklich erläutert worden — im Krankenhaus aufsuchen kann, um sie dort zu begutachten, und ihnen damit, wie ich denke, auch die Möglichkeit nimmt, in Ruhe und ohne Sorgen alle Kraft auf das Gesundwerden zu konzentrieren; der medizinische Dienst hat auch das Recht, allein nach Aktenlage, also ohne den Patienten überhaupt zu sehen, Gutachten zu erstellen. Das wird dann voraussetzen, daß der behandelndeArzt geradezu schriftstellerische Fähigkeiten besitzen muß, damit der medizinische Dienst in der Lage ist, ein angemessenes Gutachten zu erstellen, das die Patienten nicht schon im voraus benachteiligt, weil der behandelnde Arzt eben nur ein guter Arzt und kein guter Schriftsteller war.Ein weiterer Höhepunkt dieses sogenannten Reformwerkes ist die Absicht, den medizinischen Dienst zu beauftragen, Teilarbeitsfähigkeit festzustellen. Ich halte das für einen wirklichen Skandal. Teilarbeitsfähigkeit im Sinne des Arbeitsministers Blüm bedeutet, daß erkrankte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen während ihrer Krankheit dem Arbeitgeber stundenweise zur Verfügung stehen müssen. Das wird aber nicht der behandelnde Hausarzt oder die behandelnde Hausärztin entscheiden, sondern eben der Medizinische Dienst, der im Interesse des Arbeitgebers in die Wohnung kommt und die Kranken dann zur Teilarbeit verdonnert.
Das, Herr Blüm, ist menschenunwürdig und unsozial.
Das ist aber auch ein Eingriff in die Therapiefreiheit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte.Wenn hier schon von Therapiefreiheit die Rede ist, so möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, daß Herr Blüm und seine Beamten es nicht unterlassen haben, nach wachsweichen Formulierungen zu suchen, um der Naturheilkunde und den besonderen Therapierichtungen in diesem Gesetz keine sichere Zukunft zu gewährleisten.
— Ihre Regelungen, Herr Becker, besagen nichts anderes, als daß die entsprechenden Stellungnahmen entgegengenommen und abgeheftet werden müssen. Einen Rechtsanspruch für die besonderen Therapierichtungen bauen Sie nicht ein.Millionen Menschen wenden sich Jahr für Jahr an Naturheilärzte und -ärztinnen und an Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen, weil sie der Ruckizucki-Behandlung von Schulmedizinern kein Vertrauen mehr entgegenbringen.
Gerade ich als Ärztin bin der festen Überzeugung, daß wir beides brauchen: Schulmedizin und Naturmedizin, und zwar gleichberechtigt.
Weil wir beide Therapierichtungen brauchen, ist es wichtig, daß die Therapiefreiheit für beide Bereiche gleichberechtigt gesetzlich geregelt ist.
— Nein, Herr Seehofer, das steht nicht im Gesetz. ImGesetz steht, daß sie „berücksichtigt" werden müs-
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Frau Wilms-Kegelsen. „Berücksichtigung" ist überhaupt keine verbindliche Regelung. Das wissen Sie auch.
Wenn Sie darüber hinaus noch solche Regelungen treffen wie die, daß die Leute gehalten sind, das nächste preisgünstigste Krankenhaus aufzusuchen, und ihren Arzt nicht wechseln sollen, dann wissen Sie ganz genau, daß diejenigen, die gern einen naturheilkundigen Arzt oder eine naturheilkundige Klinik oder eine Rehabilitationseinrichtung in Anspruch nehmen wollen, durch die Vorschrift daran gehindert werden.Sie haben uns vorgeworfen, daß dies möglicherweise mehr kosten würde. Wir haben gesagt: Ja; es ist uns auch wichtig, daß die Menschen diese Therapie weiter in Anspruch nehmen können.
Die Bundesregierung und Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wollten das nicht, wie Ihre unverbindlichen Formulierungen klar beweisen. Nichts davon ist als Rechtsanspruch geregelt.Wir GRÜNEN haben deshalb heute 15 Änderungsanträge und einen Entschließungsantrag dazu eingebracht, die wir hier zur namentlichen Abstimmung stellen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger feststellen kann, welche Abgeordneten sich für den sicheren Bestand der Naturheilkunde ausgesprochen haben und welche nicht.Ich sage ganz deutlich an die Damen und Herren der Koalitionsfraktionen gerichtet: Sie müssen nicht wieder wie beim Flugbenzin der Fraktionsdisziplin folgen. Sie können Ihrer freien Entscheidung folgen und unseren Anträgen zustimmen.
Ein weiteres trauriges Kapitel dieses sogenannten Reformwerks stellen die Paragraphen dar, die sich mit einer angeblichen Pflegeabsicherung befassen. Sie, Herr Blüm, werden dies auch heute wieder als tolle Leistung hochjubeln
und dabei bewußt verschweigen, daß Schwerkranke und Pflegebedürftige zuerst zwei Jahre erhöhte Selbstbeteiligungen zu zahlen haben, bis dann ein kleiner Teil von ihnen von dieser fragwürdigen Regelung eingeholt wird.
— Wird es noch länger als zwei Jahre dauern, bis sie in den Genuß dieser Regelung kommen sollen?Diese angebliche soziale Wohltat ist geradezu eine Beleidigung für den Pflegebedürftigen wie auch für den Pflegenden.
Ihr Gesetzentwurf sieht vor, daß der Pflegebedürftigeeine Stunde pro Tag gepflegt wird und 23 Stundenoffenbar sich selbst überlassen bleibt. Dieser Dienstam Kranken soll z. B. von Sozialstationen wahrgenommen werden, die für diesen Einsatz monatlich 750 DM erhalten. Entscheidet sich aber ein Pflegebedürftiger bzw. eine Pflegebedürftige dafür, von einem Familienangehörigen gepflegt zu werden, erhält er bzw. sie nicht etwa auch 750 DM wie eine fremde Pflegeperson, sondern nur 400 DM.
Das bedeutet, daß der Angehörige bzw. die Angehörige — meistens sind es ja Frauen — einen Stundenlohn von 1,80 DM erhält, während der Stundenlohn für die fremde Pflegeperson 25 DM beträgt.
Sicher werden Sie gleich wieder ausführen, daß immerhin zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Regierung überhaupt etwas für Schwerpflegebedürftige tut. Richtig; aber daß niemand in den letzten 40 Jahren das Interesse und den politischen Willen hatte, den Schwerkranken in unserer Gesellschaft ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, entschuldigt die jetzt geplante Hungerlohnregelung nicht.
Die GRÜNEN im Bundestag haben bereits im Jahre 1983 festgestellt, daß die Pflege von Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft eine staatliche Aufgabe ist und daß daher eine steuerfinanzierte Pflegeabsicherung geschaffen werden muß.Doch Sie, Herr Blüm, sehen für die Zukunft nicht einmal eine Möglichkeit, diesen Hungerlohn von 400 DM zu erhöhen. Sie sehen auch keine Veranlassung, die Voraussetzungen zu schaffen, daß Schwerpflegebedürftige 24 Stunden am Tag eine optimale und selbstbestimmte Versorgung haben. Nein, diese Schwerkranken werden von Ihnen gleich zweimal bestraft: Zum einen werden sie zusätzlich kräftig zur Kasse gebeten. Zum anderen entledigen Sie sich Ihrer Verantwortung mit 25 Pflegestunden im Monat für 750 DM oder aber 720 Stunden im Monat für 400 DM.
Dann, Herr Blüm, haben Sie sich noch eine wehrlose Gruppe der Bevölkerung ausgesucht, denen Sie eiskalt die Krankenversicherungsbeiträge erhöhen und die damit kräftig zur Kasse gebeten werden: Ich spreche von den Rentnerinnen und Rentnern. Das ist eine Gruppe, die sich im Laufe dieses Jahres nicht über Lobbyisten bei Ihnen hat Gehör verschaffen können. Nicht nur, daß Rentnerinnen und Rentner mit 2 Selbstbeteiligung zusätzlich zur Kasse gebeten werden, nein, darüber hinaus erhöhen Sie den Krankenversicherungsbeitrag um 0,4 %. Das bedeutet für die Rentnerinnen und Rentner, daß sie im nächsten Jahr anstatt mit einer wenigstens kleinen Rentenerhöhung mit einer deutlichen Rentenminderung zu rechnen haben.
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Frau Wilms-KegelEin besonders trauriges Kapitel im doppelten Sinne wird in dem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz unter dem Stichwort „Sterbegeld" abgehandelt.
Sie besitzen die Gefühllosigkeit und Verachtung gegenüber Hinterbliebenen, daß Sie ganz brutal das seit Jahrzehnten gezahlte Sterbegeld drastisch zusammenstreichen. Das, Herr Blüm, macht Ihre Zweiklassenmentalität deutlich. Nun wird man auch auf dem Friedhof sehen können, wer zu den Sozialschwachen und zu den Sozialstarken in unserer Gesellschaft gezählt hat. Für mitversicherte Familienangehörige gibt es gar nur die Hälfte.
— Schämen Sie sich nicht, daß Sie eine solche Regelung geschaffen haben?
Für 2 100 DM oder gar der Hälfte wird man ein ordentliches christliches Begräbnis mit Pfarrer, Glokkengeläut und Orgel sicher nicht bezahlen können. Wenn Sie das so planen, wäre es also auch angebracht, daß Sie jetzt das Wort „christlich" aus Ihrer Parteizugehörigkeit streichen.
Das Sterbegeld für Abgeordnete wollen Sie allerdings in voller Höhe beibehalten,
und das beträgt auch ein Vielfaches von dem, was Sie den gesetzlich Krankenversicherten gönnen.Allerdings werden wir einen Antrag einbringen, damit alle, auch die Abgeordneten, ein einheitliches Sterbegeld von 3 500 DM erhalten.
Aus alledem wird nur zu klar, wie unsozial Ihre sogenannte Gesundheitsreform ist. Nach dem Motto „Wer nichts zu beißen hat, der braucht auch keine Zähne" — so hat der schleswig-holsteinische Sozialminister kürzlich diese Reform zusammengefaßt — wollen Sie die Kranken und Schwachen zur Kasse bitten: Die Behinderten werden die Bettlägerigen finanzieren. Für kranke, behinderte und chronisch kranke Menschen werden Sondersteuern eingeführt. Es ist zynisch, wenn Sie durch diesen Reformentwurf diesen Menschen einen Anreiz zum Gesundleben vorgaukeln. Das ist doch ironisch gemeint, Herr Blüm? Sonst ist es eine Beleidigung für alle die Menschen, die nie mehr den Zustand des Gesundseins erreichen können. Ich denke an alle chronisch Kranken und Behinderten.
Aber es ist Ihnen gelungen, die heiligen Kühe des Gesundheitswesens — Pharmaindustrie, Medizingerätehersteller, Einzelleistungsvergütungen im ärztlichen Bereich — weiter auf der Gesundheitswiese der Bundesrepublik Deutschland ruhig grasen zu lassen.Sogar Neue werden verdienen, wie private Krankenversicherungen, Sterbegeldversicherungen, Auslandskrankenversicherungen und auch Hauskreditbanken für Zahnarztpraxen. Und heute abend werden Sie stolz sagen können: Operation ,,Gesundheitsreform" gelungen, Patient tot.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Den Großen geben und den Kleinen nehmen — damit läßt sich der ganze Einwand von SPD und GRÜNEN zusammenfassen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ich frage die deutsche Öffentlichkeit: Sind die Pflegebedürftigen, die für 5 Milliarden DM Pflege bekommen, die Großen? Sind das die Großen? Ist der Protest der Pharmaindustrie, der Zahnärzte, Ärzte und Apotheker der Protest der Kleinen?
Meine Damen und Herren, verkehrte Welt!
Lassen wir uns von dieser Art Polemik nicht irritieren. Das ist in vier Jahrzehnten der dritte Anlauf zur Gesundheitsreform und der erste, der ins Ziel kommt. Deshalb bin ich stolz auf alle, CDU, CSU und FDP, die dem Sturmlauf der Lobbyisten, dem Dauerbeschuß, den Verdrehungen, den Unwahrheiten, die auch heute morgen vorgeführt wurden,
und den Geschmacklosigkeiten, den zynischen Geschmacklosigkeiten, standgehalten und durchgehalten haben.
— Frau Kollegin, ich möchte zunächst im Zusammenhang meine Gedanken vortragen.Wir kommen heute im Deutschen Bundestag zum Ziel. Das Reformgesetz zeigt seine ersten Wirkungen. Trotz einer beispiellosen Kampagne — ich wiederhole jetzt den Vorwurf: eine Kampagne, mitzunehmen, auszunutzen, was immer mitzunehmen und auszunutzen ist — kommt es nicht zur Beitragssteigerung, weil offenbar die Krankenkassen die Reformfolgen für das nächste Jahr schon heute kalkulieren. Die haben dieser Reform mit ihrer Kalkulation offenbar mehr vertraut, als alle Einreden heute morgen vermuten lassen.Lassen Sie mich zu meinem Vorwurf — „Mitnehmen", „Ausnutzen" —, den ich in ganzer Härte bestehen lasse, folgendes zeigen. Wenn Optiker schreiben „Noch alles schnell mitnehmen — zu VK Optik", wenn Optiker schreiben „Noch alles mitnehmen —
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Bundesminister Dr. Blümschnell zu Optik Bobkop", wenn Anzeigen aufgegeben werden „Noch ist es nicht zu spät für eine neue modische Brille zum Nulltarif, ohne müde Mark Zuzahlung", dann ist das eine Einladung zum Mitnehmen und Ausnutzen. Meine Damen und Herren, es wird doch wohl niemand hier im Saal sein, der behauptet, daß, wenn die Ausgaben für Hörgeräte im letzten Jahr um 26 % gestiegen sind, das einem lebensnotwendigen Bedarf entspreche. Glaubt jemand, der Hörschaden habe im Jahr 1988 um ein Viertel zugenommen? Glaubt das wohl jemand?
Im übrigen, Frau Wilms-Kegel, die Gallenoperation, die Sie anführen, die niemand gern in Anspruch nimmt — da sind auch die Ausgaben nicht gestiegen. Darüber habe ich mich nie beklagt. Ich habe mich darüber beklagt, daß Anbieter zum Mitnehmen dessen einladen — ist das Solidarität? — , was schließlich von den Malochern bezahlt werden muß, nicht von den Leistungsanbietern.
Nachdem es jahrelang, in den letzten Jahren Jahr für Jahr, in schöner Regelmäßigkeit zu Beitragserhöhungen kam, den Versicherten rund 4 Milliarden DM Jahr für Jahr aus der Tasche gezogen wurden, wird zum erstenmal an dieser Jahreswende aller Voraussicht nach der durchschnittliche Beitragssatz nicht steigen. Das ist ein Erfolg unserer Reform, schon bevor sie beschlossen wurde. Also, schneller geht es überhaupt nicht.Die ersten Profiteure werden die Rentner sein, denn der Rentenkrankenversicherungsbeitrag steigt nicht so, wie wir es selber geschätzt haben. Von Rentenkürzungen haben Sie gesprochen. Welche Mathematik haben Sie eigentlich? Im nächsten Jahr wird die Rentenanpassung weit über der Preissteigerungsrate liegen. Renten werden steigen, und reale Einkommen der Rentner werden steigen — so, wie das in den letzten Jahren der Fall war.
Wenn hier von Abkassieren gesprochen wird, muß ich sagen: Es ist bei den Beitragszahlern abkassiert worden, und damit machen wir jetzt Schluß.
Wir sind die Vertreter der Versicherten. Wir sind die Vertreter, die darunter leiden, daß die Krankenversicherungsbeiträge immer mehr steigen. Die Lobbyisten toben, meine Damen und Herren, die SPD klebt Plakate und verteilt Flugblätter mit Halb- und Unwahrheiten,
und wir setzen das Vernünftige durch. Während die SPD noch das Scheitern der Reform voraussagt, ist der Erfolg schon da. Die Beiträge steigen nicht, und ab 1. Januar 1989 erhalten die Schwerpflegebedürftigenzum erstenmal eine handfeste Unterstützung von ihrer Krankenversicherung. Ist das den Großen geben und den Kleinen nehmen, und das bei Beitragsstabilität? Halten Sie die Mutter, die ihr schwer pflegebedürftiges Kind rund um die Uhr pflegt, für eine Große? Ich halte sie für eine Kleine, die gestützt werden muß.
Ist denn die Optik der Sozialdemokratischen Partei schon so durcheinandergekommen, daß sie das Einkommen der Zahnärzte mit einer pflegenden Mutter verwechselt? Seid ihr schon so durcheinandergekommen in eurer Polemik, daß ihr schon die Größen verwechselt?
— Nein, ich stelle jetzt den Zusammenhang dar.Hilfe für Hilfsbedürftige und Entlastung für die Beitragszahler — das ist der Sinn unserer Reform. Hilf s-bedürftig ist nicht der Hartmannbund, Verband der deutschen Ärzte. Hilfsbedürftig ist nicht der Freie Verband der Zahnärzte. Hilfsbedürftig ist nicht der Pharmaverband, der vom Kollegen Rappe unterstützt wird. Hilfsbedürftig ist nicht der Apothekerverband. Hilfe brauchen die Kranken und die Pflegebedürftigen. Denen helfen wir.
Hilfe brauchen die stillen Samariter des Sozialstaates. Das sind die Helfer der Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen. Entlastungen brauchen Millionen von Arbeitnehmern, denen immer weniger vom Lohn übrigbleibt und die derzeit zusammen mit den Betrieben weit über 100 Milliarden DM an Beiträgen zahlen.Der durchschnittliche Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung stieg von 98 DM im Jahre 1970 auf 585 DM in diesem Jahr. In 18 Jahren! Übrigens sind darin die dicken Beitragssteigerungen aus der Zeit enthalten, in der Sie regiert haben, meine Damen und Herren von der SPD. 1970 8,4 % Beiträge, 1982 12 %. Und da stellt sich der Kollege Dreßler — ich denke, er muß doch rot werden; oder hat er Gedächtnisschwund — als Wächter, als Muster der Beitragsstabilität hin. Nein.Sollten diese Steigerungen weitergehen? Wenn wir nicht eingreifen würden, müßte derjenige, der im Jahre 1970 98 DM Beitrag gezahlt hat, im Jahre 2000 1 142 DM Beitrag zahlen. So kann es doch gar nicht weitergehen. Wir sind die Retter des Sozialsystems. Wir sind mit dieser Reform die Retter der Solidarität.Immer höhere Beiträge führen in die Sozialisierung des Lohnes. Die Ausgaben der Krankenversicherung sind seit 1960 dreimal schneller gestiegen als die Löhne. Jeder, der rechnen kann, kann den Zeitpunkt ausrechnen, wann eine ungehemmte Fortsetzung dieser Entwicklung die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer auf Null gebracht hätte.Gewerkschaften können doch mit einer solchen Entwicklung nicht einverstanden sein. Ich frage, warum sie uns nicht stärker unterstützen. Die werden
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7867
Bundesminister Dr. Blümdoch auch um den Erfolg ihrer Tarifverhandlungen gebracht. Was haben Arbeitnehmer von einer Lohnerhöhung, die anschließend durch höhere Beiträge wieder abkassiert wird?Beitragsstabilität ist möglich und nötig. Selbst ohne Beitragserhöhungen fließen rund 3 Milliarden DM mehr in die Kassen der Krankenversicherung; denn die Krankenversicherung partizipiert ja an jeder Lohnerhöhung. Insofern kann daraus auch der medizinische Fortschritt finanziert werden. Wir machen ja gar keinen Einnahmestopp. Medizinischer Fortschritt muß im übrigen ja auch bedeuten, daß Menschen länger gesund bleiben und, wenn sie krank werden, auch schneller wieder gesund werden.Was ist nicht alles gegen diese Reform aufgefahren worden? Ich will das gar nicht mit Vollständigkeit vortragen. Die deutschen Arzneimittelhersteller schämen sich nicht, in einer bundesweiten Anzeige zu behaupten: „Keine neuen Medikamente mehr gegen Krebs und AIDS aus Deutschland." Überlegen Sie einmal, wie das auf Krebspatienten wirkt.
Der Freie Verband Deutscher Zahnärzte verglich unseren Gesetzentwurf mit dem Ermächtigungsgesetz. Erinnern Sie sich daran, was durch das Ermächtigungsgesetz ausgelöst wurde. Der Interessenverband der Dialysepatienten sagt: „Englische Verhältnisse. Nämlich, wer unter 12 oder über 55 Jahren ist, muß sterben. "Hören Sie das einmal mit den Ohren einer Mutter,
die ein Kind unter zwölf Jahren hat. Unverschämt! Zynisch! Mir fehlen die Worte!Apothekervereine mobilisieren Patienten mit der Parole: „Wer jetzt krank wird, kann sich gleich erschießen. " Und in einem anderen Flugblatt heißt es: „Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben."Den Vogel schießt die Sozialdemokratische Partei ab,
und zwar mit einem Flugblatt mit dem Titel: „Ab 1. Januar dürfen Sie nicht mehr krank werden. "
Noch einmal: Die SPD behauptet in einem Flugblatt: „Ab 1. Januar dürfen Sie nicht mehr krank werden." — Lesen Sie das mit den Augen einer Rentnerin, die Angst hat und die das möglicherweise glaubt, was Vogel und Genossen behaupten. Bodenloser Zynismus!
Nein, meine Damen und Herren, ich streite nicht. Ich frage hier im Deutschen Bundestag vor der deutschen Öffentlichkeit
— lassen Sie mich doch in aller Ruhe fragen; wenn Siedie Frage beantworten, ist es ja gut — den Partei- undFraktionsvorsitzenden, ich frage Hans-Jochen Vogel, welchen Ausdruck er vorschlägt, mit dem diese Geschmacklosigkeit qualifiziert werden soll. Ich nehme Vorschläge entgegen.
Laßt uns nicht über die Qualifizierung streiten, laßt uns über den Anlaß streiten. Wer in diesem Saal hat den Mut, eine solche Behauptung: „Ab 1. Januar dürfen Sie nicht mehr krank werden" aufrechtzuerhalten angesichts vieler Mitmenschen, die die Krankenkasse brauchen und die sie auch am 1. Januar noch haben werden, die zu ihrem Arzt gehen können wie bisher, die versorgt werden wie bisher? Wer diese Behauptung aufrechterhalten will, soll den Mut haben und hier herkommen. Wie wollen Sie das bezeichnen? — Als fair? Wollen Sie das als fair bezeichnen? Wollen Sie das als sachlich, wollen Sie das als korrekt bezeichnen? Dem obersten Fairneßwächter der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Jochen Vogel, antworte ich mit Lessing: Von den Tugenden, von denen man am meisten spricht, hat man am wenigsten.
Bleiben wir beim Flugblatt: Die SPD verbreitet mit ihrem Flugblatt sechs ganze oder halbe Unwahrheiten. — Es gibt ja Leute, die sagen: Halbe Unwahrheiten sind so schlimm wie ganze Lügen. — Lassen Sie mich in Kurzfassung, ohne Vollständigkeit, auf die sechs Behauptungen eingehen — ich hoffe, daß uns viele Mitbürger zuhören und zusehen — :Erstens: „Sie müssen mehr für Arzneimittel zahlen. " Das ist die halbe Wahrheit.
Zwar wird die bisherige Zuzahlung von 2 auf 3 DM erhöht, aber Zuzahlungen entfallen völlig — völlig, auch da, wo sie bisher gezahlt werden mußten! —,
wo auf Festbeträge umgestellt wird. Die Entlastungswirkung durch den Wegfall der bisherigen Zuzahlungen ist insgesamt sechsmal höher als die Anhebung der Zuzahlungen für die Arzneimittel, für die es noch keinen Festbetrag gibt. — Das ist die erste halbe Unwahrheit, im übrigen auch unter Unterschlagung der Härteklausel, die es im Gesetz bisher für Arzneimittel nicht gab.
— Das ist die Wahrheit: Bei Arzneimitteln mit Festbetrag wird nichts mehr zugezahlt. Auch dort, wo bisher zugezahlt wurde, fallen Zuzahlungen weg. 600 Millionen DM an Zuzahlungen fallen weg. Wer das Medikament nimmt, das unter Festbetrag steht, der hat überhaupt keinen Verlust.
Zweitens: „Brillen und Hörgeräte werden für Sie richtig teuer." Wieder Originalton SPD! — Das ist
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7868 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Bundesminister Dr. Blümvöllig falsch: Der Zuschuß für Brillengestelle beträgt künftig 20 DM, und Brillengestelle zu diesem Preis wird es zukünftig geben.
Schon vor Jahren hat ein Händler Brillengestelle für 10 DM angeboten; in den Vereinigten Staaten gibt es Brillengestelle für umgerechnet 7 DM.
— Ja, ich behaupte in der Tat: Brillengestelle in dieser Preisklasse wird es geben.
Wer sich besonders modische Brillengestelle wünscht, der mag sie sich kaufen. Nur, mit Gesundheit hat das nichts zu tun; das Geld brauchen wir.
Ich habe doch gar nichts gegen modischen Schnickschnack; er ist sogar schön, er erhellt unser Leben, aber doch bitte nicht auf Krankenschein. Das Geld brauchen wir für die Kranken, nicht für die Mode.
Dritte Behauptung. — Herr Kollege Dreßler, vielleicht haben Sie die Güte, gerade bei der dritten Behauptung zuzuhören. Sie steht nämlich auch im Widerspruch zu dem, was Sie selber hier heute morgen vorgetragen haben. — Sie lautet: „Die dritten Zähne zahlen Sie zur Hälfte selber." — Das ist nicht richtig. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen und der Zahnärzte legt in Zukunft differenzierte Zuschüsse fest. Die Krankenkassen zahlen künftig allen, die regelmäßige Zahnvorsorge betreiben, für zahntechnisch einfachen Zahnersatz einen Zuschuß von 70 %, für Zahnersatz mittlerer Güte einen Zuschuß von 60 und für aufwendigen Zahnersatz einen Zuschuß von 50 %. Bei längerer regelmäßiger Vorsorge steigt der Zuschuß um weitere 5 %, so daß die Erstattungsbeträge dann 75 %, 65 % und 55 % betragen.
Erinnern Sie sich: In dem Flugblatt, das Sie verteilen, wird behauptet, es werde nur die Hälfte bezahlt.
Wenn die SPD schon 75 % für die Hälfte ausgibt, dann kann ich nur sagen: Ihre drei Viertel Unwahrheiten sind eine halbe Lüge.
Vierte Behauptung — ich gehe nur einmal das Flugblatt durch; jeder kann das, was im Gesetz steht, mit dem vergleichen, was die SPD behauptet — : „ 10 DM pro Tag statt bisher 5 DM zahlen Sie zusätzlich im Krankenhaus. "
Die SPD verschweigt, daß in einem von den damaligen Regierungsfraktionen der SPD und der FDP 1982eingebrachten Gesetzentwurf erstmalig die Zuzahlung von 5 DM beim Aufenthalt im Krankenhaus vorgeschlagen wurde.
— Hier wird gesagt: „Falsch!". Kollege Andres behauptet, das sei falsch. Ich lese vor: Drucksache 9/1958, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften, Gesetzentwurf der Fraktion der SPD und der FDP. — Ziehen Sie auch die Behauptung, das sei falsch, zurück. Es ist fast alles falsch, was ich heute morgen von Ihnen gehört habe.
— Ich halte mich ganz genau an das — —
Sie wollten damals sogar die Kinder in die Zuzahlung einbeziehen. Bei uns bleiben die Kinder draußen. Die Zuzahlung gilt für höchstens 14 Tage.Verschwiegen wird auch, daß diese Erhöhung erst ab 1991 in Kraft treten soll,
also dann, wenn die neuen Leistungen für die häusliche Pflege schwerpunktmäßig in Kraft treten.Fünfte Behauptung
— ich mache es ja kurz —: „Fahrten zum Arzt werden nicht mehr bezahlt." Fünfte Unwahrheit! Mehr Sammlungen von Unwahrheiten auf einem Flugblatt habe ich noch nie erlebt.
Originalton SPD — ich lese noch einmal vor, ganz langsam; das wollen wir richtig auskosten — : „Fahrten zum Arzt werden nicht mehr bezahlt."
— Das ist falsch, denn medizinisch notwendige Fahrten für einkommensschwache Versicherte werden im Rahmen der Härteklausel übernommen.
Außerdem stehen alle Versicherten unter dem Schutzschirm der Überforderungsklausel. Sie können doch nicht Ihre Behauptung aufrechterhalten, es würden keine Fahrten mehr bezahlt. Derjenige, der gehbehindert ist, der ein niedriges Einkommen hat, wird weiterhin transportiert. Aber ich frage mich: Sollen wir denn alle Taxifahrten zum Arzt finanzieren?
1970 betrugen die Aufwendungen für Fahrtkosten 180 Millionen DM; heute sind es 1,6
: Milliarden!)
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7869
Bundesminister Dr. Blüm— Ja, Milliarden! Das ist eine Steigerung um 800 %. Will jemand behaupten, daß die Zahl der Bewegungsbehinderten in 18 Jahren um 800 % zugenommen hat? Nein, auch das war eine Ausnutzung der Krankenkasse. Wir brauchen das Geld für die Pflegebedürftigen, für die Kranken, für die Hilfsbedürftigen, für die Herzoperationen, für die Gallenoperationen, von denen Frau Wilms-Kegel gesprochen hat.
Meine Damen und Herren, will denn jemand den Krankenschein zum Fahrschein für den öffentlichen Nahverkehr zum Nulltarif umfunktionieren? Das wäre doch eine Zweckentfremdung.Sechste Behauptung — dann lasse ich es auch schon sein — : „Selbst das Sterben wird teurer: Das Sterbegeld wird auf 2 100 DM zusammengestrichen. " — Das ist auch nicht die ganze Wahrheit, auch das ist nur die halbe Wahrheit. Bei Versicherten mit niedrigem Einkommen erhöht sich das Sterbegeld, denn bei ihnen liegen die Leistungen heute zum Teil unter 2 100 DM.Das Flugblatt der SPD endet mit dem Satz: „Jetzt reicht's, Herr Blüm! ". Mir reicht's schon lange, Herr Vogel, antworte ich darauf.
Jeder, der seinen Verstand nicht abgeschaltet hat, konnte heute morgen Musterbeispiele von Verlegenheit, Verdrehungen, Unwahrheiten feststellen. Stellen Sie sich vor: Da stellt sich der Herr Dreßler etwa vor einer Stunde hier hin und sagt: 14 Milliarden DM sind absolute Luftbuchungen.
Anschließend rechnet er das als Belastungen für die Versicherten zusammen. Das ist ungefähr so, wie wenn ich sage: Der See ist eine Fata Morgana, aber alle Menschen ertrinken in diesem See.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich möchte das jetzt im Zusammenhang vortragen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Ja. Er hat gesagt, ich würde die Unwahrheit sagen. Bitte, dann wollen wir das gleich klären.
Herr Arbeitsminister, würden Sie bitte im Protokoll nachlesen, daß ich gesagt habe, daß von den 3,5 Milliarden DM an sogenannten Strukturverbesserungen nichts präzisiert sei und daß das eine
Luftbuchung sei? Würden Sie mir das zugestehen und damit das, was Sie hier behauptet haben, selbst als unrichtig bezeichnen?
Ich kann die Verwirrung noch weiter treiben.
Sie haben mich heute morgen attackiert und im Zusammenhang mit diesen 14 Milliarden DM von Luftbuchungen gesprochen.
— Wenn Sie es anders darstellen, dann kommen wir zu den Zahlen zurück. Ich führe die Diskussion gern in jedem Detail.
— Sie haben doch so viele Verdrehungen gebracht; da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an. Mein Gott, da bin ich großzügig. Ich bleibe dabei: Sie haben Festbeträge, die die Versicherten überhaupt nichts kosten,
als Versichertenlast in Ihrer merkwürdigen Rechnung gebucht. Die werden doch bei der Pharmaindustrie zu Buche schlagen.
Sonst könnte sich der Kollege Rappe, Ihr Mitglied, doch nicht darüber beschweren, daß durch unsere Reform Arbeitsplätze bei der Pharmaindustrie ruiniert werden. Sie müssen Ihre Vorwürfe doch einmal sortieren. Sie können doch nicht erst die 2 Milliarden DM den Versicherten zurechnen und dann durch Ihren Kollegen Rappe sagen: Das ist die Erschwernis der Pharmaindustrie. Irgendwo muß man sich schon entscheiden.
— Nein. Ich möchte das jetzt im Zusammenhang darstellen. Ich bin noch lange nicht fertig.
Jeder kann sich doch seine eigene Meinung bilden. Wenn ich mir eine Strafe für Herrn Vogel auszudenken hätte, wenn ich mir eine Strafe für Herrn Dreßler auszudenken hätte, dann würde ich mir die Strafe wünschen, daß sie hier nach einem Jahr dieselbe Rede halten müssen wie heute morgen.
Ich würde die SPD verurteilen, in einem Jahr dieselben Plakate, dieselben Flugblätter zu veröffentlichen, die sie jetzt veröffentlicht hat. Nichts Schlimmeres kann ihr passieren, als mit der Wirklichkeit des nächsten Jahres konfrontiert zu werden.
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7870 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Bundesminister Dr. BlümAber wen wundert's? Ich bin überhaupt nicht verwundert, und ich verstehe die Ängste, wenn ich solche zynischen Reden höre, wie Sie sie heute morgen gehalten haben, Frau Wilms, Herr Dreßler. Da habe ich Verständnis, wenn ältere Leute, wenn Kranke in Unruhe kommen. Was da alles behauptet wurde! Wenn das alles stimmen würde, wie herzlos wären wir!
Ich bin ganz sicher, ab 1. Januar 1989 ist unsere Krankenversicherung so gut wie bisher; sie hat einen Spitzenplatz in der Welt.
Wir werden auf manche Zusätze, die nicht unmittelbar der Heilung dienen, verzichten müssen, damit wir das Geld zusammenhalten, um den Hilfsbedürftigen zu helfen. Das ist mein Verständnis von Solidarität.Ich fasse zusammen: Kein Kranker wird im Stich gelassen, der medizinische Fortschritt wird ungehindert weitergehen, Einkommensschwache werden von Zuzahlungen befreit, jedermann wird vor Überforderung geschützt, keine Intimdaten werden gespeichert, die Vorsorge wird ausgebaut, Pflegebedürftigen wird geholfen, und ich verspreche Ihnen, kein Pharmaunternehmen wird wegen der Reform Konkurs anmelden. Der Schaum der Polemik wird verfliegen, und die Realität wird die Angstmacher Lügen strafen.Wir sparen für die Beteiligten. Julius Cronenberg hat es schon gesagt. Keine Mark, die da gespart wird, geht den Beteiligten an der Krankenversicherung verloren. Jede Mark bleibt erhalten, entweder als Beitragssenkung oder als neue Leistung. Nirgendwo verschwinden auch nur 10 Pfennige in den Händen derjenigen, die an der Krankenversicherung gar nicht beteiligt sind. Diese Reform ist eine Reform für die Versicherten. Sie ist Rettung unseres solidarischen Systems.
Die neuen Leistungen wie z. B. Pflege und Verbesserung der Vorsorge sowie die Entlastung der Versicherten — zusammen macht das 10 Milliarden DM aus — übersteigen die Einsparungen auf der Seite der Versicherten. Die Versicherten profitieren in der Bilanz von der Reform mit rund 4,5 Milliarden DM. Bei den Leistungserbringern werden demgegenüber fast 8 Milliarden DM eingespart.Und sehen Sie sich einmal die Gegner an. Ich bitte jeden, auch dies zu verfolgen: Worin waren sich denn die Gegner der Reform einig? Die waren sich einig im Neinsagen. Aber wo sind denn die Alternativen? Sie werden doch nicht Ihren Gesundheitssowjet als Alternative anbieten wollen, diese Gesundheitskonferenzen bis in jeden Bezirk?
Das muß man sich einmal vorstellen: Da soll in jedem Bezirk festgestellt werden, welcher Gesundheitsbedarf dort besteht. Da reden Sie von uns als von Bürokraten. Selbst mit auswuchernder Phantasie kann ich mir nicht vorstellen, wie da Ärzte und Krankenkassen zusammensitzen und entscheiden, wie viele Medikamente, wie viele Krankenhäuser gebraucht werden.Diese Art von bürokratischem Zutrauen kann nur auf dem Boden der SPD wachsen.Aber bleiben wir einemal dabei: Es gab eine merkwürdige Koalition. SPD und Bundesärztekammer versammelten sich vor acht Tagen hier in Bonn und ließen nach einem Gespräch die staunende deutsche Öffentlichkeit wissen, daß sie die Gesundheitsreform gemeinsam ablehnen — SPD und Ärzte!
Ich habe den Präsidenten der Bundesärztekammer gefragt, was er denn gemeinsam mit der SPD vorschlage. Da hatte er die klassische Antwort: Nichts;
denn mit den Vorstellungen der SPD könne er sich nicht einverstanden erklären.
So einfach ist das offenbar in der Reform-Diskussion. Meine Damen und Herren, draußen in der Öffentlichkeit wird nie gefragt, was die, die ablehnen, eigentlich wollen. Ich kann nur sagen: Reformen, die nicht gemacht werden, sind die leichtesten Reformen, die es überhaupt gibt.
Es reicht offenbar in dieser Republik, Einwände und Einsprüche vorzubringen. Sie sind in unserer Gesellschaft gefragt. Nein ist „in". Veto ist chic. Es kommt überhaupt niemand mehr auf die Idee, zu fragen, was denn die Ablehner wollen. So kann doch kein Staat regiert werden! Die Demokratie verkommt auf diesem Wege
zur Veto-Gesellschaft, die zu nichts anderem mehr fähig ist als zur gemeinsamen Unbeweglichkeit.
Sie pflegt ihre Verweigerung, und sie hätschelt ihre Unfähigkeit zur aktiven Bewältigung von Problemen.Das einzige, worauf sich Interessenverbände verständigen können, ist: Wir wollen mehr.
Mehr Geld von den Versicherten,
mehr Geld vom Staat, das ist die Kurzformel der Vorschläge der deutschen Ärzteschaft; denn sie wollen mehr Geld aus der Alkoholsteuer, mehr Geld aus der Tabaksteuer, mehr Geld durch Senkung des Mehrwertsteuersatzes, mehr Geld von den unf allgefährdeten Sportlern, den Skifahrern und mehr Geld von der Rentenversicherung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7871
Bundesminister Dr. BlümDas ist die Kurzfassung: mehr Geld, damit mehr verteilt werden kann. Mehr als „Mehr! Mehr! Mehr! " „mehr" fällt denen nicht mehr ein — in der Tat —,
bestenfalls noch: Die anderen sollen zahlen.
Im übrigen ist das einzige, was im Vorschlag der SPD Finanzmassen bewegen würde, die vorgesehene Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze. Mehr Beitrag! Mehr Beitragszahler durch Wegfall der Versicherungspflichtgrenze, das ist der finanzielle Beitrag der SPD. Mehr Geld!
Ich sage, wo der Unterschied liegt. Unser Reformkonzept ist: Weniger an der einen Stelle, um an der anderen mehr helfen zu können. Nicht Abbau des Sozialstaates, sondern Umbau des Sozialstaates.Dreßler [SPD]: Das Niveau des zuständigenArbeitsministers und sein Kenntnisreichtumsind ungenügend!)Sparen und Gestalten, das ist das Motto der heutigen Reform.Aber, meine Damen und Herren, lassen wir nicht die Hoffnung fahren: Es gibt viele Bürger, die vernünftiger sind als alle ihre Funktionäre.
Ich hätte — um es im Vertrauen zu sagen — den ganzen Rummel, die ganze Ballerei, nicht ertragen, wenn ich nicht wüßte, daß es auch viele Ärzte und Zahnärzte gibt, die keineswegs das meinen, was ihre Funktionäre schreiben und schreien.
Sonst könnten wir wirklich die Hoffnung aufgeben.Ein Arzt aus Dortmund schrieb mir: „Die Diskussionsbeiträge vieler meiner Kollegen sind polemisch und vordergründig, außerdem zeugen sie von Ignoranz. Das GRG muß bald verabschiedet werden."Eine Apothekenhelferin schreibt mir: „Trotz der Kündigung meines Arbeitsplatzes, die u. a. auch mit der bevorstehenden Strukturreform begründet wurde, komme ich nicht umhin, Ihnen zu schreiben. Entgegen aller Opposition muß ich wie im Volksmund sagen: Sie sprechen mir aus der Seele. Es wurde schon lange Zeit, das Gesundheitswesen einmal ordentlich zu entstauben."Eine Rentnerin, übrigens aus meiner Heimatstadt, schreibt: „Sehr geehrter Herr Minister, ich stehe auf Ihren Plan, das schreibt Ihnen eine Rentnerin mit monatlichem Einkommen von etwas über 1 000 DM."Die kleinen Leute haben oft mehr Verständnis als die großen Schreier, die es überhaupt nicht nötig haben.
Die kleinen Leute haben in ihrem Leben gelernt, daß man eine Mark zweimal umdrehen muß, bevor man sie einmal ausgibt.
— Sie vertreten offenbar schon lange nicht mehr die kleinen Leute. Sie schreien hier nur herum! Das ist das Problem.
„Es kann doch nicht angehen" — das schreibt mir ein Rentnerehepaar — , „daß die Krankenversicherung weiterhin ein Selbstbedienungsladen bleibt. Wir sind Rentner und glauben, daß uns die Solidargemeinschaft Krankenkasse wie bisher alle notwendige Hilfe gewähren wird. Bleiben Sie weiterhin tapfer! "Ich versichere Ihnen: Diese Koalition wird tapfer bleiben. Wir haben allem widerstanden. Wir werden dieses Gesetz heute auch in die dritte Lesung bringen.
— Könnten Sie bitte einen Augenblick ein bißchen stiller sein. Sonst brauche ich wirklich bald ein Hörgerät.
Die Reform versucht, die großen Prinzipien unseres Sozialstaates, Solidarität und Eigenverantwortung, in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Ohne Solidarität würde unsere Gesellschaft in einen gnadenlosen Egoismus versinken. Die Kranken und Behinderten brauchen Solidarität, denn sie sind auf andere angewiesen. Aber andererseits: Ohne Eigenverantwortung hätten wir weder Kraft noch Geld, anderen zu helfen. Wenn alle Probleme in dieser Gesellschaft von anderen gelöst werden sollen, versinkt die Gesellschaft in die Unzufriedenheit. Die Sehnsucht nach allgemeiner, allumfassender Betreuung beraubt die Menschen auch der Erfahrung, für sich selber zuständig zu sein und mit eigenen Problemen fertigzuwerden.
Die Eigenverantwortung ist nicht weniger Stütze unserer Humanität als die Solidarität.Die Unfähigkeit, Niederlagen und Schmerz selbständig zu verwinden, alles das sind Symptome ein und derselben Erscheinung: des Verlustes unserer Fähigkeit, dem Leben die Stirn zu bieten, des Verlustes von Werkzeugen, mit deren Hilfe der einzelne kraft seiner eigenen geistigen Bestände sich das Gleichgewicht angesichts von Niederlagen und Leiden wieder herstellen konnte.
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7872 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Bundesminister Dr. BlümDas sagt der große marxistische Humanist Leszek Kolakowski.
— Seien Sie nicht so banal.
Ich frage mich, ob wir in Gefahr sind, ein perfekt funktionierendes Gesundheitssystem anzustreben, das Tod und Leiden verdrängt. Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Wenn wir den Tod aus dem Leben verdrängen, wenn wir, vom Gesundheitssystem unterstützt, den Versuch unternehmen, einen heillosen Wettbewerb mit dem Tod aufzunehmen,
nehmen wir den Menschen die Chance zur Solidarität,
die auch aus der Todesdrohung entsteht, und auch die Chance zum Glück.Nochmals Leszek Kolakowski:Wer das eigene Leid verdrängt, kann das Leid der anderen besser ertragen.Insofern, meine Damen und Herren, geht es in dieser Gesundheitsreform, wie ich glaube, nicht nur um Mark und Pfennig, sondern auch darum, daß wir uns kein neues Gehäuse von Fremdbestimmung schaffen. Sind wir nicht schon in der Versuchung,
mit Tabletten und Tröpfchen alles Denkbare zu behandeln? Wir neutralisieren unseren Lebensrhythmus
durch einen wechselnden Rhythmus von Weck- und Beruhigungsmitteln. Die wohltemperierte Gesellschaft mit immer gleich gesteuerter Stimmungslage! Ich bin ganz sicher: Sie produziert nichts anderes als Angst und Langeweile.Insofern geht es in dieser Reform auch um die Selbsterhaltung des Menschen, seine Rettung vor einem allseits totalitär betreuenden Staat, einem Staat, der ihn überall mit seinen Versprechungen trifft, er werde ihm alle Probleme und damit auch alle Entscheidungen abnehmen.Der Sozialstaat muß umgebaut werden. Bäume wachsen nicht in den Himmel. Wir bauen Überversorgung, Verschwendung und Vergeudung in unserem Krankenversicherungssystem ab. Mit den Mitteln, die wir beispielsweise durch die Festbeträge von der Pharmaindustrie sparen — rund 2 Milliarden DM —, haben wir schon mehr als ein Drittel des Geldes erwirtschaftet, das wir anschließend, besser angewendet, für die Pflegebedürftigen einsetzen. Unser Sozialsystem hat für vieles Geld, für manches zuviel. Vernachlässigt werden noch immer die Pflegebedürftigen. Wir wollen sie unterstützen. Ich frage auch hier:Bedeutet das wiederum „den Großen geben" ? Nochmals frage ich: Heißt das „den Kleinen nehmen"?Ab 1. Januar besteht ein Anspruch auf die Übernahme der Kosten bis zu vier Wochen je Kalenderjahr, wenn eine Pflegeperson Urlaub machen will. Das liest sich so kalt im Gesetzestext. Aber die Mutter oder der Vater, der Sohn oder die Tochter, die 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr immer für das Kind, für die Mutter, für den Vater oder für die Schwiegermutter zuständig sind, wollen auch einmal aufatmen und Urlaub machen. Das ist ganz handfeste Sozialpolitik. Deshalb halten wir den Protest aus. Wir verwenden das Geld für diejenigen, die gar nicht protestieren können, weil sie zu Hause ans Bett gefesselt sind. Für die machen wir Politik!
Zwei Jahre später soll mit Geld- und Sachleistungen eine weitere Hilfe hinzukommen. Ab 1. Januar 1991 wird die Pflegekraft den schwer Pflegebedürftigen monatlich mit bis zu 25 Pflegeeinsätzen versorgen. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.Wie zynisch war es, Frau Wilms-Kegel, daß Sie vorhin sagten: Eine Stunde; und die 23 übrigen Stunden? — Ist Ihnen denn eigentlich nicht aufgefallen, daß bisher 24 Stunden nichts war? Mit 5 Milliarden lösen wir jetzt keineswegs alle Probleme. Das sage ich doch gar nicht. Aber 5 Milliarden, für die Hilfsbedürftigen aufgebracht, sind mir lieber als 50 Jahre Expertendiskussion darüber, wie es gemacht werden soll. Experten haben jetzt lange genug darüber diskutiert, wer zuständig ist. Die würden noch 20 Jahre über Zuständigkeiten diskutieren — und die Pflegebedürftigen würden allein gelassen. Diese subtilen Trennungslinien zwischen langfristig Kranken, die die Krankenkasse versorgt, und Pflegebedürftigen habe ich überhaupt noch nie ziehen wollen. Da mögen die Scholastiker weiter diskutieren. Bevor die weiter diskutieren, handeln wir. Wir helfen heute und jetzt. Das ist ein uraltes christliches Prinzip. So, wie der Samariter nicht erst große Werke gelesen, sondern den Hilfsbedürftigen aufgesucht hat, und so, wie der heilige Martin nicht erst Verteilungstheorie studiert,
sondern den Mantel geteilt hat, machen wir es auch!
Ich sage: Liebe Pflegebedürftigen, kauft euch einmal etwas von den ganzen Papieren und Programmen, die die SPD über 20 Jahre zur Pflege beschlossen hat! Weniger Papier! Wir schaffen soziale Praxis. Das ist der Unterschied.
Fragen Sie sie einmal, ob sie sich von den Papieren auch nur eine einzige Mark beschaffen können!Ich komme zu weiteren Punkten, zunächst zum Ausbau der Vorsorge. Während die Pflege die Solidarität stärkt, wird die Vorsorge die Eigenverantwortung stützen. Gesundheit darf ja nicht erst dann zur Sorge werden, wenn die Krankheit da ist. Man soll das Kind
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7873
Bundesminister Dr. Blümnicht erst aus dem Brunnen holen; jedenfalls ist es besser, vorher den Brunnen abzudecken. Das ist uralt.
— Wenn es im Brunnen liegt, wird es herausgeholt. Aber Vorbeugen ist besser als Heilen.Wir sind ein Land mit einem großen Ausgabenvorsprung im Zahnersatz und gleichzeitig mit einer großen Verspätung in der Zahnprophylaxe. Dieses Mißverhältnis wollen wir beseitigen.Wir wollen einen neuen Impuls für Zahnvorsorge. Die Krankenkassen beteiligen sich künftig aktiv an der Organisation und Finanzierung der Zahnvorsorge in Schulen und Kindergärten. Die Krankenkassen übernehmen Kosten für individuelle Vorsorgeuntersuchungen. Wer regelmäßig für seine Zahngesundheit sorgt, wird dies später von der Solidarkasse durch einen höheren Zuschuß beim Zahnersatz belohnt bekommen.Die bisher ausschließlich zur Früherkennung von Krebsgefahren durchgeführten Gesundheitsuntersuchungen werden auf die großen Zivilisationskrankenheiten Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes, Nierenerkrankungen ausgedehnt. Vielleicht verschwindet mit diesem Gesundheits-Check-up auch etwas die Berührungs-, die Schwellenangst, unter der die Krebsvorsorge noch immer leidet.Kinderuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, die die Entwicklung der Kinder gefährden, werden ausgebaut. Der Anspruch besteht jetzt zwei Jahre länger, bis zum sechsten Lebensjahr.Bei der Verhütung von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren werden die Kassen in Zukunft mehr mitwirken können und ihre Erkenntnisse in den Dienst der Prävention stellen.
Dazu gehört eine enge Zusammenarbeit mit den Unfallversicherungsträgern und den für den Arbeitsschutz zuständigen Stellen.Meine Damen und Herren, auch wieder Kontrastprogramm: Heute morgen habe ich auf der Fahrt hierher das Plakat der SPD gelesen.
— Zitat —: „Wir sagen: vorbeugen statt abkassieren." Ja, das sagt ihr, wir machen's.
— Nein, wir machen's. Ihr sagt: vorbeugen statt abkassieren; wir machen es: vorbeugen statt abkassieren.
— Seid doch nicht so neidisch, daß eure ganzen Aktivitäten rein theoretischer Natur sind. In den 13 Jahren, in denen ihr es gekonnt hättet, habt ihr es nicht gemacht. Und jetzt lauft ihr hechelnd hinter uns her und bringt nichts Anständiges, außer neidischer Kritik, zustande.
Solidarität für die Pflegebedürftigen, Eigenverantwortung durch Vorsorge, mehr Wettbewerb durch Festbeträge!Der Festbetrag ist, finde ich, der originellste Einfall dieser Gesundheitsreform; es ist wirklich ein origineller Einfall. Offenbar wird er noch immer mißverstanden: Es ist kein Festpreis, wir setzen keine Preise fest. Wenn bei mehreren Bleichguten Medikamenten unterschiedliche Preise vorhanden sind, warum soll die Krankenkasse dann das teuerste Medikament bezahlen? Warum soll die Krankenkasse, wenn der gleiche Wirkstoff gegeben ist — manchmal ist nur die Farbe der Tablette ein bißchen anders; das eine Medikament kostet 30, das andere 90 DM — , das teuerste Medikament bezahlen? Ich frage Sie: Wieso soll die Solidarkasse jeden Preis bezahlen, den die Pharmaindustrie verlangt? Wo kommen wir da eigentlich hin?
Mit diesem Festbetrag kommt es endlich zum Wettbewerb. Ich bin ganz sicher, daß sich die Höchstpreisanbieter ganz schnell — das ist der Sinn der Marktwirtschaft, das ist die ganze Intelligenz der Marktwirtschaft — in der Nähe der preiswerteren Konkurrenz ansiedeln werden. Und damit zerstören wir in der Tat eine Arbeitsteilung, nämlich die Arbeitsteilung: Der Arzt verschreibt, die Apotheke gibt aus, der Patient erhält's und die Krankenkasse bezahlt's. Das war bisher die Kette.
— Und die Pharmaindustrie verdient, gut.Ich glaube, daß der Wettbewerb die Forschung nicht behindert. Wettbewerb ist immer innovativ. Im übrigen: Die forschende Industrie wird durch Patentschutz, Verwertungsschutz und Schutzfristen bei der Festbetragsregelung geschützt. Und bevor die Pharmaindustrie, lieber Kollege Rappe,
um auch Ihnen die Sorge zu nehmen, eine D-Mark für Forschung einspart, hat sie noch mehr als genug Sparmöglichkeiten im Marketingbereich.Unmengen von Zeitschriften werden kostenlos ausgegeben. So schrieb mir — ich verlasse mich immer auf die Praxis — ein Arzt — Zitat aus einem Brief — :Mindestens ein halber Mülleimer pro Woche geht nur auf das Konto ungelesen weggeworfener Pharma-Werbezuschriften incl. der nicht bestellten Zeitschriften.
Multipliziert mit der Anzahl Kassenärzte in Deutschland wahrhaftig ein gigantischer Müllberg ... Ich hoffe sehr, daß es Ihnen mit Ihrem Gesundheits-Reformgesetz gelingen möge, diese auch umweltpolitisch skandalösen Werbemethoden einzuschränken.Im übrigen lebt die Pharmaindustrie nicht nur von derKrankenversicherung, sondern auch vom Export und
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7874 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Bundesminister Dr. Blümvon vielen Arzneimitteln, die gar nicht unter dem Dach der Krankenversicherung bezahlt werden.Ich appelliere in dem Zusammenhang auch an die Ärzte, ihrer Verantwortung bei der Arzneimittelverschreibung gerecht zu werden — eine hohe Verantwortung! Tonnenweise landen Medikamente auf der Müllhalde. Im Müllcontainer einer Sondermüllsammlung von fünf baden-württembergischen Landkreisen sammeln sich alle sechs Wochen 35 Kubikmeter unbenutzter Arzneimittel — das sind rund 100 000 Arzneimittelpackungen —,
wie mir ein Geschäftsführer einer AOK schrieb. Er legte mir auch gleich das Photo eines gefüllten Müllcontainers bei.Eine Schulklasse in Euskirchen hat Sondermülldeponien untersucht: 37 % der Medikamentenpackungen, die dort gelagert waren, waren gar nicht angebrochen. 60 % der Packungen enthielten noch über die Hälfte des ursprünglichen Inhalts, ungenutzt. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, daß es für die Gesundheit gar nicht gut wäre, wenn alle Medikamente verbraucht würden, die verschrieben worden sind.
Ich kann nur wünschen, daß nicht all das, was verschrieben wird, auch verbraucht wird. Aber ganz sicher bin ich, daß es nicht gut ist, daß die Krankenkassen dies alles bezahlen. Fachleute schätzen, daß 5 Milliarden DM zum Fenster herausgeworfen werden, weil die Medikamente gar nicht genutzt werden. Diese 5 Milliarden DM nehmen wir besser für die Kranken.Daß es im Bereich der Massagen, Kuren und Heilmittel Mißbrauch und Verschwendung gibt, das hat der „Blüm-Bauch" bewiesen. Da ist das System offenbar ganz widerstandslos; sonst käme es ja nicht zu diesen Steigerungen.Noch kurz zu den sozialen Rücksichten. Kein sozial Schwacher braucht diese Reform zu fürchten. Es gibt keine Zweiklassenmedizin.Erstens. Wir haben die Härteklausel. Ich sage noch einmal: Alleinstehende mit einem Einkommen unter 1 232 DM
brauchen für Zahnersatz, stationäre Vorsorge, Arznei-und Heilmittel sowie für Fahrtkosten nicht zu zahlen, Verheiratete mit einem Einkommen unter 1 694 DM, mit drei Kindern: 2 618 DM. Nicht angerechnet werden Kindergeld, Erziehungsgeld, BAföG und Wohngeld.Zweitens. Ganz familienfreundlich ist die Überforderungsklausel — das ist etwas ganz Neues — , damit niemand überfordert wird. Was ist daran Bürokratie, wenn auch der Versicherte ein bißchen mitrechnet? Ich finde es ganz im Sinne von Kostenbewußtsein, daß er sich endlich einmal dafür interessiert, was die ganze Sache kostet. Die Überforderungsklausel beschränkt die Zuzahlung bei Arzneimitteln, Heilmitteln sowie bei Fahrtkosten auf 2 % des Einkommens, oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze auf 4 %.Nur ein Beispiel: Jemand, der 3 200 DM im Monat verdient — mit den Freibeträgen für drei Kinder —, muß bestenfalls, wenn alles zusammenkommt, 35,65 DM zahlen, mit einem Kind 48,25 DM. Kinder und Jugendliche stehen sich besser als vorher: Sie sind bis zum 18. Lebensjahr befreit von der Zuzahlung bei Arzneimitteln, Heilmitteln, Kuren und Krankenhausauf enthalten.Ich will das Wort „Transparenz" wegen der fortgeschrittenen Zeit nur kurz erwähnen. Warum soll denn eigentlich die Krankenversicherung eine Dunkelkammer bleiben? Warum sollen wir in der Krankenversicherung denn nicht das machen, was die private Krankenversicherung seit eh und je macht? Warum soll die Krankenversicherung, die gute alte Krankenkasse, nicht wissen, für was sie bezahlt? Jeder anständige Kunde muß von einem anständigen Verkäufer erfahren, für was die Leistung erbracht wurde. Das kann ja auch nicht schaden.
Zu den bescheidenen Stichproben. Von 70 000 niedergelassenen Ärzten werden bei 1 400 — bei 2 % —im Quartal Stichproben genommen. Ein anständiger Arzt — ich gehe davon aus, daß die überwiegende Zahl der Ärzte anständig ist — braucht die Stichprobe nicht zu fürchten. Die schwarzen Schafe, die es überall gibt, ja, die sollen die Stichprobe fürchten; das ist der Sinn der Übung.
Meine Damen und Herren, wir wollen eine Reform, in der der Staat nicht alles tut. Deshalb sind wir sehr darauf angewiesen, daß wir, wenn wir heute beschließen, allen Streit vergessen und zusammenarbeiten. Laßt uns zusammenkommen: Ärzte, Zahnärzte, Kassen, Pharmaindustrie, Apotheker. Wir müssen jetzt alle an einem Strang ziehen; denn jetzt ist der Beweis fällig, ob die Selbstverwaltung ihre Chance nutzt.
Wer für Selbstverwaltung ist — ich bin dafür — , der muß den Erfolg wünschen.Ich füge allerdings folgendes hinzu, ohne mit meiner Philosophie in Widerspruch zu geraten: Ich betrachte das Selbstverwaltungsrecht als ein Vorfahrtsrecht. Vorfahrt für parkende Autos gibt es auch im Straßenverkehr bekanntlich nicht. Notfalls muß der Staat als Ersatzmann eingreifen. Ich wünsche es mir nicht. Ich möchte das System der Subsidiarität erhalten, wo wir zusammen mit den Partnern, mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die gemeinsame Verantwortung für unsere gute alte Krankenkasse erhalten, in der jeder, der hilfsbedürftig ist, auch weiterhin Hilfe erhalten wird, in der Pflegebedürftige zum erstenmal angenommen, unterstützt werden, mehr als je zuvor.Auf diese Reform können wir stolz sein. Sie ist eine große Anstrengung. Vor uns hat sie niemand zustande gebracht. Deshalb war diese Reform nötig. Ich danke
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7875
Bundesminister Dr. Blümallen, und hier sitzen sie, die sie möglich gemacht haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Egert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorfreude auf dieser Seite muß sich ja noch in Grenzen halten, weil Sie ja nicht wissen können, meine Damen und Herren, was ich Ihnen heute sagen werde.Meine Fraktion war so gütig, mir 15 Minuten Zeit zu schenken. Ich habe während dieser fast einstündigen Rede des Ministers darüber nachgedacht: Was machst du mit diesem sorgsam zu behandelnden Geschenk deiner Fraktion?
— Was sind Sie für ein Dummkopf, wirklich, Herr Kollege. Was sind Sie für ein Dummkopf!Ich werde drei Dinge versuchen. Die erste Bemerkung ist eine, die mit der Arbeit im Ausschuß zu tun hat. Hier war man so freundlich, zu sagen: Der Vorsitzende war fair und hat das alles noch gemacht.
— Danke für den Beifall. — Da will ich sagen: Man mag, Herr Dr. Becker, mit dem Lebensrhythmus der Abgeordneten, der Männlein und Weiblein, die da arbeiten, Schindluder treiben, obwohl ich selbst dahinter ein dickes Fragezeichen setze, aber was man nicht darf, ist, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußsekretariats und deren Gesundheit Schindluder zu treiben.
Deshalb hier einmal ein herzliches Dankeschön an die Adresse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ausschußsekretariat.
Ich will das unterstreichen: Der Bericht, der Ihnen vorliegt, und dessen sorgfältige Lektüre ich vielen der Kolleginnen und Kollegen empfehle, auch denen, die an diesem Terrorprozeß nicht teilnehmen mußten, hat 428 268 Anschläge; ich sage bewußt: 428 268 Anschläge. Es ist die fünfte Fassung. Da hat eine Sekretärin im Ausschuß immer wieder erneut arbeiten müssen. Das war die Arbeit nach Abschluß am 14. November. Die Sekretärin verdient ein herzliches Dankeschön für diese Mühe, ebenso die Berichterstatter und alle anderen Beteiligten. Dies gilt außerhalb des Ministers und seiner politischen Beamten auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Die waren mit uns in dem gleichen Streß, häufiger in einem größeren Streß als die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß.Übrigens verweise ich zu der Beratungssituation im Ausschuß, Herr Minister, auf die Passagen über die Umstände der Beratung, einfach deshalb, weil Sie sich heute darüber gesorgt haben, wo und wann Demokratie zu was verkommt. Ich empfehle Ihnen die Lektüre dieses Berichts mit dem Hinweis, sich darüber zu sorgen, wohin der deutsche Parlamentarismus verkommt, wenn dieses Verfahren üblich wird und sich wiederholt.
Ich kann Ihnen, Herr Minister, diese Lektüre nur als Bettlektüre empfehlen.
Ich will auf einen zweiten Punkt eingehen. Herr Minister, ich hatte wirklich gehofft — ich gebe zu, es war eigentlich eine vergebliche Hoffnung — , daß Sie der Bitte meiner Kollegin Wilms-Kegel, die der Präsident gerügt hat, entsprechen und das Parlament entsprechend der Würde dieses Hauses behandeln. Sie haben es geschafft, heute eine Vorstellung mit einer Mischung mit Karneval zu geben. Frau Kollegin, das war nicht nur Karneval. Wenn Kolakowski bemüht wird, sage ich: Wenn diese Alltagsphilosophie in die Debatte eingeführt wird, kriege ich feuchte Augen. Wenn noch eine Reihe von Kalendersprüchen hinzukommt, ist es der übliche Blüm, der hier heute abgeliefert worden ist.
Das hätte ich angesichts des ernsten Ereignisses, über das wir hier miteinander zu verhandeln haben, wirklich nicht erwartet. Er hat es geschafft, ich weiß nicht, wieviel Minuten — man müßte das eigentlich aus dem Protokoll heraussuchen lassen — , über ein Flugblatt der SPD zu sprechen.
Herr Kollege Feilcke, Ihr Minister, der uns einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, zu dem uns jetzt eine Abstimmungsunterlage mit insgesamt 529 Seiten vorliegt, regt sich über eine Stunde lang über eine Seite eines Flugblatts der SPD auf, und dann noch, wie ich finde, in unzutreffender und ungeschickter Art und Weise. Wenn es in der Sache noch etwas genützt hätte, würde ich sagen: Na gut, jeder nimmt sich den Gegenstand der Erörterung, den er meint, finden zu können.Herr Minister Blüm, Sie haben gesagt, das sei eine Summe von Halbwahrheiten, Lügen usw. Ich will das nicht wiederholen.Ich will an das erinnern, was mein Kollege Dreßler gesagt hat. Er hat gesagt, von der Erhöhung der Zuzahlung bei Zahnersatz erwarten Sie Einsparungen von 2,35 Milliarden DM, von den Einschränkungen bei der Kieferorthopädie 200 Millionen DM, von den Einschränkungen bei Fahrtkosten 580 Millionen DM, von der Kürzung des Sterbegeldes 910 Millionen DM, von der Erhöhung der Zuzahlung beim Krankenhausaufenthalt 270 Millionen DM, von der Kürzung des Kurzuschusses 165 Millionen DM, von dem Lei-
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7876 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Egertstungsausschluß bei sogenannten Arzneimitteln 300 Millionen DM, von der Erhöhung der Verordnungsgebühr bei Heilmitteln 100 Millionen DM, von Leistungskürzungen bei Brillen und Kontaktlinsen 1,05 Milliarden DM, vom Leistungsausschluß von Bagatellhilfsmitteln 230 Millionen DM und von der Erhöhung der Rezeptgebühr bei Arzneimitteln 100 Millionen DM. Hier ist gesagt worden, die Zahlen stimmten. Sie müssen ja auch stimmen, weil sie im Ausschußbericht stehen. Herr Minister, wenn diese Erwartung stimmt und das alles Belastungen der Versicherten sind, was ist dann falsch an dem Vorwurf, daß Sie zu Lasten der Versicherten abkassieren?
Das ist der Gehalt dieses Flugblatts. Darüber, ob das in der 125jährigen Geschichte meiner Partei die geschickteste und intelligenteste Variante eines Flugblattes ist, könnten wir in eine ästhetische Betrachtung eintreten. In der Sache hilft das aber nicht weiter. Da würde ich raten, daß Sie sich den Sachen selber zuwenden.Herr Minister, nun will ich zu einer zweiten Wahrheit kommen. Sie haben hier vor dem Bundestag gesagt: Es braucht ein Solidaropfer der Pharmaindustrie von 1,7 Milliarden DM. Ich meine, da stand irgendwo im Protokoll „Beifall im ganzen Hause".
Dieser Beitrag der Pharmaindustrie ist nicht gekommen.
Herr Minister, Ihr Wortbruch kostet die Versicherten genau eine Milliarde DM mehr, die Sie darüber hinaus abkassieren mußten. Das ist die Wahrheit Ihres Umgangs mit den Versicherten.
Herr Minister, wenn Sie sich schon der Gefahr aussetzen, Geschichte schreiben zu wollen, und wenn Sie als Historiker auch noch prominent werden wollen — ob berühmt, weiß ich nicht —, müssen Sie die ganze Wahrheit einer Geschichte schreiben. Ich komme auf das Jahr 1982 zurück. Das Problem ist nämlich, daß der von mir verehrte Präsident, damals mein unmittelbarer Vorgesetzter, und der Kollege Dreßler, heute Vorsitzender des Arbeitskreises Sozialpolitik der SPD-Bundestagsfraktion, und ich die politisch Verantwortlichen im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung waren.
Erste Feststellung: Als es um die Frage der Zuzahlung beim Krankenhausaufenthalt ging, hat damals der von mir geschätzte Minister Westphal öffentlich erklärt, daß er für die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme nicht in Anspruch genommen wird.Zweite Feststellung: Der Gesetzentwurf, der vor dem Hintergrund einer ernsthaften Koalitionskrise — dieser Versuch hat nur drei Monate gehalten — im Juni auch diese Frage mit eingeschlossen hat, ist hier im Bundestag gelesen worden. Der damalige sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, mein von mir sehr geschätzter Vorgänger im Amt,Herr Kollege Glombig, hat für die SPD-Fraktion hier deutlich gemacht, daß die Zuzahlung von 5 DM im Falle eines Krankenhausaufenthalts nicht mit der SPD-Bundestagsfraktion zu machen ist.
Das hat der damalige Fraktionsvorsitzende, Herr Herbert Wehner, ausdrücklich bestätigt. Dann ist es im übrigen auch bei diesem Vorschlag geblieben, weil irgendwelche Umstände, die ich jetzt nicht historisch beleuchten will, im Herbst des Jahres dazu geführt haben, daß eine neue Regierung gekommen ist.Herr Minister, es ist auch deshalb unredlich, dies hier so darzustellen, weil Sie selbst und andere gesagt haben, das sei kein Steuerungsinstrument und tauge nichts. Da wir aufgefordert sind, die Geschichte von Anfang an zur Kenntnis zu nehmen, stelle ich fest: Es ist gesagt worden, das werde abgeschafft. Dann hat das Geld wegen des — so sage ich — nicht vorhandenen Solidaropfers der Pharmaindustrie nicht gereicht. Dann hat man gesagt: Machen wir es mit 5 DM oder mit 10 DM; das rechnet sich. Das ist in der Belastungssituation der Versicherten eine Belastung von 140 DM für den Krankenhausaufenthalt, Herr Minister.Also sollte man Geschichte nur dann schreiben, wenn man es kann. Wenn man es nicht kann, muß es nach dem Motto „Schuster bleibe bei deinen Leisten" in den Zettelkästen bleiben, Norbert Blüm.
Nun zu dem von ihm bemühten — er hat ja gesagt, er bekomme Tränen in den Augen — Kolakowski. Was hat Ihnen der arme polnische marxistische Philosoph getan, daß Sie ihn in die Debatte des Deutschen Bundestages einführen?
Haben Sie denn zur Sache nichts zu sagen, Herr Minister, daß Sie auf ein Kolloquium ausweichen müssen? Wir sind hier der Deutsche Bundestag; wir sind nicht ein Symposium in Davos oder wo sonst man eine Anleihe machen will.
Nun hat mir meine Fraktion aufgetragen — dafür habe ich nur noch fünf Minuten Zeit; ich bitte um Nachsicht; der Minister hat mich mit anderen Dingen abgelenkt — , zu dem Thema Pflege etwas zu sagen. Denn da sagt der Minister ja: Dies ist es; dies lohnt alle Opfer, weil wir den Schwerpflegebedürftigen helfen können. Ich habe etwas dagegen, Herr Minister, daß Sie mit dem Bild der Mutter mit dem schwerpflegebedürftigen Kind hier hausieren gehen. Das ist eine ganz schwierige Sache. Sie wird noch schwieriger, wenn Sie die soziale Notlage der Mutter mit dem schwerpflegebedürftigen Kind gegen die soziale Notlage kranker Menschen aufrechnen. Dies ist doch zynisch, Herr Minister. Dies ist der falsche Weg der Finanzierung, Herr Minister.
Deswegen sind wir gegen diese Regelung. Wir sind es nicht deswegen, weil wir diesen Tatbestand nicht regeln wollten.
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EgertNun ein Zweites, Herr Minister, in bezug auf die Frage der Pflegebedürftigkeit. Sie fragen: Was tun die alle? Sie machen Papier, und es kommt nichts heraus. — Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß die sozialdemokratisch regierten Länder Bremen und Berlin letzteres zu der Zeit, als wir dort noch die politische Mehrheit hatten, bereits Pflegegeldsätze gemacht haben. Damals waren Sie noch nicht dabei, Papiere zu bedrucken. Das will ich einfach einmal wegen der Geschichte feststellen.
Es ist also nicht so, als ob diese beiden Oppositionsfraktionen nicht wüßten, wie es denn mit einem Pflegegeldleistungsgesetz gehen soll. Das wissen sie schon. Die Frage ist nur: Schaffen wir innerhalb des Bundeshaushalts die Voraussetzungen dafür, ein solches Leistungsgesetz mit Steuern zu finanzieren? Denn es kann doch nicht so sein, daß die Beitragzahler in der Krankenversicherung für das aufkommen müssen, was der Staat und was die Gesellschaft allen schulden und was da bezahlt werden muß, Herr Minister.
Dies ist der konzeptionelle Unterschied, den wir haben und der uns sofort handlungsfähig macht, wenn Minister Stoltenberg Minister Blüm erlaubt, mehrere Milliarden DM dafür zu verwenden. In bezug auf das Volumen ist das, was Minister Blüm sagt, ja richtig. Darüber streiten wir gar nicht. Nur muß die Finanzierung aus dem Steuersäckel kommen. Hier erwarten wir allerdings, daß Sie sich bewegen.Wenn Sie schon versuchen, die Oppositionsfraktionen hier madig zu machen, dann frage ich Sie: Wo war eigentlich die heute von uns zur Bundestagspräsidentin gewählte — dazu meinen Glückwunsch und meine Unterstützung — Ministerin, die für diese Frage eigentlich zuständig ist? Wo ist denn das Pflegekonzept dieser Bundesregierung?
Hier wird durch die Krankenversicherung in einer falschen Art und Weise vorgeleistet. Dies ist der Punkt, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Nun will ich Ihnen, aufbauend auf ein paar Grundsätzen, sagen, was wir als Einstiegslösung vorschlagen, damit der Minister nicht wieder sagt: Der Egert hat ja gar nicht ausgeführt, wie wir es denn machen sollen.
Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wollen niemanden ausgrenzen. Die Leistungen unseres Pflegekonzeptes werden unabhängig von Alter oder Ursache der Pflegebedürftigkeit gezahlt. Daß wir dies so wollen, ist übrigens ebenfalls ein Erfolg sozialdemokratischer Rehabilitationspolitik.
Wir wollen die Finanzierung nicht auf Versicherte in der Krankenversicherung beschränken. Wir diskriminieren die Heimpflege nicht — das ist nämlich das nächste Problem — , sondern wir beziehen Betroffene in stationärer Pflege von Beginn an in unser Gesamtkonzept ein.Auch den begünstigten Personenkreis wollen wir weiter fassen. Unser Konzept sieht bereits bei erheblicher Pflegebedürftigkeit Leistungen vor. Dies erleichtert die Rehabilitation, beugt Verschlechterungen des Gesundheitszustands vor und erhöht die Pflegebereitschaft der Familien.Wir wollen auch keine Bevormundung der Pflegebedürftigen durch die Krankenkassen, sondern mehr Selbstbestimmung für die Betroffenen. Niemand soll mehr langfristig wegen Pflegebedürftigkeit auf Sozialhilfe angewiesen sein. Deshalb schlagen wir für die Einstiegsphase einer Neuregelung keine Sachleistung vor, sondern ein gestaffeltes Pflegegeld als Geldleistung. Es soll ausschließlich an den Grad der Pflegebedürftigkeit anknüpfen.Wir wollen alle Pflegebedürftigen gleichbehandeln. Deshalb schlagen wir vor, das Pflegegeld auch an stationär Pflegebedürftige zu zahlen. Für uns ist der Vorrang der häuslichen Pflege kein Lippenbekenntnis. Deshalb wollen wir die Pflegekraft der Familie stärken. Wir wollen einen Einstieg mit Perspektive, keine Minimallösung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, die zwingend in die Sackgasse führen muß.Deshalb ist unser Vorschlag zunächst auf sechs Jahre befristet. Wir wollen anschließend über weitere Verbesserungen entscheiden. Wir sehen von Beginn an flankierende Maßnahmen wie eine verstärkte Beratung, Wohnungshilfe und die Öffnung der Krankenversicherung für Rehabilitationsleistungen vor.Finanzieren wollen wir dies sowohl zu Lasten der Steuermehreinnahmen als auch durch die Korrektur der aus unserer Sicht unsozialen Elemente der Steuerreform. Deswegen ist die Abschaffung des Pflegenotstands anstelle der Steuergeschenke an Reiche unsere sozialdemokratische Alternative.
Ich bitte Sie deshalb, dem Änderungsantrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zuzustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Seehofer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Politik ist nicht entscheidend, was man sagt, sondern was man tut. Herr Kollege Egert, auch Ihre Ausführungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie 1982 als Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und FDP vorgeschlagen haben: eine Erhöhung der Rezeptblattgebühr, eine Erhöhung der Zuzahlung für die Kuren — 10 DM — und eine Zuzahlung in Höhe von 5 DM für die Krankenhausaufenthalte.Sie sagen heute, Sie wollten es gar nicht. Es handelt sich aber um einen Gesetzentwurf der Fraktion der
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7878 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
SeehoferSPD. Entscheidend ist, daß Sie es damals so beschlossen haben.
Wir reden jetzt seit drei Jahrzehnten über die Notwendigkeit einer Gesundheitsreform. Herr Kollege Egert, Sie haben 13 Jahre von diesen drei Jahrzehnten regiert. Wenn Sie in diesen 13 Jahren so schnell gehandelt hätten, wie Sie heute Ihr Mundwerk haben laufen lassen, dann wäre die Geschichte längst erledigt.
Ich bestreite ja gar nicht, daß dieses Reformwerk schwierig ist. Ich kenne kein Sozialgesetz, das einen so großen Bevölkerungskreis und so unterschiedliche Interessen anspricht wie dieses Gesundheits-Reformgesetz. Deshalb gehört zu einem derart schwierigen Reformvorhaben der Mut, Interessen zu berücksichtigen, sie auszugleichen und dann zu einer Lösung zu führen, die dem Gemeinwohl dient. Die jetzige Koalition hat die Kraft zu diesem Interessenausgleich gefunden, meine Damen und Herren.
Die Krankenversicherung ist mehr als 100 Jahre alt. Es liegt auf der Hand, daß es Diskussionen auslöst, wenn man so eingefahrene, gefestigte Strukturen verändert. Mich überrascht diese Diskussion auch nicht. Was mich bedrückt, das ist der maßlose Egoismus, der bei vielen in der Argumentation verwandt wird. Niemand bestreitet die Notwendigkeit der Reform, aber keiner will seinen Teil dazu beitragen.Es lohnt sich in der Tat, einmal mit denen zu reden, die draußen an der Front, in der Praxis, tätig sind, nicht mit denen, die irgendwo in Funktionärszirkeln sitzen. Ich möchte Ihnen einen Brief vorlesen, den ich kürzlich von einem Arzt aus meinem Wahlkreis erhalten habe. Er schreibt mir: „Ihre Äußerung anläßlich des Interviews mit dem ,Donau-Kurier' über den grenzenlosen Egoismus aller Gruppierungen war mir aus dem Herzen gesprochen. Ich finde es erschütternd, wie sachliche Argumente vor der Profitgier aller Berufsschichten weichen müssen."
Ich würde manchem Verbandsfunktionär empfehlen, daß er sich einmal mit denen unterhält, die draußen an der Front in der Praxis tätig sind, meine Damen und Herren.
Ich habe Verständnis dafür, daß die Vertretung der eigenen Interessen durchgeführt wird. Diese Vertretung gehört zu einer freien Demokratie. Aber so sehr auf der einen Seite die Interessenvertretung dazugehört, so muß auf der anderen Seite der Gesetzgeber den Anspruch erfüllen, daß die Ordnung des Ganzen über dem Interesse des einzelnen oder einer Gruppe steht. Deshalb ist für uns in der Koalition das Gemeinwohl die oberste Richtschnur dieser Gesundheitsreform.
Zu diesem Gemeinwohl gehört, daß alle Beteiligten zudiesem Reformkonzept ihren Beitrag leisten. Nachdieser Gesundheitsreform sollen 13,8 Milliarden DM eingespart werden.Herr Kollege Dreßler, es ist ja eigenartig: Wenn es darum geht, draußen die Versicherten zu verunsichern, dann reden Sie immer von 13,8 Milliarden DM oder 14 Milliarden DM. Auf der anderen Seite haben Sie aber heute wieder hier gesagt: Diese Gesundheitsreform ist gescheitert, weil sie nicht einmal 5 Milliarden DM einspart.
Jetzt müssen Sie sich eigentlich einmal klar werden: Was stimmt jetzt eigentlich? Ich fordere Sie auf, jetzt endlich einmal redlich zu diskutieren. Sie können ja nicht auf der einen Seite die Versicherten verunsichern, und auf der anderen Seite davon reden, daß diese Gesundheitsreform gescheitert ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Ich gestatte keine Zwischenfrage.
Herr Kollege Dreßler, Sie sollten nicht fragen, Sie sollten sich informieren; denn ich habe den Eindruck, daß Ihre Einlassungen auch heute in der Hauptsache darauf zurückzuführen sind, daß Sie nicht wissen, was eigentlich im Gesetz steht.
Meine Damen und Herren, diese 13,8 Milliarden DM werden auf der einen Seite durch Leistungserbringer mit 6,7 Milliarden DM erbracht: Das sind die Festbeträge, das ist die Transparenz bezüglich der Leistungen und der Kosten, das ist die Verbesserung der Wirtschaftlichkeitsprüfungen, und das ist der effektivere Medizinische Dienst. Noch einmal: 6,7 Milliarden DM durch die Leistungserbringer. Die Versicherten erbringen 7,1 Milliarden DM durch die bereits hinreichend erwähnten Erhöhungen von Zuzahlungen, durch die Begrenzung des Sterbegelds und durch die Anpassung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner — 6,7 Milliarden DM die Leistungserbringer, 7,1 Milliarden DM die Versicherten. Die Lasten dieses Gesundheitsreformgesetzes sind angemessen auf alle Schultern verteilt.Herr Kollege Dreßler,
Sie können diese Zahlen unterschiedlich bewerten, aber Sie dürfen in einer redlichen Diskussion eines nicht machen: Sie dürfen hier vor der Öffentlichkeit nicht immer nur die 7,1 Milliarden DM für die Versicherten vorlesen — so wie der Kollege Egert —, aber die 6,7 Milliarden DM, die auf der Seite der Leistungserbringer gespart werden, verschweigen. Ich fordere
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7879
Seehof erSie auf, auch hier zur Wahrheit zurückzukehren, zu der Wahrheit, von der Sie heute so viel gesprochen haben.
Zu den Festbeträgen. Wissen Sie, Sie ordnen ja die Festbeträge und ihre Wirkungen so gerne den Versicherten zu. In der Realität: Es kann überhaupt kein Zweifel in der Realität darüber bestehen, daß der Festbetrag bei den Arzneimitteln, bei den Brillen, bei den Hörgeräten einen intensiveren Preiswettbewerb auslöst und damit zu Einsparungen auf der Leistungserbringerseite führt. Von diesen 6,7 Milliarden DM entstehen allein 3,3 Milliarden DM Einsparvolumen durch die Festbeträge. Das ist ein sehr sicheres Potential. Wenn Sie mit den Betroffenen draußen reden, nennen die Ihnen ganz andere Beträge: 5, 6 und 7 Milliarden DM Einsparvolumen. Wir haben realistisch gerechnet. Wir kalkulieren mit 3,3 Milliarden DM.Jetzt lese ich Ihnen heute auch noch einmal vor, was mir der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Herr Muhr, zu den Festbeträgen mitgeteilt hat. Er schreibt hier wörtlich:
„Da wir auf Grund der bisherigen Mechanismen in verschiedenen Bereichen in eine Art Überversorgung hineingeschlittert sind, halten wir den Ansatzpunkt" , — wir, der DGB — „mit Festbeträgen die medizinisch notwendigen und wirtschaftlichen Leistungen
voll in den Leistungsrahmen der sozialen Krankenversicherung zu übernehmen, für richtig und geeignet, zur Kostendämpfung beizutragen."
Das ist die Meinung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. An der sollten auch Sie sich orientieren.Jetzt sagen Sie, Herr Egert: Wo bleibt eigentlich der Solidarbeitrag der Pharmaindustrie?
Sie sagen, bei Leistungserbringern werde nicht eingespart. Ich zeige Ihnen einmal die neueste Schlagzeile des Deutschen Gewerkschaftsbundes — wenn Sie nach dem Datum gefragt haben: 15. Juni 1988 —,
die Schlagzeile: Pharmafirmen droht Umsatzminus.
Das ist der Solidarbeitrag. Die IG-Chemie macht Front gegen den Festbetrag, gegen den Solidarbeitrag der Pharmaindustrie, den die Gewerkschaftszeitung des DGB, die „Welt der Arbeit", kritisiert. Das ist die unredliche Diskussion.
Wir haben auch Vorsorge getroffen, daß in dem Bereich, zu dem die Versicherten beitragen, Überforderungen insbesondere für Familien, für chronisch Kranke und für Rentner nicht entstehen können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Egert?
Nein. Ich habe schon begründet, warum.Warum verschweigen Sie, Herr Kollege Dreßler, eigentlich,
daß wir die Zuzahlungen bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr bei Arznei- und Verbandsmitteln, bei Heilmitteln, bei Krankenhausaufenthalten, bei stationären Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen nicht vorsehen?
Das ist eine Verbesserung gegenüber dem geltenden Recht, weil das bisher nur bis zum 15. Lebensjahr möglich war.
Warum verschweigen Sie, daß wir die Familienhilfe nicht nur beibehalten, sondern stärken? Bei gleichem Einkommen zahlen die Ledigen und Kinderreichen den gleichen Krankenversicherungsbeitrag. Bei Kinderreichen ist es aber so, daß mit diesem Beitrag alle Familienangehörigen mitversichert sind.
Im Gegensatz zum bisherigen Recht gibt es für diesen mitversicherten Familienangehörigen ein eigenes Versicherungsrecht, das ihn unabhängig vom Ernährer der Familie macht.
Meine Damen und Herren, die gesetzliche Krankenversicherung begünstigt die Familien wie kein anderes soziales System in der Bundesrepublik Deutschland.
Warum sagen Sie der Öffentlichkeit nicht, Herr Kollege Dreßler,
daß die Festbeträge bei Arzneimitteln und Brillen dazu führen werden, daß die Zuzahlungspflichten, die heute im Gesetz bestehen und die Sie 1982 erhöhen wollten,
wegfallen mit der Folge, daß die Versicherten künftignichts mehr hinzuzahlen müssen? Das macht eine
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SeehoferGrößenordnung von 690 Millionen DM aus —690 Millionen DM wegfallende Zuzahlungen auf Grund der Festbeträge!
Ich frage Sie: Warum sagen Sie den Patienten, den Versicherten nicht, daß die Zuzahlungen zu stationären Maßnahmen im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation, zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln, zu Fahrtkosten und zu Zahnersatz vollständig entfallen, wenn man eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überschreitet oder bestimmte Sozialleistungen bezieht?
Weil es Ihnen offensichtlich an Aufklärung fehlt, will ich Ihnen auch hier einmal folgendes sagen.Vollständig befreit sind die Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz und nach der Kriegsopferfürsorge.Vollständig befreit sind Bezieher von Arbeitslosenhilfe.
Vollständig befreit sind die Bezieher von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.
Vollständig befreit sind die Personen, deren Unterbringungskosten die Sozialhilfe oder Kriegsopferfürsorge übernimmt.
Vollständig befreit sind ferner Alleinstehende mit einem monatlichen Bruttoeinkommen im Jahr 1989 — ich betone: 1989; das ist etwas mehr, als der Bundesarbeitsminister genannt hat; ich stelle bereits die Zahlen des nächsten Jahres in das Gesetz ein, denn es gilt ja erst ab dem nächsten Jahr — bis 1 260 DM. Dieser Freibetrag erhöht sich für den Ehegatten um 472 DM und für jedes Kind um 315 DM.
Herr Kollege Dreßler, warum sagen Sie nicht, daß diejenigen, die über dieser Einkommensgrenze liegen, teilweise von der Zuzahlung befreit werden? Das ist die sogenannte Überforderungsklausel.
Die zumutbare Eigenleistung wird auf 2 % des Bruttoeinkommens begrenzt, bei höher Verdienenden, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, auf 4 %. Alles, was darüber liegt, wird von der Krankenkasse voll übernommen.
Was auch wichtig ist: Dieser Selbstbehalt oder Eigenanteil, den der Versicherte nach der Überforderungsklausel zu tragen hat, wird für die Familie insgesamt nur einmal berechnet. Diese 2 % werden also nicht für den Ehegatten und für jedes Kind angesetzt, sondern für alle Familienangehörigen nur einmal und gemeinsam. Diese Überforderungsklausel ist völlig neu im deutschen Krankenversicherungsrecht. Sie ist ein echter Fortschritt in der sozialpolitischen Entwicklung.
Wenn Sie jetzt Bürokratie sagen: Die Politik steht ja immer vor der Frage, ob sie es allgemein und global regeln will mit der Folge, daß dann Ungerechtigkeiten in den Einzelfällen auftreten, oder ob sie es auf den Einzelfall bezogen gerecht lösen will durch Einkommensgrenzen und Überforderungsklauseln mit der Folge, daß damit ein gewisser Verwaltungsaufwand verbunden ist. Gerade hinsichtlich des Gesundheitswesens muß ich sagen: Wenn ich die Wahl zwischen einfach oder gerecht habe, dann entscheide ich mich für die Gerechtigkeit. Deshalb ist die Überforderungsklausel ein Stück Fortschritt.
Das ist die eine Seite: Wer bringt das Einsparvolumen auf?Die andere Seite ist: Wer profitiert von dem Einsparvolumen? Ich kann nur noch einmal unterstreichen: Jede gesparte Mark kommt den Beitragszahlern und den Versicherten zugute. Wir sparen nicht für den Finanzminister.
Für die häusliche Pflegehilfe, für die verbesserte Vorsorge und für den Wegfall von Zuzahlungen werden 7 460 000 000 DM aufgewandt und für die Beitragssatzstabilität 6 340 000 000 DM. Das Sozialsystem wird nicht abgebaut — ich wiederhole das —, es wird umgebaut.Die Solidarität wird neu definiert. Einerseits ist es erforderlich, die Leistungen auf das Notwendige zu beschränken, andererseits ist es ebenso notwendig, neue Aufgaben zu lösen und Versorgungsdefizite zu beseitigen. Auch hier: Warum sagen Sie von der SPD der Bevölkerung nicht, daß das Krankenversicherungssystem heute deutliche Mängel aufweist,
weil es eben zu stark auf kurative Medizin ausgerichtet ist und zuwenig auf die Gesundheitsvorsorge? Es ist doch ein sozialer Fortschritt, wenn durch diese Gesundheitsreform Krankheiten verhindert werden; denn es ist billiger und menschlicher, Krankheiten zu verhindern, als sie zu heilen.Es ist doch ungerecht, wenn heute im Krankenversicherungssystem auch die geringfügigste Krankheit rundum abgesichert wird, aber das schwere Pflegerisiko jeder solidarischen Absicherung entbehrt. Deshalb führen wir die Pflegehilfe für die Schwerpflegebedürftigen ein.In diesem Zusammenhang möchte ich Sie mit einer Zahl konfrontieren, die der Wahrheit entspricht. Wer sich für die 25 Pflegeeinsätze und für die Urlaubsvertretung entscheidet, bekommt über die gesetzliche Krankenversicherung künftig eine Jahresleistung in Höhe von 10 000 DM. Um in der gesetzlichen Renten-
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Seehoferversicherung eine Jahresrente von 10 000 DM zu bekommen, müssen Sie als Durchschnittsverdiener 25 Jahre lang in die gesetzliche Rentenversicherung Beiträge einzahlen. Da kann man doch nicht davon reden, daß das sozialer Abbau ist. Das ist in der Familienpolitik der gewaltigste Fortschritt nach dem Krieg.
Ich verstehe auch überhaupt nicht die Diskussionen, wer das jetzt bezahlt: ob der Staat oder die Krankenversicherung. Für die Hilfebedürftigen draußen ist nicht wichtig, aus welcher Kasse diese Pflegehilfe fließt. Für sie ist entscheidend, daß nach jahrelanger Diskussion endlich eine Pflegehilfe gewährt wird.
Auch die Beitragssatzstabilität — das ist der dritte Bereich, für den wir das Einsparvolumen einsetzen — muß man unter sozialen Gesichtspunkten sehen. Die Qualität eines Sozialstaats beurteilt sich ja nicht nur danach, was der Staat an Sozialleistungen verteilt, sondern sie beurteilt sich auch danach, ob die Beiträge dafür angemessen sind. Die Beitragserhöhungen seit 1970 bis heute kosten den Beitragszahler, wenn er Durchschnittsverdiener ist, im Jahr 2 500 DM. Die eine Hälfte zahlt er über den Arbeitnehmeranteil. Der Arbeitgeberanteil fließt natürlich als Lohnzusatzkosten in die Preise ein. Höhere Preise treffen kinderreiche Familien am stärksten. Deshalb beurteile ich das Gebot der Beitragssatzstabilität nicht nur unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten. Beitragssatzerhöhungen sind nach meiner festen Überzeugung die unsozialste Form der Selbstbeteiligung, weil sie gerade die kinderreichen Familien besonders stark belasten.
Dieses Gesundheits-Reformgesetz ist in seinen Be-und Entlastungswirkungen gerecht und vernünftig gestaltet. Von einem Abkassierungsmodell, von sozialer Demontage oder gar von einer Zerstörung der sozialen Fundamente kann überhaupt keine Rede sein. Die gesetzliche Krankenversicherung bleibt auch in Zukunft im besten Sinne des Wortes eine soziale Krankenversicherung.Sie haben bis heute ein schlüssiges Konzept nicht vorgelegt. Sie können doch nicht sagen, wenn wir es in der gesetzlichen Krankenversicherung mit einem Volumen von 125 Milliarden DM zu tun haben, daß Sie über eine Alternative verfügen: Sie haben es sorgsam vermieden, der Bevölkerung zu sagen, wo Sie auch nur eine DM einsparen wollen.
Sie haben ein großes Kunststück vollbracht: Ich habe noch nie in meiner politischen Laufbahn erlebt, daß man kurz vor einer wichtigen Abstimmung von einem wesentlichen Verband, nämlich vom Bundesverband der Ortskrankenkassen, ein Schreiben bekommt, in dem man nicht aufgefordert wird, die Maßnahmen der Koalition oder der Regierung abzulehnen, sondern in dem man aufgefordert wird, die Änderungsanträge der Opposition abzulehnen.
Der AOK-Bundesverband, der Geschäftsführer Herr Dr. Oldiges, schreibt den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 2. November:Die Änderungsanträge der SPD-Fraktion zu den organisationsrechtlichen Dingen sind in sich nicht schlüssig.Der Brief schließt dann mit dem ausdrücklichen Appell:Wir möchten Sie deshalb mit Nachdruck darum bitten, den oben genannten Änderungsanträgen der SPD-Fraktion nicht zu folgen.
Ich bin als Bayer von unserer Opposition im Bayerischen Landtag einiges, viel gewohnt. Aber ein solches Kunststück hat auch die dortige Opposition, hat der Kollege Hirsemann in München noch nicht fertiggebracht. Man lernt also in der Politik immer wieder dazu.
Man kann darüber noch schmunzeln. Ich bin aber darüber betroffen, daß Sie in all den letzten Monaten und Wochen und auch heute wieder im Grunde völlig skrupellos mit Verdrehungen, Halbwahrheiten und einem gehörigen Hetzpotential chronisch Kranke, Rentner und ältere Mitbürger verunsichert haben und daß Sie Angst bei diesen Menschen geschürt haben, Angst mit Argumenten, die den Fakten in diesem Gesetz nicht standhalten.
Ihnen ist für Ihre parteipolitischen Zwecke jedes Mittel recht.
Aber ich bin der vollen Überzeugung — deshalb bestreite ich die Diskussionen draußen vor Ort auch sehr gelassen —, daß diese Kampagne genauso wie jede Kampagne seit 1982 ihr Ziel verfehlen wird. Seit Jahren fällt der SPD bei jeder sozialpolitischen Diskussion nichts anderes ein als die sattsam bekannten Parolen von der sozialen Demontage, vom sozialen Abbau, von der Umverteilung von unten nach oben.
— Mittlerweile haben Sie die Begriffe ausgewechselt: An Stelle von „Demontage" heißt es jetzt „Abkassierungsmodell". — Ich bin deshalb bei diesen Kampagnen so gelassen, weil sie scheitern müssen. Sie scheitern deshalb, weil das Geschwätz vom sozialpolitischen Rückschritt mit der Realität nichts zu tun hat.
Wenn ich einmal die Sozialpolitik seit 1982 bis heute verfolge, kann ich mit Fug und Recht feststellen: Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik
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7882 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
SeehoferDeutschland wurde mehr für die soziale Sicherheit ausgegeben als heute. 1982 waren es 524 Milliarden DM, heute sind es 658 Milliarden DM. Wenn man das umrechnet auf pro Kopf der Wohnbevölkerung, kommt man zu dem Ergebnis: Damals 8 500 DM pro Kopf der Wohnbevölkerung für soziale Sicherheit, heute 10 753 DM. Ich nenne nur die markantesten Punkte: 18 Milliarden DM für die Familien. Dazu kommen strukturelle Verbesserungen in der Kriegsopferfürsorge. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ist von damals zwölf Monate auf heute 32 Monate für ältere Arbeitslose verlängert worden. Jetzt setzen wir die Pflegehilfe durch, die nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in Europa, ja, weltweit ihresgleichen sucht.Meine Damen und Herren, all dies unterstreicht unsere sozialpolitische Kompetenz. Ich bin ganz sicher, daß Ihre Kampagnen ins Leere gehen werden und daß sie, bezogen auf das Jahr 1990, ihr Ziel verfehlen werden.
Meine Damen und Herren, die Gesundheitsreform ist sozial ausgewogen. Sie wird dazu beitragen, daß unser Gesundheitswesen, das zu den besten in der Welt gehört, auch künftig leistungsfähig und finanzierbar bleibt. Nicht Besitzstandsdenken, sondern rechtzeitige Reformen sichern die Zukunft unserer Sozialversicherung. Sie sichert aber nicht nur die Finanzierbarkeit des Systems, sondern sie gewährleistet auch eine Versorgung auf einem sehr, sehr hohen Niveau.Wenn man die Frage stellt, worin eigentlich der wichtigste Erfolg dieser Gesundheitsreform besteht, dann möchte ich antworten, daß wir mit dieser Reform einen ganz entscheidenden Schritt zur sozialen Zukunftssicherung unseres Landes tun. Jeder kann sich darauf verlassen: Wenn er krank wird, wird er auch künftig jede erforderliche Hilfe erhalten. Jedermann, ganz gleich, welches Einkommen er bezieht, welchem sozialen Stand er angehört, wird auch in der Zukunft Zugang zu den modernsten medizinischen Einrichtungen unseres Landes haben.
Bezugnehmend auf die Kampagnen, die wir ja bei allen Reformen in dieser Legislaturperiode erlebt haben und noch erleben werden — übrigens in einem Reformstau, den uns die Opposition hinterlassen hat —,
schließe ich mit der Bemerkung, daß die Menschen — übrigens genauso wie bei der Steuerreform, bei der die Menschen merken werden, daß sie in Wirklichkeit mehr erhalten, als immer behauptet wird — in der Realität erleben werden, daß die Gesundheitsreform wesentlich weniger Beeinträchtigungen und Belastungen für die Bevölkerung mit sich bringt, als Sie ihnen immer glauben machen wollen.Ich bedanke mich.
Der Abgeordnete Wüppesahl wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Ich erteile Ihnen das Wort.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle einen Antrag zur Geschäftsordnung.
Diesem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Auf Grund einer Vorsprache bei der vor Herrn Westphal präsidierenden Kollegin Frau Annemarie Renger war mein Redebeitrag nach der ersten Runde angesetzt. Es folgten dann noch zwei andere Redner von CDU und SPD, was ich auf Grund der Fraktionsstärken auch für vernünftig halte. Daraufhin ist mein Redebeitrag noch einmal weiter nach hinten verschoben worden. Zum viertenmal sind weitere vier Rednerinnen dazwischen gesetzt worden.
Ich stelle deshalb den Antrag, daß mir die Möglichkeit gegeben wird, nach der Kollegin Frau Unruh, die sogleich das Wort zur Sache ergreifen kann, auch endlich zur Sache reden zu können.
Ich möchte Sie darüber informieren, daß ich mit dem in bezug auf meine Person praktizierten Verfahren nicht einverstanden bin. Mir wird auch nicht mitgeteilt, daß mein Redebeitrag weiter nach hinten verschoben wird.
— Ich erfahre das durch Zufall oder wenn ich über mein Büro nach draußen ans Telefon gerufen werde.
Dieses Verfahren ist in der Tat unseriös und einfach auch unkollegial. Das muß nicht sein.
Ich habe auch Verständnis dafür, wenn Sie — oder wer auch immer das zu verantworten hat — grundsätzlich etwas dagegen haben, daß ich meine Zielsetzungen in der Sache hier darlege. Aber es kann nicht angehen, daß meine Konkurrenzsituation Ihnen gegenüber durch solche schikanösen Vorgehensweisen noch weiter verschlechtert wird.
Ich bitte Sie daher, mir die Möglichkeit zu geben, die 15 Minuten Redezeit, die mir zustehen, nach der Rede von Frau Unruh in Anspruch nehmen zu dürfen.
Meine Damen und Herren, die Auskunft, die Herr Kollege Wüppesahl hier gegeben hat, stimmt nicht ganz. Es ist so, daß Frau Präsidentin Renger eine Zusage gegeben hat, ihn dranzunehmen, aber nicht nach der ersten Runde. Eine Einordnung muß schon erfolgen. Nur, ich bin hier in der Verantwortung, Einordnungen unter Berücksichtigung der Tatsache vorzunehmen, daß es — außer Herrn Wüppesahl — 517 Abgeordnete gibt,
die gleiche Rechte haben. Ich bin noch nicht einmal soweit gewesen, für die GRÜNEN, die kleinste Fraktiondes Hauses, bis jetzt mehr als einem Redner das Wort
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7883
Vizepräsident Westphalerteilen zu können. Er ist nun wirklich kleiner als die kleinste Fraktion.
Er ist ein einzelner Abgeordneter. Er wird ordentlich eingeordnet, davon können Sie ausgehen.Er hat einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, ihn nach der nächsten Rednerin einzuordnen. Gibt es noch Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? — Herr Bohl, bitte schön.
Herr Präsident, wir sind der Auffassung, daß die von Ihnen vorgesehene Reihenfolge im Einklang mit § 28 der Geschäftsordnung steht und keineswegs schikanös ist. Wir sind deshalb der Meinung, daß der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt werden muß.
Gibt es weitere Wortmeldungen? — Das ist nicht der Fall.
Dann stelle ich den Antrag des Abgeordneten Wüppesahl, als Redner nach der nächsten Rednerin eingeordnet zu werden, zur Abstimmung. Wer dafür stimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Der Antrag ist abgelehnt worden.
Ich fahre daher in der Reihenfolge fort. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Herr Präsident! Liebe Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Herr Minister Blüm! Es steht außer Frage, daß eine Kostenexplosion im sogenannten Gesundheitswesen stattgefunden hat. Nur: Haltet den Dieb! Wer ist es denn? Ich glaube, das, was sich die Koalition ausgedacht hat, fängt nicht die Menschen, die die Verursacher dieser Kostenexplosion sind. Wenn Sie, Kollege Seehofer der CDU, vorhin ein Beispiel einer sozialen Gerechtigkeit angeführt haben, z. B. daß ein Mensch, Arbeitnehmer, in der Arbeiter- oder Angestelltenversicherung 25 Jahre Rentenbeiträge einzahlen muß, um dann 10 000 DM Rente im Jahr bekommen zu können, dann ist das genau so ein Punkt der sozialen Ungerechtigkeit wie die Tatsache, daß dieses Thema bei den Beamten usw. anders läuft. Darauf komme ich gleich noch.Herr Minister Blüm entdeckt immer wieder die kleinen Leute. Das finde ich auch gut. Langsam kommt bei ihm vielleicht das Bewußtsein, wofür er in erster Linie dazusein hat. Davon ist aber diese Gesundheitsreform meilenweit entfernt. Herr Dr. Becker, daß Sie sich wirklich erdreisten, die Fraktion DIE GRÜNEN dermaßen teuflisch einzustufen, das habe ich bis vorhin, als ich es vor Stunden gehört habe, nicht erwartet.Gerade die GRÜNEN haben ein Konzept vorgelegt. Alle müssen in diese Gesundheitsreform reinzahlen. Alle können daraus profitieren oder eben nicht. Festbeträge werden hier genannt. Das hört sich im ersten Moment auch toll an. Wir müssen der Pharmaindustrie nämlich ein Pari besonderer Art bieten, die gerade von der FDP usw. auch gefördert wird.Nun, lassen wir das alles! Lassen Sie uns mit klaren Worten hier sprechen: Wie wollen Sie das denn schaffen, Herr Dr. Becker oder Herr Minister? Das mit den Festbeträgen hört sich auch toll an, nur es fragt sich, wie das beim Arzt in der Praxis aussieht.
Erstmal kommt das in zwei Jahren, wenn wir Glück haben. Bis dahin ist erstmal Rezeptgebühr besonderer Art zu bezahlen.
In der Praxis sieht es so aus: Ich bin nun wieder beim Beispiel der berühmten Rentnerin. Die meisten alten Menschen sind nun mal alleinstehend, und diese sitzt voller Vertrauen beim Arzt in der Praxis, und der sagt: Oh Gott, Sie sind schon 20 Jahre in meiner Behandlung. Jetzt haben wir da so eine Festpreisregelung usw. Holen Sie mal dieses Medikament. Ich kann das an und für sich nicht ohne Hinweis verschreiben. Aber sehen Sie mal, das ist außerhalb der Festpreisregelung. Das kostet zwar ein bißchen mehr, aber ich meine, das ist das Neueste auf dem Markt, und das könnte doch für Sie gut sein. Selbst das unterbinden Sie nicht, Herr Minister. Sie müßten dann verbieten, daß überhaupt noch Pharma-Vertreter zu den Kassenärzten hin dürften, um sie zu belabern, und daß der Kassenarzt den alten Menschen dann vielleicht noch solche Medikamente nahelegt. Überlegen Sie mal, Sie wären 70 oder Sie wären 80. Da haben Sie andere Todesahnungen als dann, wenn Sie 40 oder 50 sind. Da gehen Sie und nehmen das Letzte vom Sparkassenbuch, um vielleicht doch noch ein paar Jahre leben zu können. — So geht es wirklich nicht.Was noch schlimmer ist: Es ist doch bekannt, daß gerade unsere Ärzte Leute tablettensüchtig gemacht haben, und zwar gerade alte Menschen. Es heißt immer, daß man im Haushalt verstorbener alter Menschen einen Sack Tabletten finden könne. Ja, woher ist denn der Sack Tabletten? Schaffen Sie mal ein ganz besonderes Seminarprogramm für Ärzte, für Kassenärzte, damit sie endlich wissen, daß sie mit Tablettenverordnungen vorsichtig sein müssen.
Davon lese ich nirgendwo etwas.
Sie treiben das böse Spiel so weit, daß Sie sogar sagen: Halt, Patient, du stehst in der Verantwortung; sei vorsichtig und überlege, ob du überhaupt zum Arzt gehst oder nicht.Eines fehlt vollkommen. Wo sind die Rechte der Patienten? Wo sind die Schutzrechte? Sie wollten alle möglichen Kammern einsetzen. Aber Sie haben nicht im Traum daran gedacht, wie viele Hunderttausende Kunstfehler-Patienten es überhaupt in dieser unserer Bundesrepublik gibt, die von Ärzten versaut worden sind, die letztlich von einem Facharzt zum anderen Facharzt geschoben werden. Nicht eine Schutzklausel ist in dem Entwurf.Ich würde mich auch schämen, hier von Solidarität zu sprechen. Was ist denn das Beamtenbeihilfewerk? Ist das Solidarität besonderer Güte? Ich habe diesen Herrn Soundso aus dem Innenministerium hören müs-
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7884 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Frau Unruhsen. Das war ja entsetzlich. Das hat ja selbst Sie entsetzt.
— Ich komme auf den Namen nicht.
Ich wollte einen noch viel Höheren da haben, weil der Mann so einen Blödsinn erzählte,
daß sogar Sie ganz erstaunt waren, warum das Beamtenbeihilfewerk überhaupt nicht angepackt werden darf.
Sie sagen — das können Sie im Bericht nachlesen — : Auch wir, CDU/CSU und FDP, empfinden das als bösartig. — Für Sie sieht Politik aber so aus: Ich empfinde das, aber hier hebe ich nicht die Hand hoch, damit nichts passiert.
Es ist immer so: Draußen tönen Sie herum, und hier im Bundestag entscheiden Sie das ganz anders.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Nein, davon nehme ich überhaupt nichts zurück. Das glauben Sie mal.
Frau Kollegin, das war doch ein schöner Schlußsatz, den Sie gesprochen haben.
Ich möchte Kollegin Wilms-Kegel für ihre viele Arbeit danken. Aber ich sehe es nicht als Beleidigung für den Minister an — das hat irgend jemand gesagt — —
Frau Kollegin, bevor Sie in die Definition dessen eintreten, zu dem ich als Präsident von hier oben etwas zu sagen hätte: Machen Sie lieber Schluß. Sie sind über eine Minute über die Zeit.
Ja, Sie haben ja recht. Aber ich habe von meiner Fraktion ein Recht eingeräumt bekommen. Die geben mir jetzt noch Zeit für einen Schlußsatz.
Ich finde, „Clown" ist keine Beleidigung. Überlegen Sie wirklich einmal, Herr Minister, wie Clowns unsere Welt schöner machen,
wie Clowns uns in irgendeine Phantasiewelt hineinversetzen. Sie aber machen Gespenstergeschichten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich hätte ich mir für diesen Tag auch einen Gesetzentwurf der SPD vorgestellt. Dann hätten wir wirklich Möglichkeiten, Vergleiche zu ziehen
und vernünftige Diskussionen führen zu können.
Sie haben uns kein geschlossenes Konzept vorgelegt. Sie haben uns nicht gesagt, wie wir die Beiträge stabilisieren können.
Mit Ihrem Plädoyer für ein zentralistisches Gesundheitswesen und Positivlisten haben Sie entlarvend festgelegt, daß es Ihr Ziel ist, das freiheitliche Gesundheitswesen, die freiheitlichen Strukturen durch ein gigantisches bürokratisches System zu ersetzen.
Wir wollen jedoch diese alte Struktur, diese verkrustete Struktur durch marktwirtschaftliche Steuerungselemente ersetzen. Wir haben im Laufe des Verfahrens unseren Gesetzentwurf modifiziert. Wir haben die Bedenken aufgenommen, die vom VdK kamen. Wir haben die Bedenken aufgenommen, die von seiten der Rentner und der chronisch Kranken kamen. Wir haben die Sterbehilfe geändert. Wir haben die Überforderungsklauseln verbessert. Alle diese Punkte tragen zu diesem Konzept bei.
Daher, meine ich, ist es an der Zeit, nicht länger einen Gegensatz zwischen Versicherten und Leistungserbringern, wie Sie es tun, zu konstruieren.
Wir haben von Anfang an nicht verschwiegen, daß alle Beteiligten Opfer bringen müssen. Wir haben die Finanzierung offengelegt. Ehe Sie den politischen Mut hätten, den Bürgern Unpopuläres zu sagen, versprechen Sie lieber Unfinanzierbares. Sanierungslast und Sparzwang werden nicht nur den Patienten aufgebürdet, sondern auch die Anbieter von Leistungen werden stärker den Regeln des Marktes unterworfen.Wir verkennen nicht, daß gerade im ambulanten Bereich ernstzunehmende Überkapazitäten vorhanden sind, ernstzunehmend, weil nachweisbar ist, daß mit der Zunahme der Zahl von Leistungserbringern die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steigen. Nach unserer Auffassung wäre es aber eine falsche Politik, hier Closed Shop zu machen. Ich weiß, daß diese Closed-Shop-Politik teilweise von der Ärzteschaft gefordert wird. Ich frage mich aber: Was wäre dann mit der Freiberuflichkeit? Statt auf eine Abschir-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7885
Dr. Thomaemung hinzuwirken, muß dafür gesorgt werden, daß der unheilvolle Automatismus von Kapazitätsentwicklung und Ausgabenentwicklung unterbrochen wird.
Herr Abgeordneter — —
Sofort.
Das ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb wir gerade in diesem Bereich Wirtschaftlichkeitsprüfungen einführen.
Bitte schön, wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird.
Nein, auf keinen Fall. Bitte schön, Herr Kollege Kuhlwein.
Herr Kollege Thomae, wollen wir das Geheimnis der doppelten rechten Hand in Zukunft so deuten, daß von den Versicherten jetzt zweimal kassiert wird?
Herr Kuhlwein, Sie waren zu Anfang der Diskussion vielleicht nicht anwesend. Es wurde eindeutig gesagt: Es werden Gelder eingespart, und diese Gelder werden unter den Beteiligten verteilt. Sie fließen zum einen in die Beitragssenkung und zum anderen in die Pflege.
Wir werden die Wirtschaftlichkeitsprüfung gerade im ambulanten Bereich einführen, damit hier die Mängel beseitigt werden können. Wir haben aber besondere Vorkehrungen getroffen, daß die Wirtschaftlichkeitsprüfungen nicht zum Selbstzweck und zur Dauerbeschäftigung von Prüfern werden. Aus diesem Grunde haben wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens die Quote gesenkt.
Wir Freien Demokraten sind dafür bekannt, daß wir Mißtrauen gegen Bürokratie und gigantische Organisationsstrukturen haben. Deshab wurden auch die ursprünglichen Pläne im medizinischen Dienst nicht verfolgt, sondern es wurden vernünftige Reduzierungen durchgeführt,
so daß der medizinische Dienst auch heute noch vernünftige Aufgaben übernehmen kann.
— Das war schon vorher geregelt, Herr Jaunich.
Wir haben sehr lange über die Ausgrenzung unwirtschaftlicher Arzneimittel diskutiert. Wir haben uns für 300 Millionen entschieden. Wir haben aber sichergestellt, Frau Wilms-Kegel, daß die Naturarzneimittel, bei denen der Wirkungsnachweis bekanntlich nicht mit den gängigen wissenschaftlichen Methoden führbar ist, dabei nicht diskriminiert werden.
Insgesamt wird den Naturheilmitteln — anders als in der jetzigen RVO — im Gesundheitsreformgesetz ein besonderer Stellenwert zugeschrieben. Dies liegt fest.
Das war für uns ein wichtiges Anliegen.
Daher finde ich es etwas scheinheilig, wenn sich die SPD beispielsweise zur Verfechterin der Naturheilmittel aufschwingt,
aber gleichzeitig Positivlisten fordert.
— Moment! Die meisten mir bekannten Positivlisten enthalten aber weniger als 2 000 bis 3 000 Arzneimittel. Wir haben gegenwärtig 50 000 Naturheilmittel. Ich frage Sie: Wie wollen Sie sie in einem vernünftigen Umfang im Rahmen einer Positivliste berücksichtigen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich?
Ja. Vizepräsident Frau Renger: Bitte.
Herr Kollege Thomae, ist Ihnen entgangen, daß in unserem Vorschlag ausdrücklich die Berücksichtigung der besonderen Therapierichtungen enthalten ist, und ist Ihnen außerdem entgangen, daß diese Gleichstellung von Chemotherapie und Naturheilkunde durch Sozialdemokraten und Freie Demokraten im AMG 1976 festgeschrieben worden ist?
Herr Jaunich, wenn Sie die Arzneimittel in der Positivliste auf 2 000 bis 3 000 reduzieren und dem 50 000 Naturheilmittel gegenüberstehen, so muß automatisch in Ihrer Lösung den Naturheilmitteln weniger Bedeutung eingeräumt werden.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Nein. Ich möchte jetzt gern weitersprechen. Vielleicht am Ende, wenn noch eine Minute Zeit ist.
Lassen Sie mich bitte noch mit einem Wort zu den Festbeträgen kommen, die für mich im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. Ich meine, die Ergänzungen, die wir vorgenommen haben, insbesondere bei der Regelung der
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7886 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Dr. Thomaepatentgeschützten Arzneimittel, tragen den forschungs- und innovationspolitischen Erfordernissen wirklich Rechnung.Ich habe trotzdem Verständnis für die Unsicherheit, die bei den Herstellern, den Kassen, den Versicherten über die Festbeträge herrscht. Es ist ein neues Instrument, das sich erst bewähren muß. Daher haben wir in diese Entschließung einen Erfahrungsbericht eingebaut, der 1992 vorgelegt werden muß. Dann werden wir Bilanz ziehen.Eim Bereich, der überproportional zu den Einsparungen beitragen muß, ist die Versorgung mit Zahnersatz. Zahnersatz ist wie kaum eine andere Leistungsart vermeidbar, wenn entsprechende Vorsorge betrieben wird.Aber das geschieht nur dann, wenn wir wirkliche Anreize schaffen. Deshalb die Regelung der erhöhten Zuzahlung und deshalb — das war eine besondere Forderung — das Belohnungsprinzip im Rahmen der Prophylaxe. Gerade am Beispiel des Belohnungsprinzips können Sie erkennen, daß wir neue Elemente in dieses System eingebaut haben. Der behutsame Umgang mit der Gesundheit wird also belohnt werden.Auch das Zahntechnikerhandwerk wird bei der Festlegung der Vergütung der zahntechnischen Leistungen und bei den Qualitätskriterien besser berücksichtigt.
— Gegenüber der RVO. Das wissen Sie ganz genau.Wir verkennen an dieser Stelle nicht, daß das Zahntechnikerhandwerk infolge der angekündigten Zuzahlungen bei Zahnersatz zur Zeit fast Übermenschliches leistet. Eine andere Übergangsregelung hätten wir uns sehr gewünscht. Sie wissen — und viele sagen es — : Die FDP hat schon fast zu viel durchgesetzt. In diesem Rahmen konnten wir mit den Koalitionspartnern nicht weiterkommen.
Meine Damen und Herren, mit den Pflegeleistungen wird der gesetzlichen Krankenversicherung eine ganz neue Aufgabe übertragen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß dieser Bereich für die FDP kein einfacher Bereich war und die Entscheidung sehr schwierig war. Die gesetzliche Krankenversicherung kann im Rahmen ihrer Zuständigkeit nur einen begrenzten Bereich abdecken und einen begrenzten Beitrag leisten.Wir verkennen nicht, daß die Abgrenzung zwischen Pflegefall und Krankheitsfall sehr problematisch ist. Es gibt eine Zuständigkeit der Kassen dort, wo Krankenhausaufenthalte durch die verbesserten Leistungen für die häusliche Pflege verkürzt oder ganz und gar vermieden werden. Mit der gesetzlichen Begrenzung der im einzelnen vorgesehenen Leistungen und mit der Abgrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises sind für die FDP zwei wichtige Vorkehrungen getroffen worden, damit diese Pflegefallabsicherung nicht zu einem unkalkulierbaren Risiko wird.Das, was wir in diesem Gesetzentwurf jetzt vorsehen, ist für uns der maximale Beitrag der Krankenversicherung. Eine Ausweitung der Leistungen auf die stationäre Pflege, für die die Krankenkassen nicht zuständig sind, wäre unverantwortlich. Unverantwortlich — weil nicht finanzierbar — wäre auch die Übertragung der Zuständigkeit des Pflegerisikos auf den Staat. Durch die eigenverantwortliche Fürsorge und Vorsorge für den Fall der Pflegebedürftigkeit muß grundsätzlich und vorrangig der einzelne verantwortlich sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die stationäre Versorgung und die Organisation des Krankenversicherungswesens sind nicht in dem Maße in die Reform mit einbezogen worden, wie es eigentlich notwendig wäre. Beide Bereiche werden Gegenstand der nächsten Reformschritte sein.
Das ist im Kabinett vereinbart, und dies wurde auch durch die Verlängerung der Frist für die Enquete-Kommission noch einmal deutlich gemacht.
Die Krankenhausversorgung ist Hochleistungsmedizin. Die in unseren Krankenhäusern tätigen Ärzte und das Pflegepersonal leisten großartige und international anerkannte Arbeit. Das hat natürlich seinen Preis. Um so wichtiger ist es aber, daß ambulant soviel wie möglich und stationär nur soweit wie unbedingt notwendig versorgt wird. Die knappen Mittel müssen wirklich auf die notwendigen Fälle begrenzt werden. Dazu ist eine personelle Verzahnung zwischen den niedergelassenen Ärzten und dem Krankenhaus notwendig. Die gemeinsame Selbstverwaltung von Kassen, Kassenärzten und Krankenhäusern wird in der vorstationären Diagnostik und nachstationären Behandlung das Nähere festlegen und regeln. Dies ist auch ein Beweis dafür, wo wir die Selbstverwaltung in die Pflicht nehmen wollen.Im nächsten Jahr wird der Erfahrungsbericht zum neuen Krankenhausrecht vorliegen. Kernproblem ist hier das Selbstkostendeckungsprinzip. Auch in seiner modifizierten Form fördert es nicht die Wirtschaftlichkeit. Es ist keine Kunst, Kosten zu produzieren, diese nachzuweisen und sich diese dann erstatten zu lassen. Zu mehr Wirtschaftlichkeit in der stationären Versorgung werden wir deshalb erst dann gelangen, wenn wir von diesem Selbstkostendeckungsprinzip wegkommen. Erst dann, wenn die Verantwortung für die Kapazitäten, für die Investitionen und für die Nutzung in einer Hand liegt, wenn wir also von dieser dualen Krankenhausfinanzierung weg und hin zur monistischen Krankenhausfinanzierung kommen, werden wir vernünftige Kostengrößen haben.
Auch das Organisationsrecht ist in der Gesetzesvorlage nicht völlig ausgeklammert worden. Wettbewerbsverzerrungen im Beitragsrecht werden beseitigt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden in Zukunft grundsätzlich bei jeder Kasse den halben Beitragssatz zahlen. Für Arbeiter wird die Versicherungspflichtgrenze eingeführt. Die Rückkehr in die Solidargemeinschaft wird erschwert.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7887
Dr. ThomaeMeine Damen und Herren, ich meine, es ist ein Fortschritt, daß wir Erprobungsregeln eingebaut haben. Hier haben die Kassen Möglichkeiten, besondere Leistungen anzubieten. Dabei wird sich zeigen, ob die einzelnen Möglichkeiten sinnvoll sind oder nicht. Wir sind beispielsweise davon überzeugt, daß sich die Kostenerstattung bewähren wird.Unter Wahrung der Wirtschaftlichkeitsgrundsätze können die Kassen jetzt unabhängiger und freier Gesundheitsleistungen anbieten, und sie schaffen z. B. ebenfalls Voraussetzungen dafür, daß die Selbsthilfegruppen weiterhin unterstützt werden können.Soweit die Kassen bisher psychotherapeutische Leistungen über Kostenerstattung abgerechnet haben, werden sie dies auch in Zukunft tun. Eine andere Entscheidung in diesem Bereich sollte erst fallen, wenn ein Psychotherapeutengesetz geschaffen worden ist.
— Recht bald.
Ich habe in der ersten Lesung angekündigt, daß wir den Gesetzentwurf hinsichtlich der Prüfung der Kassen nachbessern werden. Wir haben Wort gehalten: Es ist nachgebessert worden.
Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei den Kassen werden intensiviert. Eines wollen wir dabei jedoch nicht, nämlich daß der Bundesrechnungshof oder die Landesrechnungshöfe den Aufsichtsbehörden diese Arbeit abnehmen. Die gesetzlichen Krankenkassen sind keine staatsfinanzierten Institutionen; sie werden aus Beiträgen finanziert. Hier hat der Rechnungshof nichts verloren.Bei der Organisationsform wird der Wettbewerb zwischen den Kassen im Mittelpunkt stehen. Bei der Öffnung der Kassen wird die Einführung des Kassenwahlrechts für alle Versicherten der Kern der Organisationsform sein. Das ist unser Lösungsansatz für die zweifelsohne im System der gesetzlichen Krankenversicherung vorhandenen Verwerfungsprobleme.Wir wollen Wettbewerb; deshalb soll keine Kassenart diskriminiert werden. Deshalb müssen wir vernünftige Übergangsphasen schaffen. Ich weiß, daß dies nicht einfach sein wird. Ich erinnere an die Diskussion im Bundesrat.Das Nebeneinander von Vertragsrecht und Kassenarztrecht hat sich als innovativ und wettbewerbsfördernd erwiesen. Es hat für uns keinen Grund gegeben, Bestrebungen zur Vereinheitlichung nachzugeben. Auf Verwerfungsprobleme und zu große Beitragsunterschiede kann es nur eine Antwort geben, nämlich die Öffnung der Kassen, die Abkehr von der gesetzlichen Pflichtzuweisung. Statt Versicherungspflicht bei bestimmten Kassen wollen wir die Pflicht zur Versicherung im gegliederten System.
— Wir wollen das.
— Das sind unsere Wünsche.
Ich bin zuversichtlich, daß uns die Arbeit der Enquete-Kommission hier unterstützen wird.Das, was die Enquete-Kommission allerdings jetzt mit dem Zwischenbericht vorgelegt hat, konnte für diesen heute zur Diskussion stehenden Gesetzentwurf nicht hilfreich sein.
Die Enquete-Kommission hat in den entscheidenden hier zur Diskussion stehenden Fragen kein konsensfähiges Konzept vorgelegt.
Meine Damen und Herren, mit dieser Reform wird die hochwertige medizinische Versorgung sichergestellt, die Beitragssätze stabilisiert und der Beitragszahler entlastet. Ohne eine Reform aber steigen Ausgaben und Beitragssätze. Je länger wir dieses Problem vor uns herschieben, um so größer wird die Neigung zu dirigistischen Eingriffen. Dies zeigen uns deutlich die Alternativen der Opposition.
Mehr Bürokratie und totale Planung stehen unseren marktwirtschaftlichen Steuerungselementen diametral entgegen.
Wir haben dieses Reformgesetz geschaffen. Das ist in dieser Lage der erste vernünftige Schritt zu einer Reform. Wir wollen dieses freiheitliche Gesundheitswesen auf Dauer erhalten. Wir wollen die Finanzen auf ein solides Fundament stellen, und wir wollen im Gegensatz zu Ihnen vor allem die Therapiefreiheit, die freie Arztwahl, die Freiberuflichkeit und die Selbstverwaltung sichern. Das sind die Kernpunkte einer vernünftigen Reform.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Heyenn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es grenzt schon an Unverfrorenheit, wenn bei all den neuen bürokratischen Strukturen, die die Koalition schaffen will, den Sozialdemokraten, die vernünftige Grundlagen für die Gesundheitsversorgung erarbeiten wollen, Bürokratie vorgeworfen wird. Ich glaube, Herr Dr. Thomae, Sie sind hier mit der Wahrheit sehr liederlich umgegangen.
Eine zweite Vorbemerkung. Warum hat denn die Enquete-Kommission kein konsensfähiges Ergebnis vorgelegt? Warum haben Sie denn nicht das Zwischenergebnis der Enquete-Kommission zum Gegenstand der Beratungen im Ausschuß gemacht? Das will ich Ihnen sagen: Weil die fachkundigen Wissenschaftler in der Republik, die dort mitgearbeitet haben, ihre
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7888 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
HeyennHand nicht zu Ihrer Kürzungsarie, zu Ihrem Abkassierungsmodell zu Lasten der Versicherten reichen wollten. Sie haben dieses vernünftige Ergebnis der Enquete doch verhindert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thomae?
Herr Dr. Thomae, ich befinde mich gerade in der Anfangsphase; hinterher gerne.Sie haben, meine Damen und Herren, Ihre Reform unter das Motto gestellt: die Solidarität neu bestimmen. Ich muß Ihnen sagen, das klingt auf den ersten Blick interessant, weil das beim Leser doch den Eindruck erweckt, Sie wüßten, was Solidarität ist. Wenn der Leser das dann schluckt, dann tut er den nächsten Schritt und will nachschauen: Was heißt „neu bestimmen"? Wenn man aber in den Gesetzentwurf hineinsieht, kommt man sehr bald zu der Feststellung, daß bei Ihnen „Solidarität neu bestimmen" mit „Entsolidarisierung" übersetzt werden muß, denn die gute alte soziale Krankenversicherung schlagen Sie mit diesem Entwurf kaputt.
Wir Sozialdemokraten wissen im Gegensatz zu Ihnen, was Solidarität ist.
Wir haben in unserer 125jährigen Geschichte, Herr Bohl, gelernt, was Zusammenstehen und gegenseitige Hilfe bedeuten. Solidarität in diesem Sinne bedeutet nicht nur, daß sich die Schwachen zusammenschließen, um ihre Lage zu verbessern, sondern nach unserem Verständnis gehört auch dazu, daß die Stärkeren eine Verpflichtung gegenüber den Schwächeren haben
und sich mit ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten für die Benachteiligten einsetzen. Aus diesen Grundüberlegungen ist in Ihren Entwurf nichts eingeflossen. Für die soziale Krankenversicherung wurden diese Überlegungen zur Solidarität bisher in zwei Grundsätzen konkretisiert: erstens in dem Grundsatz, daß die Gesunden für die Behandlungskosten der Kranken einstehen, und zweitens in dem Prinzip der Beitragsbelastung nach Leistungsfähigkeit, das sich in einkommensproportionaler Beitragsleistung niedergeschlagen hat. Beide Prinzipien werden nun mit dieser Reform bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Durch Selbstbeteiligung und Leistungsausgrenzungen zahlen die Kranken für ihre Behandlung immer mehr selbst, und je schlimmer sie dran sind, je kränker sie sind, um so mehr müssen sie selbst bezahlen.Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, sollen die Gesunden durch Beitragserstattungen belohnt werden. Durch die Einführung der Versicherungsfreiheit für besser- und hoch verdienende Arbeiter sollen diese zum Austritt, zur Flucht aus der Solidargemeinschaft überredet werden. Das ist für uns der konsequente Weg in die Ellenbogengesellschaft, das ist für uns — wie soll ich das formulieren? — eine Gesundheitsreform nach Yuppie-Manier.
Das ist ein Skandal in einer Gesellschaft, die eine immer größere Belastung durch alte Menschen, Behinderte, chronisch Kranke und durch Umwelt- und Zivilisationskrankheiten Geschädigte zu tragen hat. Es ist ein Skandal, wenn Sie die Jungen, Gesunden und die Erfolgreichen immer mehr von der sozialen Pflicht, von der Solidarität entbinden. Für uns ist das eine Spaltung der Gesellschaft. Das ist eine Klassengesellschaft, der Sie hier das Wort reden und den Weg bereiten.
Die konkrete Konsequenz Ihrer Reform ist die weitere Verzerrung der Beitragssätze. Wenn wir heute einen durchschnittlichen Beitragssatz von 13 % haben, dann sorgen Sie dafür, daß die Gesunden in Zukunft nur noch 12 % zahlen und daß chronisch Kranke fast immer mit 15 To ihres Einkommens belastet werden. Beitragsrückerstattung und Selbstbeteiligung sorgen also dafür, daß der Kostenaufwand der Kranken um fast ein Viertel höher liegt als der Kostenaufwand der Gesunden. Das ist Ihre neu bestimmte Solidarität. Für mich ist das auf den Kopf gestellte Solidarität. Für mich ist das pervertierte Solidarität.
Gehen wir ins einzelne und betrachten wir den Versichertenkreis. Schon heute ist das Prinzip der Solidarität nicht so verwirklicht, wie es eigentlich sein sollte. Denn durch die Versicherungspflichtgrenze bei den Angestellten wird den besserverdienenden Angestellten die Möglichkeit eröffnet, aus der Solidargemeinschaft auszusteigen. Nun eröffnen Sie diese Möglichkeit auch für besserverdienende Arbeiter. Die wichtigste Forderung der Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, nämlich auch für Arbeiter die Wahlmöglichkeit zu schaffen, verweigern Sie konsequent. Daß heute noch Arbeiter zwangsweise bestimmten Kassen zugewiesen werden, während Angestellte schon immer mehrere Wahlmöglichkeiten hatten, ist ein Anachronismus, der jetzt beseitigt werden müßte. Diese fortgesetzte Diskriminierung der Arbeiter paßt nicht in unser System der sozialen Krankenversicherung.Aber bleiben wir bei der Frage nach dem Versichertenkreis. Nach geltendem Recht sind bestimmte Selbständige aus gutem Grunde pflichtversichert. Diese entlassen Sie aus der Pflichtversicherung, weil — so schreiben Sie — diese in eigener Verantwortung entsprechende Vorsorge treffen sollen. Das eigenständige Recht von Selbständigen mit unterem und mittlerem Einkommen, freiwillig in die Versicherung einzutreten, streichen Sie. Hier wird so getan, als gebe es keine schutzbedürftigen Selbständigen. Als Selbständiger wird hier offenkundig nur der erfolgreiche Unternehmensberater betrachtet, nicht aber der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7889
Heyennkleine Kaufmann, der kleine Gastwirt an der Ecke oder der Inhaber einer Würstchenbude. Diese Regelungen sind nicht nur formalistisch und unsolidarisch, meine Damen und Herren, sie sind auch zutiefst mittelstandsfeindlich.
Ich will zu einer dritten Personengruppe kommen, zu den Studenten. Wenn die Studenten über 30 Jahre alt sind und das 14. Semester überschritten haben, sollen sie nicht mehr versicherungspflichtig sein.
Fast 400 000 Studenten sind davon betroffen. Diskriminiert durch Ihre Regelung werden z. B. Frauen, die ihr Studium wegen der Kindererziehung unterbrochen haben, und werden Studenten, die auf Grund der in vielen Fächern miserablen Arbeitsmarktchancen eine Zusatzausbildung absolvieren. Wenn die Bundesregierung dann in die Begründung dieses Gesetzentwurfs hineinschreibt, sie wolle auch der Tendenz, das Hochschulstudium zu verlängern, entgegenwirken, ist das der reine Hohn. Was hat das mit Gesundheitsreform zu tun?
Hier hat blanke Ideologie Pate gestanden; denn Bedürfnisse der Krankenversicherung, diese 400 000 Studenten aus der gesetzlichen Krankenversicherung und ihrem Schutz zu entlassen, haben in keiner Weise vorgelegen.
Wir haben viele Briefe bekommen. Es ist Herrn Blüm ja auch gelungen, insgesamt drei positive Briefe in seinem Stapel von Zuschriften zu finden. Uns hat das Deutsche Studentenwerk geschrieben und diese Forderung abgelehnt.
Uns hat die Westdeutsche Rektorenkonferenz geschrieben. Uns haben die Studentenvertretungen vieler Hochschulen geschrieben. Uns hat auch der Studentenverband Ihrer eigenen Partei geschrieben, Herr Blüm, uns, den Sozialdemokraten. Dieser RCDS hat uns, die Sozialdemokraten, gebeten, alles zu unternehmen, damit dieser Teil der Gesundheitsreform abgelehnt wird. Mir scheint, es ist der Regierungspartei noch nicht gelungen, ihrem eigenen Nachwuchs zu erklären, was die CDU und diese Regierung unter Solidarität verstehen.
Die gesamten Änderungen im Mitgliedschaftsrecht der Krankenversicherung sind, meine Damen und Herren, ein einziges Förderprogramm für die private Krankenversicherung.
Hier tut sich ein wachsender Markt durch Privatisierung bisher sozial abgesicherter Risiken auf. Die Privatversicherungen haben die Zeichen der Zeit erkannt. Es gibt schon sieben Firmen, die sich bemühen, neu in diesen Markt hineinzukommen. Der enorme Aderlaß für die gesetzliche Krankenversicherung ist offenkundig programmiert.Wenn aber gute Risiken abwandern, dann wird das Finanzierungspotential der gesetzlichen Krankenkassen weiter geschwächt. Dann steigen die Beitragssätze, und dann wandern weitere Mitglieder ab. So geht die Spirale immer schneller und immer tiefer in den Keller. Den sozialen Ausgleich, die Grundidee der gesetzlichen Krankenversicherung, wirtschaften Sie so kaputt.Meine Damen und Herren, aber auch die schlechten Risiken werden in der privaten Krankenversicherung noch zum Geschäft gemacht. Allerdings gibt es dort dann Leistungsinhalte, die mit einem Ausweis für Billigmedizin gekennzeichnet sind. Diese Regierung schafft es also auch, selbst in der privaten Krankenversicherung eine Zwei-Klassen-Medizin einzuführen.Nun eine kurze Betrachtung, wie es denn mit den tragenden Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung aussieht.Vollversorgung, Beitragsfinanzierung nach Leistungsfähigkeit und Sachleistungsprinzip — die Worte kommen in Ihrem Entwurf noch vor; aber ihr Inhalt wird jeweils im zweiten Teil des Satzes zurückgenommen. Da heißt es in § 2:Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen ... zur Verfügung,und dann kommt die Einschränkung:soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden.Diese Eigenverantwortung, meine Damen und Herren, heißt dann: Negativliste bei Arzneimitteln, Streichung oder Absenkung des Sterbegeldes, bei den Arzneimitteln nur noch Zuschüsse in Form von Festbeträgen, Selbstbeteiligung bei Heilmitteln. Das heißt auch, daß wir im Straßenbild bald Bürger wieder an der typischen Kassenbrille erkennen können.
Vollversorgung? Das ist wohl Fehlanzeige.
Wie geht es mit dem Sachleistungsprinzip? Dazu heißt es im Gesetz:Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen,und dann wird verschämt hinzugefügt:soweit dieses Buch nichts Abweichendes vorsieht.Das Abweichende heißt dann: Fahrtkosten selber zahlen, Brillenreparatur selber zahlen, zum Zahnersatz nur noch einen geringen Kostenzuschuß bekommen. Das ist dann die Aufgabe des Sachleistungsprinzips.Über das dritte Prinzip, die Beitragsfinanzierung, habe ich schon gesprochen. Chronisch Kranke zahlen 2 % über dem Durchschnittsbeitrag, und Gesunde bekommen 1 % zurück.
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7890 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
HeyennDie Brechstange ist an alle Grundsätze der bisherigen Krankenversicherung angesetzt. Die gesetzliche Krankenversicherung wird auf das Blümsche Maß zurechtgestutzt. Das Versorgungsniveau wird heruntergefahren, und bei den Versicherten wird kassiert.Lachender Dritter bei diesem Entsolidarisierungsprogramm sind die privaten Versicherungen. Sie haben schon die richtigen Zusatzversicherungsmodelle bereit: die Krankenhaustagegeldtarife, die Sterbegeldversicherungen und die Auslandskrankenversicherungen. Hier öffnet sich ein weites Feld für private Unternehmer, vom Leistungsabbau der gesetzlichen Krankenversicherung zu profitieren. Auf der Strecke bleiben dann diejenigen — das verstehen Sie offenkundig unter neuer Solidarität — , die keine private Krankenversicherung mehr aufnimmt, weil sie krank sind. Auf der Strecke bleiben ferner diejenigen, die sich den Luxus dieser Finanzierung nicht mehr leisten können.Wenn Sie im übrigen von Solidarität reden, dann gibt es machmal gute Ansätze. Da gibt es einen Beschluß dieser Bundesregierung vom 27. April dieses Jahres. Darin heißt es: Der Bundesinnenminister wird beauftragt, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Verschlechterungen auf die Beihilfevorschriften zu übertragen. Der Bundesinnenminister hat bis heute das Blatt mit diesem Beschluß des Kabinetts nicht einmal in die Hand genommen. Es gibt keine Überlegungen, dies auf die Beihilfevorschriften zu übertragen.
Nun wünsche ich den Beamten diese Verschlechterungen nicht; aber hier zeigt sich ganz deutlich, daß Sie auch in diesem Bereich mit einem Zweiklassenrecht arbeiten wollen.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist eine einzige Entsolidarisierung. Dieses Gesetz macht das Sachleistungssystem kaputt. Es zerstört die Solidarität zwischen Kranken und Gesunden durch Selbstbeteiligung und Leistungskürzungen. Dieses Gesetz eröffnet den Weg, die Epoche der sozialen Krankenversicherung in der Bundesrepublik zu beenden. Deswegen können wir diesen Vorschriften nicht zustimmen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es war zwar wohltuend, daß der Kollege Heyenn hier sehr sachlich gesprochen hat. Trotzdem bin ich enttäuscht worden, denn er hat kein Konzept der SPD zur Gesundheitsreform vorgestellt, obwohl er schon der dritte Redner dieser Fraktion war.
Statt dessen haben wir die stereotype Wiederholung „abkassieren" gehört, ohne daß sich Herr Kollege Heyenn — das gilt auch für die Redner, die nach ihm kommen — , mit den Ursachen der Situation in der Krankenversicherung auseinandergesetzt hat.
Ich denke, es ist sinnvoll, daß darüber hier noch einmal gesprochen wird.Es geht in der Tat um die Erhaltung unserer sozialen Krankenversicherung, die ohne eine Reform, wie wir sie vorsehen, unbezahlbar würde, oder die Beiträge stiegen ins Unermeßliche. Aber wir brauchen diese hervorragende Krankenversicherung; deshalb dürfen wir sie nicht länger gefährden. Das gilt um so mehr angesichts des stetig wachsenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung. Das ist mit großen Herausforderungen an die sozialen Sicherungssysteme verbunden. Kollege Dreßler, es ist wirklich absurd, hier erneut von einer Zerstörung der Krankenversicherung durch unsere Reform zu sprechen.Meine Kolleginnen und Kollegen, leider dient die heutige abschließende Beratung der Reformgesetzgebung im Gesundheitswesen den Kritikern wiederum zu stereotypen Wiederholungen ihrer Ablehnung. Tatsache ist aber, daß sich die Koalition mit kritischen Einwänden aufgeschlossen auseinandergesetzt hat. Die Koalition hat im federführenden Ausschuß rund 200 Änderungsanträge zu diesem Gesetzentwurf beschlossen. Darunter befinden sich weitgehende inhaltliche Änderungen. Leider verschweigt die Opposition auch dieses. Wir folgen hiermit den Ergebnissen aus vielen Gesprächen, die wir geführt haben, und aus den Anhörungen, und wir folgen den Änderungsvorschlägen sachkundiger Personen.
Die SPD hat einerseits gerügt, der Gesetzentwurf schaffe zuwenig Transparenz im Gesundheitswesen und in der Krankenversicherung; andererseits hatte sie vorher behauptet, das Gesetz schaffe den gläsernen Patienten.
Dies geschah, Kollege Dreßler, übrigens unisono mit den diesbezüglichen Diffamierungen durch den Hartmannbund und ähnliche ehrenwerte Vereinigungen, denen es darauf ankommt, das Behandlungs-und Abrechnungsgeschehen möglichst undurchsichtig zu halten.
— Nein, ich möchte jetzt im Kontext fortfahren.
Die ganze Kampagne des Hartmannbundes, also des Verbands der niedergelassenen Ärzte, ist eine einzige Diffamierung. Den Patienten wird durch Aushänge in den Wartezimmern Angst gemacht. In Wahr-
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Güntherheit steht dahinter, daß der eigene Geldbeutel gemeint ist und nicht das Geld der Versicherten.
Es ist verdächtig, meine Damen und Herren, wenn man sich dagegen mit dieser Kampagne wehrt. Hier befindet sich die SPD übrigens in einer feinen Koalition, denn sie macht ebenfalls nicht an sachlichen Inhalten orientiert Stimmung, sondern eher auf Teufel komm raus.Meine Damen und Herren, wer das Konzept der Koalition sachgerecht beurteilen will, der muß die wirklichen Ursachen des Reformbedarfs beachten. Dabei muß man sich über die grundlegende Konstruktion und das Wesensmerkmal der sozialen Krankenversicherung im klaren sein. Sie hatten genügend Zeit, dies zu überdenken. Deshalb setzen wir die Maßnahmen schwergewichtig und zielgerichtet auf der Seite der Erbringer der Leistungen an. Wir wollen das Behandlungsgeschehen durchsichtiger, rationaler und auch überprüfbarer gestalten. Es geht um Menge und Umfang der Leistungen, deren unnötiger Ausweitung wir wirksam begegnen wollen. Dabei stehen im Vordergrund die Leistungserbringer; denn sie gewähren und veranlassen die Leistungen. Sie müssen deshalb verantwortlich entscheiden, was erforderlich ist und was nicht. Eine besondere Aufgabe kommt auch hier der Selbstverwaltung zu.Es hat keinen Sinn, demgegenüber den Vorwurf der bürokratischen Kontrolle zu erheben; denn die entsprechenden Aufgaben werden den Selbstverwaltungseinrichtungen und nicht der staatlichen Kontrollbehörde übertragen. Also: Stärkung der Eigenverantwortung. Eigenständige und freie Gesundheits- und Heilberufe sind in besonderem Maße zur Eigenverantwortung verpflichtet. Sie nehmen das ja erklärtermaßen auch für sich in Anspruch.
Also: Transparenz verwirklichen, Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung stärken. Dies ist eines der Grundkonzepte unserer Reform.Ein weiteres Instrument, das sich bei den Leistungserbringern nachhaltig auswirkt, sind die Festbeträge. Wenn zuvor von Menge und Umfang der Leistungen die Rede war, so geht es hier um deren Preis. Die Festbeträge werden den Preiswettbewerb verbessern, der im System der gesetzlichen Krankenversicherung bisher weit unterentwickelt war. Festbeträge wird es nur dort geben, wo der Versicherte die erforderliche Leistung zu einem günstigen Preis und ohne jede Zuzahlung erhalten kann. Deshalb sind dies auch keine Zuschüsse, sondern es ist die gesamte Leistung, die der Festbetrag erbringt.
Kollege Dreßler, Sie haben heute morgen in süffisanter Weise die Ersatzvornahme hier gerügt, die wir ins Gesetz hineingeschrieben haben, wenn die Beteiligten ihre Schularbeiten nicht machen. Sie sollten uns zustimmen, daß wir in bezug auf die Preisabsenkung Wert darauf legen müssen, daß die Festbeträge, die in großem Umfang auch möglich sind, auch wirklich schnellstmöglich eingeführt werden und keine Verzögerungen stattfinden. Nur für den Fall, in dem wir merken, daß beabsichtigte Verzögerungen eintreten, haben wir dieses Instrument der Ersatzvornahme ins Gesetz eingebaut. Das ist wohlkalkuliert und auch richtig.
Dort, wo wir nicht mit Festbeträgen arbeiten können, werden wir ab 1992 eine prozentuale Selbstbeteiligung einführen, bei der eine soziale Obergrenze gilt.Außerdem besteht eine Sozialklausel, nach der, wie bisher schon, sozial bedürftige Personen von Zuzahlungen befreit sind.Neu und ebenfalls zur Schonung der Versicherten bestimmt ist eine soziale Überforderungsklausel. Sie wird von den Kritikern bewußt stets verschwiegen.
Deshalb muß ich sie noch einmal hier wiederholen. Diese Überforderungsklausel bewirkt, daß bei anhaltender oder mehrfacher Erkrankung für den Fall wiederholter Zuzahlungen eine Obergrenze gezogen wird. Diese Obergrenze ist flexibel und richtet sich nach den Einkommensverhältnissen des Versicherten und seiner Familienangehörigen.
Die soziale Überforderungsklausel führt bei chronisch Kranken oder bei Behinderten in vielen Fällen zu einer Entlastung gegenüber den heute noch bestehenden Regelungen. Auch dies hat der Kollege Dr. Becker heute morgen schon eindrucksvoll nachgewiesen.
Die Opposition verschweigt bewußt diese Tatsache. Gerade chronisch Kranke sind oft auf die laufende Anwendung von Arzneimitteln und von Heilmitteln angewiesen und müssen zudem in vielen Fällen regelmäßig und mehrmals wöchentlich zu Behandlungen bei Ärzten oder anderen Heilpersonen fahren. Dadurch entstehen jährliche Kosten, die leicht auf Beträge von weit über 1 000 DM anwachsen. Heute müssen Sie diese Belastungen vollständig selbst tragen. Nach unserem Gesetzentwurf greift in Zukunft die Überforderungsklausel wirksam ein und schützt sie vor Überforderungen.
So wird beispielsweise ein Alleinstehender mit einem Durchschnittseinkommen von 36 000 DM im Jahr mit höchstens 720 DM im Jahr belastet. Das entspricht einer maximalen Zuzahlung von 60 DM im Monat.
Für Ehepaare vermindert sich dieser Betrag auf 50 DM, bei einem Ehepaar mit drei Kindern beträgt er noch 31 DM. Auch dies hat der Arbeitsminister hier in einem anderen Beispiel schon vorgetragen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dazu paßt auch die Polemik, die bei der Kostenerstattung
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7892 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Güntherbeim Zahnersatz auch heute wieder von der Opposition hier vorgetragen wurde.
Ich will deshalb, Kollege Dreßler —
Sie haben das ja heute morgen auch wieder vorgetragen — , einmal eindeutig sagen — ich komme dann auch auf Ihren Vorwurf zu sprechen, den Sie mir gegenüber deutlich gemacht haben — —
— Die Hoffnung wird sich für Sie als trügerisch erweisen. Aber ich werde Sie über das aufklären, was richtig ist.
Was also die Kostenerstattung beim Zahnersatz angeht, will ich deshalb eine deutliche Klarstellung vornehmen. Immer wieder wird den Bürgern einzureden versucht, sie müßten demnächst einen Kredit aufnehmen, weil sie beim Zahnarzt mit dem Teil in Vorlage treten müßten, den die Krankenkasse zu tragen hat.
Schon ganz früh, meine Damen und Herren — das können Sie selber nachlesen, aber Sie tun ja so etwas nicht, Sie polemisieren ja nur — , nach den Aussagen im Hearing am 20. Juni 1988,
ist von allen Krankenkassen auf meine Frage hin klargeworden, daß die Kassen bereit sind,
hier Regelungen zu treffen — keine Ratenzahlungen, sondern: Regelungen zu treffen, Kollege Dreßler, so daß der Versicherte mit dem Kassenanteil nicht in Vorlage zu treten hat.
Ich verbürge mich an dieser Stelle dafür.
Ich stelle deshalb noch einmal deutlich fest, daß sowohl die Krankenkassen als auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung bereit sind,
Regelungen zu vereinbaren, die eine Vorleistung des Versicherten ausschließen und zu entsprechenden Regelungen bei Ratenzahlungen für den Anteil des Versicherten kommen werden. Das haben Sie ja gerade noch einmal kritisiert.
Sie haben mich heute morgen aus der Zeitung insoweit falsch zitiert, als ich dies in der Tat gesagt habe. Richtig ist, wenn es irgendwo gestanden hat, daß Sie kritisierten, daß der Ausschuß keinen Beschluß darüber gefaßt hat. Das ist richtig. Das habe ich auch nicht gesagt.
Das konnte der Ausschuß auch gar nicht beschließen. Um es noch einmal deutlich werden zu lassen: Der Versicherte braucht zur Zuzahlung nicht vorher antreten, sondern er bekommt sein Geld vorher.
Weil wir gerade beim Aufräumen sind, will ich mich auch noch einmal mit dem Flugblatt beschäftigen, meine Damen und Herren, welches die SPD in jüngster Zeit verteilt. Für alle diejenigen, die es noch nicht gehört haben, muß ich wiederholen: „Ab 1. Januar 1989" — schreibt die SPD — „dürfen Sie nicht mehr krank werden."
Dies steht für sich, meine Damen und Herren. Die Bürger draußen werden selber beurteilen können, was das für ein Unfug ist.
Genauso ein Unfug ist es, wenn Sie dahinter die Feststellung treffen: „Bisher waren Sie gesetzlich ausreichend krankenversichert. " Damit erwecken Sie den Eindruck, daß das in Zukunft nicht der Fall ist.
— Herr Vogel, es ist auch in Zukunft der Fall, daß der Bürger ausreichend gesetzlich krankenversichert ist.
Dann kommen die Sozialdemokraten zu bemerkenswerten Erkenntnissen und Eingeständnissen. Sie rügen heute laufend, daß beim Patienten abkassiert werde.
Sie schreiben in Ihrem eigenen Flugblatt: „Jeder weiß: " — also selbst die SPD weiß es — „Es muß gespart werden." Das steht hier drin. „Aber richtig!" heißt es weiter, und dann kommt es: „Und alle" müssen sparen. Als erstes werden die „Patienten" genannt, bei denen wir angeblich abkassieren — die müssen also sparen — , dann: „Ärzte, Pharmaindustrie usw. sollten dabei sein. " — Meine Damen und Herren, sie sind in der Tat alle dabei,
insofern könnten sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Der zweite Punkt ist, daß Sie eine Reihe von Forderungen aufstellen, nach denen angeblich Ihr Konzept richtiger ist. Sie schreiben:
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GüntherWir wollen, daß Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung ausgebaut werden.
Genau das geschieht im Gesetz. Sie schreiben weiter:Wir wollen die Position der Krankenkassen und ihrer Verbände so stärken, daß sie die Interessen der Versicherten wirksam wahrnehmen können.Genau das geschieht im Gesetz.
Sie schreiben weiter:Wir wollen, daß sich die Kassen besser als bisher gegen die Anbieter von Gesundheitsleistungen,
zum Beispiel die Pharmaindustrie, behaupten können.Genau das geschieht mit den Festbeträgen im Gesetz. — Nein, die gestatte ich jetzt nicht. Sie wollen nur meinen Fluß kaputtmachen und beweisen, was Ihr Flugblatt alles bringt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Nein, ich fahre fort. Ich gestatte keine Zwischenfragen, Sie haben noch genug Redner, Herr Dreßler, um das zu korrigieren, wenn es nicht stimmt. Ich zitiere aus Ihrem eigenen Flugblatt:
Wir wollen, daß die Krankenversicherung finanzierbar bleibt und daß jeder — unabhängig von seinem Geldbeutel —— so heißt es hier —auf eine vernünftige gesundheitliche Versorgung vertrauen kann.Das ist alles in unserem Gesetz enthalten. Sie könnten ihm vorbehaltlos zustimmen.
Weil das so schön paßt, will ich auch noch auf einen anderen Punkt eingehen.
— Nein, es ist kein Flugblatt,
sondern es handelt sich darum, daß zwei Entschließungsanträge zum sogenannten Sterbegeld für Abgeordnete vorliegen. Ich denke, daß ich es übernehmen muß, für die richtige Aufklärung für die Abgeordneten, vor allen Dingen aber der Öffentlichkeit zu sorgen.
Zu diesem Thema ist in der Öffentlichkeit viel Unfug, Unrichtiges, auch Neiderzeugendes und auch Polemisches gesagt worden.
Ich will deshalb feststellen: Erstens. Wer als Abgeordneter einer Krankenkasse angehört, fällt genauso unter die Kürzung des Sterbegeldes wie jeder andere Versicherte.
Zweitens. Die darüber hinaus in § 24 des Abgeordnetengesetzes enthaltenen Leistungen sind Übergangsgelder für die Hinterbliebenen eines verstorbenen Abgeordneten. Diese Leistungen sind in 90 % aller Tarifverträge — meistens noch mit wesentlich besseren Leistungen — enthalten. Ich selbst habe eine bessere Leistung gehabt, bevor ich in den Bundestag kam, um das deutlich zu sagen.Ich räume ein, daß die Überschrift des § 24, die „Sterbegeld" lautet, zu Mißverständnissen führen kann. Aber wenn sich Abgeordnete daran beteiligen, diese Mißverständnisse noch zu schüren, ist das auch ein Verrat an ihren eigenen Familien.
Ich wollte das noch einmal ganz deutlich gesagt haben. Deshalb werden wir unserem Entschließungsantrag zustimmen, der vorsieht — um Sie zu beruhigen — , noch einmal eine Überprüfung vorzunehmen. Sie wird zum selben Ergebnis kommen, wie ich das hier und heute vorgetragen habe.
Wo sind nun eigentlich die Vorschläge der Opposition zur Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie zum Stoppen der Kostenexplosion im Gesundheitswesen?
Die Änderungsanträge, die die SPD in den Ausschußberatungen vorgelegt hat, führen zu einer Verminderung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Einsparungen in Höhe von 7,6 Milliarden DM und darüber hinaus zu zusätzlichen Ausgaben von über 2 Milliarden DM. Diese Rezepte der SPD sind daher zur Konsolidierung und zur Reformierung der Krankenversicherung kontraproduktiv.
Zum Beispiel wird versucht, den Eindruck zu erwecken, als gälte es nur, die Einkommen der Lei-
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7894 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Güntherstungserbringer zu vermindern, und als könnten die Versicherten auf diese Weise von Sparsamkeitserfordernissen verschont bleiben. Aber durch simple Einkommensabschöpfungen läßt sich dieses Problem nicht lösen.Jeder Ansatz, den wir zur Lösung des Problems bringen, wird von der Opposition mit dem Vorwurf des Sozialabbaus belegt. Ich weise das zurück, vor allen Dingen vor dem Hintergrund Ihrer Scheinalternativen, die Sie aufgebaut haben.Die Opposition orientiert sich nicht an den Sachfragen — das kann nicht oft genug gesagt werden —, die unbedingt im Sinne einer Lösung beantwortet werden müssen, sondern an ideologischen Ausgangspunkten. Danach ist alles im Gesundheitswesen und in der Krankenversicherung gut, was der Kollektivierung dient.Wenn wir den Versicherten, wie vorgesehen, entsprechend den geplanten Belastungen der Versicherten in vollem Umfang auch wieder neue Leistungen zukommen lassen, kann man nicht von Abkassieren sprechen. Das muß ich noch einmal verdeutlichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte abschließend besonders hervorheben: Wir werden heute ein Gesetz verabschieden, das eine wirkliche und wirksame Reform in der Krankenversicherung und im Gesundheitswesen in Gang bringt. Das ist ein bedeutender Erfolg der Regierung und dieser Koalition. Nach gescheiterten Bemühungen schon Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre — damals unter dem Bundesarbeitsminister Blank — und Mitte der 70er Jahre zu Zeiten der SPD-Regierung kann das Ingangsetzen der Reform im Interesse eines leistungsfähigen Gesundheitswesens überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir werden das alle erleben.
Es wird mit dieser Reform auch bewiesen, daß dieses Land noch reformfähig ist, wenn man den Mut hat, den wir aufgebracht haben, und wenn man bereit ist, alles zu ertragen, was uns begegnet ist.Wir haben dies getan, weil wir der Sache verpflichtet sind. Die geballte Kraft vieler ist eingesetzt worden, um auch diese Reform kaputtzumachen. Aber dies ist nicht gelungen; dies werden wir am Ende dieses Tages feststellen.All die schlimmen Voraussagen zu den angeblichen Auswirkungen des Gesetzes werden nach dem Inkrafttreten alsbald in Vergessenheit geraten, weil sie einfach nicht zutreffen. Es wird von den düsteren Prophezeiungen, meine Damen und Herren von der Opposition, genauso viel übrig bleiben, wie schon in den vergangenen Jahren mit anderen Reformvorhaben, die wir durchgeführt haben, nämlich nichts.Dieses Gesetz findet unsere Zustimmung. Ich danke allen, die daran mitgearbeitet haben, insbesondere auch den Mitarbeitern des Ausschußbüros, aber auch den Mitarbeitern des Bundesarbeitsministeriums. Herzlichen Dank.Wir verabschieden, meine Damen und Herren — dies sage ich der Bevölkerung; sie wird es prüfen, und sie wird es feststellen — , ein sehr gutes Gesetz.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Meine Damen und Herren! Daß es Probleme im Gesundheitswesen gibt, ist sicherlich unstrittig. Die Frage ist bloß, wie man diese Probleme anfaßt, um sie zu lösen.Der Ansatz, der bei Herrn Blüm und allen BlümFreunden im Vordergrund steht, ist natürlich der fatalste, denn er fragt: Was kostet das? und versucht von daher, irgendwelche Kostendämpfungen umzusetzen, anstatt zu sagen: Wir haben Probleme; wie lösen wir diese Probleme? und dann bei den Problemlösungswegen irgendwann auch in den politischen Lösungsbereich der Kostenfrage zu gelangen. — So wäre eine sinnvolle Herangehensweise an eine Gesundheitsreform denkbar, die ihren Namen verdiente.Nichtsdestotrotz — wie Sie inzwischen ja erfahren haben — habe ich mich darangemacht — soweit das in der verbliebenen kurzen Zeitspanne möglich war — , etwas Vernünftiges aus diesem desolaten Gesetzesentwurf zu machen. Dazu steige ich jetzt in die Darstellung von wenigen Änderungsanträgen ein:Was Artikel 1 § 81 Abs. 5 angeht, so wünsche ich mir, daß folgende Fassung aufgenommen wird:Der an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt und die ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtung sollen bei der Verordnung von Arzneimitteln die zu schaffende Positivliste für Medikamente beachten.Die Begründung ist denkbar einfach, u. a. auch mit Ihren Kostengesichtspunkten verknüpfbar: Die Negativliste und die Preisvergleichsliste sind abzulehnen; denn sie führen dazu, daß immer weniger Medikamente von der Krankenkasse bezahlt werden, z. B. Medikamente gegen grippale Infekte. Halten Sie sich bitte vor Augen, daß wir 100 000 Medikamente auf dem Markt haben, von denen höchstens 1 000 echt gebraucht werden und sich höchstens 8 000 medizinisch irgendwie in ihrer Wirkstoffweise unterscheiden lassen.
— Ganz recht. Wir wissen, daß andere Länder, z. B. Norwegen, mit 600 Medikamenten in der Positivliste auskommen. — Dieser Beitrag ist keine Lösung. Die Preisvergleichsliste im geplanten Umfang bringt auch nicht den gewünschten Einspareffekt. Zudem ist immer noch ungeklärt, nach welchen Kriterien die Einteilung der Festbeträge und der Medikamente vonstatten gehen soll. Erforderlich ist vielmehr die von mir bereits erwähnte Positivliste.Ein zweiter Änderungsantrag lautet: Im Art. 1 sollen die §§ 35 und 35a gestrichen werden, und zwar
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7895
WüppesahlI aus folgenden Gesichtspunkten: Die geplante Einführung einer Festbetragsregelung sowohl für Arzneials auch Verbandmittel — das haben Sie, Herr Blüm, vorhin vollblumig versucht als Positivum darzustellen — ist gesundheitspolitisch verfehlt. Durch die Einführung von Festbeträgen werden keine Kosten gesenkt. Auch wird es unüberwindliche Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung der Festbetragsregelung für Heil- und Hilfsmittel sowie für Arznei- und Verbandmittel geben. Die geplanten Festbeträge für Arzneimittel und Hilfsmittel führen nur zum Wettbewerb oberhalb der Festbetragsgrenze, bieten aber keinen Anreiz, die Festbetragsgrenze sogar noch zu unterschreiten.
Im Gegenteil, alle werden sagen: Mindestens diesen Preis nehmen wir.Die Festbetragsregelung führt daher nur zu einem Scheinwettbewerb. Außerdem führt die Festbetragsregelung dazu, daß der Industrie sogar noch eine Preisgarantie geboten wird, zumal nur 30 % der Medikamente von dieser Festbetragsregelung erfaßt werden.Mit den Festbeträgen soll das „medizinisch Notwendige " — das ist ein Zitat aus der Begründung des Gesetzentwurfs — finanziert werden. Die Frage ist aber, was medizinisch notwendig ist und welche Kriterien zur Zusammenfassung der Arzneien zu Gruppen etc. angewandt werden. Außerdem existiert keine Regelung darüber, wie Verwaltungshandeln bei Preis- und Gruppenfestsetzungen rechtlich überhaupt angefochten werden kann. Festbeträge sind außerdem ausgesprochen unsozial und benachteiligen wieder die chronisch Kranken und Behinderten.Mein dritter Änderungswunsch bezieht sich auf § 312.Aus der Begründung ergibt sich auch die Zielrichtung der genauen Änderungsformulierungen.Jeder Patient und jeder Versicherte haben ein eklatantes Interesse daran, Auskunft darüber zu erhalten, welche Daten über ihn gespeichert sind. Es gehört zu den besonders schützenswerten Rechten der Patienten, daß diese Auskunft und auch Kopien aus ihren Krankenakten erhalten. Dies ist nicht nur zur Überprüfung der ärztlichen Leistungen, sondern auch zur Durchsetzung von eventuellen Schadensersatzansprüchen u. ä. zwingend erforderlich. Jeder Patient hat ein Recht darauf zu erfahren, welche Daten in welchen Datenerfassungsstellen über ihn gespeichert sind. Besonderes Gewicht ist dabei darauf zu legen, daß die Versicherten auch einen Anspruch darauf haben, die Akten selber zur Verfügung gestellt zu bekommen. Nur so ist die Transparenz in der Krankenversicherung, nur so ist Kontrolle möglich.
— Nein, das steht eben nicht so darin. Würden Sie in Buchstabe b in § 312 formulieren: „Dabei haben die Versicherten den Anspruch, die Akten zur Verfügung gestellt zu bekommen und bei Bedarf auch eine Kopie des Akteninhaltes", dann hätten Sie es erfaßt. Wir haben doch da ein supersensibles Problem zu erfassen. Frau Unruh sagte, daß es in dieser Republik Hun-derttausende von geschädigten Menschen auf Grund von Kunstfehlern gibt. Kein Mensch kommt da heran, auch nicht die Justiz, weil die augenblicklichen rechtlichen Rahmenbedingungen so abgefaßt sind, daß man eben nicht herankommen kann, daß der Patient solchen Fehlern ungeschützt ausgesetzt ist.Viele von Ihnen wissen, daß ich gerade bei diesen fürchterlichen Zuständen am Geesthachter Johanniter-Krankenhaus gravierende Einzelfälle herausgeschält habe. Mir liegt dieses Problem auf Grund der persönlichen Betroffenheit mir sehr nahestehender Personen wirklich sehr am Herzen.Der vierte Änderungswunsch, den ich Ihnen vortragen möchte, zu § 203:Abs. 1 wird folgende Nr. 12 angefügt:12. Einrichtung von Patientenvertretungen.Das ist ein Auftrag für die Krankenkassen. Das geht in die gleiche Richtung wie der vorherige Änderungsantrag. Die Patienten sind in den Satzungen und Selbstverwaltungsorganen gar nicht oder zu wenig erwähnt und haben keinerlei Möglichkeit, bei den Krankenkassen, die doch besonders im Dienst der Versicherten stehen sollten, irgendwie mitzuentscheiden und an Planungen der gesundheitlichen Versorgung teilzuhaben. Lediglich in den Selbstverwaltungsorganen sollen Vertreter der Versicherten beteiligt sein. Deren Einflußmöglichkeiten sind durch die paritätische Besetzung neben Arbeitgebervertretern aber sehr gering und entsprechen nicht der Bedeutung der Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung.Daneben sind noch Patientenvertreter einzusetzen, die nicht in die Selbstverwaltungsorgane eingebunden sind, sondern neben diesen stehen. Dadurch könnte die Mitbestimmungsmöglichkeit von Patienten in der Tat erheblich verbessert werden, aber genau dies, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wollen Sie überhaupt nicht.Mein fünfter Änderungswunsch betrifft Artikel 1 § 74. Ich wünsche mir an dieser Stelle folgende Fassung:Die Krankenkassen müssen die Versicherten bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen, die bei der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen aus Behandlungsfehlern entstanden sind und nicht nach § 116 des Zehnten Buches auf die Krankenkassen übergehen, unterstützen.Die Unterstützung der Patienten soll nicht irgendwie allgemein formuliert sein; sie soll insbesondere unter juristischen, finanziellen, medizinischen bzw. fachmedizinischen Aspekten erfolgen. Dazu gehört die Übernahme eventueller Gutachterkosten durch die Krankenkasse — Sie hören richtig — ebenso wie die Übernahme von Gerichtskosten und Anwaltskosten. Der persönlichen Beratung der Patienten durch die Krankenkasse wird besonderer Rang eingeräumt. So müßte die Fassung an der Stelle lauten, wenn man Patienten mit der sogenannten Strukturreform schützen wollte. Die Begründung liegt auf der Hand. Ich habe in meinen Bemerkungen zu dem vorherigen Antrag im Grunde schon das Wesentliche ausgeführt.Ein weiterer Gesichtspunkt: die Sicherstellung der Datenübersicht. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen
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WüppesahlÜbersichten erstellt werden, die der Öffentlichkeit in geeigneter Weise zugänglich gemacht werden sollen, Übersichten über die Datenbestände, die bei den Kassen geführt werden. Es ist eine Notwendigkeit, daß die Sicherstellung über die Datenübersichten und über die gespeicherten personenbezogenen Daten auf Anfrage interessierten Einzelpersonen und Institutionen zu übermitteln sind. Dies ist zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Patienten zwingend erforderlich. Nur durch die Möglichkeit der Übermittlung dieser Datenübersichten auf Anfrage an interessierte Einzelpersonen ist einigermaßen sichergestellt, daß nicht hochsensible Daten gespeichert werden, da durch die Möglichkeit der Anforderung durch Einzelpersonen und Institutionen die Kontrollmöglichkeit darüber geschaffen wird, welche Daten wirklich gespeichert sind. Auch hier kann man genau ablesen, mit welcher Ernsthaftigkeit Sie Datenschutz im Sinne der Patienten, der Versicherungsleistungserbringer betreiben oder eben auch nicht. Das letztere ist der Fall.Weiterer Änderungswunsch zu Art. 1 § 11: Abs. 1 Nr. 5 Buchstabe d Ziffer 8 wird neu angefügt:Die Kosten für die— dies betrifft ein zentrales Problem zur Zeit in unserer Gesellschaft —kleine und große Grundpflege der Sozialstationen müssen von den Krankenkassen übernommen werden.So müßte die Formulierung an der Stelle lauten. Überall wird auch von Ihren Sprechern und Sprecherinnen wirklich herumgedröhnt, wie wichtig die Sozialstationen sind. Aber wenn es dann darum geht, sie angemessen zu finanzieren und in diese Gesundheitsstrukturreform einzubetten, dann fehlt die Ernsthaftigkeit.Warum das so ist, liegt auch auf der Hand. Soll die häusliche Krankenpflege gestärkt werden, so ist es dringend erforderlich, daß auch die Kosten für die sogenannte kleine und große Grundpflege, die die Sozialstationen übernehmen, von den Krankenkassen erstattet werden. Es kann nicht angehen, daß die Kommunen oder andere Träger allein für die Kosten der Sozialstationen herangezogen werden. Außerdem fehlen den Kommunen und den anderen örtlichen Trägern die dringend erforderlichen finanziellen Mittel, weil Sie hier in Bonn eine Rahmengesetzgebung— vor allem für die Großindustrie — mit Steuererleichterungen, mit Subventionen beschließen, die genau die Austrocknung der Landes- und der Kommunalebene bewirken.Dringend erforderlich ist daher eine finanzielle Unterstützung durch die Krankenversicherung. Dadurch werden Kosten auf anderen Gebieten eingespart. Außerdem ist diese kleine und große Grundpflege der Sozialstationen erheblich sozialer als eine Einweisung z. B. in große Krankenhäuser. Wir wissen doch, wie viele Pflegefälle auf den internistischen Stationen landen, die dort gar nicht hingehören und zu einem Tagessatz von 230 oder bis zu 350 und 400 DM der Krankenkasse auf den Geldbeutel fallen.Nächster Änderungsantrag: Art. 1 § 11 Abs. 1 Nr. 5 wird gestrichen. Die Begründung ist klar.Die Pflegefallversicherung und die Absicherung von pflegenden Familienangehörigen ist eine grundsätzlich zu begrüßende Einrichtung, die aber nicht zu den Aufgabenbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Dazu wäre es notwendig, daß— mehrere Fraktionen haben das inzwischen eingebracht, mir ist so etwas wegen der Rechtsstellung, die Sie mir zugedenken, nicht möglich — ein eigenes Gesetz geschaffen wird.Nächster Änderungsantrag: In Art. 1 § 20 Abs. 3 werden die Worte „mit den Kassenärztlichen Vereinigungen" gestrichen. Diese Begründung wird Sie jetzt sicherlich sehr interessieren.
— Daß Sie bei der SPD solche dummen Zwischenrufe machen, wo Sie genauso gegen dieses Gesetzeswerk anrennen wie ich, ist in der Tat nur noch peinlich. Wenn das von den Regierungsfraktionen gekommen wäre, hätte man Verständnis dafür aufbringen können. Aber das offenbart, was Sie in diesem Gesetzeswerk tatsächlich an Kontrast zur Regierung haben wollen, nämlich gar nichts. Ihnen geht es offensichtlich um Effekthascherei.Die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen abgeschafft werden, da ihre Existenzberechtigung mehr als zweifelhaft ist. Die Zuständigkeiten für die Abrechnungen sollten sich auf die Krankenkassen und die Ärzte bzw. die Krankenhäuser selbst beschränken. Durch die Kassenärztlichen Vereinigungen werden zur Zeit die Abrechnungen gemacht, ohne daß den Ärzten selbst die quartalsmäßige Abrechnungsarbeit wirklich abgenommen wird. Vielmehr erhalten die Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen enorme Aufwandsentschädigungen und Gelder, die von den Ärzten eingezogen werden. Auf diese Weise wird auch nicht gerade zur viel propagierten Kostensenkung beigetragen. Diese Kassenärztlichen Vereinigungen sind nichts anderes als Geldumverteilungsstationen, die gleichzeitig durch ihre zusätzliche Verwaltungsarbeit weitere Mittel fressen, weil sie die Personen, die in den Gremien sitzen, zusätzlich mit jährlich Zehntausenden von Mark pro Einzelperson füttern.Weiterer Änderungsantrag: Art. 1 § 38: Die Abs. 2 und 4 werden gestrichen, Abs. 5 Satz 2 wird gestrichen, und zwar aus folgendem Grund.Der Patient darf nicht gezwungen werden, für den Fall, daß er ein anderes Krankenhaus als das vom Arzt angegebene aufsuchen möchte, die Mehrkosten für dieses Krankenhaus selbst zu übernehmen. Sie schränken mit Ihrem Gesetzentwurf die freie Krankenhauswahl erheblich ein, und das angesichts der Zustände, die wir in einzelnen Krankenhäusern inzwischen konstatieren müssen. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Der Patient muß sich das Krankenhaus nach eigenen Vorstellungen und Wünschen und den medizinischen Notwendigkeiten selber aussuchen können, ohne mit eventuellen Mehrkosten belastet zu werden. Die freie Wahl des Krankenhauses gehört zu den essentiellen Grundrechten des Patienten. Eine Zuzahlung für einen Krankenhausaufenthalt
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Wüppesahlist aus sozialen Gesichtspunkten nicht gerechtfertigt. Die Selbstbeteiligungen von Patienten sollten soweit wie möglich abgeschafft werden.Zum § 276 a — Regionaler Finanzausgleich — möchte ich folgende Formulierung in der Gesetzesendfassung sehen:Es ist ein regionaler, kassenartenübergreifender Finanzausgleich durchzuführen und die kassenartenübergreifende Zusammenarbeit zu fördern.Diese Regelung liegt im Interesse gerade der vom Ausbluten bedrohten Allgemeinen Ortskrankenkassen. Nur eine effektive Zusammenarbeit und ein funktionierendes Ausgleichssystem auf regionaler Ebene können mittel- und langfristig die unterschiedlichen Beitragssätze bei gleichen Leistungen, die ungleichen Handlungs- und Verantwortungsebenen überwinden. Es darf nicht einseitig zu Lasten einer oder weniger Krankenkassen gehen, wenn die ganze Region wirtschaftlich und strukturell benachteilig ist. Ein kassenartenübergreifender Finanzausgleich ist vor allem deshalb erforderlich, weil die Allgemeinen Ortskrankenkassen z. B. einen hohen Anteil von Patienten versichern, die zu den sogenannten Risikogruppen gehören.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist jetzt endgültig zu Ende. Sie haben schon wieder etwas überzogen.
Jetzt haben wir das Problem.
Ich habe gerade zehn Änderungsanträge vorstellen können, weil Sie mir nur 15 Minuten zugestehen, und habe noch nicht einmal die notwendigen grundsätzlichen Äußerungen gemacht.
Ich bedanke mich dennoch für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, das läßt sich nun mal nicht ändern. Sie wissen, es gibt hier Probleme, über deren Lösung wir uns alle noch nicht ganz im klaren sind, auch nicht über die Auswirkungen. Deswegen müssen wir hier leider so verfahren.
Jetzt hat der Herr Abgeordnete Kirschner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einer Bemerkung des Vorsitzenden des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Herrn Professor Arnold, beginnen. Er bezeichnet, zu Recht, meine ich, den Namen „Gesundheitsreform" für Ihr Gesetzeswerk als „Hochstapelei". Er sagt voraus: Gleich nach der Reform wird eine neue Reform notwendig werden. — Meine Damen und Herren, Herr Blüm, das ist ein öffentliches Armutszeugnis für Ihren Gesetzentwurf , ausgestellt vom Sachverständigenratsvorsitzenden, der von der Bundesregierung berufen wurde.
Meine Damen und Herren, Ihr Gesetzentwurf behebt keines der entscheidenden Probleme des Gesundheitswesens. Ich nenne die wichtigsten: erstens die falschen Leistungsanreize im Honorierungssystem bei den Ärzten und im Krankenhaus, die zur Mengen- und Kostenausweitung führen, zweitens die Überkapazitäten in nahezu allen Leistungsbereichen und drittens die Verwerfungen in der Kassenstruktur, die Beitragssatzunterschiede, die einen Teil der Versicherten in geradezu verfassungswidriger Weise benachteiligen.Schon in der allgemeinen Begründung machen Sie klar, daß es Ihnen gar nicht um eine Gesundheitsreform geht. Ihr Gesetzentwurf belastet die Kranken. Gesunde erhalten Beiträge zurück. Besserverdienende werden zur privaten Krankenversicherung verabschiedet. Das, Herr Blüm, ist die von Ihnen beschworene neu bestimmte Solidarität.
Wir Sozialdemokraten dagegen sehen die entscheidende Aufgabe einer Reform des Gesundheitswesens in der Orientierung des Krankenversicherungssystems an den gesundheitlichen Problemen, die in der Bevölkerung vorhanden sind. Wir stehen dabei nicht allein. Dies fordert auch der Sachverständigenrat, dies fordert auch die Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung", die ja vom Bundestag eingesetzt wurde. Sie finden dies in den Vorschlägen der Gesundheitspolitischen Kommission des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ich habe den Eindruck, Herr Blüm: Wenig gilt bei Ihnen Sachverstand im Gegensatz zur Sprücheklopferei. Ich sagte schon: Im Mittelpunkt einer Gesundheitsreform müßte stehen die Orientierung an den gesundheitlichen Problemen, die in unserer Bevölkerung vorhanden sind.Unser Wissen über Krankheitsursachen, -häufigkeit und -verlauf sowie über gruppen- und schichtenspezifische Lebenserwartung ist äußerst gering. Solche Daten, im Ausland vorhanden, sind sehr aufschlußreich. So belegen entsprechende Untersuchungsergebnisse aus England, daß Angehörige oberer sozialer Schichten eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als beispielsweise Hilfsarbeiter. Während des Berufslebens ist das Sterblichkeitsrisiko in den unteren sozialen Schichten um nahezu 50 % höher als bei Angehörigen der oberen sozialen Schichten. Französische Zahlen kommen zu noch krasseren Ergebnissen. Danach ist die Sterblichkeit ungelernter Arbeiter während der Erwerbsphase rund dreimal so hoch und die Lebenserwartung gegenüber den Angehörigen der sogenannten oberen sozialen Schicht um fast acht Jahre geringer. Warum sollte es in der Bundesrepublik Deutschland anders sein?
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KirschnerAufschlußreich ist ein Blick in die Rentenstatistik. Danach liegt in der Arbeiterrentenversicherung bei den Männern der Anteil der Frühinvaliden, also der Bezieher von Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten, erheblich über dem entsprechenden Anteil in der Angestelltenversicherung. So waren bei den Rentenzugängen des Jahres 1986 bei den Männern in der Arbeiterrentenversicherung über 44 % Frühinvalide, in der Angestelltenversicherung lediglich 25 %.Die Ungleichheit vor Krankheit und Tod ist also offensichtlich. Das ist unser Vorwurf: Dieses Gesetz blendet die Suche nach Krankheitsursachen und Krankheitsschwerpunkten völlig aus.
Gerade das, so meinen wir, müßte Ausgangspunkt einer Gesundheitsreform sein. Ihr Gesetzentwurf stellt aber die Weichen weder für eine umfassende Gesundheitsberichterstattung noch für eine Umorientierung in Richtung Prävention.
Es gilt, die Ursachen von Krankheit, die in den Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen liegen, zu erkennen und zu bekämpfen. Dieser Aufgabe, Herr Dr. Thomae, stellt sich Ihr Gesetzentwurf nicht.Ausgangspunkt ist bei Ihnen keine Analyse; statt dessen: Kostenverlagerung auf die Kranken. Den Herausforderungen, daß veränderte Gesundheitsprobleme geänderte Versorgungsstrukturen erfordern, stellen Sie sich nicht. Eine Orientierung des Versorgungssystems am veränderten Krankheitsspektrum findet nicht statt. Ungleiche Betroffenheit von Gesundheitsproblemen, schichtenspezifische Krankheitsbelastung und Versorgungsdefizite werden nicht angegangen. Eine Orientierung der Aktivitäten und Ausgaben im Gesundheitswesen an diesen Prioritäten findet nicht statt.Schon gar nicht angegangen werden strukturelle Defizite wie die psychosoziale Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Damit wollen Sie sich offenbar überhaupt nicht befassen. Sie haben das mit der Ablehnung unseres Gesetzentwurfs zur überfälligen Gleichstellung der psychisch Kranken in der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich gezeigt.Sie reden zwar viel von Wettbewerb, wollen davon aber nichts mehr hören, wenn es um die Leistungserbringer geht.
Eine steigende Zahl junger Ärzte drängt auf den Markt, d. h.: in die niedergelassene Praxis. Aber das ist noch nicht einmal das Hauptproblem. Nein, das gravierende Problem unseres Gesundheitswesens ist das ärztliche Verordnungsverhalten. Nicht der Patient, wie Sie uns vormachen, sondern der Arzt hält den Schlüssel zu den Ausgaben der Krankenversicherung in der Hand.
Der Arzt weist ins Krankenhaus ein. Der Arzt verordnet Arzneimittel, Heilmittel, Hilfsmittel, Kuren. Der Arzt stellt die Arbeitsunfähigkeit fest. Eine Steuerung des Gesundheitswesens muß daher beim ärztlichenVerhalten ansetzen. In Ihrem sogenannten Gesundheitsreformgesetz: Fehlanzeige. Statt dessen gibt es Durchschnittsprüfungen, auf die ein cleverer Kassenarzt längst mit seinem Praxiscomputer und entsprechender Software reagiert hat.
Die Probleme der ambulanten ärztlichen Versorgung sind hinreichend bekannt. Es wird zu wenig auf die Bedürfnisse der Patienten eingegangen. Fünf -Minuten-Medizin mit standardisierter Labordiagnostik, technische Apparate und Medikamentenverordnungen bestimmen den Praxisalltag. Das Gespräch mit dem Patienten wird noch immer nicht genügend gefördert.Aber genau hier wäre der Hebel für mehr Prävention anzusetzen. Wir fordern mehr Gesundheitsberatung durch die Ärzte und mehr Zuwendungsmedizin. Denn bei Prävention kommt es auf Information, Verständnis und Einsicht an und nicht auf noch mehr Zahlen aus dem Laborautomaten. Für eine zuwendungsorientierte Medizin tun Sie nichts. Angesichts des steigenden Anteils pychosozialer Probleme haben Sie nur ein paar folgenlose Floskeln zu bieten.Den Grund der ganzen Fehlorientierung: das System der Einzelleistungsvergütung, gehen Sie nicht an. Warum ist die Gebührenordnung eigentlich kein Gegenstand Ihrer Strukturreform, obwohl Sie doch von finanziellen Steuerungsanreizen so überzeugt sind? Hier sind die Voraussetzungen zu schaffen für mehr Qualität und für die Kostendämpfung bei medizinisch-technischen Leistungen oder für den notwendigen Ersatz von Medikamenten durch Gesundheitsberatung. Aber hier haben Sie offenbar vor den Einkommensinteressen bestimmter Ärztegruppen und vor dem Widerstand der Ärzteorganisationen, die in der Therapie alles beim alten belassen wollen, kapituliert.
Die starken Worte des Herrn Bundeskanzlers gegen den Hartmannbund waren offensichtlich nur heiße Luft.In der ambulanten ärztlichen Versorgung gibt es mit dem Gesundheits-Reform-Gesetz weder eine sachliche Verbesserung noch einen echten Ansatz zur Kostensteuerung. Die Fehlversorgung im stationären Bereich ist bekannt. Dabei wird die demographische Entwicklung vor allem im Pflegebereich die gegenwärtigen Probleme noch verschärfen.Die Bundesregierung unternimmt nichts, um die falschen Anreize zu beseitigen, die einer wirtschaftlichen Krankenhausbehandlung im Weg stehen. Sie hat hier vor den Partikularinteressen von Bundesländern und Krankenhausträgern kapituliert. Dabei ist doch als Ergebnis vieler Analysen bekannt, daß wir ein doppeltes Problem haben, um unsere Krankenhäuser leistungsfähiger und wirtschaftlicher zu machen. Einerseits geht es darum, das Krankenhaus von Pflegefällen zu entlasten und dafür im Interesse der Patienten angemessenere Versorgungsformen zu finden. Auch in bestimmten Krankheitsbereichen der Akutversorgung ist die Verweildauer immer noch viel zu lang und der Einsatz der Krankenhausleistungen
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Kirschnernicht effizient. Auf der anderen Seite muß das Krankenhaus unterstützt werden, die durch die verkürzte Verweildauer erhöhte Leistungsintensität auch personell zu bewältigen. Dann stellt sich gleichzeitig das wachsende Problem des Pflegenotstands.
Hier kommen wir nur weiter, indem wir ein leistungsbezogeneres Finanzierungs- und Abrechnungssystem für das Krankenhaus entwickeln, das mehr Transparenz und eine bessere Planungsgrundlage schafft. Mit dem tagesgleichen vollpauschalierten Pflegesatz können wir diese Probleme nicht lösen. Hierzu gibt es keinen Ansatz in Ihrem angeblichen Reformwerk. Sie verschieben es auf später.Finanzprobleme werden statt dessen auf die Patienten abgewälzt, indem die unselige Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalt sogar verdoppelt wird. Statt differenzierte Instrumente der Finanzierung und Bedarfsplanung zu entwickeln, gibt es dagegen nur pauschale Drohungen.Sie behaupten, im Krankenhausbereich 1,6 Milliarden DM einzusparen. Das sind 4 % der Gesamtausgaben. Aber wie, das sagen Sie nicht, und dies angesichts einer Situation, wo in vielen Krankenhäusern die Personaldecke reißt. Teilweise kann heute schon ein aufgabengerechter oder gar patientenfreundlicher Betrieb nicht mehr in jedem Fall aufrechterhalten werden. Auch vor der wichtigen Frage einer besseren Verzahnung des ambulanten und stationären Bereichs haben Sie kapituliert. Bei der Frage der vor-und nachstationären Betreuung durch das Krankenhaus haben Sie klein beigegeben.Das gilt in noch viel größerem Maß für den Arzneimittelsektor. Minister Blüm hat in diesem Haus erklärt: Ohne einen spürbaren Solidarbeitrag — von 1,7 Milliarden DM hat er geredet — wird es kein Reformwerk geben. Heute nun sollen die Festbeträge diesen Solidarbeitrag darstellen, und sie werden als Kernstück der Reform gefeiert. Dabei gehen die Festbeträge an den wirklichen Problemen der Arzneimittelversorgung völlig vorbei.Die Probleme liegen nämlich im qualitativen Bereich. Um Fragen der Qualität der Arzneimitteltherapie kümmert sich der Bundesarbeitsminister aber nicht. Dabei verordneten die Ärzte 1987 zu Lasten der Krankenkassen, wie der jüngste Arzneiverordnungsreport feststellt, allein für 5 Milliarden DM Arzneimittel mit umstrittener Wirksamkeit, und das in einem einzigen Jahr.
Fachleute sprechen davon, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland 500 000 bis 800 000 Medikamentenabhängige haben. Ein Fünftel der 15 000 Dialysepatienten hat die Nierenschäden infolge des Mißbrauchs von Arzneimitteln davongetragen. Wo finden sich die Antworten, Herr Bundesarbeitsminister, auf diese Steuerungs- und Qualitätsprobleme im Gesundheits-Reformgesetz?
Ich finde in Ihrem Gesetzentwurf keine. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat zwei Jahresgutachten mit detaillierten Empfehlungen vorgelegt. Warum haben Sie diese nicht übernommen?Meine Damen und Herren, eine Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung, die sich in der uferlosen Ausdehnung der Selbstbeteiligung erschöpft und den Einstieg in die Pflege durch die zusätzliche Belastung von alten, chronisch kranken und behinderten Menschen erkauft, verdient den Namen ,,Gesundheits-Reformgesetz" nicht. Denn: „Das ganze System beruht auf Selbstbeteiligung. Wer sonst — wenn nicht die Versicherten — zahlt es? Das ist die Selbstbeteiligung. "
— Hören Sie nur einmal zu, was ich vorlese: „Wenn die Selbstbeteiligung einen zusätzlichen Sinn haben soll, dann nicht den, einfach nur Geld zu beschaffen.
Das muß man ehrlicherweise über die Beiträge tun. Selbstbeteiligung im Krankenhaus, 5 DM pro Tag — ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich selbst ins Krankenhaus eingewiesen hat. Wo ist da der Steuerungseffekt? Weg damit! "
Nun, meine Damen und Herren, was ich hier zitiert habe, sind die Worte von Herrn Minister Blüm, gesprochen vor einem Jahr als damaliger Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft auf deren Bundestagung am 16. Oktober letzten Jahres in Hamburg.
Ich kann nur sagen, Herr Minister Blüm: Recht hatten Sie. Weg damit, weg mit diesem Gesetzentwurf! Dann werden Sie Ihren eigenen Ansprüchen gerecht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Frau Präsidentin! Meine Kollegen und Kolleginnen! Der Abgeordnete Heyenn hat sich hier vorhin Sorge darüber gemacht, daß die Regierung die Ergebnisse der Enquete-Kommission nicht in ihren Gesetzentwurf einbeziehen wolle und daß auch die Koalitionsfraktionen nicht darauf gewartet hätten. Darauf gibt's zwei einfache Antworten.Die erste Antwort liegt in der Zeit begründet. Die Gesundheitsreform hatte und hat keine Zeit, darauf zu warten, bis langwierige, schwierige und umfängliche Untersuchungen und Abwägungen zu Ende sind. Es muß gehandelt werden, und zwar jetzt.
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7900 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Frau LimbachWas den zweiten Punkt angeht, so lese ich Ihnen — damit Sie ganz beruhigt sind — jetzt einmal vor, was die Sachverständigen selber dazu gesagt haben. Die Sachverständigen selber haben nämlich hervorgehoben, daß ihre Arbeit keinen direkten Bezug zu dem gegenwärtigen Gesetzgebungsvorhaben habe und über es hinausreiche. Sie haben nämlich selbst erkannt, daß es gar nicht ihre Aufgabe ist, uns sozusagen einen Vorentwurf für einen Gesetzentwurf zu machen, sondern daß ihre Aufgabe wissenschaftliche Beratung ist. Und die kann nicht während eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens erfolgen, sondern muß längerfristig angelegt sein. Im übrigen — das hat sich ja auch gezeigt — waren die meisten der Vorlagen, die für die Enquete-Kommission verarbeitet wurden, in anderen Veröffentlichungen, Studien und Untersuchungen auf dem Markt. Ich jedenfalls habe bei sehr vielen Papieren erkannt, daß ich es schon in Veröffentlichungen der Bosch-Stiftung oder anderer Stiftungen oder in sonstigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Herren Professoren habe lesen können.
Das ist ja keine Kritik an diesen Herren, sondern das ist nur die Feststellung, daß das meiste davon jedenfalls schon auf dem Markt war.
Und zu vielem von dem anderen kann man wahrscheinlich das sagen, was einer der Sachverständigen gesagt hat, daß nämlich Teile des Berichtes zwar gut formuliert seien, andere Beiträge aber erhebliche Schwächen zeigten, ganz abgesehen davon, daß die Formulierungen teilweise nicht sachlich-berichtend, sondern eher ideologisch orientiert seien und daß es einen erheblichen Arbeitsaufwand kosten würde, diesen Bericht so zu bearbeiten, daß man sich damit identifizieren könne. Ich erspare Ihnen weitere Verlesungen aus diesen Papieren. Ich könnte das zwar sehr leicht tun, will aber Ihre Zeit und auch die meine dafür nicht in Anspruch nehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Süssmuth hat zu Recht in einer Presseerklärung darauf hingewiesen, daß erstmals in der Geschichte der deutschen Sozialversicherung an einigen Stellen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auch für Naturheilverfahren und besonders für Naturheilmittel ausdrücklich festgestellt worden sind.
Sie haben vorhin auf den Kollegen Thomae ja nicht hören wollen, als er Ihnen vorgerechnet hat, was bei Ihrer Positivliste herauskäme. Im übrigen muß man sagen, dort, wo es Positivlisten gibt — das ist ja so ein Lieblingskind von Ihnen — , beispielsweise in Österreich, haben sie sich ja überhaupt nicht bewährt.
— Ach, wissen Sie, es ist keine Schande, ein Problem zu diskutieren, einen Lösungsversuch aufzugreifen, um darüber nachzudenken, ob er richtig ist. Eine Schande ist es allerdings, wenn man erkennt, daß er nicht richtig ist, ihn trotzdem weiterzuverfolgen und daran festzuhalten.
Ein ganz wichtiger Baustein in diesem Gesundheits-Reformgesetz ist — gerade für viele, viele Menschen in unserem Land ganz bedeutsam, weil es die Antwort auf eine der neuen Herausforderungen ist — die Hilfe für die Personen, die Schwerstpflegebedürftige in der Familie zu Hause pflegen — das sind ja meistens Frauen.Herr Kollege Dreßler, ich habe mir ja oft überlegt, was unter dem Begriff „soziale Kälte", den Sie so gerne benutzen, zu verstehen sei.
Als ich die Rede des Kollegen Dreßler gehört habe und er mit keinem Wort, nicht mit einer Silbe, erwähnt hat, daß wir im System der Krankenversicherung umschichten müssen, um eine Hilfe für die Schwerstpflegebedürftigen bzw. für die Pflegepersonen zu haben, da habe ich gewußt, was soziale Kälte ist, nämlich das, was Sie hier vorgetragen haben.
Es ist ja auch gar nicht wahr, was Sie behaupten, daß dies hier an dieser Stelle eine Aufgabe der Gesellschaft wäre, die nun den Armen, den Kranken und Schwachen in der Krankenversicherung aufgehalst würde. Sprechen Sie doch mit den Geschäftsführern der AOKs, reden Sie doch mit den Verantwortlichen in den Krankenhäusern, Sie werden es doch genauso erfahren wie ich. Was ist denn heute der Fall? Heute ist der Fall, daß vielfach — ich habe das schon einmal in der Aktuellen Stunde gesagt — , nicht aus Jux und Dollerei, sondern weil man sich den Aufgaben anders nicht mehr gewachsen fühlt, der zu Pflegende gelegentlich ins Krankenhaus eingewiesen wird, dort die teuren Akutkrankenhausbetten — 300 DM oder sonst etwas am Tag — in Anspruch nehmen muß, weil nämlich sonst die Pflegenden selber zusammenbrechen.Es gibt ja eine Untersuchung von Sozialdata. Sie ist sehr interessant; Sie sollten sich einmal mit Zahlen beschäftigen, das wäre überhaupt manchmal gut.
Sie wissen ja selber, daß es etwa 2 Millionen Pflegebedürftige, von denen die meisten — 80 % bis 90 % —zu Hause gepflegt werden, gibt. Ich denke, daß Sie auch wissen, daß davon etwa 420 000 schwerpflegebedürftig und 210 000 schwerstpflegebedürftig sind.
— Natürlich. Ich weiß, sie sind etwas verändert. Das sind hochgerechnete Daten.
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Frau LimbachIch sage einmal: Ob das jetzt wirklich 100 oder 1 000 mehr oder weniger sind, spielt doch keine Rolle.
Richtig ist, daß von den über 80jährigen — von denen haben wir ja erfreulicherweise viele Mitbürgerinnen und Mitbürger — schon 30 % auf gelegentliche oder dauernde Hilfe angewiesen sind.Was sagen die Pflegepersonen dazu? 33 % der Pflegenden brauchen mehr als sechs Stunden am Tag für die Pflege. 50 % von denen erklären offen, daß dies negative Auswirkungen auf ihre Freizeit hat. 45 erklären offen, daß sie sich keinen Urlaub leisten können. 37 % sagen, daß sie befürchten, daß die eigene Gesundheit beeinträchtigt wird. Das stimmt, wie ich glaube. Jeder, der Personen kennt, die solche Pflegeaufgaben übernehmen, wird auch leicht erkennen, daß unsere Leistungen für die Pflege zu Hause sowohl eine menschliche Leistung für Schwerstpflegebedürftige ist, als auch krankheitsverhütende und damit die Krankenversicherung entlastende Leistung für die Pflegepersonen ist.
Ich glaube, daß man hier auch einmal folgendes sagen muß: Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am 19. März 1987 darauf hingewiesen, daß angesichts der vielfältigen Probleme und der großen finanziellen Dimensionen beim Problem der sozialen Sicherung bei Pflegebedürftigkeit eine Lösung nur schrittweise gefunden werden kann. Dann hat er gesagt:Wir wollen die häusliche Pflege so unterstützen, daß Pflegebedürftige so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können.Eine zutiefst menschliche Lösung, eine sozial gerechte Lösung,
in diesem Punkt eine in der Krankenversicherung richtig angesetzte Lösung. Erstmals wird hier ein weißer Fleck in dem Atlas der Sozialpolitik in unserem Land gefüllt.
Hier ist vorhin in Ausführungen der Opposition von Ellenbogengesellschaft die Rede gewesen. Da muß ich Sie fragen: Ist es Ellenbogengesellschaft, wenn man Schwerpflegebedürftigen hilft, ist es Ellenbogengesellschaft, wenn man durch Prophylaxe bei der Zahnpflege für Kinder dafür sorgt, daß sie — ich sage das jetzt einmal so, wie man das als Mutter sagt — möglichst lange vor Zahnschmerzen und deshalb unangenehmen Gang zum Zahnarzt bewahrt werden, weil sie nämlich ihre Zähne beim Zahnarzt möglichst lange gesund erhalten bekommen? Ist es Ellenbogengesellschaft, wenn wir durch Überforderungsklauseln und durch die Härteklausel dafür sorgen, daß niemand über Gebühr strapaziert wird,
und ist es Ellenbogengesellschaft, wenn wir erwarten,daß der mündige Bürger, den wir in unserem Landhaben, auch Eigenverantwortung übernehmen kann?— Lieber Herr Jaunich, ich bin der Auffassung, daß die Menschen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute erfreulicherweise ganz andere Chancen als vor 100 Jahren haben, als diese Krankenversicherung gegründet wurde.
Glücklicherweise kann sich heute jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin vieles aus eigener Kraft leisten, was früher nicht möglich war.
Aber andere Aufgaben können sie heute nicht mehr selber leisten. Deshalb brauchen sie dieses Gesetz, das zukunftsorientiert, sozial gerecht
und notwendig ist.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Haack .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst zwei Vorbemerkungen machen; eine zu Minister Blüm, eine zweite zu Herrn Cronenberg.
Herr Minister Blüm, ich möchte hier doch einmal etwas vor der Öffentlichkeit klarstellen. Neben dem Herzstück der Festbeträge reden Sie immer von dem Herzstück des Einstiegs in die Pflege. Sie gehen dazu immer auf § 54 Abs. 1 GRG zurück, in dem der Leistungskatalog der demnächst in Anspruch genommen werden kann, beschrieben wird. D'accord.
— Bitte sehr. — Jetzt kommt Absatz 2, und der heißt:
Leistungen nach Absatz 1
— mit dem Sie hier Reklame für Ihre neue Humanität machen —
werden vom 1. Januar 1991 an erbracht.
Was bedeutet das? Dieser Satz bedeutet, es gibt einen politischen Vorbehalt in Ihren Hinterköpfen.
— „Richtig" sagt der Kollege Seehofer. — Ich will den Vorbehalt hier öffentlich sagen. Sie wollen erst einmal sehen, wieviel Sie von den 14 Milliarden DM bis 1991 abkassiert haben — genauso ist es doch diskutiert worden — , und erst dann, so Sie in die Regierung kommen, sollen diese Leistungen erbracht werden.
— Herr Cronenberg!
Bitte, Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Kollege, darf ich denn davon ausgehen, daß es kein Vorbehalt ist, wenn Sie das nach der nächsten Wahl gestalten könn-
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Cronenberg
ten, es also so bleibt, oder ist das auch ein Vorbehalt, das wieder abzuschaffen?
Nein, Herr Cronenberg, überhaupt nicht; wir haben ja unser Pflegegesetz. Ich denke, Sie machen hier folgenden Trick, insbesondere unser Norbert Blüm. Sie ziehen durch die Landschaft, durch die Seniorenstuben, die Seniorenveranstaltungen und behaupten, sie bringen Pflege. Ich sage hier einmal vor der Öffentlichkeit, daß dies unter einem Finanzierungsvorbehalt steht, und ab 1. Januar 1991 besteht dann die Frage, ob dies rechtswirksam wird oder nicht. Herr Cronenberg, es ist so.
Jetzt will ich mich mit Ihnen in einem zweiten Punkt auseinandersetzen, der mich persönlich auch nervt. Ich zähle auch zu den freien Berufen. Sie gebrauchen dann immer einen Begriff von Freiheit. Ich will einmal feststellen, daß ich mich aus meinem Verständnis als Sozialdemokrat heraus in meinem Freiheitsbegriff inhaltlich an dem definiere, was im Grundgesetz steht. Dann fügen die Sozialdemokraten noch hinzu, daß dieser Freiheitsbegriff durch das Sozialstaatsprinzip unterfüttert sein muß. Wenn man Ihre Diskussion hört, sprechen Sie in diesem Sozialleistungssystem immer die freien Berufe an und tun so, als ob deren grundrechtliche Freiheiten durch irgendwelche Eingriffsmaßnahmen, wie wir sie z. B. vorschlagen, gefährdet wären. Ich sage Ihnen: Wir haben jetzt ein Beispiel von Ihnen erlebt, unter dem die CDU leidet, nämlich die Einführung des Kostenerstattungsprinzips beim Zahnersatz und bei der kieferorthopädischen Behandlung. Das ist exakt das, was der Freie Verband der Zahnärzte uns immer geschrieben hat.
— Ja, die wollen das. Das haben Sie aber übernommen. Dazu sage ich ganz deutlich: Deren Freiheit interessiert mich in dem Punkt nicht. Mich interessiert die Freiheit derer, unterfüttert mit dem Sozialstaatsprinzip, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind.
Das wollte ich Ihnen gesagt haben, damit einmal deutlich wird, daß wir mit Ihnen da nicht in einem Boot sitzen.
In der Haushaltsdebatte beklagten der Kanzler und der Arbeitsminister übereinstimmend die weitgehende Ablehnung des Gesetzentwurfs zur Gesundheitsreform. „Uneinsichtige Verleumder" wurde gesagt. Auch wurde gesagt, Lügner seien am Werk. Wir haben es heute morgen wieder erlebt: Die Regierung behauptet, all die guten Taten würden in einer Fälscherwerkstatt umgebogen. Der Minister hat am 27. Oktober 1987 im Bundestag in bezug auf seine Kritiker folgendes festgestellt: „Die Neinsager" — das sind die Kritiker — „sind aus meiner Sicht die neuen Opportunisten in dieser Gesellschaft."
Nun frage ich Sie, Herr Minister: Sind Behinderte, bei denen abkassiert werden soll und die aufstehen und sich dagegen wehren, schamlose Opportunisten? Sind Rentner, chronisch Kranke, Allergiker, bei denen abkassiert werden soll
und die sich dagegen wehren, Opportunisten?
Sind die Sachverständigen, die Ihr Kostendämpfungskonzept verwerfen, Opportunisten?
— Nein. — Finden Sie es eigentlich richtig, Herr Minister, daß bei den Versicherten und Kranken rund 3,8 Milliarden DM im Arznei-, Heil- und Hilfsmittelbereich abkassiert werden sollen, und zwar über die Festbeträge, über Selbstbeteiligung und Leistungsausgrenzungen? Die davon betroffen sind werden fragen: Warum wird nur bei uns abkassiert; wo bleiben eigentlich die Leistungsanbieter?
Wir haben heute morgen von dem Kollegen Dreßler, der jetzt leider nicht mehr hier ist, dazu ein schönes Beispiel gehört. Das ist der Original-Blüm-Ton zum Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Ich will Ihnen Ihre Einlassungen hier im Parlament vorlesen. Am 4. Dezember 1987 sagten Sie:
Wir erwarten einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Ohne diesen Solidarbeitrag ist diese Krankenversicherungsreform nicht zu machen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Wenn ich die Kurve gekratzt habe. — Herr Blüm am 2. April dieses Jahres:Den Gedanken des Solidarbeitrages habe ich keinesfalls aufgegeben. Jubeln Sie noch nicht zu früh.Blüm am 6. Mai dieses Jahres:Zur zeitlichen Überbrückung bis zum Sparziel verlangen wir einen Solidarbeitrag.Heute müssen wir feststellen: Vollmundig hat der Bundesarbeitsminister — wie immer — begonnen, schlapp wurde er in der Mitte, und kleinlaut wurde er zum Schluß.
Bildlich gesprochen: Als Jung Siegfried zog unser Arbeitsminister aus, um bei der Pharmaindustrie einen Solidarbeitrag einzufordern, und als Laufbursche mit leeren Händen steht er heute vor seinen Opfern.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7903
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Ja, jetzt sind Sie dran.
Herr Cronenberg, bitte!
Herr Apothekerkollege Haack, würden Sie mir zugestehen, daß die Minderung der Preise für Medikamente, die laut „Gelber Dienst" die Pharmaindustrie heute selber schon mit etwa 20 % ansetzt,
bei Ihnen in der Apotheke 20 % Umsatzeinbuße bedingt und daß diese Umsatzeinbuße mit Sicherheit ein Beitrag der Apotheker und der Pharmaindustrie zur Stabilisierung der Beiträge ist?
Herr Kollege Cronenberg, das, was heute im „Gelben Dienst" zu lesen ist, halte ich schlicht und einfach für eine Ente, und zwar aus einem einfachen Grunde: Ich habe meinen Eindruck vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Innerhalb der Verbandsstruktur liegt eine Entschlußunfähigkeit für irgendwelche Maßnahmen vor. Das ist eine Negativkoalition. Insofern ist der Pharmaverband für mich ein Papiertiger. Daß die jetzt dieses Angebot mit 20 % machen, hängt damit zusammen, daß sie ein Störmanöver zur Festlegung der Festbeträge fahren wollen, über die derzeitig beraten wird.
Nein, die Armut bricht bei mir nicht aus. Der Minister hat angeboten, er würde mir auch Sozialhilfeanträge zuschicken. Die brauche ich nicht. Insofern ist die Frage damit beantwortet.
— Jetzt aber Schluß hier, Herr Cronenberg!
Verzeihung, kein Dialog hier, meine Damen und Herren! Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer?
Ja. Vizepräsident Frau Renger: Bitte.
Herr Kollege Haack, Sie mahnen hier den Solidarbeitrag der Pharmaindustrie an. Wie erklären Sie sich dann, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund in seiner Zeitung vom 15. Juni 1988 genau die Belastung der Pharmaindustrie durch dieses Gesundheitsreformgesetz moniert?
Was soll das bedeuten, was Sie mir da zeigen?
Sie sagen, die Pharmaindustrie leiste keinen Solidarbeitrag, und der Deutsche Gewerkschaftsbund beklagt den Solidarbeitrag, den die Pharmaindustrie durch dieses Gesetz erbringen muß.
Nein, dieser kommt doch gar nicht.
— Ach so, jetzt weiß ich, was Sie wollen. Das erzähle ich Ihnen noch. Ihre Frage wird beantwortet. Ich lege dar, warum das nicht wirken kann. Das wollen Sie ja wissen. Das mache ich gerne.
Jetzt geht es weiter. Das Herzstück dieser sogenannten Reform soll das Festbetragsmodell sein. Als am Abend des 3. Dezember der Herr Bundesarbeitsminister der Öffentlichkeit erstmalig das Koalitionsprogramm zum Gesundheitsreformgesetz präsentierte, hat er diesen Punkt geradezu euphorisch gefeiert. Es würden für Heil- und Hilfsmittel, aber auch vor allen Dingen für Arzneimittel Festbeträge eingeführt. Ein festbetragsfähiges Mittel würde eine Vollversorgung garantieren und darüber hinaus die Selbstbeteiligung überflüssig machen. „Geradezu genial" nannte der Arbeitsminister dieses Festbetragskonzept — genial offensichtlich deswegen, weil er glaubte, damit den Selbstbeteiligungsfetischisten in der eigenen Partei, vor allem aber in der FDP ein Bein gestellt zu haben. Mit den Festbeträgen würden die Selbstbeteiligungen abgeschafft und nicht, wie viele in der Koalition es wollten, ausgebaut.Wir Sozialdemokraten haben damals festgestellt: Das Festbetragskonzept ist im Grunde ein Einstieg in die Selbstbeteiligung auf breiter Front. Das Festbetragskonzept ist der Anfang vom Ende des Sachleistungsprinzips in der Krankenversicherung.
Heute, am Ende der Beratungen, stehen Sie mit einem Festbetragssystem da, das bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist, und mit einer Selbstbeteiligungsquote von 15 %, die ab 1992 bei Arzneimitteln noch obendrauf kommen.Sie haben die Selbstbeteiligung nicht, wie versprochen, in weiten Teilen des Leistungsspektrums der Krankenkassen abgeschafft. Nein, Sie haben sie in einem beispiellosen Maße verstärkt. Das sagen wir Ihnen: verstärkt deswegen, weil Sie die Strukturprobleme nicht gelöst haben. Insofern ist die Selbstbeteiligung, die Sie einführen, das Inflationsgeld der Sozialpolitik. Sie werden also mehr oder weniger als De-monteur des Solidarprinzips der Krankenversicherung in die Geschichte dieser Republik eingehen.Besonders abenteuerlich ist Ihr Festbetragskonzept im Arzneimittelbereich. Sie wollen Festbeträge bei drei verschiedenen Typen von Medikamenten: bei solchen mit gleichen Wirkstoffen — Stufe 1 — , bei solchen mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen — Stufe 2 — und bei solchen mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkprinzipien — Stufe 3. Als Sie dieses Konzept vor einem Jahr präsentierten, haben Ihnen beinahe alle
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Haack
Fachleute prophezeit, dieses Konzept sei undurchführbar; Sie würden damit scheitern. Und Sie werden damit scheitern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
das ist das Aktenstück 864, damit Sie das nachlesen können. Es ging um die Beantwortung meiner Frage: Wieviel patentgeschützte Arzneimittel werden Anfang der 90er Jahre dadurch frei werden, daß ihre Patente auslaufen, und werden diese dann eventuell in eine Festbetragsregelung einzubeziehen sein?Wir erhielten ein Schreiben, in dem steht:Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie enthält umsatzstarke „große" Produkte. Die Liste beruht auf einer Auskunft des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie. Weitergehende Angaben waren weder beim Deutschen Patentamt noch beim Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen zu erhalten.Meine Damen und Herren, das ist die Auskunft des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, der für die Arzneimittelgesetzgebung federführend ist. Das heißt, die sind nicht einmal in der Lage, fachlich das zu liefern, was ab 1. Januar 1989 in Kraft treten soll, nämlich die Stufe 1 des Festbetragssystems innerhalb von sechs Monaten.
Dann müssen Sie sich noch von den Leuten die Unterlagen geben lassen, nämlich vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, bei denen Sie abkassieren wollen. Schlimmer kann es doch gar nicht werden.
— Das wollen sie ja.Bestenfalls 20 bis 30 % der am Markt vorhandenen Präparate sind festbetragsfähig, können also durch einen Festbetrag erfaßt werden.Für die restlichen 70 bis 80 % der Präparate gilt ab 1992 eine 15prozentige Selbstbeteiligung der Versicherten mit einer Obergrenze von 15 DM pro Medikament. Sie führen weniger Festbeträge ein, sondern Sie führen ab 1992, also in zweieinhalb Jahren — wieder nach der Bundestagswahl — , für die weit überwiegende Zahl von Medikamenten, nämlich 70 bis 80 % , eine Selbstbeteiligung von 15 % ein.
— Jetzt sind Sie dran, Herr Günther. Als ich Ihnen in der ersten Lesung zu diesem Gesetz das mit der 15 %igen Selbstbeteiligung prophezeite, haben Sie mich verhöhnt. Das können Sie im Protokoll nachlesen; ich habe es hier. Sie haben mich damals für blöd erklärt.Jetzt steht es in diesem Gesetz. Sie sollten ernsthaft darüber nachdenken, wer Ihnen das dort hineingejubelt hat. Ich sage Ihnen: Es waren der Wirtschaftsflügel der CDU und die FDP, und Sie als Sozialausschüssler sind hinten heruntergefallen — wie immer.
Generell läßt sich zu Ihrem Festbetragskonzept, das eine drastische Erhöhung der Selbstbeteiligung für die Versicherten sozusagen als Reservelösung parat hat, feststellen, daß von ihm vor allen Dingen die schwerkranken Patienten nachhaltig getroffen werden, die auf ein Medikament angewiesen sind, beispielsweise Krebspatienten. Denen muten Sie zu, weil keine speziellen Festbeträge in dem speziellen Segment festgelegt werden können, ab 1992 eine 15 %ige Selbstbeteiligung zu tragen.Sie haben gesagt: Die Selbstverwaltung hat sechs Monate Zeit. Hat sie in sechs Monaten nichts zu Papier gebracht, dann wird der Bundesarbeitsminister eine eigene Festbetragsliste der Stufe 1 vorlegen. Das heißt, die Selbstverwaltung ist im Prinzip gar nicht gefragt. Sie kann das in sechs Monaten gar nicht leisten. Sie werden das mit Sicherheit schon alles fix und fertig haben.Wir Sozialdemokraten stehen ja im Gegensatz etwa zu unseren Kollegen von der CDU und Teilen der FDP kaum im Verdacht, daß die pharmazeutische Industrie zu unseren besonderen politischen Schutzbefohlenen gehört. — Nun müssen Sie „Rappe!" rufen.Ein Beleg dafür ist unser zur namentlichen Abstimmung vorgelegter Antrag zum Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Wir sind gespannt, wie Sie zu diesem Antrag abstimmen werden.Wenn Ihnen die pharmazeutische Industrie vorhält, Ihr Festbetragskonzept sei innovationspolitisch verheerend, so können wir dazu ganz unbefangen unsere Meinung sagen: Die pharmazeutische Industrie hat in diesem Punkt recht. Sie belasten nämlich genau jenen Teil der pharmazeutischen Industrie, der zukunftsträchtig und innovativ ist. Sie belohnen durch das Festbetragssystem im Grunde die Nachahmer.Natürlich sind auch wir Sozialdemokraten der Auffassung, daß es am Arzneimittelmarkt nicht so weitergehen kann wie bisher. Natürlich sind auch wir der Auffassung, daß die pharmazeutische Industrie finanzielle Speckpolster angesammelt hat, die die Beitragszahler angefüttert haben. Natürlich wollen auch wir diese Speckpolster herausschneiden. Aber darüber, wie in den Speck hineingeschnitten wird, bestehen unterschiedliche Vorstellungen. Sie verstümmeln hier.Wir haben in der Bundesrepublik derzeit etwa 40 000 einzelne Präparate. Das ist ein Aberwitz, den wir uns leisten. Dies führt zu einer völligen Unübersichtlichkeit am Markt, und diese Unübersichtlichkeit wird ausgenutzt zu überhöhten Preisen.Wer daran etwas ändern will, muß Marktübersicht herstellen, muß die aberwitzige Zahl von 40 000 Präparaten begrenzen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Neuordnung des Arzneimittelmarkts. Aber dazu bieten Sie, Herr Bundesar-
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beitsminister, mit Ihrem Gesundheits-Reformgesetz nichts.
Wir Sozialdemokraten haben zur Marktbereinigung ein Konzept vorgelegt. Uns schwebt ein gemeinsames Arzneimittelinstitut von Ärzten, Krankenkassen und Apothekern vor, das die benötigten Arzneimittel aus der Zahl von ungefähr 40 000 aussucht und somit Marktübersicht schafft. Sie aber — ich wiederhole dies — versagen vor diesem Problem der Ordnung des Arzneimittelmarktes.Die zweite Aufgabe, die eine Neuordnung am Arzneimittelmarkt angehen muß, ist die Preisgestaltung. Sie bestreiten doch ebensowenig wie wir, daß es in der Bundesrepublik Deutschland überhöhte Arzneimittelpreise gibt. Mit dem Festbetragskonzept ändern Sie daran allerdings nichts. Wir sind dafür, daß Hersteller und Krankenkassen auf der Basis der Positivliste direkt miteinander verhandeln.Warum weigern Sie sich eigentlich, den primitivsten Grundsätzen der Marktwirtschaft zu folgen? Warum weigern Sie sich eigentlich, am Arzneimittelmarkt das einzuführen, was auf den übrigen Märkten gang und gäbe ist? Warum weigern Sie sich, vorzuschreiben, daß die pharmazeutischen Unternehmen mit den Krankenkassen über die Preise verhandeln?Herr Minister, ein einfaches Beispiel. Jeder Beitragszahler erwartet, daß ein beabsichtigter Verwaltungsbau seiner Krankenkasse nach der Verdingungsordnung ausgeschrieben und dann über den Preis mit dem Leistungsanbieter verhandelt wird. Will aber die Krankenkasse über Arzneimittel verhandeln, dann verweigern Sie genau dies. Das ist den Beitragszahlern nicht klarzumachen.Herr Minister, ich komme zum Schluß. Die 3,8 Milliarden DM, die Sie durch das Festbetragskonzept, durch die Selbstbeteiligung und durch die Leistungsausgrenzung im Arznei-, Heil- und Hilfsmittelbereich abkassieren wollen, retten die Krankenversicherungen nicht.Es bleibt dabei: Dem Schwachen in dieser Gesellschaft faßt man in die Tasche, den Starken läßt man laufen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu der Art, in der die Beratungen durchgeführt worden sind, sagen, daß sie sich auf dieses vorgelegte Reformwerk in der Weise auswirken, daß es systemimmanent Fehler enthält. Es ist keineswegs, wie Herr Blüm behauptet, ein Jahrhundertwerk. Es wird auch keine 50 Jahre, es wird keine 20 Jahre halten, sondern wir wissen, daß wir uns anstrengen müssen, dieses Gesetz, das sicherlich heute dieses Haus passieren wird, zu ändern, und zwar, so denke ich, spätestens in zwei Jahren. Bei den Beratungen im Ausschuß hat sich nämlich gezeigt, daß das, was dieSozialdemokraten an Änderungsvorschlägen vorgelegt haben, und das, was wir vorgelegt haben, so viel Ähnlichkeit hat, daß es nach den nächsten Bundestagswahlen möglich ist, ein anderes Gesetz zu verabschieden.
Das ist deshalb notwendig, weil diese Reform auf dem Rücken derjenigen in unserer Gesellschaft ausgetragen wird, die ohnehin schon gebeutelt sind.Das Schwergewicht bei diesem vorgelegten Gesetz besteht, wie man weiß, darin, daß es Kostendämpfungen enthält, die in einer Höhe von 14 Milliarden DM aufgebracht werden sollen. Man weiß sicher, daß ein großer Teil dieser aufgebrachten Mittel zur Pflege verwendet werden soll, was eigentlich nichts im Gesundheitswesen zu suchen hat. Die Pflege muß, wie die GRÜNEN es vorgeschlagen haben, durch ein Bundespflegegesetz geregelt werden. Man muß diese Dinge auseinanderhalten.
Insofern stimmt es nicht, Herr Blüm, wenn Sie sagen, daß Sie auf der einen Seite das Geld, das Sie hereinholen, auf der anderen Seite wieder für die Leute ausgeben. Sie lügen damit den Leuten in die Tasche, weil Sie nämlich dieses Geld gar nicht dafür verwenden dürfen. Statt dessen muß ein Pflegegesetz aus Bundesmitteln finanziert werden. Sie aber kratzen hier bei den Leuten das Geld zusammen, um dieses Problem zu lösen.
Fest steht auch, daß Sie versuchen, über die Festbeträge eine kleine strukturelle Änderung im bestehenden Gesundheitswesen herbeizuführen. Aber es steht nicht fest, wie sich diese Festbeträge auswirken werden. Am allerwenigsten steht fest, ob die Pharmaindustrie über die Festbeträge zu ihrem Solidarbeitrag gezwungen werden kann. Das bezweifeln wir und die Sozialdemokraten in jeder Weise!
Herr Blüm, Sie haben hier gesagt: „Wir sind die Retter der Solidarität. " Ich glaube, das sollten wir uns einmal auf der Zunge zergehen lassen,
und wir sollten hinterfragen, ob das, was Herr Blüm macht, die Rettung der Solidarität ist. Das, was er macht, liegt genau im Trend des Prozesses der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft,
die darauf hinausläuft, das Risiko, das in unserer Gesellschaft besteht, auf die abzuwälzen, die am unteren Ende der Gesellschaft stehen. Das finden wir sowohl bei der Massenarbeitslosigkeit, bei der wir feststellen, daß trotz des Wachstums von 3 %, trotz einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Lage, wie Sie ja sagen, die Zahl der Arbeitslosen nicht abgesenkt worden ist und daß in dieser Hinsicht nichts gemacht worden ist, als auch bei dem Risiko, behindert zu sein, das auf den einzelnen abgewälzt wird, bei dem Risiko, wegen Kindererziehungszeiten aus dem Arbeitsleben herausge-
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HossBangen zu sein, das auf den einzelnen abgewälzt wird, und bei dem Risiko, das mit der verfehlten Regionalpolitik und dem Nord-Süd-Gefälle auf den einzelnen abgewälzt wird. Das Gesundheits-Reformgesetz setzt genau diese Abwälzung und Privatisierung von Risiken fort. Das ist das Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, das den einzelnen trifft, das aber, gesellschaftlich gesehen, ungeheuer schlimm ist.
Mit den Selbstkostenbeteiligungen in Millionenhöhe, die schon von anderen im einzelnen dargestellt worden sind, werden genau diejenigen getroffen, die krank sind, die öfter zum Arzt müssen — die müssen einen größeren Anteil zahlen — , oder diejenigen, die ein größeres berufliches Risiko tragen; die müssen die Kosten tragen und selber das Risiko übernehmen. Ich denke zum Beispiel daran, daß die Gebäudereinigerinnen hier im Bundestag, die morgens um 3 Uhr aufstehen müssen, um von Aachen hierher zu fahren, die ein größeres gesundheitliches Risiko eingehen als andere, auch noch damit belastet werden, daß sie höhere Selbstkosten zu zahlen haben. Das wollen wir ändern!
Sie sagen immer, wir hätten keine Vorschläge. Lassen Sie uns einmal ein Gesundheits-Reformgesetz
nach solidarischen Grundsätzen machen. Dann werden Sie sehen, daß wir genau diese Leute nicht belasten werden,
sondern diejenigen belasten werden, die in dieser Gesellschaft ein geringeres gesundheitliches Risiko haben,
die sich aber auf Grund des Krankenkassenwesens, das Sie aufgebaut haben, mit der Hälfte der Beiträge derjenigen, die Erwerbstätige sind, die höhere Beiträge zahlen müssen, in Privatkassen organisieren können, in Kassen also, die aus den gesetzlichen Krankenkassen auch noch Leute abwerben und dadurch deren Situation verschlimmern. Auch das werden wir ändern, wenn wir zusammen mit anderen die Möglichkeit dazu haben. Wir suchen Bündnispartner dafür, ein Gesundheits-Reformgesetz zu machen, das diesen Namen auch verdient.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hoffacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem von Herrn Haack gerade der Vogel-Verhaltensstil vorgeführt worden ist, möchte ich gern wieder zum Ernst der Sache zurückkehren und aus der Sicht des Ausschusses für Jugend,
Familie, Frauen und Gesundheit die besonders relevanten Tatbestände hervorheben.
Es steht fest, daß die Opposition im Ausschuß alle Anträge abgelehnt hat, die sich begünstigend auf die Familie, auf die Jugend und auf die Kinder auswirken.
— Von der Opposition ohne Widerspruch abgelehnt worden sind z. B. — Herr Gilges, Sie können das im Protokoll nachlesen — die Gruppenprophylaxe wie auch die individuelle Prophylaxe bei Zahnerkrankungen. Die Vorsorgekuren für Mütter verdienen nach Ihrer Meinung überhaupt keine Beachtung. Kinderuntersuchungen bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres und Untersuchungen derjenigen, die Anspruch auf Untersuchung zur Früherkennung von Krankheiten haben, wurden von Ihnen ausgegrenzt. Man muß ebenfalls feststellen, daß Sie sich nicht haben bewegen lassen, mit dafür zu stimmen, die Gleichbehandlung von körperlich und seelisch Kranken als eine durchgängige Perspektive in der Gesundheitsreform zu betrachten. Die Fragen, die mit der Rehabilitation zusammenhängen, wurden von Ihnen ebenfalls nicht angenommen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich?
Ich habe zuwenig Zeit; ich bitte um Nachsicht.Die ergänzenden Leistungen im Rahmen der Rehabilitation, die durch die Arbeitstherapie vorgesehen waren, wurden von Ihnen ebenfalls zurückgewiesen.Nun ist es ja ein besonderes Anliegen namentlich der Kollegin Wilms-Kegel, daß die psychosomatischen Zusammenhänge bei den Erkrankungen immer besonders hervorgehoben werden. Den Redebeitrag von Frau Wilms-Kegel heute morgen in der Art des Zynismus und der Menschenverachtung
möchte ich hier ausdrücklich zurückweisen.
Dies muß genauso zurückgewiesen werden wie ihre Einlassung in der „Panorama"-Sendung dieser Woche, in der der Eindruck erweckt und von ihr verstärkt wurde, als habe der gesamte Bundestag Alkoholkranke bis zu einem Prozentsatz — wie vom Redakteur angegeben — von 20 %.
— Ich weise dies ausdrücklich und aufs schärfste zurück, weil dies etwas mit Gesundheit und mit dieser Reform zu tun hat.
— Da haben Sie völlig recht. Solange Sie in Ihrer Fraktion keinen Suchtberater nötig haben, haben wir auch
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Dr. Hoffackerkeinen Parlaments-Suchtberater nötig. Ich bin da ganz der Meinung, die auch Herr Kollege Jaunich geäußert hat. Wir unterscheiden uns allerdings sehr voneinander, wenn es im Zusammenhang mit diesem Punkt um die Gesundheit geht.Eben ist von Herrn Kirschner noch einmal besonders hervorgehoben worden, daß der Krankenhausbereich bei der Reform zu kurz gekommen sei. Herr Kirschner ist der Vorsitzende der Enquete-Kommission. Er müßte eigentlich genau wissen, daß diese Fragen in der Enquete-Kommission behandelt werden. Aber so widersprüchlich die Einlassungen der SPDFraktion im Ausschuß waren, so widersprüchlich sind sie auch heute hier.So muß man feststellen, daß die SPD eine Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission nicht mitgetragen hat. Einerseits beklagt sie sich über mangelnde Beratungszeit im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, andererseits stimmt sie aber nicht zu— nach eigenem Bekunden sei das unbedingt notwendig — , wenn es darum geht, den Sachverständigen in der Enquete-Kommission mehr Zeit für ihre Arbeit zu verschaffen. Das ist ein Widerspruch. Das muß hier gesagt werden. Damit wird die Glaubwürdigkeit all der Einlassungen die Sie heute gemacht haben, in Frage gestellt.
— Herr Jaunich, das wissen Sie doch. Sie haben doch Herrn Kollegen Kirschner im Regen stehen gelassen, als es darum ging, eine solche Verlängerung gemeinsam zu beantragen.
— Nein, Herr Vogel. Sie haben auf das Minderheitenrecht abgestellt. Als es aber darum ging, eine solche Verlängerung zu beantragen, war Ihre Fraktion nicht dazu zu bewegen. Im Gegenteil: Als wir die Verlängerung bis zum 30. September 1989 beantragt haben, haben Sie sich der Stimme enthalten und dadurch klargemacht, daß Sie die Arbeit dieser Kommission nicht mehr für notwendig halten.
Da sind wir ganz anderer Meinung.Heute ist wiederholt zur Bürokratie Stellung genommen worden, die durch diese Gesundheitsreform verursacht werde. Herr Haack kann das als Apotheker ja besonders gut beobachten; er ist auch darauf eingegangen. Ich darf Ihnen kurz vortragen, wie denn die Bürokratie bei der Sozialdemokratie aussieht. Ein Blick in die Eckdaten eines sozialdemokratischen Konzepts zur Strukturreform des Gesundheitswesens ist da sehr aufschlußreich. Da heißt es beispielsweise: Die Arzneimittelversorgung muß zentral auf Bundesebene erfolgen,
auch hier ist ein Einkaufsmodell zu realisieren, erforderlich ist hier zunächst die Organisierung zusätzlichen Sachverstandes.Die SPD-Fraktion hat deutlich gemacht, daß sie einen zusätzlichen Sachverstand tatsächlich organisieren muß. Ich bin der Meinung, sie sollte Anleihen beim Gesundheits-Reformgesetz, bei unserer Fraktion und der Koalition machen. Damit ist sie gut beraten. Sie kann diese Anleihen sogar kostenlos bekommen.
Man muß natürlich wissen, wie diese zentrale Versorgung der Arzneimittel vor sich gehen soll.
Da heißt es: Zu diesem Zwecke gründen Krankenkassen, Apotheker und Kassenärzte gemeinsam ein Arzneimittelinstitut für die kassenärztliche Versorgung. Es erhält die Aufgabe, den gesamten Markt vom Bundesgesundheitsamt zugelassener Arzneimittel zu sichten und die einzelnen Präparate auf ihre Eignung für die kassenärztliche Verordnung hin zu untersuchen und zu bewerten.In diesem Stil geht das weiter. Meine Damen und Herren, wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Wer uns Bürokratie vorwirft, sollte mit der Überprüfung bei sich selbst beginnen und die Vorstellungen, die er für die Zukunft entwickelt hat, schnell wieder revidieren. Wenn von Bürokratisierung die Rede ist, möchte ich sagen: Es genügt ein Blick in diese sogenannten Eckdaten der sozialdemokratischen Fraktion, um festzustellen, was später in Wirklichkeit geschehen soll.. Herr Dreßler und auch Herr Kirschner haben von „Alptraum" gesprochen. Sie haben wiederholt hervorgehoben, es sei ein besonders frevelhaftes Vergehen — so möchte ich es einmal mit meinen Worten sagen — , daß die Pharmaindustrie nicht den sogenannten Solidarbeitrag beibringe. Ich darf wegen der Kürze der Zeit auf das verweisen, was Herr Seehofer bereits zu den Berechnungen gesagt hat. Aber festgestellt werden muß, daß durch die Verneinungs- und Ablehnungspolitik der SPD-Fraktion eine Beihilfe zu dem von Ihnen doch immer bekämpften „Kapitalismus der Pharmaindustrie" geleistet wird. Sie sitzen mit der Pharmaindustrie in einem Boot, wenn Sie sich nicht entschließen können, wenigstens die Festbetragsregelung mitzutragen, die ein wesentliches Stück der Kostendämpfung und auch der Steuerung darstellt.Meine Damen und Herren, daß Sie aus Ihrem ideologischen Garten dabei nicht herauskommen, wissen wir.
— Nein, wir haben da eigentlich keine großen Berührungsängste. Mich amüsiert eigentlich dieses Pamphlet — so möchte ich fast sagen — der Eckdaten; denn da kann man feststellen, was Sie sich beispielsweise selber eingestehen. Bei der Kassenorganisation gestehen Sie sich beispielsweise ein — ich will nicht alles vorlesen — :
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Dr. HoffackerEine Verwirklichung solcher Grundsätze wurde in der Vergangenheit mit der Forderung nach einer einheitlich regional gegliederten Krankenversicherung verbunden. Diese sozialdemokratische— man höre gut zu! —und gewerkschaftliche Idealvorstellung ist politisch nicht zu realisieren. Für sie gibt es weder bei den Bürgerinnen und Bürgern selbst, aber auch innerhalb von SPD und Gewerkschaften keine Mehrheit.Eine schlimmere Blamage und eine größere Bankrotterklärung kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Wir sind gut beraten, wenn wir der Öffentlichkeit kundtun, was denn nun die SPD mit den Krankenkassen vorhat, was sie mit den Apothekern vorhat.
— Was denn? Das weiß er gar nicht? Es könnte sein, daß er, Herr Thomae, wenn er vielleicht wieder einmal bei uns zur Organisierung des Sachverstandes hineinschaut, sich einige wesentliche Punkte verinnerlicht, so daß das Ganze dann etwas einfacher wird.Meine Damen und Herren, die Zeit geht leider zu Ende, sonst würde ich gerne noch ein paar schöne Beispiele des Widerspruchs anfügen, beispielsweise, was Sie so mit den Ärzten vorhaben — das haben wir ja gerade gehört — , daß es keine Einzelabrechnungen mehr gibt, daß es nur noch Fallpauschalen gibt. Ich kann allen Ärzten, bei denen Sie sich anbiedern, denen Sie aber das Hungertuch versprechen, nur gut empfehlen, daß sie einmal in diese Eckdaten hineinschauen.Ich weiß, daß Sie auf mich nicht hören, Herr Vogel,
aber vielleicht hören Sie auf die WAZ, die Ihnen doch sicher nicht ganz unbekannt ist. Da sagt heute der Chefredakteur Ralf Lehmann: „Regierungsbereitschaft und Regierungsfähigkeit" — auf die SPD-Fraktion bezogen, Herr Fraktionsvorsitzender — „setzen auch konstruktives Denken und Handeln voraus". Vielleicht merken wir dies alsbald.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weiler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoffacker, Ihr Beitrag hat uns eigentlich gezeigt, daß Sie sich mit unserem Gesetzentwurf, mit unseren Vorschlägen überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.
Ich habe sogar den Eindruck, daß Sie noch nicht einmal ernsthaft bereit gewesen sind, unsere Änderungsanträge zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lasten in unserer Gesellschaft gerecht zu verteilen, dies versprach der Bundeskanzler vor fünf Jahren. Welche Form der Gerechtigkeit er damit meint, wird in diesem Reformwerk wieder einmal deutlich.
Wieder einmal ist das Motto Ihrer Form von Gerechtigkeit: Einsparung zu Lasten der finanziell Schwächsten. Die wichtigsten Prinzipien unserer Krankenversicherung — Solidarität, soziale Gerechtigkeit, das Sachleistungsprinzip — werden durch dieses Gesetz ausgehöhlt.Wie sehen nun die Maßnahmen aus, die die zukunftsträchtige Rettung unseres Krankenversicherungssystems bewirken sollen? Betrachten wir das Kernstück, betrachten wir die Leistungskürzungen: Bei den Arzneimitteln werden die berühmt-berüchtigten Festbeträge eingeführt, von denen schon heute jeder weiß, daß sie nur für den geringeren Teil der Arzneimittel realisierbar sind.
Für den größten Teil wird es eine Selbstbeteiligung von 15 % geben.
Auch bei Heilmitteln wie Massagen und krankengymnastischer Behandlung müssen Versicherte demnächst 10 % Selbstbeteiligung bezahlen. Das bedeutet bei sechs Massagen à 12,55 DM konkret, daß der Eigenanteil der Patienten 7,53 DM betragen wird, immerhin eine Mehrbelastung von 3,53 DM
Dann stellen Sie sich einmal diejenigen vor, die chronisch krank sind, die durch ihre heutigen Arbeitsbelastungen häufiger Massagen brauchen. Bei Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen kann auf diese Weise schnell eine Belastung von bis zu 2 % entstehen, also bis an die Grenze ihrer sogenannten Überforderungsklausel.Ebenfalls ein tiefer Einschnitt in die Familieneinkommen wird bei der Versorgung mit Brillen vorgenommen. Nicht nur, daß pro Brillengestell nur noch ein Zuschuß von lächerlichen 20 % gezahlt wird und dieser Zuschuß nur noch bei wesentlichen Änderungen der Sehfähigkeit gewährt wird; bei Ersatzbeschaffung und Reparatur zahlt die Kasse überhaupt nichts mehr. Man kann sich also ausmalen, was das in Familien mit mehreren Brillenträgern bedeutet.Beim Zahnersatz und bei den kieferorthopädischen Leistungen werden — das ist der Gipfel, unsozialer geht es nicht mehr — die Leistungskürzungen mit der Abkehr vom Sachleistungsprinzip verbunden. Die Versicherten müssen in Zukunft 50 % der Kosten selbst übernehmen und darüber hinaus die gesamte Leistung vorfinanzieren. Ich frage Sie, Herr Blüm: Wollen Sie damit bewirken, daß man die Finanzstärke eines Menschen in Zukunft am Zustand seiner Zähne ablesen kann?
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Frau WeilerHerr Günther, Sie haben davon gesprochen, daß sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen bereits darauf vorbereiten, Regelungen zu treffen.
Ich frage mich natürlich: Warum haben Sie das nicht bereits ins Gesetz geschrieben, und warum sollen die Krankenkassen die von Ihnen vorgeschlagenen schlechten Regelungen umsetzen? Warum müssen sie die Suppe auslöffeln, die Sie ihnen eingebrockt haben?
Bei der kieferorthopädischen Behandlung, die ja vor allen Dingen bei Kindern erfolgt, werden erst einmal nur 80 % der Kosten erstattet. Das übrige Fünftel erhalten die Eltern nach Abschluß der Behandlung zurück.
— Das müßten Sie wissen, wenn Sie kleine Kinder haben.
Das kann je nach Behandlungsart mehrere Monate oder sogar Jahre dauern. Man kann sich die finanzielle Belastung von Familien mit mehreren Kindern plastisch vorstellen.
Auch das Thema Fahrtkosten ist ein bitteres Kapitel. Hier werden die Leistungen der Kassen faktisch auf Null gebracht. Nur wenn die einzelne Fahrt mehr als 20 DM kostet, zahlt die Kasse noch etwas. Für Hin-und Rückfahrt zusammen sind das bis zu 40 DM Eigenbeteiligung. Angesichts der Mängel des öffentlichen Personennahverkehrs — insbesondere im ländlichen Raum — ist diese Regelung zynisch und rücksichtslos gegenüber denjenigen, die keinen Privatwagen zur Verfügung haben,
also gegenüber Kindern, Schülern, Alten, Kranken und vielen Frauen.Wer alle diese Leistungskürzungen, Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen schafft, wer für diese Belastungen verantwortlich ist, braucht natürlich ein Feigenblatt. Wer Härtefälle produziert, muß Härtefallregelungen nachschieben.
Abgesehen davon, daß dieser Sonderanspruch für finanziell Schwache einen diskriminierenden Charakter hat, hilft er denen nicht weiter, die knapp über der Einkommensgrenze von 1 232 DM liegen. Diese Menschen trifft Ihr sogenanntes Reformgesetz mit voller Härte.Meine Damen und Herren, es würde noch viel Zeit erfordern, alle Leistungskürzungen hier vorzustellen. Denken wir nur an die zusätzlichen Ausschlüsse von Heil- und Hilfsmitteln, die vorgesehen sind. HerrDr. Becker, es geht ja nicht nur um Tabletten gegen Reisekrankheiten. Wie ist es z. B. um die ältere Frau mit offenen Beinen bestellt, die dauernd Binden und Stützstrümpfe braucht? Wie ist es bei Stoma-Trägern, also bei Menschen mit künstlichem Darmausgang, mit Reinigungs- und Pflegemitteln? Was ist mit Windeln und Gummiunterlagen für Menschen mit Inkontinenz? Sie wissen, das alles sind keine leichten Fälle. Das sind Menschen, die dieser Gegenstände leider täglich bedürfen. Ist es wirklich verantwortlich, daß Sie diese Menschen, die genug an ihren Leiden zu tragen haben, auch noch mit Kosten belasten?Eine weitere Ungereimtheit Ihres Gesetzes ist die Zuzahlung von 10 DM für die ersten 14 Krankenhaustage.
Bereits während der Anhörung wurde die schon geltende Zuzahlung von 5 DM als unsinnig und bürokratisch kritisiert, aber Sie setzen noch eins drauf und verdoppeln die Zuzahlung, und das in einem Bereich, der mit Eigenverantwortung nun überhaupt nichts zu tun hat.
Zum Schluß komme ich zu einem weiteren sehr dubiosen Punkt in Ihrem Gesetzentwurf, der charakteristisch für das gesamte Verfahren ist. Mitte September erklärte eine Gruppe von Kollegen aus der CDU/CSU, sie könne dem Gesetz nicht zustimmen, wenn in der Neufassung des Leistungsrechts auch die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Krankenkassen geregelt werde. Abgesehen davon spricht dieses plötzliche Erwachen nicht gerade für die intensive Beratung in Ihrer Fraktion. Außerdem müßte Ihnen bekannt sein, daß immerhin zwei höchstrichterliche Entscheidungen Schwangerschaftsabbrüche auf Krankenschein als nicht rechtswidrig beschieden haben, 1986 das Bundessozialgericht und 1988 das Bundesverfassungsgericht. Aber die Diskussion zeigt die Zerrissenheit der Koalition in dieser Frage. Die Gesetzesklarheit wird einer wirren Koalitionsstrategie geopfert,
und für die Betroffenen werden die Rechtsunsicherheit und die Angst vor staatlichen Sanktionen weiterhin zunehmen. Dieser Einstieg, den Sie hier vornehmen, liegt genau auf der Linie mit den Memminger Prozessen und vielen anderen Anzeichen. Da verweigert z. B. das Sozialamt Fulda, was der Kollege Dregger mit Sicherheit gern bestätigen wird, die Finanzierung eines legalen Schwangerschaftsabbruchs.
Da verweigern private Krankenversicherungen sowie die Landwirtschaftliche Krankenkasse Unterfranken die Zahlung des Abbruchs. Da wird von Gerichten dem Arbeitgeber Recht gegeben, wenn er die Lohnfortzahlung bei Schwangerschaftsabbruch mit sozialer Indikation verweigert, und schließlich müssen Beamtinnen in Bayern die Schwangerschaftsabbrüche bei sozialer Indikation selbst bezahlen. In diesem Kontext betrachtet, ist die scheinbar nur formale Belassung der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrü-
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7910 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Frau Weilerchen in der RVO ein weiterer Angriff auf den § 218 StGB.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da das Licht aufleuchtet, möchte ich jetzt schließen. Ich habe versucht, die Sorgen und Ängste der Menschen auszudrükken,
die sich mit ihren Problemen an uns gewandt haben, aber auch, wie ich weiß, mit vielen Briefen an Sie. Diese Menschen — da können Sie sicher sein — haben keinerlei Verständnis für Ihre Art der Lastenverteilung.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Fürchterliche an diesem parlamentarischen Betrieb — daher rührt auch das begründete Desinteresse großer Bevölkerungsteile an unseren Debatten — ist die Tatsache, daß Entscheidungen der Regierung im wesentlichen bereits festgelegt sind, bevor sie in die parlamentarische Beratung kommen.
So war das auch mit dem sogenannten GesundheitsReformgesetz. Eine Regierung, die sich immer und immer wieder auf ihre Abgeordneten, nämlich die der ihr zugehörigen Koalitionsfraktion, verlassen kann, die zur Mehrheitsbeschaffung bereitstehen,
hat damit auch jede parlamentarische Herausforderung im Griff, zumindest bis zu den nächsten Wahlen.
Nur einmal schien es deshalb im Verlauf der Beratungen dieses Gesetzentwurfs so, als ob er tatsächlich scheitern könnte, und zwar als 40 Unionsabgeordnete wieder einmal ein neues Stückchen in Sachen Schwangerschaftsabbruch aufführten. Der Sachverhalt ist einfach. Noch gibt es neben dem § 218, der Schwangerschaftsabbrüche zu einer Straftat erklärt, den § 218a, der den Frauen unter bestimmten Bedingungen den Abbruch einer Schwangerschaft erlaubt. Diese eingeschränkte Möglichkeit, die allerdings weit von der Möglichkeit der Selbstbestimmung der Frauen entfernt ist, ist bekanntermaßen einem guten Teil der Herren vom rechten Rand dieses Hauses ein Dorn im Auge.
Aber bisher fühlten Sie sich in diesem Flügel der CDU noch nicht stark genug, um offen das Kippen des § 218a anzugehen. Also suchten Sie einen Weg hintenherum, neben dem sogenannten Beratungsgesetz. So gab es denn diesen Versuch von 40 Abgeordneten, nun über den Weg der Krankenkassenfinanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen der Abbruchmöglichkeit insgesamt den Garaus zu machen. Der Deal war klar: Ihr bekommt unsere Zustimmung zum Gesetz nur, wenn endlich die Finanzierung der Schwangerschaftsabbrüche aus den Kassenleistungen herausgenommen wird.
Einer kurzen Phase der Aufregung folgte eine absurde, aber sehr vielsagende Lösung. Die Finanzierung von Abbrüchen ist in dem neuen Gesetz nicht mehr geregelt, sondern bleibt als einsame Bestimmung in der Reichsversicherungsordnung stehen, so wie der letzte Baum, der noch steht, bevor er den Kreissägen zum Opfer fällt.Man mache sich klar, was das bedeutet: Wenn schon nicht durchgesetzt werden kann, daß jede Frau zur Austragung auch eines von ihr nicht gewünschten Kindes gezwungen wird, so sollen wenigstens über die Finanzierung die Daumenschrauben angelegt werden.In diesen Kontext gehört, daß von Ihrer Seite ein Gesetzentwurf abgelehnt worden ist, den wir in dieser Legislaturperiode eingebracht haben, in dem es darum ging, wenigstens die Verhütungsmittel über die Krankenkassen zu finanzieren.
Das zeigt, von welcher Seite her Sie wirklich operieren.
Wieder einmal trifft dies selbstverständlich nicht die wohlhabenden Frauen; denn ihr Gatte oder Liebhaber kann nach wie vor, wenn es sein muß, auch auf Geschäftskosten, einen Flug nach London plus den dortigen Abbruch finanzieren. Das, was so ärgerlich und auch so gemein ist — wir wissen es alle — , ist, daß auch auf diesen Bänken der Koalition Männer sitzen, deren Frauen oder Liebhaberinnen ungewollt schwanger geworden sind.
Sie haben alle erdenklichen Möglichkeiten, diesen Frauen Abbrüche im Ausland, wo das diskret gelöst werden kann, zu ermöglichen.
Den Frauen, die hier im Lande bleiben müssen, machen sie finanzielle Schwierigkeiten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7911
Frau Beck-OberdorfDas, meine Damen und Herren, finde ich niederträchtig. Ich sage es ganz bewußt: Ich finde es niederträchtig.
Sie alle sind weit davon entfernt, auch nur eine Spur davon zu begreifen, in welchen Nöten sich Frauen befinden, die schwanger werden, ohne diese Schwangerschaft austragen zu wollen oder zu können.
Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie einige wenige weibliche Kronzeuginnen wie die bayerische Justizministerin auftun, die Sie in diesem Vorhaben quasi decken.Die Prozesse in Memmingen
haben in erschütternder Weise zum Vorschein gebracht, wie sehr Frauen in diesem Land immer noch gequält werden, wenn sie sich nicht unterwerfen.
Unterwerfen heißt: Männer wollen Frauen zwingen, auch gegen ihren Willen Kinder zu gebären,
Richter, Staatsanwälte, Ärzte, Beamte der Beihilfestellen und eben auch Parlamentarier.Noch ist dieser Vorstoß durch die jetzt vorliegende Regelung abgewehrt. Aber wir wissen, daß Sie nicht aufgeben.
Ich befürchte leider, daß Sie in einer neuen Familienministerin, wenn sie denn Verhülsdonk heißt, eine gute Bündnispartnerin haben werden.Bleibt nur weiter zu hoffen, daß die Frauen Ihnen davonlaufen, wo sie nur können.
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung verfolgt mit diesem Gesetzentwurf einmal mehr ein bekanntes Muster. Kollege Becker, die Probleme, die eigentlich mit der Strukturreform gelöst werden sollten, werden verschoben, wie wir meinen, ausgeklammert und tatsächlich auf unbestimmte Zeit vertagt.
— Kollege Kolb, es ist sinnlos. Tragen Sie an andererStelle zur Findung der sachlich richtigen Entscheidung bei, und halten Sie sich hier zurück. Dann würden Sie wirklich etwas für eine Strukturreform in der Krankenversicherung tun.
Das gilt vor allem für die Gliederung des Krankenversicherungssystems, das verschiedene Mitgliedergruppen benachteiligt, einige unberechtigt privilegiert und insgesamt die Krankenkassen gegenüber den Leistungsanbietern schwächt. Es ist einfach unerträglich — da werden Sie uns als Sozialdemokraten doch zustimmen — , daß wir in der sozialen Krankenversicherung Beitragsunterschiede bis zu 8 Prozentpunkten haben, in der einen Kasse ein Beitrag von 15 % geleistet werden muß, während der Nachbar, der in einer anderen Kasse ist, viel weniger, nämlich 9 %, zu bezahlen braucht. Das bedeutet doch: Es existieren am gleichen Ort in der sozialen Krankenversicherung ganz erhebliche Beitragsunterschiede. Dieses Problem haben Sie nicht aufgegriffen, weil Sie keinen Mut haben. Wir sagen aber: Das ist unsozial, und das wollten wir mit unseren Vorschlägen ändern.
Wenn also der eine Arbeitnehmer das Pech hat, einer teuren Kasse anzugehören, oder ihr sogar zwangsweise zugewiesen wird, während sich der Angestelltenkollege die Kasse mit den günstigen Beitragssätzen aussuchen kann, kann das doch sozial nicht gerechtfertigt sein.
Hier hätte eine Strukturreform ansetzen können, um mit diesen skandalösen Problemen fertigzuwerden.Es ist also keine Modernisierung der Strukturen erfolgt, sondern Sie betreiben sozialen Rückschritt. Das, meinen wir, tun Sie aus einem Dogma heraus, das wir, weil man mit Ihnen darüber nicht mehr sachlich debattieren kann, ablehnen.Beim Zahnersatz — das ist hier schon gesagt worden; ich betone es noch einmal — sollen nun die Selbstbeteiligung und das Kostenerstattungsprinzip eingeführt werden. Sie werden das sehr bald spüren, auch bei arbeitslosen Menschen, die dann möglicherweise — das wäre schlimm genug — an ihren Zahnlücken erkennbar sind.
— Werfen Sie die Dinge nicht so weit weg!
Wir haben das alle erlebt, bis die Sozialdemokraten die richtigen Leistungen in der sozialen Krankenversicherung eingeführt haben. Dann waren diese Dinge weg. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel!
Kostendämpfung ist, wie wir meinen, bei Ihnen Selbstzweck. Abkassieren ist Ihre Methode. Darum sage ich: Über das, was Sie hier vorstellen und als Erfolg darlegen wollen, müssen wir Sozialdemokraten
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7912 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Urbaniakweiter aufklären, damit klipp und klar für alle erkennbar wird: Blüm ist der Abkassierer,
ändert keine Strukturen.Es kommen von uns weiter sachgerecht bezogene Flugblätter und Aufklärungsmaterial
in der nächsten Woche für Hunderttausende von Betriebsräten, für Vertrauensleute. Das sind alles Frauen und Männer in den Betrieben, die sehr genau rechnen können
und die bisher schon, Kollege Kolb, von der Politik der Demontage der sozialen Rechte und der sozialen Besitzstände überzogen worden sind; denn da haben Sie zuungunsten der breiten Schichten der Bevölkerung Ihre Politik betrieben.Ich darf in diesem Zusammenhang, weil der Kollege Blüm mir heute zu den „zahlreichen Luftbuchungen" keine Frage gestattet hat, etwas sagen. Sie haben den Kollegen Dreßler darauf angesprochen.
Nun habe ich hier den „Gelben Dienst" vom 24. November 1988 — taufrisch —, Seite 5; dort können Sie das wegen der Wahrheit, die damit verbunden ist, nachlesen. Dort wird festgestellt:Sechs Wochen vor Inkrafttreten des GesundheitsReformgesetzes ... herrscht bei den Ortskrankenkassen immer noch Ratlosigkeit darüber, wie die neuen Aufgaben bewältigt werden können. Willi Heitzer,— CSU —Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes,
sieht in dem Gesetzentwurf
— Kollege Blüm —zahlreiche „Luftbuchungen" .Das stellt er zunächst fest. Ich zitiere weiter:Der Gesetzgeber mache Versprechungen, welche die Krankenkassen nicht erfüllen könnten. Heitzer wirft dem Bundesarbeitsminister vor, daß die für Beitragssenkungen vorgesehenen Einsparungen in Höhe von 6,2 Milliarden Mark gar nicht realisiert werden könnten.Damit hat ein Mann aus der Praxis gesprochen, und Ihr Zahlenwerk ist Makulatur.Heitzer führt weiter an, schon ab 1991 werde es wieder steigende Beiträge geben. Heitzer und Hans Sitzmann, der Geschäftsführer des AOK-Landesverbands Bayern, sagen, die geplante Pflegeversicherung werde das herausfordern.Mir kam es darauf an, Ihnen vorzutragen, daß bei der Beurteilung, die wir Sozialdemokraten Ihnen politisch sowieso dargelegt haben, selbst zwei Fachleute, die Ihnen nahestehen, klipp und klar sagen: Luftbuchungen bei Ihren Darstellungen. Für die Zukunft ist mit weiteren Beitragserhöhungen zu rechnen. Dies ist ein unsoziales Reformwerk — wenn es die Bezeichnung Reformwerk überhaupt verdient.Wieder einmal hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung seine Aufgabe verfehlt. Er hat nicht sozial gehandelt. Er hat unsozial gehandelt.
Das Wort hat der Abgeordnete Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines der Kernprobleme einer Gesundheitsreform, die ihren Namen wirklich verdient, ist die Organisierung einer bürgernahen und wohnortnahen gesundheitlichen Versorgung.
Wer das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz durchsieht und prüft, ob und wie dort versucht wird, dieses Problem zu lösen, wird dazu nichts finden. Nichts, aber auch gar nichts bieten Sie von der Koalition zur Lösung dieser Probleme an.Sind Ihnen eigentlich die Klagen der Bürgerinnen und Bürger verborgen geblieben,
sie fühlten sich in unserem Medizin- und Gesundheitsbetrieb zu Objekten herabgewürdigt,
sie könnten nicht mitwirken, die Entscheidungen fielen fern vom tatsächlichen Geschehen? Haben Sie das alles nur überhört, weil Sie keinen Lösungsvorschlag haben, oder wollen Sie allen Ernstes behaupten, diese Probleme bestünden nicht?
Sind Ihnen die Äußerungen der Versicherten unbekannt, nach denen sie sich beim Gang zu manch einer Krankenkasse vorkommen, als wären sie bei einer Behörde?Ich wiederhole: Ihr sogenanntes Gesundheits-Reformgesetz verleugnet die Probleme, hat keine Antworten.
Aber nicht nur das. Es macht alles noch schlimmer, noch bürgerferner.Die geradezu abenteuerliche bürokratische Aufblähung, die Sie mit Ihrem Gesetz erreichen werden, entfernt die Krankenkassen immer weiter von ihren eigentlichen Aufgaben.Statt den Versicherten mit Rat und Tat bei Fragen von Gesundheit und Krankheit beistehen zu können, werden die Krankenkassen dank Ihres Gesetzesmonstrums gezwungen sein, den Versicherten mit Rat und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7913
AndresTat bei der Ausfüllung neuer Formulare zu helfen. So wird das kommen.Sie denaturieren unsere Krankenkassen zu Vollzugsorganen Ihrer Bürokratie-Orgie: Alles wird noch komplizierter; denken Sie nur an die vier verschiedenen Erstattungsstufen bei Arzneimitteln. Alles wird noch bürokratischer; denken Sie nur an Ihre Härtefallregelung.Die einzelnen Versicherten werden nicht mehr durchsehen, sie werden, weil sie sich nicht mehr zurechtfinden, auf Leistungen, die sie benötigen, zu guter Letzt verzichten. Und genau das wollen Sie! Mehr Bürokratie provoziert mehr soziale Ungerechtigkeit. Das nehmen Sie bewußt in Kauf.
Wir Sozialdemokraten wissen: Ohne eine bürgernähere Gesundheitsversorgung wird eine Gesundheitsreform ein Torso bleiben. Wir haben daher in unseren Vorschlägen, die Sie alle abgelehnt haben, diesem Gedanken einer bürgernahen Versorgung Rechnung getragen. Wir Sozialdemokraten wissen auch: Wer bürgernah versorgen will, muß zuvor bürgernah entscheiden. Wir wollen daher, daß alle Entscheidungen über die Einzelheiten der Gesundheitsversorgung dort getroffen werden, wo diese Versorgung auch wirklich stattfindet: vor Ort, in der Region. Da gehören sie hin. Denn das Gesundheitswesen berührt die Bürgerinnen und Bürger hautnah.Stellen Sie sich von der Koalition eigentlich nicht die Frage, ob es sinnvoll ist, daß über die chirurgische Krankenhausversorgung in Würzburg nicht dort, sondern im weit entfernten München, über die internistische Krankenversorgung in Bielefeld nicht dort, sondern in Düsseldorf, über die urologische Krankenhausversorgung in Emden nicht dort, sondern in Hannover entschieden wird? So ist es nämlich derzeit, und an diesem Zustand ändern Sie nichts.In der ambulanten Versorgung sind die Entscheidungsstrukturen ähnlich. Auch dort wird auf Landesebene entschieden und nicht vor Ort.Wenn Sie von der Koalition auch die Frage nach dem Sinn und nach der Qualität von Entscheidungen stellen, die weit weg vom tatsächlichen Geschehen getroffen werden, wo sind dann Ihre Antworten dazu? In Ihrem sogenannten Reformgesetz gibt es zu diesen grundlegenden Problemen keine Antworten. Dort geht es Ihnen nicht um eine vernünftige Gestaltung der Versorgung der Patienten, nein, dort geht es Ihnen nur darum, wie Sie an das Geld der Patienten am schnellsten herankommen.
Wir Sozialdemokraten haben uns in unserem Konzept für eine durchgängige Regionalisierung des Gesundheitswesens entschieden.
Wir wollen die Bürgernähe. Wir wollen die Entscheidungen vor Ort, also da, wo sie hingehören.Wir wollen, daß die Krankenkassen als Sachwalter der Versicherteninteressen, die die Hauptverantwortung für die Finanzierung der Gesundheitsversorgung in der Region haben, die Gebietskörperschaften, also Gemeinden, Kreise, Städte und das Land, die die politische Verantwortung für das Funktionieren der Gesundheitsversorgung haben, die Vertreter der Leistungserbringer, also Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser und andere Gesundheitsberufe, die die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Leistungserbringung haben, in dieser Gesundheitskonferenz zusammenwirken. Was gibt es eigentlich an diesem vernünftigen Vorschlag auszusetzen?
Außer Polemik haben wir von der Koalition dazu bisher nichts gehört.
Wissen Sie, wer zur Herstellung von mehr Bürgernähe selbst nichts, aber auch gar nichts anzubieten hat, sollte sich mit der Kritik an den Vorstellungen anderer sehr zurückhalten.Herr Arbeitsminister Blüm, Sie haben unsere regionale Gesundheitskonferenz in der Vergangenheit— und heute hier wieder — als Gesundheits-Sowjet diffamiert. Ihre diesbezügliche üble Nachrede— darin sind Sie ja konkurrenzlos — steht in der Tradition Ihrer Partei, die schon häufig versucht hat, deutlich zu machen, daß alle Wege der Sozialdemokratie nach Moskau führen.
Herr Blüm, wie muß man eigentlich einen Vorgang nennen, wenn der Minister hier eine halbe Stunde moralisch jammert, er werde übel verleumdet,
aber dann in seiner eigenen Rede bei der Zuzahlung zum Krankenhausaufenthalt hier nur die halbe Wahrheit sagt
und in seiner eigenen Rede und an anderer Stelle den politischen Gegner ständig und wiederholt diffamiert? Herr Minister, ich nenne ein solches Verhalten pharisäerhaft.
Wenn die Ärzte und Zahnärzte derzeit allein bestimmen können, wie die Versorgung der Bürger aussieht, dann sind Sie glücklich. Wenn aber die Krankenkassen und Kommunen als Vertreter der Bürger-und Versicherteninteressen mitreden sollen, wie wir dies wollen, dann fällt Ihnen nur noch „Kommunismus", „Sowjet" und „Moskau" ein. Aber so sind Sie eben! Bürgernähe, Bürgerinteressen sind für Sie Tarnkappen, hinter denen Sie die eigensüchtigen Interessen mächtiger Gruppen verstecken.
In Zusammenhang mit unseren Vorstellungen zur regionalen Gesundheitskonferenz und ihren Aufga-
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Andresben werfen Sie uns vor, wir würden das Gesundheitswesen unserer Republik mit einer alles erstickenden Fülle von Plänen überziehen. Herr Thomae, Herr Cronenberg und andere haben das gesagt. Was für ein Quatsch! Das läßt sich in die Unterabteilung jener Polemiken einordnen, die deshalb entstehen, weil Sie selbst zu denjenigen, die Sie anrempeln, keine Alternative haben. Und es ist ja in der Tat so: Wenn es um Lösungsvorschläge zu den wirklichen Strukturproblemen unseres Gesundheitswesens geht, enthält Ihr sogenanntes Gesundheits-Reformgesetz lauter weiße Blätter.Ich muß sagen, ich fand es in einem Punkt sehr erhebend, den Bundeskanzler hier in der Etatdebatte zu hören. Er selber sprach nämlich immer vom „Gesundheitskosten-Reformgesetz". Damit hat er eigentlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie sollten sich von ihm in dieser Frage belehren lassen.
Meine Damen und Herren, solange es nach dem Motto „Die Krankenversicherten bringen das Geld auf, und die Ärzte bestimmen, was damit gemacht wird" — das ist der tatsächliche Zustand im heutigen Gesundheitswesen — geht, ist für Sie alles in Ordnung, dann herrscht Demokratie.
Wenn aber diejenigen, die das Geld aufbringen, auch darüber mitbestimmen sollen, wo und wie es verwendet wird, dann herrscht Entmündigung.Ein anderes Beispiel: Wir wollten eine Großgeräteplanung. Wir wollten, daß vorher festgelegt wird, wohin die teuren medizinischen Großgeräte kommen, damit die sinnlosen Doppelinvestitionen vermieden werden. Was ist denn daran eigentlich unvernünftig?Auch heute schon gibt es Großgeräteplanungen; CDU/CSU und FDP haben sie selber eingeführt. Auch hier stört Sie an unserem Vorschlag doch nur wieder, daß die Krankenkassen als diejenigen, die alles bezahlen sollen, künftig auch mitreden sollen. Auch hier soll doch Ihre Polemik nur wieder verdecken, daß Sie sich zu Anwälten eigensüchtiger Sonderinteressen machen.Nein, alles das, was wir an Bedarfsplanung verlangen, ist prinzipiell nicht neu. Neu ist lediglich, daß die Krankenkassen und die Kommunen bei der Bedarfsplanung zukünftig mitentscheiden, daß die vielen einzelnen bestehenden Planbruchstücke zu einem gemeinsamen Ganzen zusammengefaßt werden, daß die einzelnen Festlegungen nicht mehr ortsfern auf Landesebene, sondern vor Ort und in der Region getroffen werden und daß sich die Betroffenen dann auch daran zu halten haben.Sie werden uns von unseren Überlegungen nicht abbringen. Das können Sie auch gar nicht. Sie sind doch noch nicht einmal in der Lage, zu formulieren, wie Sie sich die Organisation der Gesundheitsversorgung vor Ort anders vorstellen.
Wir verstehen unsere Vorschläge als Lösungsangebote und sind mit allen — ich wiederhole: mit allen —Gruppen des Gesundheitswesens in einem fruchtbaren Dialog.
Daran ändert sich auch nichts, wenn Herr Blüm hier in seiner Rede sagt, führende Ärzterepräsentanten hätten unsere Vorschläge abgelehnt. Wir werden weiter über diese Konzeption diskutieren. Wir werden weiter mit den Gruppen des Gesundheitswesens reden; denn diese Gespräche sind notwendig,
und die Strukturreform des Gesundheitswesens, meine Damen und Herren, liegt noch vor uns. Sie drücken sich mit diesem Gesetzentwurf um jene Entscheidungen, die die Probleme des Gesundheitswesens lösen könnten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit zehn Punkten
aus meiner Sicht die Diskussion zusammenfassen.Erstens. Wir stehen mit dem Gesundheits-Reformgesetz vor dem Ziel.
Es war ein schwerer Weg. Manche haben befürchtet, andere haben gehofft, daß wir im Dickicht von Gruppenegoismen und Besitzständen hängen bleiben. Wir stehen heute im Deutschen Bundestag vor dem Ziel.
Zweitens. Ab 1. Januar 1989 schlägt die Stunde der Wahrheit für die Opposition.
Die Angstkampagne wird dann mit der Realität zusammenstoßen und daran zerschellen.Drittens. Ab 1. Januar 1989 hat die Selbstverwaltung das Wort. Neue Aufgaben in bisher nicht gewohnter Größe kommen auf die Selbstverwaltung zu: neue Aufgaben, große Verantwortung. Ich wünsche der Selbstverwaltung Erfolg im Dienste der Kranken, im Dienste der Pflegebedürftigen, im Dienste der Beitragszahler.
Viertens. Reform oder Ruin? — das war die Alternative. Wir, die Koalition, haben uns für Reform entschieden.
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Bundesminister Dr. BlümFünftens. Für die Felder Krankenhaus, Kassenorganisation und Arztzahl sind weitere Schritte nötig.Sechstens. Kein Kranker wird im Stich gelassen. Neue Regelungen der Sozialrücksichtnahme schützen ihn vor Überforderungen.Siebtens. Die Pflege stärkt den Solidaritätscharakter der Krankenversicherung.
Zum erstenmal erhalten die Pflegebedürftigen von der Krankenversicherung eine handfeste Unterstützung. Das ist der Beitrag der Krankenversicherung. Andere werden ihren Beitrag zum großen Pflegeproblem geben müssen: Gemeinden, Länder. Das Problem ist damit noch nicht gelöst. Wir haben einen wichtigen Beitrag geleistet.Achtens. Ausbau der Vorsorge stärkt die Eigenverantwortung.Neuntens. Meine Damen und Herren, ich möchte am Ende allen Dank sagen, die mitgewirkt haben, diese schwierige Reform zustande zu bringen. Ich nenne an erster Stelle für die Koalitionsarbeitsgruppe: unsere Kollegen Günther und Becker von der CDU,
unseren Kollegen Seehofer und Frau Kollegin Stamm für die CSU;
ich nenne für die FDP den Kollegen Cronenberg und den Kollegen Dr. Thomae.
Diese Koalitionsarbeitsgruppe hat schwierige Fragen intensiv, sachkundig und kooperativ behandelt und damit geradezu ein Modell für kollegiale Zusammenarbeit in schwierigen Fragen geschaffen.
Ich danke dem gesamten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Ich weiß, daß alle Kollegen — von der Opposition wie von den Regierungsfraktionen — sehr beansprucht waren. Ich danke allen, auch dem Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Egert.
Ich will in diesen Dank die Mitarbeiter des Ausschusses miteinbeziehen, die über die Maßen beansprucht waren.Ich will auch den Beamten des Bundesarbeitsministeriums, an ihrer Spitze Herrn Jung, meinen Dank für die schwierige und sehr intensive Arbeit sagen, die sie zu leisten hatten.
Ich danke dem Bundestag für die Arbeit, ich danke dem Bundestag für seine Unterstützung.Zehntens. Ich möchte alle unter dem Dach der Krankenversicherung Versammelten aufrufen, den Streit nach Inkrafttreten des Gesetzes hinter uns zu lassen, eine neue Gemeinsamkeit in der Selbstverwaltung, bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zu suchen. Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Schwestern, Pfleger — alle sind eingeladen, unsere gute Krankenversicherung im Dienst der kranken Mitbürger, im Dienst der Pflegebedürftigen, im Dienst der Beitragszahler leistungsfähig zu halten.Ich denke, der Bundestag hat ein schwieriges Stück Arbeit erfolgreich hinter sich gebracht. Unsere gute alte Krankenversicherung
bleibt die beste weit und breit. Wir haben dazu die Voraussetzungen geschaffen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Es bedarf nun Ihrer Mithilfe. Das ist am besten durch große Ruhe und Zuhören zu meistern.Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung in der zweiten Beratung über das Gesundheits-Reformgesetz. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3437 und 11/3438 sowie 11/3464 und 11/3473 vor, zu denen namentliche Abstimmung in der zweiten Lesung verlangt wird. In einfacher Abstimmung wird über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3439 entschieden. Das gleiche gilt nachher für die Abstimmung über die Änderungsanträge des Abgeordneten Wüppesahl.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, daß wir über die Änderungsanträge vor Aufruf der Einzelvorschriften der zweiten Lesung abstimmen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann wird so verfahren.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3439. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt worden.Wir kommen jetzt zu den Änderungsanträgen, zu denen namentliche Abstimmung verlangt wird. Interfraktionell ist ein Abstimmungsverfahren entwickelt worden, das uns die Arbeit erleichtern soll. Es stellt zugleich sicher, daß jeder Abgeordnete zu jedem Änderungsantrag sein Votum abgeben kann. Dabei werden nicht die üblichen Stimmkarten, sondern wird ein Stimmzettel verwendet, der Ihnen bereits ausgehändigt worden ist. Weitere Stimmzettel können beim Sitzungsdienst in Empfang genommen werden.Ich darf hier einfügen: Wenn es einem Kollegen passieren sollte, daß er beim erstenmal Ausfüllen nicht zurechtkommt, empfehle ich ihm, sich den Stimmzettel erneuern zu lassen, dabei den alten Stimmzettel mitzunehmen und diesen vor demjenigen zu zerreißen, von dem er sich einen neuen Stimmzettel holt.Auf dem Stimmzettel sind die Änderungsanträge durchnumeriert. Bei jedem Änderungsantrag ist außerdem vermerkt, auf welche Vorschrift er sich be-
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Vizepräsident Westphalzieht. Hinzugefügt ist ein Stichwort, das den Inhalt erklärt.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Ihren Namen, gegebenenfalls mit dem Ortszusatz, und ihre Fraktion deutlich in Druckbuchstaben auf dem Stimmzettel einzutragen. Noch lieber wäre mir der Namenszug des Abgeordneten; denn wir müssen verhindern — darüber sind wir uns wohl einig — , daß irgend jemand zwei Zettel mit unterschiedlicher Druckschrift ausfüllt. Berliner Abgeordnete bitte ich, in dem vorgesehenen Kästchen auf dem Stimmzettel ein Kreuz anzubringen.Die Abstimmung geschieht wie folgt: Auf der durchnumerierten Liste können Sie für jeden Änderungsantrag bei der entsprechenden Nummer ein Kreuz für Ja, Nein oder Enthaltung anbringen. Falls Stimmzettel ohne jede Kennzeichnung abgegeben werden, gelten die Stimmen als ungültig. Die gekennzeichneten Abstimmungslisten legen Sie dann bitte in eine der hier vorne und im Eingangsbereich aufgestellten Urnen. Vergessen Sie nicht, Ihren Namen deutlich auf dem Stimmzettel einzutragen.Ich eröffne diese namentliche Abstimmung. Ich weise darauf hin, daß viele weitere Abstimmungen folgen werden.Ich darf noch einmal darauf aufmerksam machen, daß es wenig Sinn hat, auch aus der Sicht des Eigenverhaltens des Abgeordneten, jetzt den Saal oder die Umgebung zu verlassen. Es kommt noch eine ganze Reihe von namentlichen Abstimmungen.Ich darf noch einmal fragen, ob es noch ein Mitglied des Hauses gibt, das anwesend ist und das seine Stimme nicht abgegeben hat, aber dies zu tun wünscht.Meine Damen und Herren, ich kann feststellen, daß kein Abgeordneter mehr an der Abstimmung teilzunehmen wünscht. Alle haben von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte Sie, in den Saal zu kommen und bei den weiteren Abstimmungen mitzuwirken, aber sich vorher auf Ihre Plätze zu setzen. Ich darf um Aufmerksamkeit bitten und die Abgeordneten bitten, sich auf ihre Plätze zu setzen.Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zunächst zu den Änderungsanträgen des fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl. Dazu hat der Abgeordnete Heyenn nach § 31 der Geschäftsordnung um eine Erklärung zur Abstimmung gebeten.
— Ich wäre dankbar für Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute morgen zu Beginn der Beratungen zum Gesundheitsreformgesetz rund 70 Anträge des Abgeordneten Wüppesahl auf den Tisch gelegt bekommen. Wir waren nicht in der Lage, diese Anträge durchzusehen, geschweige denn gegebenenfalls darüber in interne Beratungen einzutreten. Wir können diesen Anträgen nicht gerecht werden. Wir sind nicht in der Lage, uns dazu eine Meinung zu bilden, und wir verzichten auch darauf, eine Meinung zu bilden durch Handauflegen auf diese Anträge.
Deswegen möchte ich für die Bundestagsfraktion der SPD hier erklären, daß wir uns an der Abstimmung über die Anträge Wüppesahl nicht beteiligen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Änderungsanträge des Abgeordneten Wüppesahl auf den Drucksachen 11/3485 bis 11/3554. Auch hierzu wird ein Stimmzettel verteilt. Es handelt sich allerdings nicht um namentliche Abstimmungen über die insgesamt 70 Änderungsanträge des Abgeordneten Wüppesahl. Sie brauchen deshalb auf dem Stimmzettel nicht Ihren Namen zu vermerken. Auf dem Stimmzettel ist vorgesehen, daß Sie Ihr Votum entweder für alle 70 Änderungsanträge gemeinsam oder aber für jeden einzelnen Änderungsantrag abgeben können.
Ich bitte Sie, den Stimmzettel auszufüllen. Die Stimmzettel werden anschließend von den Plenarsekretären eingesammelt. Das Ergebnis der Abstimmungen gebe ich später bekannt. Diese Abstimmung ist eröffnet.
Die Mitarbeiter des Hauses werden gebeten, die Stimmzettel einzusammeln.
— Ich habe die Abstimmung ja auch noch nicht geschlossen.
Darf ich noch einmal fragen, ob die Stimmzettel alle eingesammelt werden konnten?
Mir wird das Zeichen gegeben, daß alle Kollegen die Möglichkeit gehabt haben, ihren Stimmzettel auszufüllen und abzugeben. Dann schließe ich diese Abstimmung.
Wir müssen einen Moment warten, bis das Auszählungsergebnis der namentlichen Abstimmung vorliegt, bevor wir fortfahren können.
Auch hierzu muß ich das Zwischenergebnis wissen.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, würden Sie bitte einmal zu uns nach vorn kommen. — Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Wüppesahl hat sich zu einer Erklärung zur Aussprache gemäß § 30 unserer Geschäftsordnung gemeldet. Er hat mir die Gründe erklärt, warum er sprechen will. Ich glaube, ich sollte diese Gelegenheit nutzen, ihm zwischendurch das Wort zu geben. — Ich gebe ihm das Wort.
Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß zumindest meine verfassungsrechtlich verankerten Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Entscheidungsfindung zu diesem Gesetzeswerk nach Art. 38 unseres Grundgesetzes nicht gewahrt worden sind.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7917
WüppesahlIch habe dazu bereits Ausführungen gemacht und ergänze wie folgt:
— Können Sie jetzt bitte ruhig sein in der ersten Reihe!
Meinem Büro und mir stand die abschließende Synopse des Sozialausschusses erst seit letztem Montag zur Verfügung. Wir haben bis gestern nachmittag daran arbeiten müssen, Änderungsanträge zu produzieren. Diese Änderungsanträge sind von ihrer Qualität und ihrer Anzahl her noch weit unter dem, was wir eigentlich als erforderlich erachten. Mehr zu schaffen war einfach nicht möglich.
— Meinen Mitarbeiterinnen und mir, denen ich von dieser Stelle aus ein besonderes Dankeschön ausspreche, vor allem Frau Sabina Bombien.
Diese Darstellung verstärkt das, was die SPD-Fraktion eben auch durch einen ihrer Sprecher erklärt hat. Es ist natürlich nachvollziehbar, wenn eine Fraktion Schwierigkeiten hatte bei der Kürze der Zeit, die sie meine Änderungsvorschläge zur Prüfung vorliegen hatte, ein wirklich profundes Urteil zu jedem einzelnen Änderungsantrag zu finden, wenngleich die Fraktion DIE GRÜNEN offensichtlich in der Lage gewesen ist, ihr unterschiedliches Abstimmungsverhalten zu durchdenken.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Anspruch, daß dieses Gesetzeswerk ein sogenanntes Jahrhundertwerk ist, und peitschen das in einer Art und Weise durch den Bundestag, daß nicht nur andere Fraktionen den Vorschlag einer Verschiebung der Beratung um zwei Wochen produzieren konnten, sondern daß ich mit der Eingangsthese im Raume stehe:
Ich konnte in dem Maße, wie es mir die Verfassung eigentlich zubilligt, an der Beratung dieses Gesetzeswerkes nicht teilnehmen.
Das, was ich eben gesagt habe, wird verstärkt dadurch, daß Sie mir bei der Beratung zur zweiten Lesung lediglich 15 Minuten eingeräumt haben.
Ich konnte meine Änderungsanträge hier im Raum überhaupt nicht werbend — wie es die Aufgabe für einen Abgeordneten, der eine solche Zielsetzung hat, ist — präsentieren. Die SPD hat es sehr treffend gesagt: Sie konnte die Änderungsanträge nicht durchdenken.
Herr Präsident, ich bin auch am Schluß.
Bitte keine Wiederholung Ihrer Rede von vorhin! Ich bitte Sie, sich auf ihre Erklärung nach § 30, zu der ich Ihnen das Wort erteilt habe, weil Sie meinten, Sie seien in Ihren Rechten beschränkt, zu konzentrieren und fortzufahren.
Ich bin auch am Schluß meiner Ausführungen zu dieser Erklärung.
Diese Erklärung wird, denke ich, wie gemacht, nicht allein im Raum stehenbleiben, sondern ich werde sehr sorgfältig prüfen, ob ich darüber hinausgehende Schritte einleiten kann.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Knabe hat sich zu dieser Abstimmung gemeldet und möchte ein Wort dazu sagen. — Bitte schön, Herr Knabe.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich möchte zur jetzigen Abstimmung erklären, daß ich mich, obwohl meine Fraktion eine entsprechende Empfehlung ausgearbeitet hat, nicht in der Lage gesehen habe, abzustimmen, weil ich keinen einzigen dieser Anträge zumindest einmal in der Hand gehabt habe, um ihn selbst zu prüfen. Ein Abgeordneter, der nach seinem Gewissen entscheiden muß, braucht einfach die Möglichkeit, diese Dinge anzusehen. Wenn sie so spät kommen, wie sie jetzt gekommen sind, sind die Vorwürfe von meinem früheren Kollegen Thomas Wüppesahl gerechtfertigt, daß die Fraktionen das nicht beurteilen, prüfen und bewerten können. Ich glaube, man sollte das in anderen Fällen hinsichtlich der Zahl beschränken oder zeitlich vorziehen. Eine solche Beratung ist einem Abgeordneten nicht zumutbar.
Die Schriftführer sind zu mir gekommen, um mir das mitzuteilen, was bis jetzt zu dem Ergebnis der Abstimmungen — die Auszählung ist schwierig — gesagt werden kann. Bei Zugrundelegung dieser Mitteilung werden wir in die Lage versetzt, in dem schwierigen Abstimmungsverfahren fortzufahren.Die Schriftführer haben mir mitgeteilt, daß bei allen namentlichen Abstimmungen über die Anträge, die uns zur Abstimmung vorlagen, eine Mehrheit des Nein erkennbar ist, so daß sie als abgelehnt betrachtet werden müssen. Dasselbe Ergebnis zeichnet sich bei den Berliner Abgeordneten ab.Diese Tendenz zeichnet sich nach der bisherigen Auszählung auch hinsichtlich der Anträge ab, die der Abgeordnete Wüppesahl in der zweiten Lesung gestellt hat.
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7918 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Vizepräsident WestphalInsgesamt wird sich also mehrheitlich ein Nein ergeben. Das genaue Ergebnis geben wir später bekannt, wenn es vorliegt. Ich verlasse mich auf die Schriftführer der Fraktionen und frage Sie, ob Sie mit der Feststellung einverstanden sind, daß alle Anträge, die in der Liste aufgeführt sind, sowie die Anträge des Abgeordneten Wüppesahl abgelehnt sind. Sie sind einverstanden, daß ich fortfahre?
— Ich stelle das Einverständnis fest.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung über das Gesundheits-Reformgesetz. Ich rufe Art. 1 bis 70, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Reform des Gesundheitswesens. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3320 unter Nr. 2, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2500 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Wir kommen jetzt zu den Gesetzentwürfen des Bundesrates zur Änderung der Reichsversicherungsordnung und des Krankenhausfinanzierungsgesetzes. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 11/3320, die Gesetzentwürfe des Bundesrates — Drucksachen 11/280 und 11/1623 — für erledigt zu erkären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlungen sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Beseitigung der Sonderstellung von psychisch Kranken in der Krankenversorgung. Das ist die Drucksache 11/2594. Ich rufe Art. 1 bis 11, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der GRÜNEN — außer Frau Unruh, die dafür gestimmt hat — abgelehnt.Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einordnung der Vorschriften über die Meldepflichten des Arbeitgebers in der Kranken- und Rentenversicherung sowie im Arbeitsförderungsrecht und über den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in das Vierte Buch des Sozialgesetzbuches.Ich rufe die Art. 1 bis 19, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zurdritten Beratungder noch nicht erledigten Vorlagen zur Gesundheitsreform.Interfraktionell ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten — ich betone: bis zu — für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort hat der Abgeordnete Zink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich meine Erklärung für die Fraktion hier abgebe, darf ich für die Bundestagsfraktion der CDU/CSU feststellen, daß der Herr Abgeordnete Wüppesahl in seinem Recht, hier zu reden, nicht eingeschränkt gewesen ist. Er hatte mehr Redezeit als jeder einzelne Abgeordnete unserer Fraktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der heutigen Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes löst die Bundesregierung ihre Ankündigung aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 18. März 1987 ein, eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen unverzüglich durchzuführen.Die Reform des Gesundheitswesens ist eines der bedeutendsten Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode. Sie ist eine der vordringlichsten Aufgaben der Sozialpolitik.Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Fraktionen im Deutschen Bundestag besteht weitgehende Übereinstimmung darin, daß eine weitere Steigerung der Beitragssätze in der Krankenversicherung, die heute im Durchschnitt bei 13 % liegen, nicht vertretbar wäre. Deshalb ist eine Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung unausweichlich geworden.Meine Damen und Herren, es gibt keine Alternative zur Reform des Gesundheitswesens. Nichts führt daran vorbei: Die Leistungen der Krankenversicherungen müssen auf das medizinisch Notwendige beschränkt werden. Die solidarische Krankenversicherung muß weder Luxus noch Bagatellen bezahlen. Wir brauchen die Konzentration auf das Notwendige, um den wirklich Kranken zu helfen.Nichts führt daran vorbei: Wir müssen denjenigen helfen, die zu Hause Schwerkranke oder Behinderte pflegen. Die Pflege im häuslichen Bereich gehörte zu den bisher vernachlässigten Leistungen in unserem Gemeinwesen. Um die Bereitschaft zur Pflege in der Familie zu erhalten und zu stärken, müssen die Angehörigen, die die Hauptlast der Pflege tragen, entlastet werden.
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ZinkMeine sehr verehrten Damen und Herren, nichts führt daran vorbei: Die Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit muß gestärkt werden. Deshalb sind die Gesundheitsvorsorge und die Krankheitsfrüherkennung aufzuwerten.Nichts führt daran vorbei: Wir brauchen bessere Anreize für mehr Wirtschaftlichkeit durch größere Transparenz und Kostenkenntnis der erbrachten Leistungen.Meine Damen und Herren, nach den heutigen abschließenden Beratungen im Deutschen Bundestag können wir als Bundestagsfraktion der CDU/CSU feststellen: Ziele, Termine und das Gesamtvolumen der Reform sind unverändert geblieben.
Die Gesamteinsparungen von rund 14 Milliarden DM fließen etwa je zur Hälfte in Entlastungen der Beitragszahler und in neue Leistungen. Etwa 1,5 Milliarden DM wenden wir für die Verbesserung der Vorsorge auf. Das ist eine bedeutende Weichenstellung in der Gesundheitspolitik. Über 5 Milliarden DM stellen wir für neue Leistungen bei der häuslichen Pflege bereit.Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben Handlungsfähigkeit bewiesen. Der Gesetzentwurf wird heute verabschiedet. Das erzielte Ergebnis ist auch ein persönlicher Erfolg für Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm.
Wir danken Norbert Blüm für seine Standfestigkeit gegenüber allen Interessengruppen.Aus meiner Fraktion möchte ich die Kollegen Dr. Becker, Horst Günther und Horst Seehofer besonders hervorheben.
Ihnen, aber auch den Kollegen der FDP in der Kornmission sowie allen anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe gebührt Dank für die geleistete Arbeit.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten möchte ich mich im Namen meiner Fraktion auch bei dem Kollegen Egert, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, bedanken. Ihm gebührt großer Respekt für die Bewältigung der ihm abverlangten Arbeitsbelastung. Durch die Art seiner Verhandlungsführung hat er oft zu einer Auflockerung der Atmosphäre beigetragen und über schwierige Situationen hinweggeholfen.Besonderer Dank gilt auch den Mitarbeitern des Ausschusses und den Beamten und Mitarbeitern des Arbeitsministeriums.Meine Damen und Herren, das Beispiel der Gesundheitsreform hat wie kein anderes die Gefährdung des Parlamentarismus durch die Interessenvertretungen deutlich werden lassen. Bei dem zugegebenermaßen mit großer Belastung verbundenen Gesetzgebungsverfahren ging es mitnichten um die Beschneidung der Rechte des Parlaments, namentlich der Rechte der Opposition. Wenn etwas beschnitten werden mußte, so war es der völlig unangemesseneVersuch der großen Schar der Interessenverbände, mit allen Mitteln Einfluß nehmen zu wollen.Meine Damen und Herren, Angst vor Krankheit zu erzeugen ist genauso verantwortungslos, wie die Angst vor dem Alter herbeizureden. Dem, der krank ist, wird geholfen. Wer dies in Frage stellt, handelt verantwortungslos. Niemand muß Angst haben, daß ihm nicht geholfen wird, weil er kein Geld hat. Er bekommt die beste Medizin. Aber wenn die Arzneimittelhersteller beispielsweise ein Medikament für 85 DM und ein gleich gutes für 25 DM anbieten, dann frage ich: Warum soll die solidarische Krankenversicherung das teurere Medikament bezahlen?Auf eine generelle Eigenbeteiligung haben wir verzichtet. Dort, wo Zuzahlungen der Versicherten vorgesehen sind, werden Geringverdienende davon ausgenommen.Auch bei den Fahrtkosten sorgt eine Härtefallregelung dafür, daß niemand überfordert wird. Entscheidend ist, inwieweit aus medizinischen Gründen ein bestimmtes Transportmittel unbedingt erforderlich ist. Bequemlichkeit kann kein Maßstab für die Berechtigung von Ansprüchen an die Solidargemeinschaft sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung unternimmt notwendige Schritte, um den dramatischen Anstieg der Gesundheitskosten zu dämpfen. Sie schafft die Grundlage, um auch für die Zukunft unser modernes Gesundheitssystem zu sichern. Ohne Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme sind die vor uns liegenden Aufgaben nicht zu meistern.Richtig ist: Es muß gespart werden. wer aber dem Gesetz unvoreingenommen gegenübersteht, kann nicht leugnen, daß sich durch die Gesundheitsreform für Arbeitnehmer und Versicherte folgende Pluspunkte ergeben:Erstens. Die Versicherten erhalten Hilfe bei der häuslichen Pflege. Mehraufwendungen: 5,1 Milliarden DM.Zweitens. Die Versicherten brauchen dort, wo für Arzneimittel Festbeträge festgelegt werden, nichts mehr zuzuzahlen. Aufwand: 600 Millionen DM.Drittens. Die Härtefallregelungen der Kassen werden auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und verbessert, und eine Überforderungsklausel ergänzt die ganze Angelegenheit. Aufwand: 150 Millionen DM.Viertens. Die Versicherten erhalten künftig kostenlos Gesundheitsuntersuchungen. Aufwand: 200 Millionen DM.Fünftens. Die zahnärztliche Gruppenprophylaxe wird verbessert. Aufwand: 200 Millionen DM.Sechstens. Die zahnärztliche Individualprophylaxe wird gefördert. Aufwand: 320 Millionen DM.Siebtens. Ein Bonus für gute Zahnpflege wird eingeführt. Aufwand: 800 Millionen DM.Achtens. Die Rezeptblattgebühr bei Brillen wird entfallen. Aufwand: 90 Millionen DM.Neuntens. Die Versicherten werden bei den Beiträgen entlastet. Aufwand: 3,17 Milliarden DM.
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7920 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
ZinkMeine Damen und Herren, diese neun Punkte sind der Beweis: Was gespart wird, kommt den Versicherten zugute.
Insgesamt sind dies mehr als 6,6 Milliarden DM für eine neue Leistung und 6,3 Milliarden DM an Beitragsentlastungen, die sowohl den Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebern zugute kommen. Inwieweit die angestrebten Einsparungen tatsächlich verwirklicht werden und der Erfolg der Gesundheitsreform gesichert wird, hängt selbstverständlich auch davon ab, ob alle, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen, sich in den Dienst der Reform stellen. Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung leisten, die Versicherten, die Rentner und die Leistungserbringer.Meine Damen und Herren, aus zeitökonomischen Gründen will ich damit zum Abschluß kommen. Abschließend stelle ich nochmals für unsere Fraktion fest: Auch bei dem wohl schwierigsten Gesetzgebungswerk dieser Legislaturperiode hat sich der Arbeitsminister als standhaft und die Koalition erneut als handlungsfähig erwiesen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der dritten Lesung des von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung eingebrachten sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes findet ein Gesetzgebungsvorhaben seinen Abschluß, das sowohl vom Beratungsverfahren her als auch vom Inhalt zu den bisher traurigsten Kapiteln der bundesrepublikanischen Parlamentsgeschichte gehört.
Zu kaum einem anderen Gesetz hat es so viele Eingaben der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Verbände gegeben. Bei nur wenigen Gesetzen kann ich mich an ähnlich heftige Proteste in der Öffentlichkeit erinnern. Aber all diese Proteste, all diese Eingaben mit den vielen, auch guten Vorschlägen haben Sie nicht beeindruckt. Ihr Motto war von Anfang an: Augen zu und durch!
Sie meinten, hier Handlungsfähigkeit demonstrieren zu müssen. Sie verwechseln Handlungsfähigkeit mit Aktionismus.
Daß es bei der Behandlung dieses Gesetzentwurfs wirklich nur noch um das Durchziehen ging und Sachpositionen überhaupt keine Rolle mehr gespielt haben, beleuchtet schlaglichtartig Ihre Haltung in der Frage der Kostenübernahme für den schulischen Teil der Krankenpflegerausbildung. Da waren wir uns alle einig in diesem Haus, alle Fraktionen in allen Ausschüssen, daß dies für die Zukunft nicht mehr gelten kann. Kaum waren die Beschlüsse gefaßt, wurden sie von Ihnen korrigiert, wurden sie zurückgenommen, ins Gegenteil verkehrt. Was ist der Grund? DieLänder hatten Widerstand angekündigt, und Sie fürchteten um die Mehrheit im Bundesrat bei der Verabschiedung dieses Gesetzes. Was scherte Sie also Ihr Geschwätz von gestern? Sie nahmen exakt die gegenteilige Position ein und vertreten sie nunmehr mit gleicher Überzeugungskraft wie vorher die andere. Das nennen Sie dann möglicherweise noch Prinzipientreue.Ein in der Geschichte des Parlaments beispielloser Vorgang, der beleuchtet, wie Sie dieses Gesetz am liebsten beraten hätten, ist auch der Ausschußantrag 185, mit dem Sie dem Arbeitsminister die Vollmacht geben wollten, die in der Hektik des Verfahrens entstandenen Beratungsfehler nachträglich auf kaltem Wege auszubügeln. Sie haben diesen Antrag nach heftigen Protesten Gott sei Dank zurückgezogen. Aber dieses Zurückziehen hat ja an der tatsächlichen Beratungslage, am Beratungsverfahren nichts geändert. Man muß ja kein Prophet sein, um Ihnen voraussagen zu können, daß die Reparaturen zu Beginn des nächsten Jahres von Ihnen werden vorgenommen werden müssen. Es ist doch heute bereits erkennbar, daß es aus Ihrer Sicht und Ihrer Diktion heraus nur ein Fehler sein kann, daß, wenn jemand regelmäßig zum Zahnarzt geht, um Prophylaxe zu betreiben, er hinterher die von Ihnen gewollte, satzungsmäßig zu verankernde Beitragsrückgewährung nicht in Anspruch nehmen kann. Das ist doch sicherlich nur eine Panne, die Ihnen passiert ist. Aber diese Hektik des Beratungsverfahrens hat eben dazu geführt, daß Sie solche Fehler überhaupt nicht entdecken, geschweige denn ausmerzen konnten. Von geordneten Parlamentsberatungen kann man also wirklich nicht reden.All das zeigt, mit welchem Geist Sie an das Gesetzgebungsvorhaben herangegangen sind und wie Sie es am liebsten hätten. Sie hätten es nämlich am liebsten, wenn sich die Mitglieder des Deutschen Bundestages als Notare von Regierungs- oder Koalitionsbeschlüssen verstehen würden.
— Das ist eine Tatsache. Das ist die von Ihnen hier praktizierte Art und Weise. Daß Sie das nicht gern hören, kann ich durchaus verstehen. Dieses Gesetz ist unter unsäglichen Beratungsumständen zustande gekommen. Aber nicht nur das, auch der Inhalt ist eine Aneinanderreihung von sozialpolitischen Ungeheuerlichkeiten.Für uns Sozialdemokraten besteht kein Zweifel: Dieses Gesetz kann man nur ablehnen, und wir werden das gleich bei der anstehenden Abstimmung tun.
Wenn man sich die Instrumente Ihres Gesetzentwurfs anschaut, stößt man auf Selbstbeteiligung, auf Festbeträge, auf Kostenerstattung, kurzum: Der gemeinsame Nenner all dieser Instrumente ist ein Zuschussystem, bei dem die Krankenkassen nur noch einen mehr oder weniger großen Kostenanteil übernehmen und bei dem der Rest dem Patienten aufgebürdet wird. Der Effekt, der damit erzielt wird und den Sie sicherlich wollen, ist, daß der Versicherte abgeschreckt wird, Leistungen in Anspruch zu nehmen.
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JaunichMit Selbstbeteiligungen und Leistungskürzungen wollen Sie finanzielle Folterinstrumente einführen. Aber ich sage Ihnen: So wie im Mittelalter Folter wenig zur Wahrheitsfindung beigetragen hat, so wenig wird heute diese Art von Folter zur Verbesserung der medizinischen Versorgung beitragen.Besonders eindrucksvoll hat Ihnen dies ja die Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" des Deutschen Bundestages ins Stammbuch geschrieben. Sie hat überhaupt eine Reihe von interessanten und erwägenswerten Vorschlägen erarbeitet. Ihre Angst, diese Ergebnisse rechtzeitig der Öffentlichkeit zu präsentieren, gründet sich doch darauf, daß dies sachgerechte Vorschläge sind, die Sie nicht um alles in der Welt in dieses Gesetzgebungsverfahren einbezogen haben wollten.Sicherlich ist es richtig, daß die Voten der Enquete-Kommission zur Krankenversicherungsreform gegen Ihre Stimmen zustande gekommen sind. Aber Sie haben doch die Mehrheit in diesem Hause. Sie hatten zusammen mit den von Ihnen benannten Sachverständigen auch die Mehrheit in dieser Enquete-Kommission. Gibt es nicht zu denken, wenn Sie als Mehrheitsfraktion zu den Arbeitsergebnissen der Enquete-Kommission nun ein Minderheitsvotum vorlegen wollen? Wann wird das eigentlich kommen, wann werden wir das zu lesen bekommen?Wir haben heute hier einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir eine besonders widersinnige und besonders unsoziale Variante der Selbstbeteiligung zur Sprache bringen. Ich meine die Kostenbeteiligung von 10 DM bei Krankenhausunterbringung. Sie sind zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens mit dem Versprechen angetreten, diese besonders unsinnige Form von Selbstbeteiligung zu streichen. Heute, zur dritten Lesung, stellen wir fest: Sie haben nicht gestrichen, Sie haben verdoppelt,
und zwar darum, weil Sie, wie Sie in der Begründung Ihres Verdoppelungsantrages schreiben, Ihr Einsparvolumen sonst nicht erzielen würden. Ihnen geht es also gar nicht um gestaltende Gesundheitspolitik. Nein, es geht um das Abkassieren.
Sie werden heute in einer namentlichen Abstimmung zur Verdoppelung der Selbstbeteiligung bei Krankenhausunterbringung, deren Sinn Sie ja selbst bestritten haben, Stellung nehmen müssen.Aber nicht nur Ihr Versprechen, die Selbstbeteiligung bei Krankenhausunterbringung abzuschaffen, haben Sie gebrochen, nein, auch das vollmundige Versprechen des Arbeitsministers hinsichtlich der 1,7 Milliarden DM Solidarbeitrag der Pharmaindustrie ist nicht erfüllt worden. Kurzum: Sie haben auch hier Wortbruch begangen. Indirekt geben Sie Ihren Wortbruch ja selbst zu. Sie drehen und winden sich und ziehen an den Haaren Argumente herbei, mit denen Sie beweisen wollen, das Versprechen hinsichtlich des Solidarbeitrags der Pharmaindustrie sei doch eingelöst.
— Nein.Wie war es denn? Festbetrag und Barscheck über 1,7 Milliarden DM — so war doch die öffentliche Darlegung.
Nein, der Scheck ist nicht eingekommen, zumindest nicht bei den Kassen, die das Geld schließlich kriegen müßten.
— Er ist nicht angekündigt.Alles, was Sie hierzu sagen, ist Ablenkung, sind Nebelkerzen. Sie, Herr Blüm, aber auch der Bundeskanzler, sind mit Ihrem Vorhaben, bei der Pharmaindustrie diesen Solidarbeitrag einzufordern, kläglich gescheitert. Sie werden heute in dritter Lesung Gelegenheit haben, auch hierzu in namentlicher Abstimmung Stellung zu nehmen.In einem dritten Entschließungsantrag, den wir heute zur Abstimmung stellen, behandeln wir noch einmal das Kapitel Sterbegeld für Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung. Wir als Sozialdemokraten haben mit allen Kräften versucht, Sie von Ihrem unsozialen Vorhaben abzubringen, den Bürgerinnen und Bürgern eine der ältesten Leistungen der Krankenkassen aus dem Leistungskatalog herauszustreichen. Sie aber haben sich von Ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen. Wenn Sie jedoch schon den Versicherten das Sterbegeld streichen, werden wir es nicht zulassen, daß die Leistungen im Sterbefall für Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung auf ihrer alten Höhe bleiben.
Nein, dann müssen Sie sich so behandeln, wie Sie die Bürger draußen behandeln. Auch dafür müssen Sie heute bei der Abstimmung über unseren Antrag mit Ihrem Namen einstehen.Ihr Gesetzentwurf ist ein schändlicher Anschlag auf die soziale Gerechtigkeit in dieser Republik.
Er zerstört die Solidarität. Eines der gravierendsten Beispiele hierfür ist Ihr Vorhaben, zunächst versuchsweise die Beitragsrückgewähr einzuführen. Das ist eine besonders schlimme Form der Selbstbeteiligung. Stellen Sie sich bitte vor: Der Versicherte, der krank ist, zahlt zwölf Beiträge im Jahr, der Gesunde nur zehn; ihm geben Sie ja nicht nur seinen Beitragsanteil zurück, sondern auch den des Arbeitgebers.Meine Damen, meine Herren, ich komme zum Abschluß. Robin Hood, ein englischer Volksheld, der auch bei uns sehr bekannt ist, raubte der Überlieferung nach reiche Adlige und Kleriker aus und beschenkte damit Arme. Er ist in die Geschichte eingegangen. Norbert Blüm geht genau den umgekehrten Weg.
Er nennt es in nicht zu überbietendem Zynismus auchnoch: die Solidarität neu bestimmen. Wir werden ihmauf diesem Weg nicht folgen. Wir werden das Gesetz
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7922 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Jaunichzur Zerstörung der sozialen Krankenversicherung, das Gesetz, das als Übergangsgesetz zur privaten Krankenversicherung bezeichnet werden muß, ablehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik in der Sache in der heutigen Debatte war so, wie wir sie auf Grund der Ankündigungen erwartet haben. Die Kritik in der Form, so meine ich, war besser, als ich es befürchtet habe. Ich nehme an, daß das darauf zurückzuführen ist, daß die Opposition durch nicht wenige vorgetragene Argumente
durchaus beeindruckt war. Ich nehme auch an, daß der eine oder andere Koalitionsabgeordnete durch das, was von der Opposition vorgetragen worden ist, zum Nachdenken angeregt worden ist.
Meine Damen und Herren, im Interesse aller Patienten, Versicherten und Heilberufe müssen doch auch diejenigen, die gleich in der dritten Lesung nein sagen, uns bei unseren Bemühungen Erfolg wünschen. Denn wer hier im Hause kann gegen stabile, möglichst niedrige Beiträge sein? Denn wer hofft nicht, daß möglichst viele Patienten mit möglichst vielen festbetragsfinanzierten Medikamenten optimal versorgt werden? Wer hofft nicht, daß möglichst viel Vorsorge und Individualprophylaxe betrieben und damit die Gesundheit gefördert wird? Wer hofft nicht, daß eine humane Versorgung durch dieses Gesetz gefördert wird? Wer kann denn etwas gegen die Förderung und Unterstützung freiberuflicher Tätigkeit im Gesundheitssektor haben? Das Wichtigste: All das dient dem Bemühen, ein freiheitliches Gesundheitssystem mit hohem Niveau aufrechtzuerhalten, es zu fördern.
Kollege Jaunich, das erreichen wir nicht, wie Sie meinen, mit Folterinstrumenten,
sondern mit sinnvollen materiellen Anreizen,
die die Menschen dazu motivieren, sich in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Solidargemeinschaft vernünftig, sparsam und gesundheitsbewußt zu benehmen. Ich meine, das müßten Sie unterstützen.
Deswegen meine ich auch, Sie bräuchten dieses Gesetz nicht mit dieser Sorge zu kommentieren, wie Sie es getan haben, Kollege Jaunich.Ich möchte an dieser Stelle kurz ein offenes Wort an die Verbandsvertreter richten. Sie haben sich in vielen Gesprächen mit uns bemüht, die Interessen Ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Im allgemeinen kann ich nicht leugnen, daß Sie sich dabei die Interessen der Allgemeinheit zu berücksichtigen bemüht haben. Dafür sei Dank gesagt. Zu denen, die diesen richtigen Ton nicht gefunden haben, habe ich mich heute morgen geäußert. Dem möchte ich nichts hinzufügen.Manche der Anregungen waren vernünftig und sind auch in den Gesetzentwurf eingeflossen. Andere wollten oder konnten wir nicht übernehmen.Meine dringliche Bitte an diejenigen, die jetzt mit der Umsetzung beschäftigt sind, ist, im Sinne des Gesetzes mitzuarbeiten. Das wäre ein wichtiger und entscheidender Beitrag zur Sicherung des eben angesprochenen freiheitlichen Gesundheitssystems. Nach meiner festen Überzeugung gibt es in der Welt kein besseres als das unsere: mit freier Arztwahl, mit Therapiefreiheit und, so hoffe ich, mit erschwinglichen Beiträgen.Für ein solches freiheitliches Gesundheitssystem habe ich mich in den letzten Monaten und Wochen eingesetzt. Viele unserer liberalen Positionen sind in das Gesetz eingeflossen. Aber in einigen Bereichen mußten auch Kompromisse eingegangen werden, wie das in Koalitionen nun einmal üblich ist.Nicht alle von uns haben sich mit jedem Detail beschäftigen können. Das ist bei einem so großen Gesetzesvorhaben normal. Aber wir bedanken uns — ich glaube, da spreche ich auch für die Oppositionsabgeordneten — , daß diejenigen, die sich aktiv mit der Problematik beschäftigt haben, das Vertrauen ihrer Kollegen gefunden haben; denn sie verhalten sich in ihrer Abstimmung ja so, wie es von den Kollegen vorbereitet worden ist.Daß die Rechte des einzelnen nicht beeinträchtigt werden, wie es vorhin von dieser Stelle behauptet worden ist, wird durch den Fleiß des Kollegen Wüppesahl bewiesen, der immerhin 70 Anträge vorgelegt hat. Das setzt ja offensichtlich voraus, daß man sich, wenn man es will, mit der Materie intensiv beschäftigen kann.Ich habe schon heute morgen zum Ausdruck gebracht: Dieses Gesetz ist ein bedeutsamer Beitrag zur Erhaltung eines freiheitlichen und humanen effizienten Gesundheitssystems zu bezahlbaren Kosten.Ich glaube zwar nicht, verehrte Kollegen von der SPD, daß Sie nach den nächsten Wahlen in der Regierung sitzen.
Sollte ich mich aber irren, so bin ich überzeugt, Herr Kollege Jaunich, daß Sie viele, vor allem die wesentlichen, Teile dieses Gesetzes genauso pfleglich behandeln werden, wie die Koalition heute manches Gesetz aus der alten Koalition pfleglich behandelt. Ich meine, das sollte uns allen eigentlich eine beruhigende Gewißheit geben.Ich bedanke mich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7923
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Nach der Verabschiedung der sogenannten Gesundheitsreform werden sich die strukturellen Fehler und Lücken in unserem Gesundheitswesen nicht in Luft auflösen. Im Gegenteil: Sie werden krasser und deutlicher als je zuvor zutage treten.
Es ist ein Skandal, daß nach diesem monatelangen Gezocke um das GRG schon nach der nächsten Reform geschrien wird. Der Apparat, mit dem die bestehenden Mängel verwaltet werden, wird erneut aufgebläht und mit weiteren Kompetenzen versehen.
Die Mängel selbst, die tagtäglich viele Menschen das Leben kosten, ihnen Schmerzen bereiten oder sie krank machen, existieren weiter.
Um deutlich zu machen, worüber heute geredet und abgestimmt wird, nenne ich ein paar Zahlen:
Unser Gesundheitswesen ist mit 251 Milliarden pro Jahr das umsatzstärkste „Unternehmen" in der Bundesrepublik. Zum Vergleich: Daimler-Benz kommt nur auf rund ein Viertel dieses Jahresumsatzes.
Der Anteil, der dafür ausgegeben wird, daß die Menschen gar nicht erst krank werden, also der Anteil der vorbeugenden Gesundheitspolitik im engeren Sinn, liegt bei 2 %. Dagegen werden 98 % des Gesamtumsatzes darauf verwendet, vorhandene Erkrankungen zu behandeln, zu lindern oder zu heilen.
Anders ausgedrückt: Mit 2 % dieses Geldes sollen 100 % der Bevölkerung vor Erkrankungen bewahrt werden. 98 % dieses Geldes müssen für den „Reparaturbetrieb" ausgegeben werden.
Die Erhaltung dieser Schieflage verdanken wir der Scheuklappen-Politik unserer Regierung. Es ist eine Binsenweisheit, daß das Leben voller Gefahren ist und daß diese Gefahren nicht allein vom einzelnen Menschen gesucht oder gar selbst hergestellt werden. Sieht man sich aber die Gesundheits- und Sozialpolitik der Regierung an, so scheint es so zu sein, als sei diese Binsenweisheit nicht bis in die Hirne der zuständigen Politiker/-innen und Ministerialbeamten/-innen gedrungen.
Dafür haben sich ganz andere Gedanken dort breitgemacht. Selbstverschuldungstheorien, Belohnung und Bestrafung werden ab 1. Januar fester Bestandteil unserer Gesundheitspolitik sein.
Mit der Verabschiedung des GRG werden von den Konten der chronisch Kranken und Behinderten quasi per Dauerauftrags-Überweisungen auf die Konten der Pharmaindustrie und auf die Konten der Gesunden vorgenommen. Laufzeit: Lebenslänglich. Höhe: je nach individuellem Gesundheits- und Kontostand etwa zwischen 50 und 200 DM monatlich. Verwendungszweck: Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Das ist das Ergebnis Ihrer Reform — ein beschämendes Ergebnis, wie ich finde, vor allem, wenn ich an die Schaumschlägereien aus dem vergangenen Jahr denke.
Im Vergleich zu dem Gesetzentwurf vom Mai ist das Gesetz, das heute zur Abstimmung steht, dennoch als Fortschritt zu betrachten. Immerhin ist Ihr Versuch, über das Gesundheitsreformgesetz ein allgemeines Personenkennzeichen einzuführen, gescheitert.
Auch Ihr Versuch, die Kosten für Rettungsfahrten von den Kranken und Verletzten zu kassieren, ist gescheitert.
Ihr Versuch, zur Entbürokratisierung und zu mehr Transparenz im Gesundheitswesen beizutragen, ist übrigens ebenfalls mißlungen. Statt Transparenz beschert uns das GRG ein Kontroll- und Nachweissystem, das bisher ohne Beispiel ist. Mit Ausnahme der Hersteller und Betreiber von Fotokopierapparaten wird davon keiner einen Nutzen haben. Eine Flut von Nachweispapieren, Einkommensbescheinigungen, Meldezetteln, Auslagequittungen und anderen Unterlagen, wird demnächst über die Mitarbeiter der Krankenversicherungen kommen.
Härtefallregelung und Überforderungsklausel werden von vielen Bürgerinnen und Bürgern allein deshalb nicht in Anspruch genommen werden, weil sie den im Gesundheits-Reformgesetz angelegten Formularwust nicht bewältigen können.
Ob die dadurch entstehenden Einsparungen ebenfalls in Ihre Rechnung eingeflossen sind?
Sie haben in Ihrem Reformgesetz nicht eine einzige Maßnahme vorgesehen, die dazu führen könnte, das Krankheiten verhindert werden. Nicht ein einziger Paragraph dieses umfangreichen Gesetzes wird der Tatsache gerecht, daß Gesundsein und Gesundbleiben in einer Welt, die immer mehr Lärm, immer mehr Schmutz und immer mehr Gift produziert, nicht mehr selbstverständlich sind.
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Ich will mal versuchen, ob ich es schaffe, die Kollegen dazu zu bringen, sich hinzusetzen. Das gilt übrigens sogar für Kollegen Ihrer Fraktion, daß sie sich besser hinsetzen und ein bißchen zuhören, statt hinten Unterhaltungen zu führen. Es ist die letzte Rednerin unseres Abends.
Danke. — Wir GRÜNEN haben uns unter einer Strukturreform im Gesundheitswesen etwas anderes vorgestellt, als den Kranken Daumenschrauben anzulegen nach dem Motto: gesund bleiben oder zahlen.
Wir haben uns vorgestellt, daß durch die Strukturreform im Gesundheitswesen eine echte Solidargemeinschaft geschaffen wird, eine Solidargemeinschaft, in die z. B. auch Beamte und Beamtinnen sowie Selbständige mit einbezogen sind und die dann, wenn die Besserverdienenden nicht mehr in die privaten Versicherungen gehen, auch für alle Leistungen aufkommen kann — ohne sogenannte Selbstbeteiligungen.
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7924 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Frau Wilms-KegelWir wünschen uns ein Krankenversicherungssystem, das ohne die Selbstbeteiligungslüge auskommt. Denn was sind Ihre Selbstbeteiligungen denn anderes als Sonderbeitragserhöhungen für Kranke?
Wir GRÜNEN haben uns vorgestellt, daß nach einer Strukturreform im Gesundheitswesen alle Menschen wählen können, ob sie sich im Falle einer Erkrankung lieber schulmedizinisch, naturheilkundlich oder gar mit Methoden beider Richtungen kurieren wollen.
In unseren gesundheitspolitischen Vorstellungen spielen die freie Wahl der Behandlungsmethoden und die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten die entscheidende Rolle.
Die Grund- und Menschenrechte müssen im Gesundheitswesen endlich zur Geltung kommen. Dazu gehört für uns eine umfassende Aufklärung über alle Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten und dazu gehört das Recht auf freie Entscheidung und auf Ablehnung einer Untersuchung oder Behandlung, beispielsweise auch das Recht auf Ablehnung eines AIDS-Tests.
Wir fordern eine strikte Kontrolle der pharmazeutischen Industrie und eine deutliche Anhebung des Sicherheitsstandards bei Arzneimitteln.
Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung muß endlich Vorrang vor den Interessen der Anbieter erhalten. Mit der Verabschiedung des GRG wird erneut ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung getan.Die Versorgung wird durch diese Kostendämpfungsstrategien in Zukunft verschlechtert und gefährdet. Die Technokraten haben weiterhin das Sagen.Wir GRÜNEN plädieren für einen anderen Umgang mit Krankheit in unserer Gesellschaft und für bessere Chancen für Gesundheit. Beides muß zusammen gesehen werden, und dies erfordert eine ganzheitlich humane und keine technokratische Denkweise.
Ich möchte hierzu einen großen französischen Philosophen der Aufklärungszeit zitieren, nämlich Voltaire. Er sagte, lange bevor das Zeitalter der Kostendämpfer anbrach, das hoffentlich bald zu Ende geht — vielleicht haben wir ja demnächst Glück —:Ärzte verschreiben Medikamente, von denen sie wenig wissen, gegen Krankheiten, von denen sie noch weniger wissen, für Menschen, von denen sie überhaupt nichts wissen.
An dieser traurigen Wahrheit hat sich bis heute nichtsgeändert. Daran wird sich auch durch dieses Gesetznichts ändern. Herr Blüm macht sich keine Kopf-schmerzen über die Zahl der Medikamente, sondern nur über ihren Preis.
— Das ist richtig. Sie haben keine einzige Regelung dafür vorgesehen. —
Er hat dafür gesorgt, daß sich Kranke in unserer Gesellschaft nicht angenommen fühlen können, er hat die Bedingungen zur Bewältigung der Krankheit erheblich verschlechtert.Nach Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir GRÜNEN erst recht und in noch viel größerem Maße als bisher für die Interessen und für die Belange der Patientinnen und Patienten eintreten.
Das gesundheitspolitische Klima in der Bundesrepublik Deutschland ist heute erneut rauher geworden. Um so wichtiger ist es, daß wir endlich eine öffentliche Debatte über Gesundheit, Krankheit, Lebensbedingungen und Selbstbestimmung in unserem Land führen.
Die Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes setzt für mich den Anfangspunkt und nicht das Ende dieser öffentlichen Debatte fest. Ich fordere Sie alle auf, sich daran zu beteiligen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zuerst zur Schlußabstimmung über das Gesundheits-Reformgesetz. Es ist namentliche Abstimmung vorgesehen. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es noch eine ganze Reihe weiterer namentlicher Abstimmungen, aber auch anderer Abstimmungen gibt, die anschließend in einem möglichst schnellen Verfahren abgewickelt werden.Darf ich fragen, ob es noch Abgeordnete gibt, die ihr Stimmrecht noch nicht ausgeübt haben, aber es noch tun wollen?Ich frage noch einmal, ob alle Kollegen von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, ihre Stimme abzugeben. Ich frage insbesondere nach draußen. — Ich sehe keinen Kollegen mehr, der von seinem Stimmrecht noch Gebrauch machen muß. Ich schließe die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.Ich stelle Ihr Einverständnis fest, daß wir mit den anderen Abstimmungen fortfahren. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gebe ich dann später bekannt. )Wir haben zunächst über eine Entschließung abzustimmen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 11/3320 unter Nr. 4 die An-*) Ergebnis Seite 7926A
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7925
Vizepräsident Westphalnahme einer Entschließung. Kann mir ein Kollege helfen, das Stichwort dazu zu sagen, damit jeder weiß, worüber wir abstimmen?
Es ist ein Bericht über Festbeträge bei Arzneimitteln. Der Ausschuß empfiehlt die Annahme dieser Entschließung. Ist das korrekt, Herr Berichterstatter? — Dann bitte ich diejenigen, die für die Empfehlung des Ausschusses sind, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Ich komme nunmehr zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, die ich in der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufe.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3422, Stichwort Sterbegeld für Hinterbliebene von Abgeordneten? Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß dieser Antrag mit der Mehrheit der Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen worden ist.Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3441. In dem Antrag geht es darum, Naturheilmittel einzubeziehen und die verschiedenen Therapierichtungen gleichberechtigt zu behandeln. Es ist der Vorschlag gemacht worden, über die beiden Spiegelstriche getrennt abzustimmen.Ich rufe den ersten Spiegelstrich auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der erste Spiegelstrich mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt.Jetzt kommt der zweite Spiegelstrich. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Wenn man SPD und FDP zusammenrechnet, ist das die Mehrheit.
Kann ich das übereinstimmend feststellen? —
Ich werde das Abstimmungsverfahren wiederholen, da das Ergebnis unklar war und hier oben bis jetzt keine Einigkeit besteht. Es hat keinen Sinn, durch Aufstehen abzustimmen, weil ein Teil der Kollegen hinten steht. Wer dem zweiten Spiegelstrich auf Drucksache 11/3441 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —
Die Feststellung von hier oben ist, daß eine Mehrheit für die Ablehnung plädiert hat, die aus der CDU/CSUFraktion und einem Teil der FDP-Fraktion zusammengesetzt ist.
Wer etwas anderes will, muß Anträge stellen.
— Meine Damen und Herren, regen Sie sich nicht auf! Wir schaffen es noch, das in Ruhe zu Ende zu bringen. Es gibt natürlich die Möglichkeit, das auszählen zu lassen. Ich möchte es uns aber gerne ersparen.
Von hier oben aus war festzustellen — ich glaube, da stimmen wir überein — , daß dem Antrag, dem zweiten Spiegelstrich dieser Entschließung zuzustimmen, die SPD-Fraktion insgesamt zugestimmt, die Fraktion der GRÜNEN insgesamt zugestimmt und die FDPFraktion zum Teil zugestimmt hat. Das kann, wenn alle Kollegen da sind, zu einer Mehrheit führen. Ist das richtig? — Sie bestreiten, daß das eine Mehrheit für den Antrag war? — Wenn hier oben keine Einigkeit besteht, müssen wir auszählen lassen.
Das ist unser allgemeines Verfahren. Ich darf die Damen und Herren bitten, daß wir diese Abstimmung wiederholen. Ich erkläre noch einmal, um welche es sich handelt.
Meine Damen und Herren, wir haben festgestellt, daß das Präsidium in der Feststellung des Ergebnisses nicht einmütig ist. Dann ist unser Verfahren der Hammelsprung.
Ich erkläre Ihnen noch einmal, worüber wir abstimmen, und bitte Sie dann, den Saal zu verlassen.
— Es wird hier ein anderer, einfacherer Vorschlag gemacht, nämlich daß wir über diesen Punkt namentlich abstimmen. Dadurch würden wir das Verfahren vereinachen.
Gibt es darüber Einverständnis? — Dann erkläre ich noch einmal, worüber wir abstimmen.Zur Abstimmung steht der Entschließungsantrag der SPD in der Drucksache 11/3441 betreffend die Naturheilmittel und die Gleichberechtigung aller Therapierichtungen. Es geht um den zweiten Spiegelstrich. Wer dafür stimmen will, der wird gebeten, mit Ja zu stimmen. Wer dagegen ist, stimmt mit Nein.Die Abstimmung ist eröffnet.Gibt es noch Abgeordnete, die von ihrem Stimmrecht nicht Gebrauch gemacht haben, aber dies noch tun wollen? Dann bitte ich, das jetzt zu tun. —Ich stelle fest, daß ich die Abstimmung schließen kann. Sie ist demnach geschlossen.Meine Damen und Herren, ich bitte, wieder Platz zu nehmen, weil die Schriftführer weiter an den Urnen stehen und wir gleich zu weiteren Abstimmungen kommen.Ich teile Ihnen zunächst einmal das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der Schlußabstimmung über das Gesundheits-Reformgesetz auf den Drucksachen 11/2237 und 11/2493 mit. Von den vollstimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 450 ihre
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7926 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988
Vizepräsident WestphalStimme abgegeben. Es gab keine ungültigen Stimmen. 240 Abgeordnete haben mit Ja gestimmt, 208 mit Nein. Es hat zwei Enthaltungen gegeben. 19 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Elf haben mit Ja und acht mit Nein gestimmt. Es hat keine Enthaltungen gegeben,Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 449 und 19 Berliner Abgeordnete; davonja: 240 und 11 Berliner Abgeordnetenein: 207 und 8 Berliner Abgeordneteenthalten: 2JaCDU/CSUDr. AbeleinAustermannBauerBayhaDr. Becker BiehleDr. Blens Dr. BlümBöhm Börnsen (Bönstrup)Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerBühler Carstens (Emstek) Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaDr. Daniels DawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DossDr. DreggerEchternachEigenEngelsbergerEylmannDr. FaltlhauserDr. FellFellnerFrau FischerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelFunk
Ganz
Frau GeigerGeisDr. von GeldernGerstein Gerster
Dr. Götz GröblDr. GrünewaldGünther Dr. Häfele HarriesFrau HasselfeldtHauser Hauser (Krefeld)HedrichFreiherr Heereman von ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes HöpfingerHörsterDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningDr. HüschGraf HuynJägerDr. Jahn
Dr. JobstJung
Jung
KalbDr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiKiechleKlein
Dr. Köhler KolbKossendeyKrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. LangnerLattmannDr. Laufs LenzerFrau LimbachLink
Link LinsmeierLintnerDr. Lippold LouvenLowack MaaßFrau MännleMarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MöllerDr. MüllerMüller
Müller
NelleNeumann NiegelDr. OlderogOswald Frau PackPeschPetersenPfeffermann PfeiferDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn RossmanithRoth RüheDr. Rüttgers RufSauer
Sauer Sauter (Epfendorf)Dr. Schäuble Scharrenbroich SchemkenScheuSchmidbauer Schmitz
von SchmudeFreiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark
Dr. StavenhagenDr. Stercken Dr. Stoltenberg StrubeSussetTillmannDr. UelhoffUldallDr. UnlandVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von WartenbergWeiß Werner (Ulm)Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms WilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann WürzbachDr. WulffZeitlmannZiererDr. Zimmermann ZinkBerliner AbgeordneteBuschbom FeilckeKalischKittelmann LummerDr. Mahlo Dr. Neuling Dr. Pfennig Schulze
StraßmeirFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGattermann GriesGrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrich Dr. Hirsch Dr. Hoyer IrmerKleinert Dr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff Mischnick NeuhausenNoltingRichterRindSchäfer
Frau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. Thomae TimmDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelZywietzBerliner Abgeordneter HoppeNeinSPDFrau Adler Dr. Ahrens AmlingAndresAntretter Dr. ApelBachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme
Börnsen
BrückBüchler
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1988 7927
Vizepräsident WestphalDr. von BülowFrau BulmahnBuschfort CatenhusenFrau ConradFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDillerDreßlerDuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesDr. GlotzFrau Dr. GötteGrafGroßmann GrunenbergDr. Haack Haack
Frau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. Hauchler HeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonker Ibrügger Jahn
Jaunich Dr. JensJung Jungmann KastningKiehmKirschner Kißlinger Klein
KloseKolbowKoltzsch Koschnick KretkowskiKühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Leonhart Lohmann
LutzFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese NiggemeierDr. NöbelFrau Odendahl OesinghausOostergeteloOpelDr. Osswald PaternaPauliDr. Penner Peter PfuhlDr. PickPorznerPurpsRappe ReimannFrau Renger ReschkeReuschenbach ReuterRixeRothSchanzDr. Scheer ScherrerSchluckebier Schmidt
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. Schmude SchreinerSchröer SchützSeidenthal Frau Seuster Sieler
SingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellFrau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. SperlingStahl
SteinerFrau SteinhauerStieglerDr. Struck Frau Terborg TietjenFrau Dr. Timm Frau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugenVoigt
Frau Dr. Wegner WeiermannFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Dr. WieczorekWieczorek Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer
Dr. de With WittichWürtzZanderZeitlerZumkleyBerliner AbgeordneteEgertHeimannFrau LuukDr. Mitzscherling StobbeWartenberg
FDPDr. Hitschler KohnDIE GRÜNENFrau Beck-Oberdorf Frau BeerBrauerDr. Daniels EbermannFrau EidFrau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau Hensel Frau Hillerich HossHüserKleinert
Dr. KnabeKreuzederFrau KriegerDr. Lippelt Dr. Mechtersheimer Frau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau RustFrau Saibold Frau Schilling SchilyFrau Schmidt-Bott Frau Schoppe Frau Teubner Frau UnruhFrau Vennegerts VolmerWeiss WetzelFrau Wilms-Kegel Frau WollnyBerliner AbgeordneteFrau Olms SellinFraktionslos WüppesahlEnthaltenFDPPaintnerFrau Dr. SegallDas Gesetz ist damit angenommen.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3440 — das ist das Stichwort „Solidarbeitrag Pharmaindustrie" — namentlich ab. Kann ich die Abstimmung eröffnen? — Die Abstimmung ist eröffnet.Kann ich die Abstimmung schließen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Ich schließe diese Abstimmung. Das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung werde ich später bekanntgeben.Ich rufe jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3442 auf. Das ist ein Entschließungsantrag, der die Beitragsrückgewähr und die damit zusammenhängende Solidarität betrifft. Wer zuzustimmen beabsichtigt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wir haben nunmehr die nächste namentliche Abstimmung vorzunehmen. Sind die Schriftführer dazu bereit? — Dann rufe ich den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3443 auf. Er betrifft das Sterbegeld an Hinterbliebene von Abgeordneten. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Gibt es noch Kollegen, die an der Abstimmung teilzunehmen wünschen?Ich kann diese Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/3443 nun schließen. Das Ergebnis wird auch hier später bekanntgegeben. Wir haben noch drei weitere namentliche Abstimmungen.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3474 namentlich ab. Es geht um die Forderung nach einer umfassenden Strukturregelung im Gesundheitswesen. Ich eröffne die Abstimmung.
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Vizepräsident WestphalIch stelle fest, daß jeder die Gelegenheit gehabt hat, auch an dieser Abstimmung teilzunehmen.Meine Damen und Herren, ich schließe diese Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/3474. Auch hier wird das Ergebnis der namentlichen Abstimmung später bekanntgegeben.Sind die Schriftführer bereit für die nächste Abstimmung? — Kein Widerspruch. Wir kommen zur namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3475. Es handelt sich um die Rechte der Patientinnen und Patienten.Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Kann ich ein Zeichen der Schriftführer haben, wie es ausschaut? — Keine weiteren Abstimmungswünsche? — Dann schließe ich die Abstimmung. Auch hier wird das Ergebnis später bekanntgegeben.Meine Damen und Herren, wir kommen zu einer weiteren namentlichen Abstimmung, und zwar über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3476. Es handelt sich um das Thema Gleichbehandlung besonderer Therapierichtungen.Ich eröffne die namentliche Abstimmung und teile in diesem Zusammenhang mit: Danach kommt noch eine offene Abstimmung über ein Gesetz, und dann darf ich den Mitarbeitern noch ein Dankeschön sagen.Kann ich die Abstimmung schließen? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann schließe ich diese Abstimmung. Auch das Ergebnis dieser Abstimmung wird später bekanntgegeben.Wir fahren in den Beratungen fort. Ich bitte Sie, sich auf Ihre Plätze zu begeben. Wir haben noch eine Abstimmung durchzuführen.Wir kommen zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einordnung der Vorschriften über die Meldepflichten des Arbeitgebers in der Kranken- und Rentenversicherung sowie im Arbeitsförderungsrecht und über den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in das Vierte Buch des Sozialgesetzbuches. Wer diesem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN und bei einer Gegenstimme aus der Fraktion der SPD angenommen worden ist.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Mitarbeitern, die uns vor und hinter den Kulissen, innerhalb und außerhalb des Saales geholfen haben, herzlich zu danken.
Dieser Dank geht insbesondere an die Ausschußmitarbeiter, aber er geht heute in besonderer Weise auch an die Schriftführer, die bei den Abstimmungen viel Arbeit leisten mußten.
Die Schriftführer wollen sich bitte darauf einrichten, daß sie am Dienstag nächster Woche — voraussichtlich um 10 Uhr — tätig werden müssen. Eine schriftliche Mitteilung folgt.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. November 1988, 13 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.